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Klangwelten digitaler Spiele E-Book

Björn Redecker

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Beschreibung

Die auditive Ebene trägt maßgeblich zur transportierten Atmosphäre digitaler Spiele bei. Björn Redecker befasst sich einerseits mit der Bedeutung von Sound und Musik für Computerspiele selbst, andererseits mit dem wissenschaftlichen Zugang und der aktuellen Forschung dazu, die unter dem Begriff »Ludomusicology« zusammengefasst wird. Dabei macht er deutlich: Sound und Gamemusik sind zentrale, hoch relevante Elemente digitaler Spiele, die sich durch einen polyfunktionalen und -valenten Charakter auszeichnen und auch bei der Gestaltung von Spielen im Game Design maßgeblich beteiligt sind.

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Seitenzahl: 628

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Björn Redecker

Klangwelten digitaler Spiele

Zur Bedeutung von Sound und Musik für Game Design und Forschung

Zugleich Dissertationsschrift an der Universität Bielefeld, Fakultät für Erziehungswissenschaft unter dem Titel »Press Play - Das Grenzgängermedium Computerspiel und seine Klangwelten. Untersuchungen zu Gamemusik und den Bedeutungen der auditiven Ebene für Forschung und Design digitaler Spiele«

Datum der Promotion: 22.11.2023

Erstgutachter: Prof. Dr. Uwe Sander

Zweitgutachter: Prof. Dr. Gundolf S. Freyermuth

 

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.dnb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-ShareAlike 4.0 Lizenz (BY-SA). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell, sofern der neu entstandene Text unter derselben Lizenz wie das Original verbreitet wird. (Lizenz-Text:

https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.de)

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Erschienen 2024 im transcript Verlag, Bielefeld

© Björn Redecker

Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Umschlagabbildung: Johnny / Adobe Stock. Generiert mit KI

Lektorat: Horst Haus

Satz: Björn Redecker

Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar

Print-ISBN 978-3-8376-7370-8

PDF-ISBN 978-3-8394-7370-2

EPUB-ISBN 978-3-7328-7370-8

https://doi.org/10.14361/9783839473702

Buchreihen-ISSN: 2702-8240

Buchreihen-eISSN: 2702-8259

IN GEDENKEN AN LORE REDECKER

Inhalt

 

Danksagungen

1Einleitung

2Computerspiele als mediale Form

2.1Die Notwendigkeit der historischen Analyse

2.2Spiel | Computerspiel – Der Werkbegriff und die Frage nach quartärer Medialität

2.3Definitionsversuche

3Gamemusik und die Problematik einer Definition

3.1Gamemusik in der Nachfolge einer kulturellen Konstante

3.2Gamemusik und Game Sounds

BeiSpiele: THE FIDELIO INCIDENT und SHADOW WARRIOR 2

BeiSpiel: INSIDE

3.3Funktionale vs. autonome Musik

3.4Programmmusik und Tonmalerei

3.5Gamemusik als akkumulative Form

BeiSpiele: DREAMFALL CHAPTERS und DREAMFALL: THE LONGEST JOURNEY

4Gamemusik, Game Design und Game History

4.1Erste Phase | Ein stummes Medium wird geboren

4.2Zweite Phase | Beeps, Chiptunes und Klangsyntheseverfahren prägen eine kommerzielle Revolution

4.3Dritte Phase | Digitalsampletechnik, CD-ROM und 3D-Grafikkarte begleiten den Aufstieg einer Medienindustrie

5Indie Games

5.1Über das komplexe Verhältnis von Mainstream und Gegenkultur

BeiSpiele: DREAMFALL CHAPTERS und HELLBLADE: SENUA’S SACRIFICE

5.2Gamemusik und Indie Games | Emotion und Atmosphäre

BeiSpiel: MOSAIC

6Computerspiele, Gamemusik und Wissenschaft

6.1Der dreistufige Prozess der Verschriftlichung

6.2Die Notwendigkeit einer interdisziplinären Spieleforschung

6.3Chancen und Herausforderungen interdisziplinären Arbeitens | Gamemusikforschung im Spannungsfeld eines produktiven Chaos’

7Prädetermination vs. Emergenz | Narratologie vs. Ludologie

7.1Kernproblem und Reiz eines Widerspruchs

7.2Gamemusik, Ludologie und Narratologie | Zwischen Remediation und Eigenlogik

8Conclusio | Gamemusik und Ludomusicology als Fluchtpunkte der Game Studies

Quellen

Bibliographie

Musikwerke

Film-, Funk- und Fernsehwerke

Ludographie

Danksagungen

Die vorliegende Monografie ist zugleich die Dissertationsschrift einer freien Promotion an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld. Sie ist über den Zeitraum einiger Jahre nach meinem Studium der Interdisziplinären Medienwissenschaft in Bielefeld entstanden. Ihren eigentlichen Ursprung findet sie noch aus der Zeit meines Bachelorstudiums an der Universität Paderborn und der Hochschule für Musik Detmold, in dessen Zusammenhang ich ein Seminar zum Thema Gamemusik besuchte. Nach diesem erstmalig geweckten Interesse für das Themengebiet schrieb ich an der Universität Bielefeld einige Jahre später eine Hausarbeit über digitale Spiele bei Prof. Dr. Uwe Sander und inkludierte einen Abschnitt zum Thema Gamemusik.

Von diesem Zeitpunkt an ließ mich die geisteswissenschaftliche Auseinandersetzung mit digitalen Spielen und ihren Klangwelten nicht mehr los, so dass ich mich dazu entschied, mich auch in meiner Masterarbeit mit digitalen Spielen auseinanderzusetzen, dessen Betreuung erneut Prof. Dr. Uwe Sander übernahm sowie Paul John als Zweitkorrektor. Doch auch nach dem erfolgreichen Abschluss des Masterstudiums sollte mich die Faszination nicht loslassen. Zu wenig Zeit und Raum boten Haus- und Masterarbeit, so dass ich mich kurz nach Studienabschluss wieder an den Schreibtisch begab.

Zu danken habe ich zuerst den Menschen, die mich auf meinem Weg unterstützt und betreut haben. Allen voran Prof. Dr. Uwe Sander, der sich an der Fakultät für Erziehungswissenschaft stets für meinen geisteswissenschaftlichen Ansatz und meine Themenwahl stark machte und mir die Möglichkeit der freien Promotion innerhalb der Game Studies an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld überhaupt erst ermöglichte. Zu danken habe ich auch Prof. Dr. Gundolf S. Freyermuth, der mich freiwillig als externer Gutachter vom Cologne Game Lab (CGL) aus betreute, sich die Zeit nahm, mich mit vielen fachlichen Ratschlägen und Hinweisen zu unterstützen und schließlich für die Disputation der Arbeit nach Bielefeld anreiste.

Bedanken möchte ich mich auch bei Dr. Jan-Niklas Meier, mit dem ich in meiner Zeit an der Universität Bielefeld gemeinsam ein Game Studies-Kolloquium für interessierte Studierende anbot und darüber hinaus stets einen fachlichen Austausch pflegen konnte – insbesondere zum Themengebiet der Narratologie. Außerdem möchte ich Prof.in Dr. Sonja Ganguin von der Universität Leipzig danken, die mich zu meiner ersten Publikation als Ko-Autor im Rahmen der Science Mashup-Konferenz 2020 ermutigte. Im Rahmen meiner ersten internationalen Publikation im Journal of Sound and Music in Games unterstützte und ermutigte mich Dr. Tim Summers von der Royal Holloway University of London, während ich auch den Teilnehmenden und dem Organisationsteam des Young Academics Workshop 2020 am CGL für den fachlichen Austausch und die Aufnahme in den anschließenden Tagungsband zu Dank verpflichtet bin. Schlussendlich möchte ich mich auch bei allen Sponsoren und dem Editorial Board der Open Library Medienwissenschaft 2024 bedanken, ohne die eine Open Access-Publikation dieses Buchs nicht möglich gewesen wäre.

Während fachlicher Austausch, akademische Betreuung und finanzielle Unterstützung bei der Publikation sicherlich die Grundlage für das Gelingen eines Dissertationsprojektes bilden, so ist auch die außerakademische Unterstützung dieses herausfordernden Unterfangens nicht zu unterschätzen. Dank gebührt daher meinem Freundeskreis sowie den Musikerinnen und Musikern der verschiedenen Bands und musikalischen Projekte, in denen ich seit vielen Jahren tätig bin. Eure Freundschaft und die gemeinsame Leidenschaft zum Musizieren sind mir stets eine wichtige emotionale Stütze sowie der benötigte Ausgleich, um Kraft, Energie und Motivation zu schöpfen. Zum Schluss bin ich meiner Familie und insbesondere meinen Eltern Helga und Ulrich Redecker zu tiefstem Dank verpflichtet, die mich zu jedem Zeitpunkt meiner wissenschaftlichen Laufbahn – vor allen Dingen in den herausfordernden Momenten – stets unterstützt und ermutigt haben, niemals aufzugeben und meinen Weg immer weiter zu verfolgen. Ohne Euch alle wäre dieses Großprojekt niemals gelungen.

Bielefeld, im April 2024

1 Einleitung

Als sich mit der Erfindung der universalen elektronischen Rechenmaschine, des Computers, im 20. Jahrhundert die dritte industrielle Revolution ankündigte, sollte die bevorstehende Digitalisierung der Gesellschaft universelle Konsequenzen nach sich ziehen. Kurioserweise sorgte sie – neben den vielen Veränderungen verschiedenster Lebensbereiche – auch für die Entstehung eines in dieser Form noch nie dagewesenen Unterhaltungsmediums. Computerspiele haben sich als Resultat der Umsetzung des menschlichen Spieltriebs mithilfe technologischer Möglichkeiten seit ihrer Entstehung in den 1950er und 1960er Jahren immer weiterentwickelt und ausdifferenziert, bis sie die komplexeste, faszinierendste und vielschichtigste mediale Unterhaltungsform der Gegenwart geworden sind. Viele verschiedene Faktoren führten und führen bis heute zu Weiterentwicklungen, zentral ist dabei aber stets die technische Evolution von Hard- und Software. Aber auch kulturelle, künstlerische, soziale und ökonomische Faktoren spielen eine wichtige Rolle. Jahr für Jahr strömen immer bessere, schnellere Hardwarekomponenten auf den Markt, sodass die rasante technische Entwicklung eng mit der konstitutiven und inhaltlichen Evolution des Mediums verknüpft ist. Viele der heutigen Spieltitel haben nur noch rudimentär etwas mit ihren über 50 Jahre alten Vorfahren gemein. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Nora S. Stampfl konstatiert:

»Heute erzählen Videospiele fantastische Geschichten, nehmen den Spieler in eine andere Welt mit unzähligen Abenteuern mit und ergründen als auch übertreten [sic] gesellschaftliche Konventionen.«1

Aus einer wortwörtlichen ›Spielerei‹ einiger Hacker Mitte des 20. Jahrhunderts ist ein Unterhaltungsmedium geworden, das aus unserer Gesellschaft nicht wegzudenken ist und eine gigantische ökonomische Dimension erreicht hat, in der eine milliardenschwere Unterhaltungsindustrie digitale Spiele produziert und mit Gewinn vermarktet. Die Musikwissenschaftlerin Yvonne Stingel-Voigt konstatiert, dass in Computerspielen »mittlerweile viel Geld [steckt]. BIOSHOCK INFINITE und GTA 5 aus dem Jahr 2013 wurden mit Budgets produziert, die 100 Millionen US-Dollar erreichen oder sogar übertreffen.«2 Digitale Spiele erreichen heute ein breit gefächertes Publikum. Hartnäckig hält sich zuweilen zwar noch das Klischee der isolierten, sozial entfremdeten, hauptsächlich jugendlichen männlichen ›Zocker‹, die sich in dunklen Kinderzimmern einen Weg durch – für den Rest der Gesellschaft – kaum begreifbare Pixelwelten bahnen, kämpfen, rätseln oder schießen. Jedoch merkte Rainer Wagenhäuser bereits 1996 an, dass

»[d]as Schreckensbild des vereinsamten Computerfreaks, der auf jegliche soziale Kontakte verzichtet […] mittlerweile durch diverse Untersuchungen widerlegt [wurde]. PC-Spiele ergänzen die Freizeitgestaltung.«3

Die Nutzung digitaler Spiele ist darüber hinaus längst nicht mehr nur Kindheit oder Jugend zuzuschreiben. »Computerspiele sind […] heute keine ›Kinderspiele‹ mehr. Weder der vorrangige Nutzerkreis noch ihre Komplexität, Thematik und Ausgereiftheit rechtfertigen diese Bezeichnung.«4 Auch der Kulturjournalist Andreas Rosenfelder konstatiert, dass sich die Größenverhältnisse verändert haben:

»Unbemerkt sind die animierten, elektronischen Universen expandiert. Die jämmerlichen Pixelklumpen, die sich über die grünen Monitore der Computersteinzeit bewegten, haben sich durch Zellteilung vergrößert und ausdifferenziert.«5

Auf die rapide Entwicklungsgeschichte des Mediums kommt auch Winifred Phillips zu sprechen: »The fact that our industry has come such a long way in such a relatively short time is an indication of the rapid rate of innovation and advancement.«6 Diese Sichtweise teilt nicht nur Phillips, die als Gamekomponistin7 einen Einblick in eines von vielen Berufsfeldern innerhalb der Computerspielindustrie gewährt. Auch unter Forschenden der Game Studies (Computerspielforschung), Journalisten- sowie der Spielerschaft herrscht Einigkeit darüber, dass sich Computerspiele in ihrer vergleichsweisen kurzen Historie sehr vielschichtig entwickelt haben.8 James Newman konstatiert bereits 2004:

»[E]ven if, as Jesper Juul (2000) has more pragmatically suggested, we have not seen the first videogame Shakespeare or Bach, the speed with which videogames have developed aesthetically, formally and functionally, is remarkable.«9

Der Literaturwissenschaftler Thomas Bissell zeigt am Beispiel des Spieltitels THE ELDER SCROLLS 4: OBLIVION10 die Komplexität des Mediums auf:

»[I]n the world of OBLIVION11 you can also pick flowers, explore caves, dive for treasure, buy houses, bet on gladiatorial arena fights, hunt bear, and read books. Oblivion is less a game than a world that best rewards full citizenship.«12

Neben der Auseinandersetzung mit verschiedenen Themenkomplexen innerhalb einer sich seit Anfang des 21. Jahrhunderts institutionalisierenden Computerspielforschung, die sich u. a. mit Definitionsversuchen, Geschichte digitaler Spiele, Genretheorie, Überlegungen zu Ludologie und Narratologie sowie zu Atmosphäre, Raum, Zeit und Immersion befasst, entstand in den letzten zehn Jahren auch ein Interesse an der auditiven Ebene des Mediums. Immer mehr Forschende beginnen, sich genauer mit Game Sounds und Gamemusik, ihren Inhalten, Verwendungsstrategien, Funktionen, Wirkungen, Kompositionstechniken oder Ästhetiken zu befassen.13 Die Musikwissenschaftlerin Melanie Fritsch konstatiert: »Computerspiele blicken auf eine etwa 50-jährige Geschichte zurück und mehrere Generationen sind bereits mit Computerspielen, ihrer Ästhetik sowie ihren Sounds und ihrer Musik aufgewachsen.«14

Die vorliegende Arbeit soll der Relevanz der auditiven Ebene und insbesondere der Gamemusik als zentralem, gestalterischem Element digitaler Spiele Rechnung tragen, die sich durch ihren polyfunktionalen und -valenten Charakter auszeichnet. Ferner soll diese Arbeit einen Zusammenhang zwischen Gamemusik und dem Unterhaltungs- wie Bildungspotenzial digitaler Spiele nachzeichnen. Dabei steht sie in einem konstanten Querbezug zur Konstitution des komplexen Forschungsgegenstands, der Schwierigkeit seiner Definition, seiner Geschichte, und den Game Studies mit ihren Diskursen. Grundsätzlich ist anzumerken, dass Computerspiele im Rahmen dieser Arbeit als fest verankertes Kulturgut verstanden werden. Nicht nur hat das Museum of Modern Art Computerspiele im Dezember 2012 in seine Sammlung integriert,15 sie sind überdies Gegenstand zahlreicher crossmedialer Anspielungen innerhalb anderer populärer Medien wie Film,16 TV-Serien17 und Cartoons.18 James Newman verwies schon vor fast zwei Jahrzehnten darauf, dass »a growing number of scholars and cultural critics are coming to recognize the social, cultural and economic importance of this form of entertainment.«19 Auch im deutschsprachigen Raum finden seit mittlerweile mehr als einer Dekade regelmäßig internationale Forschungskonferenzen statt, die sich interdisziplinär mit dem Medium auseinandersetzen.20 Durch seine Präsenz in anderen Formen populärer Kultur und der akademischen Welt lässt sich Computerspielen im 21. Jahrhundert unbestreitbar eine gesamtgesellschaftliche, artistische, kulturelle, ästhetische, diskursive und ökonomische Relevanz zuschreiben. Bereits 1995 prophezeite Shuker »enthusiastic, ›Video games are now a major cultural form, and may well soon replace cinema, cable and broadcast television as the dominant popular medium‹.«21

Diese Arbeit strebt grundsätzlich einen interdisziplinären Zugriff auf diese Kulturform an, der die auditive Ebene digitaler Spiele als Fluchtpunkt multidisziplinärer Perspektiven konzipiert. Eine Beschäftigung mit der auditiven Ebene – von Sound und Musik in Computerspielen – kann jedoch nur dann stattfinden, wenn die spezifische Medialität digitaler Spiele und ihre konstituierenden Elemente beleuchtet werden. Dies gestaltet sich mitunter sehr schwierig, handelt es sich bei Computerspielen um eine komplexe und vielschichtige mediale Form, die sich in ihrer Grundbeschaffenheit gerade dadurch auszuzeichnen scheint, wenig determiniert zu sein. Was auf dem Bildschirm zu sehen sein wird, ist nur begrenzt voraussehbar und einerseits von den – in den Programmcode eingeschriebenen – Möglichkeitsräumen und den Aktionen Spielender andererseits abhängig. Denn diese haben die Möglichkeit, anders als im Zusammenhang mit non-interaktiven Medienformen, einen begrenzten Einfluss auf das ›Spielgeschehen‹, die bewegten Bilder, Aktionen, Mechaniken, narrativen Inhalte und letztlich auch die auditive Ebene zu nehmen. So sind Computerspiele kaum präzise, trennscharf und determiniert fassbar. Ihre Definition muss vom Systematischen und Normativen zum Historischen fortschreiten.22

Im Folgenden werden daher zunächst die Fragestellungen nach einer Definition des Forschungsobjekts Computerspiel (Kapitel 2) und seiner auditiven Ebene (Kapitel 3) diskutiert. In diesem Zusammenhang ist die Definition und Einordnung von Gamemusik in den Kontext historischer wie systematischer Musikwissenschaft unerlässlich. Im Anschluss daran wird die Notwendigkeit der historischen Analyse digitaler Spiele und ihrer auditiven Ebene aufgezeigt und nachgezeichnet (Kapitel 4). Ein gesondertes Augenmerk gilt dabei den seit den 2000er Jahren immer populärer gewordenen Indie Games und ihrer Beziehung zu Game Sounds und Gamemusik (Kapitel 5). Im letzten Drittel wendet sich die Arbeit dann der Verdeutlichung der Notwendigkeit einer interdisziplinären Forschung am Grenzgängermedium Computerspiel zu. Der Begriff Game Studies (Computerspielforschung) spielt dabei eine zentrale Rolle. Was Game Studies sind, welches Selbstverständnis sie besitzen, welche Ansprüche sie erheben, welchen Problemen und Aufgaben sie sich gegenübersehen und welche Chancen sie offenbaren, soll nach einem ersten Überblick über die bisherige Forschung intensiver diskutiert werden (Kapitel 6). Dabei wird auch das dichotomische Verhältnis von Ludologie und Narratologie als zentraler Diskurs der Game Studies aufgegriffen und anschließend aufgezeigt, inwiefern Gamemusik für beide anfänglich in Grabenkämpfe verstrickten Forschungsströmungen gleichsam von Bedeutung sein kann (Kapitel 7). In beiden Kapiteln wird dabei unter Verweis auf die spezifische Forschungsströmung der Ludomusicology aufgezeigt, dass Gamemusik als Knotenpunkt vieler diverser Themenkomplexe und Perspektiven innerhalb der Game Studies fungieren kann. Der Begriff setzt sich zusammen aus den Wörtern Ludologie, als einem der zentralen Begriffe innerhalb der Game Studies, und Musicology, dem englischen Begriff für Musikwissenschaft. Im Deutschen ließe sich von ›Gamemusikwissenschaft‹ als Begriff für eine Forschungsströmung sprechen, die sich mit der auditiven Ebene digitaler Spiele beschäftigt und sich, nicht zuletzt durch dezidierte Forschungsgruppen mit eigenen Publikationen und Fachkonferenzen, gegen Ende der 2000er Jahre etablieren konnte.23 Das Schlusskapitel fasst die Erkenntnisse aus den Diskursen und Analysen zusammen und greift auch das über den Verlauf der Arbeit immer wieder formulierte Desiderat interdisziplinärer Forschungsdesigns und einer Bestimmung der Rolle der Ludomusicology in ihnen noch einmal auf.

Im Verlauf der Arbeit soll immer wieder deutlich werden, wie eng verschiedenste Betrachtungswinkel, Themenkomplexe, Beobachtungen und Forschungsergebnisse ganz unterschiedlicher Disziplinen und ihrer Autorinnen miteinander verwoben sind. Letztlich existieren einerseits konkurrierende, andererseits komplementäre Überlegungen. Ein ständiger Rück- und Querbezug auf jene vielfältig verzweigten Gedankengänge ist daher im Laufe dieses Dissertationsprojekts unverzichtbar. Jesper Juul spricht in diesem Zusammenhang wörtlich von einem ›produktiven Chaos‹, wenn er konstatiert:

»The young field of computer game studies is in a state of productive chaos. It is an amalgam of researchers from different disciplines bringing wildly contradictory assumptions to the table, yet also an area with its own set of conferences, associations, and journals.«24

Jenes produktive Chaos schlägt sich auch unweigerlich in dem Versuch einer interdisziplinären Herangehensweise an das Grenzgängermedium Computerspiel und der Bedeutung von Sound und Musik darin nieder. Die angesprochene interdisziplinäre Verwobenheit lässt einen trennscharfen und monodisziplinären Ansatz bei der Betrachtung der auditiven Ebene digitaler Spiele also als wenig gewinnbringend erscheinen. Vielmehr ist ein Vorgehen unverzichtbar, das einem interdisziplinären Ansatz folgt. Denn nur so können einerseits die komplexe Struktur, die Eigenheiten, Paradoxien und die Fluidität sowie die spezifische Medialität digitaler Spiele selbst berücksichtigt und Gamemusik als Fluchtpunkt und Projektionsfläche des komplexen Grenzgängermediums konzipiert werden. Andererseits wird es so auch möglich, die vielschichtigen Themenkomplexe innerhalb der Game Studies in einen Kontext einzubetten und somit hinsichtlich eines übergeordneten Interessensgebietes, der Gamemusik, zu bündeln und auf dieses zu projizieren. Die Konzeption der auditiven Ebene als Fluchtpunkt der komplexen Medienform Computerspiel einerseits, und andererseits der Computerspielforschung – also der akademischen Auseinandersetzung mit digitalen Spielen –ist dabei das zentrale, duale Anliegen dieser Dissertation. Dabei sind Rück- und Querbezüge zwischen den verschiedenen Kapiteln und zwischen Beispielanalysen und theoretischen Überlegungen im Verlauf der Arbeit nicht zu vermeiden.

Wie Christine Hanke konstatiert, gibt es keine systematische Vermittlung von Forschungsansätzen.25 Bisher existieren lediglich einige wenige Vorschläge und Modelle zur Objektanalyse von Spieltiteln allgemein.26 Ähnliches gilt für die Analyse von Gamemusik.27 Die im Rahmen dieser Arbeit ausgewählte Herangehensweise ist eine prototypische, Artefakt-orientierte Objektanalyse. Dabei wird selbstaufgezeichnetes Gameplaymaterial in der Form von Videoclips (Captured Video, gekennzeichnet als CapVid) verwendet, die als praktische Beispiele theoretischer Überlegungen und Gedankengänge dienen, und anhand derer sich Aussagen über Bedeutungen und Funktionen von Gamemusik treffen lassen.28 Da die Betrachtung dieser Artefakt-orientierten Auseinandersetzungen einen qualitativen Ansatz erfordert, sind Aussagen beispielsweise zu Wirkungen von Gamemusik auf Spielerinnen29 und Datenerhebungen, so wie sie die quantitative empirische Sozialforschung vornehmen würde, lediglich in begrenztem Rahmen realisierbar. Dafür liefert der qualitative, Artefakt-orientierte Ansatz sehr präzise Ergebnisse bezüglich des Forschungsobjekts Computerspiel selbst und den Bedeutungen seiner auditiven Ebene.

Ein zentrales Problem akademischer Auseinandersetzung mit digitalen Spielen ist die schiere Masse an wöchentlich erscheinenden Spieltiteln. Sie sorgt zwar für einen gigantischen Datenpool, führt die erdrückende Anzahl an zu untersuchenden Objekten aber auch zu einem kaum beherrsch- und kodifizierbaren Chaos, über das nur abstrakt und verallgemeinernd gesprochen werden kann. Die Tatsache, dass, wenn überhaupt, nur Verallgemeinerungen vorgenommen werden können, hat bereits Newman vor fast 20 Jahren konstatiert:

»As with any academic approach to popular cultural artefacts, the sheer number of artefacts entails that, for better or worse, only generalizations can be made about their nature and use.«30

Vor der schieren Masse an Artefakten, in diesem Fall den Spieltiteln, sowie der rapiden Entwicklung des Forschungsgegenstandes ist schlichtweg zu kollabieren. So unbefriedigend dies sein mag. Dezidierte Analysen, die zum Kern des komplexen Forschungsgegenstands vordringen, seine Ästhetik entschlüsseln und ein Unterhaltungs- wie Bildungspotenzial offenlegen können, sind daher immer nur im Kontext ausgewählter Einzelfälle möglich. Sinnvoll gestaltet sich die Arbeit am Forschungsobjekt selbst daher durch einen qualitativen Ansatz, der den konkreten Prozess des Computerspielens selbst nicht scheuen darf und aus dieser persönlichen Involviertheit jene dezidierten Analysen möglich macht. Dass die Erkenntnisse aus diesen Analysen folglich nicht verallgemeinernd gelten können, versteht sich von selbst und ist der bereits angesprochenen erdrückenden Anzahl und Vielfalt fortwährend erscheinender, neuer Spieltitel geschuldet.

Der qualitative, hermeneutische Ansatz dieser Arbeit lässt mithilfe von BeiSpielanalysen31 einerseits, und intensiver Literarturarbeit andererseits einzelne Orientierungsbojen entstehen, die bei der schwierigen Navigation durch die Artefaktmasse behilflich sind und die Natur, Konstitution und Ästhetik digitaler Spiele als Forschungsobjekt nachvollziehbar werden lassen. Aus diesem Grund durchmischt diese Arbeit dezidierte Spiel- und Gamemusikanalysen und eine nahe Orientierung an der Literatur, was letztlich auch zu einer erhöhten Anzahl direkter Zitate führt. Dabei versucht sie stets, die Komplexität der Computerspielforschung als interdisziplinäres Feld einerseits und die grenzgängerische Natur des Forschungsobjekts Computerspiel andererseits aufzuzeigen. Diese Vorgehensweise wird vom Autor als sinnvoller Arbeitsansatz im Zusammenhang einer einführenden Schrift in das verhältnismäßig junge Feld der Ludomusicology verstanden.

Die ersten zwei Gretchenfragen einer ludomusikologischen Monografie sind die nach der Definition des gewählten Forschungsgegenstandes, in diesem Fall also zum einen nach dem digitalen Spiel, und zum anderen nach seiner auditiven Ebene. Ihre Diskussion ist Gegenstand der folgenden zwei Kapitel.

1Stampfl, Nora S.: Die verspielte Gesellschaft: Gamification oder Leben im Zeitalter des Computerspiels, Hannover: Heise 2012, S. 51.

2Ebd., S. 13, Herv. i. O.

3Wagenhäuser, Rainer: »Gewalt und Konfliktlösung bei PC-Spielen«, in: Maaß/Aulehla (Hg.), Computerspiele. Markt und Pädagogik, München: Profil 1996, S. 26-30, hier S. 29.

4N. S. Stampfl: Die verspielte Gesellschaft, S. 50.

5Rosenfelder, Andreas: Digitale Paradiese: Von der schrecklichen Schönheit der Computerspiele, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008, S. 20.

6Phillips, Winifred: A composer’s guide to game music, Cambridge, MA und London: The MIT Press 2014, S. 6.

7Analog zum Begriff ›Filmkomponistin‹.

8Vgl. u. a. T.C. Bissell 2011; K. Collins 2008; J. Distelmeyer/C. Hanke/D. Mersch 2008; G. S. Freyermuth 2015; J. Kücklich 2008; J. Newman 2004; A. Rosenfelder 2008; K. Sachs-Hombach/J.-N. Thon 2015; N.-S. Stampfl 2012; B. Sterbenz 2011; Y. Stingel-Voigt 2014.

9Newman, James: Videogames, London: Routledge 2004, S. 2.

10THE ELDER SCROLLS IV: OBLIVION (Bethesda Softworks 2006, O: Bethesda Game Studios).

11Da Spieltitelnennungen in dieser Publikation grundsätzlich in Kapitälchen erfolgen, sind auch Spieltitelnennungen aus Zitaten im Sinne einer einheitlichen Typografie in Kapitälchen umgewandelt worden. Spieltitel, die nur in Zitaten genannt werden, sind nicht mit einem Vollbeleg ausgestattet.

12Bissell, Thomas C.: Extra Lives: Why Video Games Matter, New York: First Vintage Books Edition 2011, S. 5, Herv. i. O.

13Vgl. u. a. K. Collins 2008; K. Jørgensen 2009; W. Phillips 2014; Y. Stingel-Voigt 2014; C. Hust 2018; N. Lee/D. Williams 2018; M. Kamp/T. Summers/M. Sweeney 2016; P. Moormann 2013; M. Fritsch 2013, 2018; E. Jünger 2009; Y. Stingel-Voigt 2015; K. Jørgensen. 2006.

14M. Fritsch: Editorial, S. 4.

15Vgl. Y. Stingel-Voigt: Soundtracks virtueller Welten, S. 13.

16ASSASSIN’S CREED (USA 2016, R: Justin Kurzel).

17THE WITCHER (USA/PL 2019-anhaltend, R: Thomasz Bagiński).

18MAKE LOVE, NOT WARCRAFT (= South Park, Staffel 10, Folge 08. USA 2006, R: Trey Parker/Matt Stone).

19J. Newman: Videogames, S. 1f.

20Vgl. u. a. Clash of Realities. International Conference on the Art, Technology and Theory of Digital Games, 2006–2022, siehehttps://www.clashofrealities.com; FROG – Future and Reality of Gaming, 2017-anhaltend, siehe https://www.frogvienna.at, alle Aufrufe vom 13.12.2022.

21J. Newman: Videogames, S. 2.

22Vgl. Freyermuth, Gundolf S.: Games | Game Design | Game Studies: Eine Einführung, Bielefeld: transcript 2015, S. 205.

23Vgl. u. a. M. Kamp/T. Summers/M. Sweeney 2016; S. Baysted 2020-anhaltend.

24Juul, Jesper: »Where the Action is«, in: Game Studies. The International Journal of Computer Game Research 5 (2005), o. S.

25Vgl. Hanke, Christine: »>Next Level. Das Computerspiel als Medium. Eine Einleitung«, in: Distelmeyer/Hanke/Mersch (Hg.), Game over!? Perspektiven des Computerspiels, Bielefeld: transcript 2008, S. 7-18, hier S. 8.

26Vgl. u. a. K. Zierold 2011; D. Kringiel 2009; C. Fernández-Vara 2015; S. Eichner 2017; P. Fust 2019.

27Vgl. u. a. T. Summers 2016; I. van Elferen 2016; Z. Whalen 2007.

28Im Rahmen dieser Publikation finden sich Screenshots aus den aufgezeichneten Gameplay-Szenen als Abbildungen.

29Diese Publikation verwendet in ungeraden und geraden Kapiteln abwechselnd jeweils das generische Femininum und das generische Maskulinum.

30J. Newman: Videogames, S. 92.

31Jeweils in den Kapiteln 3 und 5 dieser Arbeit zu finden.

2 Computerspiele als mediale Form

Am Anfang steht die Frage, was unter dem Begriff ›Computerspiel‹ zu verstehen ist. Seinen Ursprung findet er zunächst im Hauptwort ›Spiel‹. Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga definiert in seinem Grundlagenwerk Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel:

»Spiel ist eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewusstsein des ›Andersseins‹ als das ›gewöhnliche Leben‹.«1

Dadurch, dass diese Handlung »als ›nicht so gemeint‹ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann«2 zeigt sich das grundsätzliche, immersive Potenzial des Spiels. Dies gilt zunächst für jedwede Art von Spiel und lässt sich auch unabhängig von digitalen Spielen als audiovisueller, interaktiver Unterhaltungsform konstatieren. Huizinga erklärt dies mit der Verortung des Spiels in einem eigenen symbolischen wie metaphysischen Raum, der sich durch sein ›Anderssein‹ definiert und somit außerhalb des gewöhnlichen Lebens verankert scheint:

»Das Spiel sondert sich vom gewöhnlichen Leben durch seinen Platz und seine Dauer. Seine Abgeschlossenheit und Begrenztheit bildet sein drittes Kennzeichen. Es ›spielt‹ sich innerhalb bestimmter Grenzen von Zeit und Raum ›ab‹. Es hat seinen Verlauf und seinen Sinn in sich selbst.«3

Folglich bieten dieses Abgeschieden-Sein und die Verortung außerhalb des gewöhnlichen und alltäglichen Lebens die Flucht in eine Sphäre an, die ihren eigenen – und unter Umständen anderen – Regeln folgt. Jene Regeln sind für Huizinga von zentraler Bedeutung, denn sie bestimmen, »was innerhalb der zeitweiligen Welt, die es herausgetrennt hat, gelten soll. Die Regeln eines Spiels sind unbedingt bindend und dulden keinen Zweifel.«4 Umgekehrt sind die Regeln des gewöhnlichen Lebens, des Alltags, im Spiel oftmals ausgesetzt. »Diese zeitweilige Aufhebung der ›gewöhnlichen Welt‹ ist bereits im Kinderleben völlig ausgebildet, ebenso deutlich sieht man sie aber bei den großen, im Kult verankerten Spielen der Naturvölker.«5 Zu diesem Schluss kommt auch der französische Philosoph und Soziologe Roger Caillois, der ebenso ein immersives Potenzial des Spiels darin sieht, dass

»[d]ie verworrenen und verwirrenden Gesetze des gewöhnlichen Lebens […] in diesem begrenzten Raum und für diese gegebene Zeit ersetzt [werden] durch neue, eigenmächtige und unwiderlegbare Regeln, die man als solche annehmen muß und die den korrekten Ablauf der Partie bestimmen.«6

Welche Bedeutung Regeln haben, zeigt sich vor allen Dingen dann, wenn sie entweder missbraucht oder gar ignoriert werden. So unterscheidet Huizinga beispielsweise in die Kategorien ›Spielverderber‹ und ›Falschspieler‹: Während der Falschspieler die Regeln des Spiels zumindest zum Schein akzeptiert, sie im Insgeheimen jedoch missachtet, richtet der Spielverderber noch größeren Schaden an, indem er das Regelwerk grundsätzlich ablehnt und somit das Fundament des Spiels zerstört.7 Caillois ergänzt, dass das Spiel als System mit einem Fortlauf nicht durch die Unredlichkeit des Falschspielers zerstört wird. Es zerfällt ihm zufolge erst durch den »Neinsager, der auf die Absurdität der Regeln, auf deren konventionelles Wesen hinweist, und der es ablehnt zu spielen, weil das Spiel keinen Sinn habe.«8 Die Ausführungen Huizingas wie Caillois’ verdeutlichen, wie gravierend die Konsequenzen der Nichteinhaltung des Regelwerks sein können. Sie führen bis zur Zerstörung des Spiels. Digitale Spiele verwässern hingegen die absolutistische Natur des Regelwerks insofern, als dass es durchaus möglich ist, Regeln zu umgehen, ohne dass der dem Spiel zugrunde liegende Programmcode kollabieren würde. Die Praktik des sogenannten ›Cheatens‹ermöglicht es Spielenden, Regeln zu missachten oder zu umgehen, ohne dass dabei das gesamte Spiel in sich zusammenfällt. Dies hat primär etwas mit der unterschiedlichen Beschaffenheit analoger und digitaler Spiele zu tun. Aus technischer Sicht handelt es sich bei Cheats vielmehr um eine Modifikation des Programmcodes, in den sämtliche konstitutiven Elemente des Computerspiels eingeschrieben sind. In ihrer Anwendung sind sie also mehr als ein ›Umschreiben‹ des Regelwerks zu eigenen Gunsten zu verstehen denn als eine Missachtung. Dieser Vorgang ähnelt eher Huizingas und Caillois’ Falschspieler, der den ›Zauberkreis‹ des Spiels zum Schein anerkennt, und dem die Sünde leichter vergeben wird als dem Spielverderber. Cheater sind also mehr technische Betrüger und ihre Handlungen eher in einer Sphäre des moralisch Verwerflichen zu verorten denn in einer Sphäre der Destruktion. Trotzdem ist es kaum verwunderlich, dass Praktiken wie das Cheaten verpönt sind und auf Ablehnung stoßen. Grundsätzlich herrscht auch in der Welt der digitalen Spiele Respekt vor ihren Regeln.

Etwa 85 Jahre nach Huizingas und ca. 65 Jahre nach Caillois’ Ausführungen finden sich definitorische Aspekte wie die freiwillige Handlung, der reine Selbstzweck, das ›Anderssein‹ und die Bedeutung des Regelwerks in heutigen Perspektiven, die sich konkreter auf das Computerspiel beziehen, auch in kontemporären Publikationen wieder. So konstatiert die Musikwissenschaftlerin Ellen Jünger, dass Computerspiele analog zu anderen Spielformen über Spielregeln verfügen, »die innerhalb eines von der Realität abgegrenzten Raumes – dem Spielfeld – gültig sind.«9 Kulturhistoriker wie Huizinga haben sich indes weitaus früher mit dem Konzept des Spiels und des Spielens beschäftigt, als das Medium Computerspiel existiert. Diese Beschäftigung findet daher logischerweise mit einem grundlegenderen, zunächst analogen Spielbegriff statt. Jedoch hat »[e]ine Geschichte der Game Studies als neue wissenschaftliche Disziplin, deren Gegenstand digitale Spiele sind, […] mit ihrer Vorgeschichte zu beginnen.«10Und diese Vorgeschichte findet in den Ausformungen analoger Spiele statt, denn

»[z]ur philosophisch-theoretischen Vorgeschichte digitaler Spiele gehört auch die Auseinandersetzung mit verwandten populären Formen spielerischer Unterhaltung, wie sie etwa in der Neuzeit Jahrmärkte – Fahr- und Schießvergnügen, Spiegelkabinette etc. –, Panoramen und Dioramen, Spielautomatenhallen und Themenparks boten.«11

Kategorien des Spiels können vielfältig und verschieden sein. Denkbar sind das ›Freie Spiel‹, bei dem vorrangig Kinder unter der Nutzung der eigenen Fantasie ihr reales Umfeld durch pure Imaginationskraft in eine alternative Realität nach ganz eigenen Vorstellungen umgestalten, ähnlich dem ›Schauspiel‹, in dem Schauspielerinnen eine fiktive Welt, basierend auf einem Skript oder freier Improvisation, für ein Publikum darbieten und sich dabei auch selbst in eine Rolle hineindenken und ›spielen‹, die innerhalb dieser fiktiven Welt verankert ist. Caillois spricht in diesem Zusammenhang von Spielen, die tatsächlich ohne ein Regelwerk im engeren Sinne auskommen und »die eine freie Improvisation voraussetzen und deren Hauptanziehungskraft in dem Vergnügen liegt, eine Rolle zu spielen, sich so zu verhalten, als ob man der oder jener oder auch dieses oder jenes sei, eine Maschine zum Beispiel.«12

Ein weitere Kategorie ist das Brettspiel, dessen konstitutive Elemente, Mechaniken und Ästhetiken sich auch in Computerspielen wiederfinden, und das als eine der ältesten heute bekannten Formen des Spiels angesehen werden kann: »Zu den frühesten Zeugnissen menschlicher Kultur gehören Brettspiele wie das SENET (Ägypten, 3100 v. Chr.) oder das KÖNIGLICHE SPIELVON UR (Sumer, 2600 v. Chr.).«13 Ähnliches lässt sich auch über das ›Sportspiel‹ sagen, das ebenfalls von seiner analogen Form schon häufig in die virtuellen Welten der Computerspiele übersetzt wurde und eine der ältesten, dem Homo ludens bekannten Spielformen darstellt14Electronic Arts (EA), einer der marktdominierenden Spielepublisher, verdankt seinen kommerziellen Erfolg und seine Vormachtstellung u. a. der Subdivision EA Sports und der Veröffentlichung verschiedener, immens erfolgreicher Sportspiel-Reihen wieFIFA,15 MADDEN NFL16 oder NHL.17

All diese verschiedentlichen Kategorien machen es nicht einfach, zu einer eindeutigen Definition zu gelangen, denn »many concepts that are very useful for describing one game can be rather useless when describing another«,18 wie Frans Mäyrä feststellt. Das Problem der schieren Masse wöchentlich neu erscheinender Spieltitel ist im einleitenden Kapitel dieser Arbeit bereits erwähnt worden. Hinzu kommt, dass diese Masse nicht nur eine Quantität, sondern auch eine Komplexität mit sich bringt, die eine systemische und engfassende Definition digitaler Spiele immer problematischer erscheinen lässt. Daher versucht das folgende Unterkapitel, eine sinnvolle Alternative aufzuzeigen.

2.1 DIE NOTWENDIGKEITDERHISTORISCHEN ANALYSE

Die im Vorigen diskutierte Problematik einer systemischen und allumfassenden Definition des Computerspiels wird auch von Gundolf S. Freyermuth konstatiert. Dieser verweist darauf, dass die Game Studies kaum in der Lage seien, dies zu leisten. Ein Problem jedoch, das auch andere Forschungsfelder und Disziplinen plagt und schon in Understanding video games19 Erwähnung findet. Freyermuth fasst zusammen, dass, ähnlich wie die Soziologie sich nicht auf einen Begriff von Gesellschaft oder die Medienwissenschaft sich nicht auf einen Begriff von Medium einigen könne, »auch die Game Studies weitgehend unfähig [seien], einen Begriff von dem zu gewinnen, was ein Spiel sei.«20 Neben anderen Vertretern der Game Studies sieht auch er diese Problematik der Interdisziplinarität der Game Studies geschuldet.21 Verschiedene Akteurinnen aus teils sehr unterschiedlichen Bereichen formulieren Gedankengänge und Ideen und erliegen dabei nicht selten den Limitationen ihres eigenen Hintergrunds. Jesse Schell hat beispielsweise das Schisma zwischen Medienpraktikerinnen auf der einen, und Medientheoretikerinnen auf der anderen Seite

»wie folgt formuliert: Einerseits seien diejenigen, die am lautstärksten den Mangel an ›standardized definitions‹ beklagen, ›farthest removed from the actual design and development of games‹ und ›mostly academics‹.«22

Andererseits mangele es vielen Praktikerinnen wiederum daran, die eigene berufliche Tätigkeit akkurat zu dokumentieren und theoretisch genau zu beschreiben. Allein diese Kluft macht eine universelle Definition somit nicht nur innerhalb der Game Studies schwierig. So argumentiert Freyermuth, »dass eine solche Definition nur im Kontext einer Geschichte digitaler Spiele gelingen kann.«23 Diese Einsicht wurzelt in der Begründung einer historischen Ästhetik durch Hegel, der schon formulierte, dass niemand seine Zeit überspringen könne und der Geist der eigenen Zeit stets auch der eigene Geist sei. Sie ist damit vielen ästhetischen Theorien der Moderne gemein –

»von George Lukács über Walter Benjamin, Theodor W. Adorno, Peter Szondi und Marshall McLuhan bis zu Michel Foucault oder Roland Barthes. Um die Komplexität und Fluidität ästhetischer Artefakte und Prozesse zu begreifen, das heißt auf einen Begriff bringen zu können [, und somit zu definieren, B. R.], muss ästhetische Theorie vom Normativen und Systematischen zum Historischen fortschreiten.«24

Versteht man Computerspiele als jene ästhetischen Artefakte und Prozesse, so können diese dann im Kontext einer historischen Analyse verstanden werden. Ein Ansatz, den die Medienwissenschaft auch schon in Verbindung mit Vorgängermedien wie Film oder Fernsehen verfolgt hat. So konstatiert Filmwissenschaftler John E. O’Connor, dass Film- und Fernsehforschung von Theorien und Methoden der traditionellen historischen Analyse durchdrungen seien, bei denen vornehmlich eine Konzentration auf mediale Inhalte als Artefakte im Vordergrund stehe. Diese würden zunächst im Hinblick darauf, was gezeigt und gesagt wird analysiert. Weitere Analyseebenen sind »its production – how it came to portray what it does; and its reception – what sense people made of it when it was first produced and how it may have influenced attitudes or events over time.«25

Dass es sich bei Computerspielen um mediale Artefakte handelt, die unter spezifischen soziokulturellen wie historischen Umständen produziert werden und folglich auch als solche betrachtet werden können, ist eine zentrale Perspektive der Game Studies, wie Clara Fernández-Vara bestätigt: »As such, they can work as a snapshot of those circumstances, as well as provide insight on other contexts, such as different eras or across cultures.«26 So steht zu vermuten, dass eine systemische, konzise Definition des Mediums immer nur im Kontext ihrer Historie möglich ist und sich, so wie das Medium selbst, in einem ständigen Fluxzustand befindet. So schreibt auch James Newman: »[W]hile it is possible to identify underlying themes and constancies, it is also true to say that videogames have changed over time.«27 Computerspiele haben heute beispielsweise zum einen immer noch Gemeinsamkeiten mit ihren um Jahre und Jahrzehnte gealterten Vorfahren, konstituieren sich zum anderen aber aufgrund technischer und anderer Weiterentwicklungen durchaus anders als noch vor fast 70 Jahren. Angeheftet an die Zeitachse ihrer Evolution sind also zu verschiedenen Zeitpunkten ihrer Historie auch verschiedene Definitionen möglich, während eine die gesamte Medienhistorie überdauernde Definition unter Umständen eine Utopie ist und immer bleiben wird. Freyermuth geht so weit, systemisch-normative Definitionen grundsätzlich zu problematisieren. Seiner Ansicht nach sind sie immer zum Scheitern verurteilt, da sich »künstlerische Produktion in der Moderne« stets dem Zeitgeist stellt:

»Sie kennt daher kaum mustergültige Regeln, die sich zeitlos ermitteln ließen. Wie Werke der Literatur oder der Bildenden Kunst, wie Bühnenspiele oder Spielfilme sind daher auch Spiele einzig unter historischer Perspektive auf ihren theoretischen Begriff zu bringen.«28

Der Lösungsansatz dieses Dilemmas liegt also in der historischen Perspektive und ihrer Analyse. Dieser Sichtweise schließt sich auch Fernández-Vara an, die Computerspiele als Produkte ihrer jeweiligen Zeit ansieht: »[T]herefore learning about the socio-cultural and industrial environment in which they were produced is crucial to understand them.«29 In diesem Zusammenhang greift Freyermuth Harry Pross’ Studie zur Medienforschung auf, um eine theoretisch orientierte Mediengeschichte des Spiels zu skizzieren.30 In dieser Studie unterscheidet Pross Medien nach dem unterschiedlichen Grad der zum Einsatz kommenden Technologie. So entsteht eine Unterscheidung in primäre, sekundäre und tertiäre Medialität. Primäre Medialität erfordert noch keinen Medieneinsatz. Für die notwendige Kommunikation reicht das menschliche Repertoire aus Gestik, Mimik, vorsprachlichen und sprachlichen Geräuschen aus. Spiele innerhalb dieser Sphäre der Medialität gehören vermutlich zu den ältesten Spielformen der Menschheitsgeschichte, da für sie tatsächlich keinerlei Gerätschaft notwendig ist. Zu ihren Vertretern zählen »etwa physische Bewegungsspiele wie FANGEN oder VERSTECKEN oder Geschicklichkeitsspiele wie SCHERE, STEIN, PAPIER.«31Sekundäre Medialität hingegen erfordert den Einsatz von Technik, um die jeweiligen Medien anzufertigen. Auch diese Medienformen existierten schon vor Jahrtausenden, erfuhren jedoch in der Neuzeit einen massiven Entwicklungsschub durch den rasanten technischen Fortschritt im Rahmen der industriellen Revolutionen. Dies gilt beispielsweise für die standardisierte Vervielfältigung im Buchdruck, für die realistischere Perspektivtechnik im Bereich der Malerei und für den Bereich der audiovisuellen Darstellung »durch die Akkumulation einer Vielzahl mechanischer Techniken […], aus denen in der Summe ein neuer audiovisueller Realismus resultierte.«32 Dies ist gerade für Computerspiele von zentraler Bedeutung. Vorneuzeitliche Spiele sekundärer Medialität sind beispielsweise Brett-, Karten- oder Würfelspiele. Insbesondere Brett- und Kartenspiele erlebten zwischen Renaissance und Aufklärung einen Prozess der Standardisierung durch die gerade angesprochenen technischen Entwicklungen, die eine massenhafte Fertigung und internationale Distribution ermöglichten. Gerade die Industrialisierung sollte das Entstehen vieler neuer Spiele sekundärer Medialität nach sich ziehen:

»[V]on dem sehr preußischen KRIEGSSPIEL (1824) über das sehr amerikanische MONOPOLY (seit 1933) bis zu DUNGEONSAND DRAGONS (1974). Die meisten dieser Neuschöpfungen waren zwar deutlich als Ausdruck spezifischer nationaler (Sub-)Kulturen zu erkennen, fanden aber massenhafte und interkulturelle Verbreitung.«33

Zur gleichen Zeit, zunehmend insbesondere im 20. Jahrhundert, kam es dann zur Entstehung von Spielvorgängen im Rahmen tertiärer Medialität. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sowohl Produzierende als auch Rezipierende über jeweils eine technische Gerätschaft verfügen müssen, um ein Medium nutzen zu können. Zu tertiären Medien gehören beispielsweise das Telefon, das Radio, die Schallplatte, Zeichentrick- und Spielfilm, Tonbandaufzeichnungen oder Video. Tertiäre Medien haben einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Medien primärer und sekundärer Natur respektive sind in der Lage, diese zu inkorporieren und für ein wesentlich größeres Publikum verfolg- und erfahrbar zu machen. Durch Live-Übertragungen im Radio, im Fernsehen oder via Internet werden Spiele primärer und sekundärer Medialität wie Fußball, Wettlauf, Schach oder Darts von lokalen zu nationalen oder gar internationalen Ereignissen, bei denen viele Millionen Menschen ein Spiel passiv miterleben können. Freyermuth fasst die mediale Differenz von Spielen im Hinblick auf die ihnen inhärente Repräsentationslogik zusammen, bei der Spiele primärer Medialität – Freyermuth nennt hier das Fangspiel – auf einer realen Simulation des Realen basieren. Spiele sekundärer Medialität wie Brettspiele basieren nicht länger auf einer realen Simulation, sondern auf einer symbolischen Repräsentation des Realen, während

»Spiele tertiärer Medialität wie Radio- und Fernseh-Übertragungen von Sportveranstaltungen oder Quizshows […] auf der medialen Repräsentation und Zurichtung von Spielen primärer und sekundärer Medialität [basieren], d. h. sie erlauben eine tele-auditive oder tele-audiovisuelle Teilhabe – überwiegend passiv und von Ferne – an montierten Simulationen des Realen sowie montierten symbolischen Repräsentationen des Realen.«34

Dem wiederum schließt sich die Frage an, wie Spiele quartärer Medialität zu definieren wären. Ihr soll im Folgenden nachgegangen werden.

2.2 SPIEL| COMPUTERSPIEL – DER WERKBEGRIFFUNDDIE FRAGENACHQUARTÄRER MEDIALITÄT

Eine ausführliche Aufzählung sämtlicher dem Menschen bekannten Spielkategorien und Spielarten würde an dieser Stelle zu weit ausufern und kann im Rahmen dieser Arbeit auch nicht geleistet werden. Für eine ausführliche kulturhistorische Auseinandersetzung sei daher auf die Schriften u. a. Huizingas, Caillois’ oder Avedon und Sutton-Smiths verwiesen.35 Während Huizinga das »Wesen und Bedeutung des Spiels als Kulturerscheinung«36 versteht und das Spiel als zentralen Begriff der Menschheitsgeschichte und als sinnvolle Funktion beschreibt, sucht Caillois, dieses Verständnis etwas mehr als 20 Jahre später in Teilen zu revidieren. Er macht sich zur Aufgabe, den Spielbegriff genauer zu umreißen und neu respektive anders zu definieren.37 In diesem Zuge nimmt er eine Kategorisierung vor.38 Huizinga sieht spielen grundsätzlich als eine sinnvolle Tätigkeit an.

»Es ist eine sinnvolle Funktion. Im Spiel ›spielt‹ etwas mit, was über den unmittelbaren Drang nach Lebensbehauptung hinausgeht und in die Lebensbetätigung einen Sinn hineinlegt. Jedes Spiel bedeutet etwas.«39

Caillois argumentiert hingegen:

»Das Spiel ist eine Gelegenheit zu reiner Vergeudung von Zeit, Energie, Erfindungsgabe, Geschicklichkeit und oft auch von Geld für den Ankauf von Spielutensilien oder für die eventuelle Bezahlung der Lokalmiete.«40

Er begründet diese Behauptung damit, dass das Spiel weder Reichtum noch Werk hervorbringe:

»Dadurch unterscheidet es sich von der Arbeit und von der Kunst. Am Ende der Partie kann und soll alles wieder genau so sein wie zu Beginn, ohne daß irgend etwas41 Neues entstanden wäre, weder Ernten noch irgendein hergestellter Gegenstand, weder ein Kunstwerk noch vermehrtes Kapital.«42

Die Aussage, das Spiel erfordere Zeit, Energie, Erfindungsgabe, Geschicklichkeit sowie unter Umständen Geld für die Beschaffung von Spielmaterialien, ist kaum von der Hand zu weisen. Problematisch ist jedoch die Behauptung, es handele sich dabei um eine reine Vergeudung, da kein Reichtum und kein Werk entstünden. Caillois verkürzt hier, wenn er dem Spiel einen Nutzen abspricht, indem er Reichtum und Werk nur im materiellen Sinne zu verstehen scheint. Spiel kann jedoch immateriellen Nutzen stiften. Ein gutes Beispiel dafür findet sich im Designprozess digitaler Spiele (über die Caillois zu seiner Lebzeit keine informierte Aussage treffen konnte): Teil dieses Prozesses ist das sogenannte ›Playtesting‹. Ohne beständiges Spielen während des Entwicklungsprozesses eines Spiels ist ein Überprüfen der eigenen Arbeitsschritte und ihrer erfolgreichen Implementierung ins Spiel nicht gegeben. Spielen ist Teil der Arbeit vieler Spieledesignerinnen. Der Spielmodus ist dabei sicherlich ein anderer als der jener Mediennutzerinnen, die zum reinen Vergnügen spielen (und die, zugegeben, sicherlich den größten Anteil ausmachen). Dies lässt sich jedoch auch über den Spielmodus von Spieleforschenden oder Journalistenschaft sagen, die auch aus anderen Absichten heraus als der reiner Unterhaltung spielen (und sich bei ihrer Arbeit trotzdem gut durch ein Spiel unterhalten fühlen können). Hier steht mehr ein analytischer Fokus bei der Mediennutzung im Vordergrund, der wiederum zu einer intensiven Auseinandersetzung sowohl mit der Konstitution als auch den Inhalten des jeweiligen Spiels führt. Dies birgt wiederum das Potenzial, einen reflektierenden Zugang zum Spielen zu finden, der als Grundvoraussetzung für Veränderung verstanden werden kann. Somit ist die Behauptung, dass kein Reichtum entstehe (Designerinnen lernen und verbessern ihre Arbeit durch Spielen), und das Spiel innergesellschaftlich nichts verändere (reflektierender Zugang Forschender und Journalismus), als kritisch zu betrachten, wie auch Freyermuth unter Verweis auf den griechischen Historiker Herodot anmerkt. Dieser beschrieb einmal, wie es den kleinasiatischen Lydern durch Brett-, Würfel- und andere Spiele angeblich gelang, »eine langwährende Hungersnot erst über Jahre hinweg zu ertragen und dann mit einem letzten Spiel auch einer Lösung zuzuführen, die dem Überleben des Gemeinwesens diente.«43

Auch die Behauptung, es entstehe kein Werk, ist kritisch zu hinterfragen. Der Werkbegriff ist besonders für die Klärung von Urheberrechten von zentraler Bedeutung. Im juristischen Sinne verstehen sich einzelne Spieltitel spätestens seit dem Aufkommen von ROM-Cartridges in den 1970er Jahren als ästhetische Einheiten.44 Spieltitel und Spielereihen stehen, seit sie kommerziell vermarktet werden, unter Copyright und verstehen sich als geistiges Eigentum. Sie ohne Erlaubnis zu vervielfältigen und zu verkaufen, egal nach welchem Geschäftsmodell, ist strafbar. Vor diesem Hintergrund ist der Verkauf der Kopie eines Spieltitels als Verkauf der Kopie des urheberrechtlich geschützten geistigen Eigentums zu sehen. Auf dem urheberrechtlichen Schutz eines Computerspiels basiert ein großer Teil der Kapitalakkumulation durch die Rechteinhaber. Ein Computerspiel ist – im juristischen wie ökonomischen Sinne – geistiges Eigentum und Produkt. Dies rückt das Computerspiel zumindest schon in die Nähe des Verständnisses eines Werkbegriffes. Im ästhetisch-philosophischen Diskurs wird digitalen Spielen jene Definition jedoch häufig verweigert. Auch hier zeigt sich ein Bruch zwischen Theorie und realweltlicher Praxis.

Einräumen ließe sich, dass der Werkbegriff vor dem Hintergrund einer interaktiven Medienform neu zu diskutieren und zu definieren wäre. Freyermuth spricht von einer »weitere[n] Medialität, die wiederum auf beiden Seiten des Kommunikationsprozesses Technik einsetzt, jedoch prinzipiell über Rückkanäle verfügt.«45 Der klassische Werkbegriff geht von einem Produkt aus, welches vollständig von einer Person oder einem Kollektiv kreiert und im Anschluss ohne Möglichkeit einer Modifikation oder Manipulation rezipiert und konsumiert werden kann. Dieses Begriffsverständnis kann auch für digitale Medienformen gelten, bei denen die Produzierenden linearer Audiovisionen für gewöhnlich den Traditionen des Kinofilms, des Fernsehens oder des Radios verpflichtet bleiben und jedwede Autorität über das Werk, seine Inhalte und seine Ästhetik für sich selbst beanspruchen. Trotz der Möglichkeit zur Interaktion, die beispielsweise das World Wide Web anbietet, bleiben Formate wie Podcasts, Vlogs oder Internetsendungen oftmals nicht nur linear, sondern darüber hinaus auch non-interaktiv. Digitale Spiele hingegen ermöglichen ihrer Nutzerschaft ein Interagieren mit ihren audiovisuellen Elementen »und offerieren darüber hinaus häufig auch einen Zugang, der tiefergehende Veränderungen des Spiels erlaubt, so genannte Mods, also Modifizierungen.«46 Computerspiele lassen sich mit einem klassischen Werkbegriff, der ursprünglich im Zusammenhang mit non-interaktiven Medienformen entstanden ist, tatsächlich nur noch zum Teil vereinbaren. Digitale Spiele werden durch vollkommen andere Produktionspraxen bestimmt und anschließend anders rezipiert als seine linearen Vorgängeraudiovisionen. Darstellungen und Dramaturgie sind tendenziell hypertextueller Natur – ergodisch, wie Aarseth (s. u.) argumentiert. Analog dazu unterscheidet sich »das Game Design von den tradierten Verfahren der Filmproduktion durch eher nonlineare und iterative Praktiken.«47

Computerspiele werden nicht passiv rezipiert. Die Möglichkeit Mediennutzender zur Partizipation und zur Interaktion ist einer der definitorischen Ankerpunkte digitaler Spiele. Auch Christine Hanke konstatiert: »Der ›Mehrwert‹ des Computerspiels wird – vor allen Dingen in Medienvergleichen – in seiner spezifischen Form von Interaktivität gesehen.«48 In der Interaktivität, also einem Zusammenwirken von bereitgestellten Spiel- und Wahrscheinlichkeitsräumen in Form von »databases, Quellcodes, Algorithmen, also den programmierten Logiken des Spiels«49 und den Spielhandlungen der Spielerschaft findet das Computerspiel sein zentrales Charakteristikum. Erst durch dieses Zusammenspiel von Erschaffenden auf der einen, und Nutzerschaft auf der anderen Seite tritt es in einen Zustand der tatsächlichen, angedachten Existenz. Auf einen Roman lässt sich der Werkbegriff anwenden, auch wenn er nicht gelesen wird. Gleiches gilt für den Film, auch wenn er nicht angeschaut wird, und auch eine Statue lässt sich als Werk bezeichnen, selbst wenn sie niemand betrachtet. Diese Werke sind durch die Künstlerinnen, die sie erschaffen haben, im gleichen Zuge auch vollständig determiniert worden. Sie sind als abgeschlossen zu betrachten, und selbst wenn dem Publikum die Möglichkeit zur individuellen Einzelinterpretation und aktiven geistigen Auseinandersetzung mit dem Werk gegeben ist – um ihre vollständig determinierte, ästhetisch existente Form zu erlangen, benötigt es kein Publikum. Leserschaft, Filmfans und Galleriebesuchende haben in der Regel keine Möglichkeit, an ihrer Konstitution etwas zu ändern respektive Einfluss auf ihre Beschaffenheit zu nehmen. Eine Ausnahme ist sicherlich in interaktiven Kunstinstallationen und anderen experimentellen Werkformen zu sehen, die jedoch keineswegs den Großteil der genannten Medienartefakte ausmachen. Ein Computerspiel, und in gewissem Maße auch das Spiel ganz allgemein, sucht einen solchen Abschluss höchstens in einzelnen Konstituenten wie seiner Narration, nicht jedoch als Ganzes. Es ist vielmehr als ständig unfertiges Werk zu verstehen, das erst dadurch realisiert werden kann, dass es von einem bewusstseinsfähigen Wesen gespielt wird. Huizinga argumentiert an dieser Stelle: »Erst durch das Einströmen des Geistes, der die absolute Determiniertheit aufhebt, wird das Vorhandensein des Spiels möglich, denkbar und begreiflich.«50

Computerspiele sind auf eine fortwährende Eingabe durch Spielende angewiesen, um in ihrer erdachten Form überhaupt stattfinden zu können. Kaum irgendwo wird dieser Sachverhalt deutlicher als in der Aufforderung ›Press Play‹, ›Press Start‹, ›Drücke Start‹ oder ›Zum Starten beliebige Taste drücken‹ der Start- und/oder Lademenüs. Wie Huizinga schon treffend formuliert hat, wird das Spiel erst »durch das Einströmen des Geistes«51 möglich. Game Designer Chris Crawford fasst zusammen: »With a game, the artist creates not the experience itself but the conditions and rules under which the audience will create its own individualized experience.«52 Game Designerinnen erschaffen also einen Möglichkeits- und Wahrscheinlichkeitsraum, der dann von der Spielerschaft realisiert wird. Durch dieses Zusammenspiel gelangen digitale Spiele erst in ihre angedachte Form. Espen Aarseth versteht Computerspiele als ergodische Systeme. Das Wort ergodisch ist eine Zusammensetzung aus den griechischen Wörtern ergos, welches sich mit ›Arbeit‹ übersetzen lässt, und hodos, welches sich mit ›Pfad‹ oder auch ›Weg‹ übersetzen lässt. Ein ergodisches System ist nach Aarseth ein Phänomen, welches einen aus Zeichen bestehenden Pfad oder Weg durch ein nicht-gleichgültiges Element der Arbeit produziert,

»by some kind of cybernetic system, i. e., a machine (or a human) that operates as an information feedback loop, which will generate a different semiotic sequence each time it is engaged.«53

Dieter Mersch erläutert hierzu: »Digitale Spiele verfahren insofern ergodisch, als es gilt, zwischen Alternativen einen Weg im Labyrinth der Möglichkeiten zu finden und dadurch erst die Textur der Geschehnisse hervorzubringen.«54

Winifred Phillips verweist auf James Paul Gee, der sogar so weit geht, Computerspiele als Performance Art zu titulieren, die von Spielerschaft und Spieleentwicklerinnen koproduziert wird.55 Während die Diskussion darüber, ob und inwiefern Computerspiele eine Kunstform darstellen, schon einige Jahrzehnte andauert, ist es interessant, dass Gee als Linguist sowie Phillips als Gamekomponistin beide den Grundgedanken Aarseths aufgreifen. Das Medium Computerspiel funktioniert als interaktives Unterhaltungsmedium, das seine Bedeutung wie Bestimmung und vollendete Form durch die Kommunikation einer Maschine – bestehend aus Hard- und Software, Computersystem und Programm – mit dem organischen Wesen Homo sapiens erlangt. Das Computerspiel ist, anders als non-interaktive Unterhaltungsmedien, auf die externe Eingabe der Spielerschaft angewiesen. Es bietet Interaktivität als Unterhaltungserfahrung nicht nur an, sondern macht sie zu einer notwendigen Voraussetzung. Freyermuth sieht hier den Schritt zu quartärer Medialität vollzogen, bei der »es zu einer Verschmelzung gestalterischer Souveränität« kommt.56 Während die Produzierenden linearer Audiovisionen im Sinne tertiärer Medialität, selbst wenn sie sich digitaler Produktions- und Distributionswerkzeuge bedienen, prinzipiell keine interaktive Ebene mit Mediennutzenden vorsehen und »ihrem Publikum eine Final-Cut-Version als geschlossenes Werk« präsentieren,57 ermöglichen Game Designerinnen die Interaktion mit Audiovisionen und medialen Inhalten, indem sie die Rückkanäle nutzen, die durch den Einsatz digitaler Technik möglich werden. So existieren heute in unserer Kultur Spiele primärer, sekundärer, tertiärer und quartärer Medialität. Anders als Spiele primärer, sekundärer und tertiärer Medialität, die auf realen respektive symbolischen Repräsentationen und tele-audiovisueller Teilhabe an diesen basieren,

»so ermöglichen digitale Spiele erstmals eine interaktive Teilhabe nicht nur an virtuell-echtzeitigen Simulationen symbolischer Repräsentationen des Realen, sondern vor allem auch an virtuell-echtzeitigen und hyperrealistischen Simulationen des Imaginären.«58

Eine gesamtheitliche Aufarbeitung des klassischen Werkbegriffes sowie seine Neudefinition übersteigt den Rahmen dieser Arbeit und kann in dieser Kürze nicht geleistet werden. Es sei an dieser Stelle aber angemerkt, dass die Verweigerung der Anerkennung als Werk und Caillois’ Aussage, das Spiel sei von der Arbeit und der Kunst zu unterscheiden, bringe weder Reichtum noch Werk und führe zu keiner innergesellschaftlichen Veränderung als kritisch zu betrachten ist.59 Denn auch zu seiner Wirkzeit existierten schon analoge Vorgänger wie Brettspiele, die auf jenen kollaborativen Werkbegriff durch das interaktive Zusammenspiel von Wahrscheinlichkeitsräumen auf dem jeweiligen analogen Spielfeld und den Spielenden referierten. Sogar Caillois selbst sollte die spätere Grundidee Aarseths schon im Zusammenhang mit dem analogen Spiel anreißen und einräumen, dass ein im Voraus bekannter Ablauf ohne Möglichkeit einer unerwarteten Wendung nicht mit dem Wesen des Spiels vereinbar sei:

»Es bedarf einer beständigen, nicht voraussehbaren Erneuerung der Situation […]. Das Spiel besteht in der Notwendigkeit, unmittelbar innerhalb der Grenzen und Regeln eine freie Antwort zu finden und zu erfinden.«60

Caillois geht nur noch nicht den Schritt, in jenen rahmenden Grenzen und Regeln, die es vermögen, Wahrscheinlichkeitsräume aufzuspannen, eine (neue) Form des Werks oder einen immateriellen Nutzen zu erkennen.

Die Tätigkeit des Spielens und das Spiel selbst von vorneherein als eine Vergeudung in jeglicher Hinsicht zu deklarieren, ist also problematisch. Denn sowohl zu Caillois’ Zeit als auch heute gibt es Subjekte, die ihren Lebensunterhalt mit Spielen und spielen bestreiten. Caillois spricht in diesem Zusammenhang von

»Professionellen […] Radfahrer[n], Boxer[n], Jockeis oder Schauspieler[n] […], die auf der Rennbahn, im Ring, im Hippodrom oder auf den Brettern ihren Lebensunterhalt verdienen und die an den Preis, den Lohn oder die Gage denken müssen.«61

In seinen Augen sind sie »selbstverständlich keine Spieler im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr Berufstätige. Wenn sie spielen, spielen sie bestimmt ein anderes Spiel.«62 Im Zusammenhang mit Computerspielen ließe sich die Liste Caillois’ ›Professioneller‹ zum einen durch E-Sportlerinnen, zum anderen durch Let’s Playerinnen ergänzen. Beide Gruppen verdienen durch und mit der Tätigkeit des Computerspielens ihr Geld. Die E-Sportlerinnen durch Verträge mit Sponsoren oder Verbänden und zum Teil klassische Gehälter sowie Preisgelder, die Let’s Playerinnen durch Werbeeinnahmen auf ihren Streaming-Kanälen oder ebenfalls durch Sponsorenverträge. Sicherlich könnte man auch diese Gruppen als Berufstätige bezeichnen, die nicht aus reinem Vergnügen spielen, sondern ihr Handeln und ihre Spieltätigkeit professionalisiert haben. Darin sieht Caillois die Trennlinie zum Spiel, das seiner Vorstellung nach, eine freiwillige Tätigkeit und eine Quelle der Freude und des Vergnügens zu sein hat. Dort, wo eine Verpflichtung oder ein Zwang hinzutritt, endet für ihn die Definition. Spiel kann es laut Caillois nur geben, »wenn die Spieler Lust haben zu spielen und sei es auch das anstrengendste und erschöpfendste Spiel, in der Absicht, sich zu zerstreuen und ihren Sorgen, das heißt dem gewöhnlichen Leben zu entgehen.«63

Dieses Argument findet sich ähnlich schon bei Huizinga. Auch dieser will Spiel vor allen Dingen als eine freie und auch freiwillige Handlung verstanden wissen. Für sich betrachtet sei es zunächst überflüssig und »[e]rst sekundär, dadurch dass es Kulturfunktion wird, treten die Begriffe Müssen, Aufgabe und Pflicht mit ihm in Verbindung.«64 Dabei lassen Huizinga wie Caillois jedoch außer Acht, dass die sich professionalisierten Spielerinnen, obwohl sie ihre Tätigkeit ohne Frage oftmals obligatorisch ausführen und ihre Tätigkeit in Huizingas Sinne einer »Kulturfunktion« gleicht, nicht trotzdem Vergnügen an ihrer Spieltätigkeit empfinden können. Es wäre problematisch, Profifußballerinnen, -schachspielerinnen oder -schauspielerinnen die Freude an ihrer Tätigkeit abzusprechen, nur weil sie damit ihren Lebensunterhalt bestreiten. Selbiges gilt auch für die E-Sportlerinnen und Let’s Playerinnen. Die Spielpraxen, -handlungen, -strategien und -fähigkeiten werden zwar professionalisiert, effektiver und vielleicht auch qualitativ hochwertiger, sie verlieren dabei jedoch nicht ihren konstitutiven Kern. Profifußballerinnen spielen immer noch mit einem Fußball auf Kunstrasen, Profischachspielerinnen mit den gleichen Figuren auf dem gleichen Schachbrett nach den gleichen Regeln wie Freizeitschachspielerinnen. Genauso spielen E-Sportlerinnen und Let’s Playerinnen in und mit dem gleichen Spielprogramm und Quellcode wie jene, die dies in ihrer Freizeit zum reinen Vergnügen tun. Oftmals rekrutieren sich die Profis aus dem Bereich der Freizeithandelnden, die sich irgendwann für die Professionalisierung ihres Handelns entscheiden. Dabei verändern sich vielleicht ihre Herangehens- und Spielweisen, ihre Spielpraxen und ihre Fertigkeiten. Das Spiel selbst, seine Konstituenten, Ästhetiken, Narrationen, Handlungsaufforderungen, Wahrscheinlichkeitsräume und seine Regeln ändern sich dabei jedoch nicht. Das Spiel bleibt das gleiche Spiel. Caillois’ und Huizingas Trennlinien sind daher als kritisch zu betrachten.

Zuzustimmen ist Caillois sicherlich in seiner Verortung der Schrift Huizingas als dessen »bleibendes Verdienst, die verschiedenen charakteristischen Grundlagen des Spiels meisterhaft analysiert und die Bedeutung seiner Rolle für die Entwicklung der Zivilisation dargelegt«65 und neue Denkanstöße gegeben zu haben, »das Spiel auch dort zu entdecken, wo man zuvor nichts von dessen Anwesenheit und Einfluß zu erkennen vermocht hatte.«66 Dabei kritisiert er jedoch, Huizingas Werk sei »keine Untersuchung der Spiele, sondern eine Untersuchung der fruchtbaren Auswirkungen, die der Spielgeist auf dem Gebiet der Kultur ausübt.«67 So hebt Huizinga den heteronomen Charakter des Spiels hervor, sprich, was das Spiel für den Menschen, für die Gesellschaft und die Kultur bedeutet und welche Funktionen es innehat. Dabei räumt er eine, mit der Wahl seines Themas in Kauf genommene, Unvollständigkeit bezüglich der Untersuchung sämtlicher Spielarten ein:

»Hier kommt uns zugute, dass unser Thema, der Zusammenhang von Spiel und Kultur, uns erlaubt, nicht alle vorhandenen Formen des Spiels in die Behandlung einzubeziehen. Wir können uns in der Hauptsache auf die Spiele sozialer Art beschränken.«68

Caillois hingegen will sich in seiner Arbeit einer mehr autonomieästhetischen Auseinandersetzung mit dem Spiel und seiner genaueren Kategorisierung widmen. Er konstatiert: »Das Spiel hat seinen Sinn nur in sich selbst.«69 Inwiefern das Spiel also im regen Austausch mit Kultur und Gesellschaft steht (Huizinga) oder aber seinen Sinn nur in sich selbst hat und somit allein für sich betrachtet werden sollte (Caillois), bleibt bis heute streitbar. Die antagonistischen Positionen aus Fremdbezug und Eigenästhetik sorgen bis heute, lange nach den Überlegungen Huizinga und Caillois, für Diskussionen. Die Digitalisierung des Spiels sowie das kulturelle, ästhetische und technologische Fortschreiten der Gesellschaft sollte die Debatte(n) über die Jahrzehnte sogar noch weiter verkomplizieren.

2.3 DEFINITIONSVERSUCHE

Fest steht, dass die Tätigkeit des Spielens als anthropologische Konstante verstanden werden kann, d. h. bereits vor der Entstehung der Spezies Homo sapiens existierte und die Menschheit somit seit Anbeginn ihrer Entwicklung begleitet:

»Spiel ist älter als Kultur; denn so ungenügend der Begriff Kultur begrenzt sein mag, er setzt doch auf jeden Fall eine menschliche Gesellschaft voraus, und die Tiere haben nicht auf den Menschen gewartet, daß diese sie erst das Spielen lehrten.«70

Auch Freyermuth schließt sich dieser Einschätzung mit Verweis auf die einigermaßen sichere, spielerische Simulation späterer realweltlicher Bewegungsabläufe im Tierreich an, die ebenso für den Menschen gelten können. Dieser vermochte es seit jeher, auf Basis spielerischer Simulationen komplizierte, regelgeleitete Spielsysteme zu erdenken.71

Sowohl im Tierreich als auch in der Menschenwelt ist der Spieltrieb besonders bei jüngeren Subjekten sehr stark ausgeprägt. Dies mag ein Grund dafür sein, warum Marktforschung und Branchenverbände72 in der Vergangenheit davon ausgegangen sind, dass vor allen Dingen Kinder und Jugendliche und weniger Erwachsene Computerspiele spielen.

»Nach Erkenntnissen von Feierabend und Klingler […] ist unter den 12- bis 19-jährigen, einer der wichtigsten Zielgruppen der Computerspieleindustrie, der Anteil der Personen, die ›täglich oder mehrmals pro Woche‹ Computerspiele nutzen, von 37,6 Prozent im Jahr 1998 auf 40,9 Prozent in 2002 gestiegen.«73

Schon in den frühen 1990er Jahren existierten jedoch auch Überlegungen, die das Potenzial des Computerspiels als gesamtgesellschaftliches Unterhaltungsmedium unterstrichen haben: »Für viele, nicht nur für Kinder, stellen Computerspiele oder spielerisch aufgebaute Computerprogramme den aber [sic] Zugang zum Computer dar«74 und »[o]bwohl Kinder und Jugendliche, also die künftigen Nutzer von Computersystemen, die Masse der Käufer von Video- und Computerspielen stellen […] so werden diese doch auch von einer wachsenden Zahl Erwachsener erworben.«75 Die quartäre Medialität des Computerspiels und die damit verbundene Möglichkeit zur interaktiven Teilhabe an virtuell-echtzeitigen Simulationen des Imaginären rückt das Interesse am Spiel und Spielen weg von rein evolutionär bestimmten Faktoren:

»Die Erfüllung von Fantasien, das Erforschen oder Entdecken neuer Welten und Lebenssituationen sowie soziale Erlebnisse sind dagegen aus evolutionärer Sicht eher sekundär […]. Bei modernen Computerspielen sind die ursprünglichen Funktionen des Spiels bzw. Spielens jedoch nicht mehr unbedingt die primäre Nutzermotivation.«76