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Das Schicksal nennt keine Gründe. Es schlägt einfach zu. Wiebke Meinert steht am Grab ihrer Schwester. Die Ermittlungen nach der Explosion von Saskias Wagen wurden eingestellt. Ein DNA-Test belegte eindeutig ihren Tod, die Akten sind seither unter Verschluss. Doch Wiebke spürt, dass ihre Zwillingsschwester lebt. Sie reist nach Hamburg und stellt inoffizielle Nachforschungen an, um die Schuldigen zu finden. Dabei stößt sie auf ein geheimes Netzwerk von Schmugglern, Politikern, Lobbyisten und Unternehmern. Alle haben eines gemeinsam: Sie wollen nicht, das Wiebke die Wahrheit erfährt, denn sie verdienen alle verdammt viel Geld mit Waffengeschäften …
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Veröffentlichungsjahr: 2020
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Cover & Impressum
PROLOG
Vier Tage vorher
1 – Sie war alt und …
2 – Auf dem Bildschirm …
3 – Wasser bedeutet nicht …
4 – José Eduardo da Santos …
5 – Das Dorf wirkte, als …
6 – Wiebke Meinert …
7 – José blickte die lange …
8 – David Teitelbaum …
9 – Der Sand knirschte, …
10 – Die Fahrt zum …
11 – Er hatte schon …
12 – »Wir müssen hier …
13 – Wiebke hatte den …
14 – Das Telefon spielte …
15 – Es war beinahe …
16 – Mirko bog in eine …
17 – David bereitete sich …
18 – Kristine Stiller mochte …
19 – Wiebke glaubte …
20 – Afsaneh öffnete …
21 – Der Blick zur Uhr …
22 – Wiebke lauschte …
23 – »Wo bist du so …
24 – Kristine Stiller …
25 – Den Mann, der …
26 – Uwe Templer …
27 – Wiebke war mit …
28 – Bevor Afsaneh das …
29 – Über den Wolken …
30 – Es hatte zu regnen …
31 – Herbert Menger …
32 – Der Asservatenraum …
33 – Das Haus lag etwas …
34 – Jann Wiemers hatte …
35 – Wiebke wirbelte …
36 – Arthur Bookwood …
37 – Tariq Bakri starrte …
38 – Der Besuch im …
39 – Tariq betrat den …
40 – Der Škoda bog von …
41 – Der Stoff der …
42 – Afsaneh hatte im …
43 – Tariq war spazieren …
44 – Etwas war anders …
45 – Von außen machte …
46 – Sie hatten sich …
47 – Uwe Templer …
48 – Wenn man etwas …
49 – »Kennen Sie das …
50 – So wohnte also …
51 – Kristine Stiller …
52 – Menger atmete …
53 – Afsaneh war seit …
54 – Tariq war schon seit …
55 – »Ich weiß nicht, …
56 – Das Rattenloch, in …
57 – Der silbergraue …
58 – Wiebke holte tief …
59 – Es war, als ob alle …
60 – Bellheim wischte …
61 – Wiebke duschte. …
62 – Ein Geräusch riss …
63 – John hockte sich …
64 – Tariq war heute …
65 – Wiebke wirbelte …
66 – Wiebke hatte immer …
67 – Der Gang vor die …
68 – Helena Petrova stieg …
69 – Wiebke Meinert und …
EPILOG
Dank
Waldfriedhof Zehlendorf, 02:09 Uhr MEZ
Wiebke Meinert redete mit sich selbst. Wahrscheinlich häufiger als andere Menschen, was möglicherweise daran lag, dass es keine anderen Menschen in ihrem Leben gab. Jedenfalls keine wichtigen. Nicht mehr. Das war nicht immer ihre Entscheidung, denn manchmal wurden ihr die wichtigen Menschen einfach genommen. Wiebkes Hand zitterte, als sie das Herbstlaub vom Grabstein wischte. Saskia war ihr genommen worden. Sie hatte das Grab ihrer Zwillingsschwester noch nie besucht.
Niemand sonst war auf dem Friedhof, abgesehen von streunenden Katzen, die wie halb vergessene Erinnerungen zwischen den Grabsteinen umherschlichen. Manchmal fragte Wiebke sich, wessen Erinnerungen auf Friedhöfen spukten. Die der Toten oder die der Lebenden. Doch Wiebke wollte sich nicht erinnern, denn die Erinnerungen waren zu schmerzhaft. Saskia. Die Gute, die alles erreicht hatte. Der Liebling der Eltern. Mit einer steilen Karriere. Wiebke hingegen hatte gar nichts erreicht. Fast nichts. Unbemerkt von den Eltern, die nur auf Saskia und ihr strahlendes Leben fixiert waren, hatte Wiebke sich von ihrer Familie entfernt. Und als sie hätte für ihre Schwester da sein müssen, war sie es nicht gewesen. Wiebke schloss die Augen. Ihr Puls hatte sich beruhigt, die Atmung normalisiert. Sie war gerannt, so wie sie ihr halbes Leben gerannt war. Immer vergebens, aber vielleicht hatte es dieses Mal gereicht. War sie den Verfolgern entkommen?
»Weißt du, Saskia?« Wiebke schloss kurz die Augen und rief sich ins Gedächtnis, wie lächerlich Saskia das Selbstgespräch gefunden hätte. »Du warst der wichtigste Mensch in meinem Leben, auch wenn ich es nicht zugeben wollte. Du fehlst mir, und ich vermisse dich so sehr, dass es wehtut.«
In solchen Momenten wünschte Wiebke, sie würde anstatt Saskia in der Erde liegen. Sie spürte die Kälte, die vom Rücken aus bis in den letzten Winkel ihres Körpers kroch. Sie betäubte den Schmerz, denn etwas anderes als Schmerz spürte Wiebke schon lange nicht mehr. Was anderes wollte sie auch nicht spüren, denn nur durch den Schmerz wurde ihr bewusst, dass sie noch lebte. Sie ertastete die Inschrift des Grabsteins. Das Schicksal nennt keine Gründe.
Es gab keinen Grund für den Mord an Saskia, jedenfalls keinen erkennbaren. Offiziell war sie im Auftrag des Entwicklungsministeriums bei einer Veranstaltung in Offenbach. Am nächsten Morgen explodierte ihr Auto in einer Tiefgarage in Hamburg. Dass es sich bei dem verbrannten Leichnam um Wiebkes Schwester handelte, wurde durch eine DNA-Analyse bestätigt. Der Fall wurde zu den Akten gelegt. Keine Hinweise auf mögliche Täter. Angeblich trotz intensiver Ermittlungsarbeit. Dabei lag der erste Hinweis klar auf der Hand: Warum starb Saskia in Hamburg, wenn sie doch angeblich in Offenbach ein Meeting hatte? Zwischen Hamburg und Offenbach lagen über fünfhundert Kilometer Wegstrecke. Laut Polizeiangaben fehlte das Motiv. Natürlich gab es das nicht. Jedenfalls kein offensichtliches. Saskia hatte in Kreisen gearbeitet, wo Schwarz und Weiß immer zu Grau verschwammen. Wo es so viele Gründe dafür gab, Menschen zu ermorden, dass niemand den wirklichen Grund im Geflecht aus geopolitischen, wirtschaftlichen, ideologischen und religiösen Interessen erkennen konnte. Wiebke kannte sich damit aus. Sie war selbst ein Teil dieses Spiels gewesen. Nicht wie Saskia als Agentin, sondern als Soldatin, die deutsche Interessen auch ohne Mandat oder politische Entscheidung hinter feindlichen Linien durchsetzte, nötigenfalls mit Gewalt. Doch sie hatte dieses Spiel satt, wollte nicht mehr Teil davon sein. Nachdem Saskia ermordet worden war, musste Wiebke nun aber wieder in das Leben zurückkehren, das sie so sehr hasste. Sie wollte ihre Schwester rächen.
Und Rache bedeutet Einsamkeit.
Man ist, was man ist. Davor kann niemand flüchten. Saskia hatte das immer gesagt und sanft gelächelt. Ganz im Stil der großen Schwester, die sie gewesen war. Auch wenn es nur drei Minuten waren, die Saskia und Wiebke trennten. Drei Minuten können manchmal ein ganzes Universum sein.
Wiebke zuckte zusammen. War da ein Knacken? Sie verharrte bewegungslos, zwang sich, keine hektischen Bewegungen zu machen, atmete flach und horchte in die wieder eingekehrte Stille hinein. Doch der Friedhof schwieg. Wiebke spannte jeden Muskel an, konzentrierte sich. Wie hatten ihre Verfolger sie finden können? Sie hatte alles getan, um sie abzuschütteln. Normalerweise war sie gut darin, unsichtbar zu werden, um dann wie ein Geist ihre Gegner auszuschalten. Aber jetzt wurde sie von Geistern heimgesucht. Ihre Verfolger schlichen sich an. Das bedeutete nichts Gutes. Das bedeutete es nie.
Ihre Sinne schärften sich. Der Geruch feuchter Erde stieg ihr in die Nase. Die Kälte wurde noch intensiver.
Der Lichtstrahl einer Taschenlampe durchschnitt das Nachtgrau, strich über Grabsteine und verharrte schließlich auf ihrem Oberkörper. Das Licht blendete sie.
Die Verfolger hatten sie gefunden.
Das Ende war unvermeidlich.
»Wir sehen uns, große Schwester. Gleich bin ich bei dir.«
Die erbarmungsloseste Waffe ist die gelassene Darlegung der Fakten.
Raymond Barre, französischer Politiker
Monchique, 21:05 Uhr MEZ
Sie war alt und gebrechlich, gehörte noch nie zu den Lautesten. Ihr Auftreten war eher unscheinbar. Trotzdem hörte man ihr zu. Anfangs waren es nur wenige gewesen. Vielleicht eine Handvoll. Doch dann hatte es sich entwickelt. Wenn sie sprach, blieben immer mehr Menschen stehen. Je mehr es wurden, desto schlimmer wurde die Furcht, die sie manchmal die Worte vergessen ließ. Es waren wichtige Worte, deswegen unterdrückte sie das Gefühl. Erst zu Hause, wenn sie alleine war, explodierte die Angst, zerriss förmlich ihre zarte Seele. Unzählige Schnitte an den Unterarmen zeugten davon. Aber irgendwann musste sie sich eingestehen, dass sie süchtig geworden war. Süchtig, im Rampenlicht zu stehen, ein Bad in der Menge zu nehmen. All die Schilder zu lesen, die ihr entgegengestreckt wurden. Angst zu tanken und diese später gegen sich selbst zu richten. Ihr war bewusst, dass sie irgendwann den letzten Schnitt machen würde. Weil der Schmerz schon jetzt nicht mehr ausreichte, musste sie tiefer schneiden.
»Bist du bereit, Jara?« Der Mann mit den Kopfhörern um den Hals stand in der halb geöffneten Tür des Wohntrailers, der schon einige Zeit ihr Zuhause war. Hier zog sie sich um, bereitete die Reden vor, während jemand anders sie von Ort zu Ort fuhr, damit sich ihr Wort in Europa verbreitete. Die Menschen pilgerten schon zu den Veranstaltungen. Es hatte sich ein regelrechter Demonstrationskult entwickelt, und Jara stand in seinem Zentrum. Vielleicht deshalb, weil sie wusste, wovon sie sprach. Sie hatte die Schrecken des Krieges in Bosnien miterlebt. Sie hatte gesehen, wie Soldaten ins Dorf marschiert waren und jeden Muslim erschossen. Jara hatte hilflos mitansehen müssen, wie Soldaten ihr die Waisenkinder wegnahmen, die zu schützen sie geschworen hatte. Was dann passierte …
Es gab auch die kritischen Stimmen. Manche zweifelten ihre Geschichte an. So wie immer. Die graue Masse an machtgeilen Arschlöchern behauptete, dass sie gesteuert wurde, dass jede Demonstration inszeniert war, dass hinter ihr jemand stand, der kräftig an ihren Worten verdiente.
Jara blickte in den Spiegel über dem Schminktisch. Der Wohntrailer war klein, aber recht luxuriös. War das falsch? Offensichtlich. Jedenfalls wenn man den Schlagzeilen bedeutender Zeitungen wie Le Monde, Frankfurter Allgemeine, El Pais oder Guardian glaubte.
Jara wurde dort eine Lügnerin genannt. Sie wäre die Marionette eines Magnaten, der durch ihre Worte unfassbar reich wurde. Man machte sich Sorgen. Wenn sie mal schlecht geschlafen hatte, was nebenbei bemerkt jeder Mensch ab und an tat, und deswegen die Augenringe deutlicher zu sehen waren, hieß es, die ganze Sache fräße sie auf. Sie wäre austauschbar. Ein Kaugummi, der weggeworfen würde, wenn er keinen Geschmack mehr hatte.
Aber das war sie nicht. Austauschbar. Auch wenn es niemand glaubte. Es waren ihre Worte, die sie der Masse entgegenschleuderte. Es waren ihre Worte, die sich am Anfang im Wind verloren hatten, nun aber selbst wie ein Wind waren. Wie ein Orkan, der die Menschen aufwachen ließ. Sie ängstigte. Und ja, das war ihr Ziel. War es von Anfang an gewesen. Sie wollte, dass die Menschen Angst hatten. So viel Angst, dass sie begriffen, dass verkriechen keine Lösung war. Niemand sollte das erleben müssen, was sie erlebt hatte. Die Menschen mussten aufstehen und für die Zukunft kämpfen. Und die Alten mussten Buße tun für das, was sie in der Vergangenheit versäumt hatten. Es hätte niemals so weit kommen dürfen. Jaras Generation hatte die Augen verschlossen und nach Entschuldigungen gesucht, nichts tun zu müssen. Erst war es das Studium, dann der Beruf, später die Kinder, die großgezogen werden mussten. Irgendwas fand sich immer. Bloß nicht aufstehen und gegen die bestehende Gesellschaftsordnung rebellieren. Ihrer Generation war es gut gegangen. Warum das also ändern? Manchmal überlegte Jara, ob sie auch so geworden wäre, hätte sie woanders gelebt, hätte sie nicht diese Erfahrungen gemacht, die ihr heute noch den Schlaf raubten. Noch heute hörte sie manchmal das Geschrei der Kinder. Das Lachen der Soldaten.
Die Schüsse.
»Bist du so weit?«
Sie legte die Bürste hin und drehte sich zur Tür. Der Mann mit den Kopfhörern stand immer noch da.
Sie nickte stumm und stand auf. Ein Gefühl der Schwäche benetzte ihren Körper. Unbemerkt von dem Mann mit den Kopfhörern taumelte sie, hielt sich fest und fand so etwas wie Sicherheit. Dann trat sie aus dem Trailer in den lauen Herbstabend. Sofort flackerte Blitzlichtgewitter. Die Presse hatte sich gut positioniert. Direkt am Eingang, aber noch hinter dem Absperrgitter, das Jara einen Weg zur Bühne freihielt. Etwas abseits stand ihr älterer Bruder im Gespräch mit anderen Anzugträgern. Er bemerkte nicht einmal, dass sie den Trailer verlassen hatte. Zu vertieft schien er in die Geschäfte, die er offensichtlich machte. Irgendjemand verdiente immer. Warum also nicht ihr Bruder? Er organisierte die Auftritte. Er verhandelte das Honorar.
Jara brauchte die Öffentlichkeit. Deswegen die verhassten Auftritte. Und egal, wie häufig sie vor einer Menge sprach, eins änderte sich nie: der schwere Gang über die Treppe zum Rednerpult. Dorthin, wo unzählige Mikrofone waren, die ihre Worte in die Welt hinaustrugen, dafür sorgten, dass die Botschaft nicht wieder ungehört vom Wind weggetragen wurde. Jara hatte das Gefühl, dass die Blitzlichter mehr wurden, als sie am Rednerpult stand. Die Menschen vor ihr hielten Transparente oder Schilder in die Höhe.
Soldaten sind Mörder, war auf ihnen zu lesen. Nie wieder Krieg, Waffenexporte sind Völkermord, Politiker sind Mörder, Stoppt Waffenlieferungen.
Und genau das war die Botschaft.
Sie atmete ein und spürte die Angst.
»Ich will, dass ihr euch fürchtet.« Jaras Stimme wurde von den Mikrofonen aufgenommen und über Lautsprecher über den Platz getragen. Sie wartete, bis ihre eigenen Worte verhallt waren. »Wir sind nicht zufällig hier. Heute wollen wir trauern. Um einen Vater, der in einem Krieg gestorben ist, den die portugiesische Regierung zu verantworten hat, den Menschen zu verantworten haben, die Geld mit dem Tod verdienen. Die Waffen in Länder liefern, die im Chaos versinken. Die Politiker behaupten, im Sinne des Volkes zu handeln. Aber tun sie das wirklich? Ist es euer Wille, dass Unschuldige sterben? Durch Gewehre und Granaten? Nein!«
Berauschender Applaus. Sie riefen ihren Namen.
Jara nahm die Szene wie in Zeitlupe wahr. Deswegen erblickte sie auch den Mann in der ersten Reihe sofort, der eine Maschinenpistole unter seiner Jacke hervorzog. Sie wusste, dass sie keine Chance hatte. Welch eine Ironie. Sie hatte niemals geglaubt, durch ein Projektil zu sterben. Aber vielleicht war es gut, dachte sie. So werden die Menschen erst recht aufgerüttelt.
Sie wachen endlich auf.
Während ich für immer schlafen werde.
Und ewige Ruhe finde.
Bonn, 07:13 Uhr MEZ
Auf dem Bildschirm waren die verwackelten Aufnahmen einer Kleinstadt zu sehen. Weiß getünchte Häuser mit bunten Türen, Wäsche, die zum Trocknen aufgehängt worden war. Die Sonne stand tief am Horizont. Eine romantische Szene, die auf eine Postkarte gehörte. Wären da nicht die vielen Polizeifahrzeuge gewesen, die Rettungswagen, die schreienden Menschen. Das viele Blut.
Brigitta Wittlich löste den Blick vom Bildschirm und wandte sich zur Studiokamera. »Gestern wurde wieder einmal ein Paradies vom islamistischen Terrorismus getroffen. Ich begrüße Sie, liebe Zuschauerinnen und Zuschauer, zu unserer Sondersendung im WDR. Und ich möchte Professor Liebknecht hier im Studio willkommen heißen.«
Sie blickte ihrem Studiogast ins Gesicht. Wenn der Professor Emotionen hatte, so zeigte er sie nicht, aber als er Brigitta ansah, erkannte sie die Erschütterung tief in seinen Augen. Liebknechts Lippen waren so fest aufeinandergepresst, dass sie nicht mehr als ein dünner Strich waren. Er nickte der Journalistin zu.
»Professor Carl Liebknecht gehört unbestritten zu den renommiertesten Terrorismusexperten unserer Zeit. Danke, dass Sie so kurzfristig kommen konnten.«
Liebknecht faltete die Hände. »Ich danke Ihnen.«
Brigitta blickte wieder in die Kamera. »Monchique, eine portugiesische Kleinstadt in der Algarve mit gerade mal fünftausend Einwohnern, wurde gestern Abend grausam erschüttert, als ein vermummter und bewaffneter Mann eine friedliche Demonstration stürmte. Die Menschen lauschten den Worten der Rüstungsgegnerin Jara Van Dyk, als der Vermummte gnadenlos das Feuer eröffnete. Zeugen zufolge soll er dabei Allahu Akbar geschrien haben. Die Anzahl der zivilen Opfer ist bisher nicht bestätigt, aber es ist sicher, dass im Kugelhagel unschuldige Kinder starben, ebenso wie Jara Van Dyk. Nach bisherigen Informationen ist der Täter auf der Flucht. Was ist das für ein Monster, das eine solche Tat begeht, Herr Liebknecht?«
»Zwei Dinge, Frau Wittlich. Erstens ist bisher nicht offiziell bestätigt, dass es sich bei dem Angriff tatsächlich um einen terroristischen Akt handelt. Und zweitens …« Liebknecht räusperte sich. »Zweitens ist es ein Mensch, der das getan hat. Wir neigen immer dazu, Täter, die Grausames getan haben, als Monster oder Bestien zu bezeichnen. Warum tun wir das? Weil wir nicht begreifen, wozu unsere Spezies fähig ist, welche Grausamkeit in jedem von uns steckt. Bei dem einen bricht es aus, während der andere es im Zaum halten kann. Deswegen dehumanisieren wir die Täter und setzen sie mit wilden Tieren gleich.«
»Was wollen Sie mir damit sagen, Professor?«
»Dass der Täter menschlich war. Und dass mutmaßlich sein Glaube an eine höhere Macht ihn zu dieser Tat getrieben hat. Im Übrigen ist die Religion auch eine Erfindung der Menschheit.«
»Aber eine friedliche Demonstration gegen europäische Waffenexporte als Angriffsziel?«
»Was soll ich sagen? Wenn Sie die Internetpropaganda islamistischer Organisationen verfolgen, werden Sie feststellen, dass die Tat in Portugal die logische Konsequenz des entschlossenen Krieges gegen solche Organisationen ist.«
»Sie meinen, dass wir daran schuld sind?«
»Mitnichten. Ich befürworte schon lange ein noch entschlosseneres Vorgehen gegen Islamisten. Was ich damit sagen will, ist, dass Terrorismus Theater ist. Ein Heischen nach größtmöglicher Aufmerksamkeit, um das Ziel, Angst und Schrecken zu verbreiten, zu erreichen. Groß müssen die Anschläge sein. Spektakulär wie der 11. September. Aber das erfordert einen unermesslichen logistischen Aufwand. So etwas kann eine Terrororganisation nur leisten, wenn sie in der Blüte ihrer Macht steht. Geht ihr Stern unter, müssen andere Ideen her, wie man Terror verbreiten kann. Das kann man gut an der Propaganda des sogenannten Islamischen Staats erkennen. Zuerst protzig mit einem mehr oder minder bekannten Rapper, der Naschids in deutscher Sprache machte. Aber dann, immer kleiner werdend, wurden Lone-Wolf-Anschläge auf weiche Ziele propagiert.«
»Lone-Wolf-Anschläge? Weiche Ziele?« Brigitta runzelte die Stirn.
»Der Terrorist als einsamer Wolf. Radikalisiert im Internet. Ohne direkten Kontakt zu anderen Mitgliedern der Gruppe. Für Sicherheitsbehörden absolut nicht kontrollierbar. Es grenzt an ein Wunder, wenn diese Männer und Frauen vor ihrer Tat enttarnt werden können. Aufzuhalten sind sie nicht. Eine unglaublich simple, aber effektive Idee. Und solche Menschen greifen zivile Ziele an. Sie sind dort, wo es keine wirksamen Sicherheitsvorkehrungen gibt. Wo es für unser Verständnis auch keine geben sollte. Kindergärten oder Schulen, Volksfeste, Sportveranstaltungen oder Einkaufszentren. Überall dort, wo sich die Kuffar sicher fühlen. Mit dem Ziel, dass wir uns nirgends mehr sicher fühlen können.«
Brigitta wollte etwas sagen, aber die Regie gab Anweisung über ihren In-Ear-Kopfhörer. »Ich höre gerade, dass wir eine Liveschaltung haben.«
Sie blickte wieder zu dem kleinen Bildschirm vor sich. Auf diesem war Juan da Silva zu sehen, der ein betroffenes Gesicht machte. Zu betroffen, als dass es echt sein könnte, fand Brigitta. Außerdem kannte sie Juan. Ein arrogantes und karrieregeiles Arschloch, das für eine Story seine eigene Oma umbringen würde.
»Bin ich auf Sendung?« Juan blickte in die Kamera.
»Sie sind live im Studio. Können Sie uns etwas über die aktuelle Lage in Monchique sagen?«
»Das kann ich.« Juan nickte. »Unsere schlimmsten Befürchtungen sind wahr geworden. Vor wenigen Minuten erreichte ein Bekennervideo das portugiesische Innenministerium. Die Terrororganisation LFOS reklamiert den Anschlag für sich. Details sind nicht bekannt, aber es wird gemunkelt, dass die Terroristen Bezug auf das militärische Engagement der portugiesischen Regierung im Sudan nehmen. Es wird wohl auch mit weiteren Anschlägen in europäischen Ländern gedroht.«
»Die LFOS? Darunter kann ich mir nichts vorstellen.« Brigitta blickte Professor Liebknecht an.
»Die Liberation Fighters of Sudan. Im internationalen Kontext bisher eine eher unbedeutende Terrororganisation, deren Ziel die Errichtung eines islamischen Staats im Sudan ist.« Liebknecht wischte sich über die Stirn.
»Also eine eher territorial ausgerichtete Organisation. Dann stellt sich die Frage, warum sie einen Anschlag in Europa verübt hat.«
»Schauen Sie sich die politische Lage im Sudan an. Vor fast einem Jahr wurde Präsident Yayah al-Salhi durch seine eigenen Militärs gestürzt. Eine Folge der anhaltenden Bürgerproteste in der Hauptstadt Khartum. Aber dadurch änderte sich für die Menschen nichts. Der aktuelle Machthaber, General Salim Nasir, ist ein noch schlimmerer Despot. Er führt die Politik der letzten dreißig Jahre mit eiserner Hand fort. Rufe nach einer zivilen Regierung werden mit Waffengewalt zum Schweigen gebracht. Und was machen die Vereinten Nationen? Sie schicken Blauhelme und humanitäre Hilfe. Ich will das nicht kleinreden, aber das sind nur Tropfen, die verdampfen, bevor sie überhaupt auf dem heißen Stein ankommen.«
»Und Sie glauben, islamistische Organisationen nutzen die Zeit der Schwäche aus, um an die Macht zu kommen?«
So etwas wie ein Lächeln huschte über Liebknechts Lippen. »Würden Sie das nicht tun? Ich würde, wenn ich könnte. Das ist die Chance, die politische Landschaft eines Landes zu meinen Gunsten zu ändern. Ich muss nur unliebsame Mitspieler ausschalten. Solche Terrorakte, wie wir sie gestern Abend in Portugal erleben mussten, sind sehr gut dazu geeignet.«
»Erklären Sie mir das bitte.«
»Der Sudan ist weit weg. Europa kämpft mit sich selbst. Wir haben genug eigene Probleme. Der Brexit war nur der Anfang. Wir haben einen erstarkenden Rechtspopulismus. Politiker, die bereit sind, für den eigenen Profit ihr Land zu verraten, um es dann regieren zu können. Denken Sie an die Ibiza-Affäre. Russland und China erstarken weiter auf dem wirtschaftlichen Sektor. Die USA werden von einem Narzissten regiert, der Anfang des letzten Jahrhunderts gut zu den Diktatoren aus Deutschland, Italien oder Russland gepasst hätte. Diese Probleme sind es, die uns Europäer umtreiben. Was interessiert uns eine humanitäre Krise im Sudan? Wir wollen, dass unsere Geldbeutel voll sind, genauso wie unsere Kühlschränke. Und jetzt sterben Kinder für einen sich anbahnenden Bürgerkrieg, der uns nicht interessiert. Was glauben Sie, wie wird sich jetzt die öffentliche Meinung in Bezug auf ein Engagement im Sudan verändern?«
»Aber es kann doch niemandem egal sein, wenn ein neues Kalifat entsteht. Der Sudan ist reich an Bodenschätzen, von denen auch wir Europäer profitieren.«
»Tun wir das wirklich? Und selbst wenn, die meisten Menschen haben heutzutage eine Aufmerksamkeitsspanne, die kaum die Länge eines YouTube-Videoclips hat. Schauen Sie mal rein. Da gibt es Menschen, die ihre Einkäufe filmisch festhalten. Solche Beiträge werden tausendfach angeklickt. Was erwarten Sie denn von dieser Generation, in der ›YouTuber‹ und ›Influencer‹ die Berufswünsche junger Menschen sind? Dass sich diese Jugendlichen mit geopolitischen Zusammenhängen auseinandersetzen? Dass sie verstehen, dass ein neuerliches Kalifat, wie immer es auch benannt wird oder welche Islamisten es führen, eine akute Bedrohung für unsere Demokratie ist?«
»Ich habe mal gelesen, dass in der islamischen Vorstellung die Welt in drei Bereiche unterteilt ist. Ist das richtig?«
Liebknecht nickte. »Grundsätzlich ja, aber der Salafismus zum Beispiel lehnt diese Dreiteilung ab, denn im Frühislam, auf den sich der Salafismus per Definition stützt, gab es nur zwei sogenannte Häuser: das Dar al-Islam, das Haus des Islam, in dem die Muslime die Herrscher sind und das es immer weiter auszubreiten galt, und das Dar al-Harb, das Haus des Krieges, der Herrschaftsbereich der Nicht-Muslime, den es zu bekämpfen galt, um das Dar al-Islam weiter auszubreiten. Im Laufe der Zeit konstruierten Islamgelehrte das Dar al-Ahd, das Haus des Vertrages. Nur durch dieses Konstrukt war es möglich, dass Muslime und Anhänger anderer Glaubensrichtungen friedlich nebeneinander leben konnten. Islamisten lehnen das Dar al-Ahd ab, denn der Islam ist eine Religion mit Weltherrschaftsanspruch.«
»Also sind alle Muslime Terroristen?«
Liebknecht schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich habe das schon einmal gesagt, aber ich sage es gerne wieder. Was für eine Welt wäre das, in der fast zwei Milliarden potenzielle Terroristen leben? So viele Muslime gibt es nämlich auf der Welt. Und bei den zwei Milliarden wären Ökoterroristen, Nazis, Anarchisten, Separatisten, christliche Spinner und sonstige Terroristen noch gar nicht mit eingerechnet.«
»Aber Sie sagten doch, dass der Islam einen Weltherrschaftsanspruch …«
»Das sagte ich, ja. Das muss man wissen, um die extremen Islamisten zu verstehen. Es ist wichtig zu wissen, in welcher Vorstellungswelt diese Menschen leben, damit sie wirksam bekämpft werden können. Und der Großteil der Muslime lebt einfach nur seinen Glauben aus. Sie sind keinesfalls extremistisch. Islam und Islamismus sind zwei grundlegend unterschiedliche Dinge.«
Brigitta bekam eine Regieanweisung. Ihre Sendezeit war um. »Eine letzte Frage noch. Übermorgen findet in Dortmund das Fußball-Länderspiel zwischen Deutschland und England statt. Müssen wir uns Sorgen machen?«
»Wie ich gesagt habe: Terrorismus ist Theater. Die Augen der Welt sind auf das Spiel gerichtet.«
»Ich danke Ihnen für das Gespräch, Professor Liebknecht.« In die Kamera gewandt sagte sie: »Herzlichen Dank fürs Zuschauen und für Ihr Interesse. Trotz der schrecklichen Ereignisse in Portugal wünsche ich Ihnen einen schönen Tag.«
Sudanesische Grenzregion, 09:17 Uhr EAT
Wasser bedeutet nicht nur Leben.
Wasser bedeutet Freiheit.
Für uns ist es selbstverständlich, den Wasserhahn aufzudrehen, wenn wir duschen wollen. Eine Wasserflasche zu nehmen, wenn wir durstig sind. Dabei vergessen wir, dass nichts davon selbstverständlich ist.
Nirgendwo auf der Welt, und erst recht nicht hier.
Thomas Langenberg las noch einmal die Zeilen, die er gerade geschrieben hatte. Sollte er Susanne von den Gefahren erzählen, die hier lauerten? Von den wilden Bestien, Menschen wie Tieren? Von dem Leid der Dorfbewohner? Von einer Regierung, die keinen Deut besser war als die umherstreifenden Warlords? Von den Kindersoldaten? Thomas schüttelte den Kopf, aber ganz verschweigen wollte er es auch nicht.
Das Dorf, neben dem wir unser Lager aufgeschlagen haben, liegt an einem ausgetrockneten Flussbett. Noch vor vier Jahren, so sagte man mir, floss hier sauberes Wasser. Eine Selbstverständlichkeit. Doch dann kam die Katastrophe. Die sudanesische Regierung verkaufte die Wasserrechte an einen Großkonzern. Nun pumpen sie das Wasser an der Quelle ab, füllen es in Plastikflaschen und transportieren es nach Europa. Denk mal eine Sekunde über diese Perversion nach. Nur eine verdammte Sekunde. Und dann weißt du, warum ich dich und Milana alleine lassen musste. Die Welt ist kaputt und wahrscheinlich nicht mehr zu retten. Wir könnten jetzt die Hände in den Schoß legen und warten, bis uns ein Tsunami, ein Orkan oder ein Virus auslöscht. Vielleicht löscht sich die Menschheit auch gegenseitig aus. Es ist egal. Läuft alles auf dasselbe hinaus. Unser Planet stirbt. Und wir sterben mit ihm. Auf der anderen Seite können wir etwas tun. Wir können aufstehen und unseren Beitrag leisten, egal wie dieser aussieht. Jeder Beitrag zählt. Jeder kann etwas tun. Und sei es nur, dieses Wasser nicht mehr zu kaufen. Nichts mehr von dem zu kaufen, was der Konzern herstellt oder vertreibt.
Zudem fühle ich mich dem Eid des Hippokrates verpflichtet. Das ist mein Kampf, mein Krieg, den ich gegen das willkürliche Unrecht führe, das im Namen des Geldes und der Macht den Unschuldigen angetan wird. Ich will dir schreiben, was hier der Alltag ist. Während die Männer in der Fabrik das Wasser abfüllen, müssen die Frauen und Kinder des Dorfes im Morgengrauen aufbrechen, um Wasser zu holen. Dafür müssen sie sechs Kilometer durch den Dschungel laufen. Sechs Kilometer voller Gefahren. Sechs Kilometer hin und mit Wasser beladen wieder zurück. Manche kehren nicht zurück. Der Tod ist allgegenwärtig.
Thomas setzte den Stift ab. Er wollte seiner Frau keine Angst machen. Sie hatte es für keine gute Idee gehalten, in den Sudan zu gehen. Afrika war so weit weg von Deutschland. Wen kümmerte es, wenn die Menschen dort verdursteten? Es gab genug Probleme im eigenen Land. Und außerdem wüteten im Sudan die Warlords. Das hatte sie in einer Fernsehreportage gesehen. Susanne hatte das Wort Warlords betont, als wären es mystische Geister aus uralten Legenden. Dabei waren es egozentrische, nazistische Arschlöcher, die ihren zu kleinen Pimmel durch Gewalt und Allmachtsfantasien kompensierten. Thomas grinste. Es gab keinen Unterschied zu Politikern.
Er blickte zur Uhr. Kurz vor halb zehn. Julian wollte heute mit der Medikamentenausgabe beginnen. Mit einer geschickten Handbewegung faltete er den Brief zusammen und steckte das Papier in die Innentasche seiner leichten Weste. Dann nahm er den weißen Kittel vom Haken und trat aus dem Frachtcontainer. Sein Kollege Julian stand schon an der Felskante und blickte in die Ferne. Dorthin, wo das Blau des Himmels auf das Grün des Dschungels traf. Thomas ging zu seinem Freund und Kollegen und stellte sich neben ihn.
»Ein wundervoller Morgen.« Julian löste den Blick nicht von der Schönheit der Natur. Er atmete tief ein.
»Schade, dass wir bald weiterziehen müssen.«
»Weil du die schöne Aussicht vermissen wirst? Oder Ivie?«
»Ivie? Was ist mit ihr?«
»Ich habe euch gestern beobachtet. Ihr seid euch nahegekommen.« Julian stieß Thomas mit dem Ellenbogen an.
»Ich habe sie nur einmal angelächelt.«
»Auf die Anzahl kommt es nicht an, sondern darauf, wie man einen Menschen anlächelt. In deinem Lächeln konnte man Stolz und Vorurteil lesen.«
Thomas’ Ohren fühlten sich heiß an. Ivie war eine Schönheit, wenn auch nicht im klassischen Sinne. Sie hatte harte, fast männliche Gesichtszüge, dafür aber auch Rundungen. Genau dort, wo eine Frau Rundungen haben sollte. Ihre tiefbraune Haut war weich, und wenn sie schwitzte, roch sie unbeschreiblich.
»Lass uns gehen.« Julian setzte den Strohhut auf, den er in der Hand gehalten hatte. »Die Medikamente geben sich nicht von alleine aus.«
Sie folgten dem schmalen Pfad, der sie zum Dorf führte. Eine Ansammlung von Lehmhäusern mit Strohdächern, dazwischen Fertigbauhäuser mit Ziegeldächern. Gelbe und blaue Farbtupfer zwischen dem allgegenwärtigen Rotbraun. Hier roch es immer nach Farbentferner. Ein Ältester des Dorfes hatte Thomas einmal erklärt, dass der Geruch von den Gräsern stamme, mit denen die Dächer gedeckt waren.
Thomas fühlte, dass etwas im Dorf nicht stimmte. Es war die Art, wie ihn die Frauen und Männer beim Vorbeigehen anblickten. Die Art, wie sie ihrer Arbeit nachgingen. Es waren die fehlenden Kinder, oder die, die zwar zu sehen waren, aber nicht spielten. Und es war ganz sicher der Anblick der jungen Männer, die Gewehre geschultert hatten und gemeinsam auf dem Dorfplatz standen.
Julian blieb stehen. »Ich habe ein mieses Gefühl.«
Ein junger Mann in Jeans und löchrigem Trikot des FC Barcelona löste sich aus der Gruppe der Bewaffneten und kam auf sie zu. Thomas hatte ihn schon mal im Dorf gesehen.
»Warum tragt ihr Waffen?«, fragte er auf Englisch.
Der junge Afrikaner blickte ihn mit ernster Miene an. »Es ist etwas passiert.«
»Und deshalb müsst ihr euch bewaffnen?«
Der junge Mann nickte. Er zeigte auf eines der Fertighäuser und ging dann darauf zu. Thomas und Julian folgten. Drinnen war es stickig und roch nach Schweiß, Blut und Pisse. Ein muskulöser Mann mit freiem Oberkörper saß gefesselt auf einem Stuhl. Das Gesicht war geschwollen, übersäht mit Platzwunden.
»Was habt ihr mit ihm gemacht?« Thomas wollte zu ihm gehen und die Wunden versorgen, doch der junge Afrikaner hielt ihn zurück.
»Nicht. Er ist gefährlich.«
»Er ist gefesselt. Ihr habt ihn zusammengeschlagen. Was ist in euch gefahren?«
»Gefährlich.« Mehr sagte der junge Afrikaner nicht.
In diesem Moment hob der gefesselte Mann den Kopf. Er grinste. Seine Zähne waren blutrot. Thomas erstarrte. Dieser Blick war wie ein Versprechen. Ein grausames Versprechen.
»Motombe hutu. Illa Motombe hutu«, sagte der Gefangene, gefolgt von einem kratzigen Lachen, das in einem Husten endete. Er spuckte blutigen Speichel auf den Lehmboden.
Die jungen bewaffneten Männer erstarrten. Sie blickten sich an. Thomas konnte ihre Angst riechen, spüren, schmecken.
Einer der jungen Männer hob seine Pistole und drückte ab. Der Schuss zerfetzte den Kopf des Gefesselten.
»Aber ihr … das geht nicht!«, schrie Thomas.
»Wir sind tot«, sagte der Todesschütze. Seine Stimme klang beinahe emotionslos. »Bald kommen er.«
»Wer kommt?«
»Naked Death. Und er kennen keine Gnade.«
Bevor Thomas überhaupt klar denken konnte, hörte er draußen eine dumpfe Explosion, gefolgt von Schüssen aus Schnellfeuergewehren.
Und dann panische Schreie.
Monchique, 08:20 Uhr MEZ
José Eduardo da Santos kaute Kaugummi. Die breiige Masse schmeckte schrecklich. Obwohl Freshfruit auf der Packung stand, fand sich kein Obstgeschmack, jedenfalls keiner, den José kannte. Und er aß viel Obst und probierte sogar exotische Sorten, letztens erst eine Tamarillo. Aber José kaute keine Kaugummis wegen des Geschmacks, sondern um sich das Rauchen abzugewöhnen. Wenn er jedoch an Tatorten wie diesem hier war, bereute er die Entscheidung, den Zigaretten abgeschworen zu haben. Und seine Frau wäre ziemlich enttäuscht, wenn er rückfällig würde. Vielleicht war enttäuscht das falsche Wort. Fuchsteufelswild traf es besser, und so widerstand er dem Drang, sich einen Glimmstängel anzustecken. Im Interesse des Familienporzellans.
Seine Partnerin kam auf ihn zu. Sie hieß Abroholos, und genauso war sie auch. Wie der starke Wind an der Küste Brasiliens zwischen der Cabo de São Tomé und Cabo Frio.
»Wie viele, Abro?«, fragte José.
Sie trug Stiefeletten, Jeans und eine kurze schwarze Lederjacke. Ihr Haar hatte sie zu einem Zopf gebunden. Sie sah gut aus, fand José, aber das sagte er nicht. Wieder im Interesse des Familienporzellans.
»Dreiundzwanzig Opfer und fast genauso viele Verletzte.«
»Kinder?«
Abro presste die Lippen zusammen, bis sie nur noch ein dünner weißer Strich in ihrem hellbraunen Gesicht waren. Sie wollte etwas sagen, aber ihre Stimme versagte. José blickte auf ihre Schuhspitzen. Seine waren zu langweilig. Barfußschuhe. Wieder eine Idee seiner Frau. Sie wollte, dass er gesund lebte. Als ob das möglich wäre in seinem Job. Ständig unterwegs, unzählige Überstunden. Islamistische Terroristen schliefen anscheinend nie. Und so konnte er auch kaum schlafen.
»Und was ist mit dem Täter?«, fragte José.
In ihren Augen blitzte Dankbarkeit auf, nicht über die ermordeten Kinder sprechen zu müssen. »Er konnte mittlerweile festgenommen werden. Er wird gerade von Beamten der Guarda Nacional Republicana zum Polizeirevier gebracht.«
»Haben wir ein Motiv?«
»Brauchen wir eins?« Abro zuckte mit den Schultern. »Der Typ hat Allahu Akbar geschrien, bevor er das Feuer eröffnete. Ich denke, wir haben unser Motiv.«
»Ist das sicher?«
»Ist was sicher?«
»Dass er Allahu Akbar geschrien hat.«
»Warum fragst du?«
»In letzter Zeit sind die Menschen sehr hysterisch, weißt du? Hören Sachen, die gar nicht gesagt wurden.«
»Und das Bekennervideo?«
José lachte bitter. »Das war doch wie aus der Konservendose. Anschlag passiert. Zack! Video da. Da stimmt was nicht. Und diese Liberation Fighters of Sudan. Hast du von denen schon einmal gehört?«
»Noch nie.«
»Anscheinend spielt diese Organisation international in der Campeonato Nacional de Seniores. Und kaum lässt unsere Regierung erklären, dass sie die drohende Eskalation im Sudan durch militärische Mittel eindämmen will, kommt so ein Liberation Fighter aus seinem Loch gekrochen und begeht einen Anschlag. Und kurz danach erscheint ein gut gemachtes Bekennervideo. Alles ohne Pannen? Ohne Erfahrung?«
»Du suchst das Haar in der Suppe. Wie immer.«
»Häufig habe ich damit recht.«
»Häufig aber auch nicht.«
José blickte zu den Bestattern, die gerade einen kleinen Sarg in einen Kombi luden. Niemals dürfte es solch kleine Särge geben. Dieser Anschlag stach tief ins Herz. Und genau deswegen mussten die Verantwortlichen schnell gefunden werden. Aber es waren schon elf Stunden vergangen, und die Polizei hatte den Tatort noch immer nicht zu Ende bearbeitet. Erst jetzt wurden die letzten Leichen abtransportiert.
»Wer von der Polícia Judiciária ist vor Ort?«
»Kommissar Rodriques Almeida.«
José verzog das Gesicht. »Roberto also.«
»Kennst du ihn?«
»Ihm fehlt das Gefühl, das man für solch sensible Ermittlungen braucht, das Gespür für das Zusammenspiel zwischen Polizei und Geheimdienst. Du wirst es bald merken.«
»Also so ein Typ, der strikt nach Auftrag und Zuständigkeit handelt?«
José nickte. »Ein Untertan. Solche Menschen machten es möglich, dass Europa im letzten Jahrhundert fest im Griff der Faschisten und Nazis war.«
»Redest du über mich?«
José drehte sich zu dem hageren Mann um, der mit wippendem Gang und einer festen Entschlossenheit im Gesicht auf ihn zukam. José war sich nicht sicher, was Roberto von dem gerade Gesagten gehört hatte. Es war ihm auch egal. Seine Abneigung gegen Roberto war allseits bekannt.
»Wenn man vom Teufel spricht«, sagte José.
Kommissar Roberto Rodriques Almeida fuhr sich mit der Hand durch die Frisur, die aussah, als gehöre sie zu einer Playmobilfigur. »Sie sind Silva Pereira, richtig?«
Abro nickte.
»Tun Sie sich selbst einen Gefallen und hören Sie nicht auf José. Seine Worte sind Gift, das sich in Blut verwandelt.«
»Dass ihr beide am Tatort seid, ist keine gute Voraussetzung dafür, die Verantwortlichen zu ermitteln. Ihr seid ja wie Waldorf und Statler.« Abros Blick wanderte zwischen José und Roberto hin und her.
»Die Kriminalpolizei hat die Situation im Griff.« Roberto stemmte die Hände in die Hüften.
»Wir möchten aber trotzdem die eine oder andere Frage stellen.« José hasste es, immer wieder die gleichen Grabenkämpfe führen zu müssen. Jedem hier war klar, dass die Polícia Judiciária für die strafrechtlichen Ermittlungen im Inland zuständig war. Der Serviço de Informações de Segurança, der Inlandsgeheimdienst, sammelte lediglich Informationen. Aber um Informationen sammeln zu können, waren die Agenten des SIS darauf angewiesen, ihre Arbeit in Ruhe machen zu können. Und da half es nichts, wenn Kriminalbeamte wie Roberto die Das-ist-meine-Stadt-Mentalität an den Tag legten.
»Ich weiß nicht, was das bringen soll. Unsere seit gestern Abend laufenden Ermittlungen am Tatort sind abgeschlossen. Jetzt kümmern wir uns um den Täter.« Das Wort »wir« war so stark betont, dass es einer Ausgrenzung gleichkam. Jedenfalls fühlte es sich für José so an, und als er zu Abro blickte, war ihm klar, dass sie es genauso sah. Sie verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.
»Haben Sie ein Problem damit, Silva Pereira?« Roberto richtete die Frage an Abro. Wahrscheinlich keine gute Idee, dachte José. Sie stammte aus einer Diplomatenfamilie und war der lebende Beweis dafür, dass nicht alle Gene von Mutter und Vater an die Tochter weitergeben wurden.
»Punkt eins«, sagte Abro mit betont ruhiger Stimme. »Mein vollständiger Name ist Abroholos Xana Carvhallo Barbosa Silva Pereira. Entweder sprechen Sie mich also mit meinem Vornamen an oder mit meinem vollständigen Namen. Freunde dürfen mich Abro nennen. Sie nicht. Punkt zwei: Wir vom Serviço de Informações de Segurança haben den gesetzlichen Auftrag, Informationen über terroristische Anschläge im Inland zu sammeln, um die Bürger Portugals schützen zu können. Also können Sie hier gerne einen Affentanz aufführen und Zuständigkeit einfordern, die Sie nicht haben, oder wir kürzen die Sache ab. Sie beantworten unsere Fragen und lassen uns in Ruhe arbeiten, okay? Der Vorteil ist, dass wir dann schneller wieder weg sind. Ich möchte Sie genauso wenig in meiner Nähe haben wie Sie mich.«
Roberto knirschte mit den Zähnen. Irgendwo zirpte eine Zikade. Es musste ein Männchen sein. José dachte an den Ausspruch des griechischen Dichters Xenarchos: Glücklich leben die Zikaden, denn sie haben stumme Weiber.
»Und das war noch freundlich formuliert«, sagte José zu Roberto. »Würdest du uns jetzt unsere Arbeit machen lassen?«
Der Kriminalbeamte atmete tief ein. »Ich schicke euch einen Kollegen als Ansprechpartner.«
Roberto stampfte davon. José konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Ich darf dich aber weiter Abro nennen, oder?«, fragte er.
»Du darfst mich nennen, wie du willst.« Ein schelmisches Lächeln huschte ihr über die Lippen. »Nur nicht Mäuschen, Schatz oder so was in der Art.«
»Das würde mir nie einfallen.«
Der Kontaktmann, den Roberto schickte, war jung und adrett. Ein Anzugträger, der das Klemmbrett vor seiner Brust wie einen Schild umklammerte. Und er war genauso steif wie die Bügelfalte seiner grauen Hose. Er sprach mit nasaler Stimme, was José schon nach den ersten Worten auf den Geist ging.
»Ich möchte nur eins klarstellen«, sagte der Kontaktmann. »Die PJ wird den Ermittlungserfolg für sich verbuchen, nicht ihr vom SIS.«
Als ob es darum ging. Hier waren Menschen ums Leben gekommen. So etwas durfte nicht passieren. Niemals. Das zu verhindern wäre ein Erfolg gewesen. Also hatten sie verloren. Die PJ, der SIS, die ganze Welt.
»Und ich möchte klarstellen, dass der Tatort durch den Generalstaatsanwalt noch nicht freigegeben wurde.«
José versenkte seine Hände in den Hosentaschen. »Wir wollen nicht zum Tatort. Wir wollen Informationen über den Attentäter. Haben Sie da was?«
Der junge Beamte reichte ihm das Klemmbrett. Es waren mehrere Computerausdrucke, aus denen hervorging, dass Osman El Hady vor zwei Jahren als Flüchtling aus dem Sudan registriert wurde. Aktuell studierte er an der Uni Sozialwissenschaften. Keine kriminalpolizeilichen Erkenntnisse. Ein unbeschriebenes Blatt. Aber offensichtlich islamistisch radikalisiert. War er das schon vorher? Oder hatte er sich erst in Portugal der islamistischen Szene zugewandt? Was war passiert, dass ein offensichtlich integrierter Mensch plötzlich eine Waffe in die Hand nahm und im Namen Allahs auf wehrlose Demonstranten schoss? José schaute auf die Meldeadresse in Alferce. Das war der Nachbarort, etwa zehn Kilometer entfernt.
»Haben Sie schon nach dem Fahrzeug des Täters gesucht?«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
José deutete auf die Computerausdrucke. »El Hady wohnt in Alferce. Zur Tatzeit fährt kein Bus, soweit ich weiß. Und zehn Kilometer mit einer Maschinenpistole unter der Jacke zu laufen wäre sogar hier in der Einöde irgendjemandem aufgefallen. Er muss also mit dem Auto gekommen sein. Haben Sie nach dem Fahrzeug gesucht?«
Der junge Beamte schüttelte den Kopf. »Wir waren mit dem Tatort beschäftigt.«
»Dann machen Sie da weiter. Vielleicht kann der SIS die Kriminalpolizei unterstützen, auch wenn ihr natürlich alles im Griff habt.«
Offenbar hatte der junge Beamte die Spitze verstanden, denn er verzog das Gesicht und ging. Intelligentes Bürschchen, dachte José. Wahrscheinlich heult er sich gleich bei Roberto aus.
»Das Auto?«, fragte Abro.
»Vielleicht ist es auch nichts. Aber erfahrungsgemäß haben Attentäter bis kurz vorher noch Kontakt zu religiösen Autoritäten.«
»Um sich die letzte Salbung geben zu lassen?«
»So was in der Art. Ich weiß nur nicht, ob Islamisten das auch so nennen.«
»Wie willst du das Auto finden? Es ist, als ob wir eine Nadel im Heuhaufen suchen.«
Sudanesische Grenzregion, 09:29 Uhr EAT
Das Dorf wirkte, als wäre eine biblische Plage über seine Bewohner und ihre Habseligkeiten gekommen. Thomas stand vor der Hütte, in der er Zeuge des kaltblütigen Mordes geworden war. Und nun wurde er Zeuge dessen, wofür dieser Mann als Vorbote gelten musste. Bewaffnete Soldaten schossen wahllos auf fliehende Frauen und Kinder, die blutend zu Boden gingen. Die Soldaten traten auf die kriechenden und schreienden Menschen zu und schossen ihnen in die Köpfe. Die wenigen Männer lieferten sich einen verzweifelten Kampf mit den Angreifern, aber sie hatten keine Chance gegen die organisierten Kämpfer. Thomas war unfähig, sich zu bewegen. Er hatte in seinem Leben als Arzt viel Leid und Elend gesehen, aber nichts davon hatte ihn auf das vorbereiten können, was nun geschah. Eine Explosion zerfetzte eine Wellblechhütte. Thomas sah wie in Zeitlupe ein Metallstück auf sich zurasen, da spürte er einen Schlag und landete im Staub. Julian lag auf ihm. Das Metallteil drang dort in die Mauer, wo Thomas’ Kopf gewesen wäre, hätte Julian ihn nicht in letzter Sekunde umgerissen.
»Wir müssen weg«, schrie Julian. Er drückte sich hoch, rannte zur brennenden Wellblechhütte und verschwand hinter schwarzen Rauchschwaden. Thomas lag kraftlos im heißen Sand. Seine Arme zitterten, aber er schaffte es, sich auf die Knie zu drücken. Schwer atmend blickte er sich um. Einer der Soldaten kam mit erhobener Waffe auf ihn zu. Thomas war überzeugt, ziemlich bald zu sterben. Aber er wollte nicht sterben und sammelte seine letzten Kraftreserven, um auf die Füße zu kommen. Der Soldat kam immer näher, sein Finger krümmte sich um den Abzug. Thomas schloss die Augen. Schüsse peitschten durch die Luft, aber er spürte keinen Einschlag. Als er die Augen öffnete, lag der Soldat reglos am Boden. Ein junger Mann aus dem Dorf rannte zur Leiche und wollte sich das Sturmgewehr greifen, doch eine Maschinengewehrsalve streckte ihn nieder. Der junge Mann hatte Thomas das Leben gerettet, nur um selbst zu sterben. Das Leben war einfach nicht fair.
Ich brauche Deckung. Der Gedanke trieb Thomas an und ließ ihn stolpernd zur brennenden Wellblechhütte laufen. Die Hitze des Feuers versenkte ihm die Haare auf den Unterarmen und brannte in seinem Gesicht. Der Rauch raubte ihm den Atem. Er duckte sich hinter einem rostigen Metallfass. Zwei Soldaten rannten an ihm vorbei. Er sah keine Hoheitsabzeichen an den Ärmeln der grünen Uniformjacken, keine Rangabzeichen auf den Schultern. Irreguläre Truppen also. Geduckt huschte er zur nächsten Hauswand, presste sich dagegen und spürte die Wärme, die der Lehm abstrahlte. Die Schüsse hörten auf, es wurde gespenstisch still. Nur einen Atemzug lang, aber diese Zeit reichte, um das Geschrei der Menschen noch schrecklicher wirken zu lassen.
»Hierher.« Julians geflüsterte Stimme. Aber es klang wie geschrien.
Thomas schaute sich um. Zuerst entdeckte er seinen Freund nicht, aber dann nahm er eine Bewegung zwischen den schwarzen Müllsäcken wahr, die mannshoch aufgetürmt waren. Julian winkte ihn zu sich. Thomas nickte und wagte einen schnellen Blick um die Hausecke. Dort standen zwei Uniformierte und rauchten. Sie drehten ihm den Rücken zu, das war seine Chance. Er drückte sich von der Hauswand ab, spannte die Beinmuskeln an und wollte losrennen, doch Julian hob die Hand. Einer der Soldaten hatte sich umgedreht. Hatte er etwas gehört? Seine Schritte knirschten im Sand. Die Klangfarbe der Stimme verriet eine gewisse Alarmbereitschaft. Diese Männer gehörten zu einer Miliz, waren also schlechter ausgebildet als reguläre Soldaten, aber darauf trainiert zu überleben. Und überleben hieß bei solchen Männern, andere Menschen zu töten. Gnade oder Erbarmen waren Fehler, die sie sich nicht leisten konnten. Dementsprechend mussten sie wachsam sein.
Die Schritte wurden lauter, und Thomas hatte keine Möglichkeit, sich zu verstecken.
Berlin, 08:34 Uhr MEZ
Wiebke Meinert beobachtete Uwe Templer durch die Windschutzscheibe des Ford C-Max, wie er mit zwei Kaffeebechern in der Hand auf sie zukam. Er öffnete die Beifahrertür und quetschte sich auf den Sitz.
»Ist das ein Auto für Liliputaner? Was soll der Scheiß?« Er reichte ihr einen der Kaffeebecher. »Wird langsam zur Gewohnheit, dass wir uns in einer geklauten Karre treffen.«
Wiebke hatte den BND-Agenten vor einiger Zeit kennengelernt, als sie versucht hatte, einen terroristischen Anschlag zu verhindern. Seine Hinweise waren entscheidend gewesen, deswegen vertraute sie ihm. Halbwegs zumindest.
Sie nahm den Becher. »Ist da Zucker drin?«
»Trinken Sie ihn nicht komplett schwarz? Würde jedenfalls zu Ihrer Seele passen.«
»Also kein Zucker?«
»Hätten Sie nicht ein größeres Auto klauen können?« Templer versuchte, es sich auf dem Beifahrersitz bequem zu machen. »Wo ist dieser verflixte Rückstellhebel für den Sitz?«
»Ich klaue keine Autos.«
»Natürlich nicht. Und was war das mit dem Caddy? Der war nur ausgeliehen, oder was?«
»Ein Caddy ist kein Auto, sondern ein Zustand.« Wiebke wühlte im Seitenfach der Fahrertür. »Hier muss doch irgendwo Zucker sein.«
Der BND-Agent öffnete das Handschuhfach. Darin lagen CDs von Helene Fischer und Andreas Gabalier. »Wenn das wirklich Ihr Auto ist, haben Sie einen schlechten Musikgeschmack.«
»Das geht Sie nichts an.« Wiebke schlug die Klappe des Handschuhfachs zu.
»Wie wäre es mit einem ›Danke für den Kaffee, lieber Uwe.‹?«
»Haben Sie das, worum ich Sie gebeten habe?«
Er legte den Kopf schief. »Bekomme ich zur Abwechslung mal ein paar Antworten? Zum Beispiel was Sie mit den Informationen anfangen wollen, die ich auf höchst illegalem Weg versucht habe zu besorgen?«
»›Versucht‹ bedeutet also, dass Sie nichts für mich haben?«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Saskia ist nicht tot.«
»Das hatten wir schon. Sie sind die Einzige, die das glaubt.« Templer blickte sie fast mitleidig an.
»Ich fühle es. Sie ist entführt worden. Ich bitte Sie darum, mir alle Informationen diesbezüglich zu besorgen. Ist nicht offensichtlich, was ich damit will?« Der Gedanke an Saskia schmerzte in ihrer Seele. Wiebke blickte zur Seite, knabberte an ihrer Unterlippe. »Ich will verdammt noch mal, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Ich will meine Schwester zurück.«
»Sollten Sie das nicht lieber der Polizei überlassen? Die werden extra dafür ausgebildet, wissen Sie.«
»Das sind Stümper. Oder haben Sie irgendwo von einem Ermittlungserfolg gelesen?«
»Vielleicht liegt es auch daran, dass es keine Ermittlungsansätze gibt.«
»Ein Auto explodiert in einer Tiefgarage. Mitten in Hamburg. Sie können mir nicht erzählen, dass es keine Zeugen gibt, dass niemand weiß, was Saskia dort gemacht hat.«
Templer atmete hörbar aus. Er griff in die Innentasche seiner Funktionsjacke, holte einen Zettel hervor und reichte ihn Wiebke.
»Was ist das?«
»Ein Name. Afsaneh El-Sayed. Sie ist vom Landeskriminalamt Hamburg. Hat die Ermittlungen geleitet. Aber mehr kann ich nicht liefern.«
»Warum nicht?«
»Weil es Geheimhaltungsstufen gibt. Und der Ermittlungsvorgang bezüglich Ihrer Schwester ist da ganz hoch eingestuft. Topsecret sozusagen.«
»Und wer hat Zugriff?«
»Hohe Führungsbeamte des Bundesnachrichtendienstes und des Bundesamts für Verfassungsschutz.«
Wiebke steckte den Zettel in die Hosentasche. »Das ist ungewöhnlich, oder? Es muss doch Hinweise geben.«
»Sie meinen das Gerücht, dass Ihre Schwester bei einem Anti-Terror-Einsatz in Hamburg war?«
Wiebke nickte. Das war es, was man ihr erzählt hatte. An dem Tag, an dem Saskia gestorben war. Aber es waren die Worte eines Verräters gewesen. Wie viel war diese Information wert?
Templer wischte sich über den Mund. »Sie wissen selbst, woher diese Informationen stammen. Ihre Schwester arbeitete beim Entwicklungsministerium. Warum also sollte sie einen Einsatz in Hamburg gehabt haben?«
»Sie war Agentin.«
»Und gleichzeitig Ministeriumsmitarbeiterin? Wir wissen beide, dass das unmöglich ist. Denken Sie an das Trennungsgebot und an die Gewaltenteilung.«
»Ich weiß es aber.« Wiebke merkte selbst, dass sie wie ein trotziges Kind klang.
»Haben Sie Beweise für die Existenz einer geheimen Polizeieinheit mit nachrichtendienstlichen Befugnissen, die sich hinter der Fassade von Beamten des Entwicklungsministeriums verbirgt?«
»Waren Sie es nicht, der solche Spekulationen in den Raum warf? Sie erinnern sich an den gestohlenen Caddy, dann können Sie sich sicher auch an das erinnern, war Sie mir gesagt haben.«
»Ich hatte Ihnen gesagt, dass Saskia in Stockholm war und Professor Liebknecht getroffen hat.«
»Sie haben mir von einem Schlüssel erzählt, den Sie unbedingt brauchen.«
Templer blickte sie lange an und nickte dann langsam. »Das war eine Fehlinformation, der ich aufgrund der knappen Zeit aufgesessen bin. Ihre Schwester war nie in Stockholm. Jedenfalls nicht zur fraglichen Zeit. Und sie hat auch nicht Professor Liebknecht getroffen.«
»Schon komisch, oder?«
»Was meinen Sie?«
»Alle Informationen über Saskia unterliegen der strengsten Geheimhaltung, aber Informationen, die sie in Zusammenhang mit einer geheimen Anti-Terror-Einheit der Bundesrepublik bringen würden, sind frei zugänglich, weil Sie beweisen sollen, dass Saskia nicht in dieser Einheit war. Glauben Sie, dass ich verfickt noch mal so dämlich bin?«
Templer zuckte mit den Schultern. »So läuft das Geschäft. Nichts ist, wie es scheint. Und glauben Sie mir, nicht jedes Gerücht wird gezielt gestreut.«
»Dann sind wir also fertig.« Wiebke wurde unruhig, ihre Hände und Füße kribbelten. Viele Hinweise hatte sie nicht bekommen. Nur einen Namen. Und die Erkenntnis, dass Uwe Templer sie anlog. Er klang damals so überzeugt, als er ihr von dem Schlüssel erzählte, den Saskia von Liebknecht bekommen haben sollte.
»Sie schmeißen mich raus? Ich habe nicht einmal meinen Kaffee ausgetrunken.«
»Warum heißt es wohl To-go-Becher?«
Templer lachte. »Schlagfertig sind Sie, das muss ich Ihnen lassen.« Er schälte sich aus dem C-Max und blieb auf dem Bürgersteig stehen.
»Eine Sache noch«, rief Wiebke.
Er beugte sich in den Innenraum.
»Ich hasse es, wenn ich angelogen werde.«
»Und ich dachte, Sie wollten sich für den Kaffee bedanken.« Templer grinste zum Abschied. Wiebke beobachtete ihn durch die Windschutzscheibe, bis er hinter der nächsten Hausecke verschwunden war. Erst dann schlug sie die Hände vors Gesicht. Sie hatte so sehr gehofft, Informationen zu bekommen, die sie auf die Spur der Entführer ihrer Schwester bringen würden. Aber sie hatte nichts, gar nichts. Nur den Scheißnamen einer Polizistin, die offensichtlich ihren Job nicht richtig machte. Afsaneh El-Sayed. Wahrscheinlich eine frustrierte Zicke, die unter Minderwertigkeitskomplexen litt und deswegen mit ausgefeilter Inkompetenz wichtige Ermittlungsverfahren leitete.
Aber es war die einzige Spur, die Wiebke hatte. Und Hamburg war immer einen Besuch wert. Sie entschied, mit dem Zug zu fahren. Den C-Max parkte sie auf einem Behindertenparkplatz vor dem Hauptbahnhof. Das konnten die Bullen wenigstens: den ruhenden Verkehr überwachen und bei der Überprüfung feststellen, dass der C-Max als gestohlen ausgeschrieben war. So bekamen die Besitzer zumindest ihr Auto zurück.
Monchique, 08:36 Uhr MEZ
José blickte die lange Straße entlang, die schnurgerade bergan verlief und sich irgendwo zwischen einem Wäldchen und einem Schuppen am Horizont verlor. Unterschiedlichste Fahrzeuge standen dicht gedrängt an beiden Seiten. Was hatte seine Kollegin gesagt? Wie wolle er das Auto des Attentäters finden? Das wäre die Nadel im Heuhaufen. Dann hatte sie sich im Quiosque de Refresco an der Ecke ein Eis gekauft. Nun stand sie neben ihm und leckte mit der Zungenspitze das geschmolzene Eis von der Waffel. So konnte José sich nicht konzentrieren. Machte sie das extra? Ganz sicher wusste sie, wie ihre Wirkung auf Männer war. Und José hatte schon häufig beobachtet, dass sie mit Männern spielte wie eine Katze mit einer Maus. Zu häufig, als dass er sich nicht wünschte, einmal die Maus zu sein. Aber Abro war auch wie der Wind, nach dem sie benannt wurde: Sie hinterließ Zerstörung. Einige Männer hatten wegen Abro ihre Ehefrauen verlassen, nur um kurze Zeit später von ihr fallen gelassen zu werden wie ein uninteressantes Spielzeug. Und José wollte weder eine Maus noch ein Spielzeug sein.
»Und jetzt?«, fragte sie. »Wie willst du das Auto finden?«
»Nicht, indem wir hier rumstehen und Eis schlecken.«
Seine Kollegin zuckte mit den Schultern. »Wir könnten einfach bei der Zulassungsstelle nachfragen. Oder die Polizei um Hilfe bitten? Schließlich haben die eine Möglichkeit, schnell eine Halterfeststellung zu machen.«
»Die Polizei fällt wohl aus, und in der Zulassungsstelle arbeiten doch nur Faultiere. Fragst du heute, bekommst du nächste Woche eine Antwort. Nein, ich will mir das Fahrzeug jetzt ansehen. Und wer sagt denn, dass die Kennzeichenzuteilung auf seinen Namen lief? El Hady war Student. Vielleicht unterstützte ihn jemand?«
»Und wer? Er kam vor zwei Jahren aus dem Sudan.«
»Das ist doch was. Damit können wir anfangen.«
Abro blickte José verwirrt an. »Ich verstehe gerade gar nichts.«
»Stell dir vor, du wirst aus deinem Land vertrieben. Was würdest du tun?«
Das Gesicht seiner Kollegin hellte sich auf. »Ich würde meine nationale Identität trotzdem behalten wollen.«
»Vielleicht durch einen Autoaufkleber?«
»Eventuell. Aber wie sieht die Flagge des Sudan aus?«
»Rot, weiß, schwarz. Links ein grünes Dreieck.«
»Woher weißt du das alles?«
José wollte erwidern, dass er seine Zeit nicht mit Frauengeschichten oder Sport verplemperte, aber er lächelte nur. »Vielleicht ist es auch der Aufkleber der Uni, wo er Sozialwissenschaften studierte.«
»In Portugal gibt es viele Unis.«
»Ich denke, El Hady ist nicht allzu weit gefahren. Deswegen tippe ich auf die Universität der Algarve in Faro. Das ist von Alferce circa siebzig Kilometer entfernt.«
»Und du weißt auch, wie das Logo der Uni aussieht, richtig?«
Wieder lächelte José. Natürlich wusste er das.
Sie suchten im Umkreis von circa fünfhundert Metern um den Tatort. José war der Ansicht, dass der Attentäter nicht viel weiter weg geparkt haben konnte, schließlich lief er mit einer Maschinenpistole herum. Eine solche Waffe konnte man zwar eine Zeit lang gut verstecken, aber irgendjemandem fiel immer etwas auf. Das Risiko eines langen Weges wäre zu groß gewesen. Und José behielt recht: Vor einem Café parkte ein klappriger Fiat. Auf der Heckscheibe klebte ein Aufkleber mit dem Logo der Uni von Faro. Hätte auch jedem anderen Studenten gehören können, aber am Rückspiegel hing ein schwarzer Minikoran mit aufgedrucktem Glaubensbekenntnis, und auf der Rückbank lag, halb verborgen von einer Decke, ein Gegenstand, der wie ein Magazin aussah. Abro machte sich am Türschloss zu schaffen. Es dauerte keine zwei Atemzüge, da schwang die Tür auf. Sie machte für José eine einladende Geste.
»Ich frage lieber nicht, warum du so schnell Autos knacken kannst.« José schüttelte den Kopf.
»Ich frage dich ja auch nicht über deine Herkunft aus, oder?« Abro zuckte mit den Schultern.
José beugte sich in den Innenraum. Es roch muffig süßlich. Wie alter Schweiß. Der Gestank rührte von einem Shirt, das im Fußraum lag.
»Das stinkt ja wie die Kuscheldecke eines Pumas.«
»Glaubst du, er hat so sehr geschwitzt, dass er sich umgezogen hat?«
»Wie würdest du reagieren, wenn du weißt, dass du gleich in den Tod fährst, vorher aber noch ein paar Demonstranten erschießt? Du würdest auch schwitzen, oder?«
»Vermutlich.«
José schlug die Decke zur Seite. Darunter lag tatsächlich ein gefülltes Magazin. Und eine Laptoptasche. Aber als der nach der Tasche griff, musste er feststellen, dass sie leer war. Nicht gut. Er schälte sich aus dem Fahrzeug.
»Willst du zuerst die gute oder die schlechte Nachricht?«
»Es ist das Auto des Attentäters, aber der Laptop fehlt«, sagte seine Kollegin. »Ich habe es gesehen.«
Ende der Leseprobe