Klare Worte - Gerhard Schröder - E-Book

Klare Worte E-Book

Gerhard Schröder

4,8

Beschreibung

Gerhard Schröder - eine deutsche Geschichte. Und ein politisches Leben in Deutschland: Er hat es von ganz unten ins Kanzleramt geschafft und dieses Land entscheidend geprägt. Er hat in schwierigen Zeiten heiß umstrittene Entscheidungen getroffen, die Bundesrepublik durch grundlegende Reformen aus der Erstarrung geführt und sich weltweit Respekt verschafft. Im April 2014 wird er 70. Vorwärts – und nichts vergessen: Gerhard Schröder blickt in seinem neuen Buch zurück, aber er blickt auch nach vorn. Er reflektiert sein Leben. Und analysiert, was ansteht: in Deutschland und der Welt. Aus der persönlichen Aufstiegsgeschichte formuliert er sein politisches Credo: Jeder Mensch, Fähigkeiten und Leistung vorausgesetzt, soll es zu etwas bringen können in einer offenen Gesellschaft. Im Gespräch mit Georg Meck verknüpft Gerhard Schröder aber nicht nur seine Biographie mit der deutschen Politik. Er liefert aus der Nähe gewonnene faszinierende Einblicke in Mechanismen der Macht, macht sich grundsätzliche Gedanken über den Zusammenhang von Klarheit, Mut und Macht und darüber, was es bedeutet, zu führen und Politik zu gestalten. Schröder ist zu Recht stolz auf den internationalen Ruhm für die Agenda 2010. Und er ist manchmal ratlos, warum seine SPD so wenig daraus macht. „Wer regieren will, muss liefern", davon war er immer überzeugt. Jetzt ist er, der Gestalter, plötzlich Elder Statesman. Seine politische Leidenschaft und den klaren Blick für die Wirklichkeit hat er trotzdem nicht verloren. Gerhard Schröder erklärt, warum Deutschland eine Agenda 2030 braucht, um sich in Europa und der Welt zu behaupten, in der China, Russland und Türkei eine Schlüsselrolle einnehmen. Im Blick auf die neue Regierung, im Herbst 2013 frisch gewählt, gibt er Perspektiven für das, was zu tun ist. Und er berichtet auch, wie sich sein neues Leben – abseits der Tagespolitik – anfühlt: Zwischen Betreuung der Kinder und zahlreichen neuen Mandaten in aller Welt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 235

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (16 Bewertungen)
12
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gerhard Schröder

Klare Worte

Im Gespräch mit Georg Meck über Mut,Macht und unsere Zukunft

Impressum

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: © Jim Rakete

ISBN (E-Book) 978-3-451-80124-2

ISBN (Buch) 978-3-451-30760-7

Inhalt

Vorwort von Gerhard Schröder

Vorwort von Georg Meck

KAPITEL 1Die Agenda 2010 und der Primat der Politik

KAPITEL 2Europa und der Euro

KAPITEL 3Politik als Beruf – auf Zeit

KAPITEL 4Deutschlands Stellung in der Welt

KAPITEL 5Wie durchlässig ist die Gesellschaft?

KAPITEL 6Russland und die Beziehung zu Präsident Putin

KAPITEL 7Die SPD, die 68er und die Sozialdemokratisierung der Union

KAPITEL 8China und die Möglichkeiten der Diplomatie

KAPITEL 9Energiepolitik und der Wirtschaftsstandort Deutschland

KAPITEL 10Führung und die Freude am Regieren

KAPITEL 11Die Große Koalition und das Meisterstück Sigmar Gabriels

KAPITEL 12Hat man mit 70 Jahren noch Träume?

Vorwort von Gerhard Schröder

Seit dem Ende meiner Kanzlerschaft sind nun zwei Legislaturperioden des Deutschen Bundestages vergangen – ein ausreichender Zeitraum, um Abstand zu gewinnen und Entwicklungen klarer zu beurteilen. Daher habe ich den Wunsch des Verlegers Manuel Herder, anlässlich meines 70. Geburtstages einen Gesprächsband zu veröffentlichen, als eine geeignete Gelegenheit begriffen, um Geschehenes einzuordnen, Aktuelles zu bewerten und Ausblicke vorzunehmen.

Mit Georg Meck saß mir ein Journalist gegenüber, der einer jüngeren Generation angehört und der, das war mir wichtig, zum Berliner Politikbetrieb einen größeren Abstand hat. Dies eröffnete die Möglichkeit, viele Fragen und Themen in einem anderen Licht zu betrachten.

Deutschland steht in den nächsten Jahren vor schwierigen Entscheidungen, die eine mutige Politik erfordern. Vieles ist in den vergangenen Jahren versäumt worden. Deutschland braucht eine konsequente Umsetzung und eine zeitgemäße Fortschreibung der Reformagenda, damit die größte Volkswirtschaft Europas in Zeiten globaler Umbrüche und einer europäischen Krise auch in Zukunft wettbewerbsfähig bleibt und Arbeitsplätze garantieren kann.

Auch die Europäische Union muss politisch und wirtschaftlich neue Wege einschlagen, damit unser Kontinent im 21. Jahrhundert eine führende Rolle zwischen den starken Mächten USA und China spielen kann. Gelingt uns das nicht, wird die Stimme Europas ungehört verhallen und damit verbunden der Einfluss Deutschlands in der Welt sinken.

Unserem Land kommt eine besondere Aufgabe in Europa zu. Deutschland ist mächtiger denn je in seiner Nachkriegsgeschichte. Das darf aber nicht dazu führen, dass sich Politik auf das bequeme Verteilen von Wohltaten beschränkt und die unbequemen Entscheidungen auf kommende Generationen abwälzt. Damit unser Land eine gute Zukunft hat, braucht es Reformen und eine Politik, die Mut zur Verantwortung zeigt.

Aus der stabilen wirtschaftlichen und politischen Lage unseres Landes, die nicht zuletzt auf die Reformagenda 2010 zurückzuführen ist, folgt aber auch eine große Verantwortung für Europa – eine Verantwortung, der wir mit Augenmaß gerecht werden müssen. Das betrifft nicht nur die Währungsunion, sondern auch die großen gesellschaftlichen Fragen: Wie können wir angesichts einer alternden Gesellschaft die Sozialsysteme gerecht und bezahlbar halten? Wie gelingt uns eine humane und integrationsorientierte Einwanderungspolitik? Wie können wir Kindern aus benachteiligten Familien einen sozialen Aufstieg ermöglichen? Wie sieht eine soziale und nachhaltige Energiepolitik aus?

Ich bin überzeugt: Veränderungen können in einer Demokratie nur in einem Streit um die besten Konzepte entstehen. Dazu sind öffentliche Auseinandersetzung, Widerspruch und klare Worte notwendig. So habe ich Politik immer verstanden. Zu diesem notwendigen öffentlichen Diskurs soll dieses Buch einen Beitrag leisten.

Vorwort von Georg Meck

Den Tag, an dem Gerhard Schröder zum Bundeskanzler gewählt wurde, werde ich nie vergessen: Der 28. September 1998 veränderte meine Agenda. Nach einer durchgearbeiteten Nacht – in der Redaktion war das Sonderheft zum rot-grünen Wahlsieg zu stemmen – küsse ich zum ersten Mal die Kollegin, die bis heute meine Frau ist: Neue Liebe trifft auf Neue Mitte.

Schröders Einzug ins Kanzleramt fällt zusammen mit meinem Umzug von München nach Brüssel. Als EU-Korrespondent folge ich fortan, von Gipfel zu Gipfel, den Spuren des ersten Kanzlers einer rot-grünen Bundesregierung, der für manche Europäer irritierend selbstbewusst auftritt: Euro, Osterweiterung, Europas Verfassung sind seinerzeit die Themen, an sie knüpfen wir an, als wir uns für dieses Gesprächsbuch treffen. Um die großen Linien soll es gehen, um Deutschlands Stellung in der Welt, um Politik für das 21. Jahrhundert und nicht zuletzt um Leben und Werk des Staatsmannes, der jetzt wieder als „Herr Schröder“ und nicht als „Herr Bundeskanzler“ oder gar „Altkanzler“ angeredet werden möchte. Mit säuselndem Pathos hatte er es noch nie so; Gerhard Schröder mochte es immer schon schlagfertig, leidenschaftlich, bisweilen polemisch. Jetzt, nach dem Abschied aus der aktiven Politik, muss er noch weniger Rücksichten nehmen.

Dieser Herr Schröder ist jetzt Bundeskanzler a. D., er hat in seinem neuen Leben auch mal das Pausenfrühstück für seinen Sohn zu besorgen, ihm obliegt regelmäßig der Einkauf für die Familie. „Mozzarella, Äpfel, Katzenfutter“, steht dann auf seinem Zettel, und ganz unten: „viel Schokopudding“ – der Zusatz stammt von der Tochter, die in den Ferien dem Papa im Büro Kartoffelsuppe mit Würstchen serviert.

Ein Dutzend Termine in Hannover, in der Kanzlei Schröders, sind für dieses Buchprojekt vereinbart, und es werden noch ein paar mehr im Laufe des Jahres 2013, in dem die SPD einen Wahlkampf vergeigt, während alle Welt das Jubiläum „Zehn Jahre Agenda 2010“ feiert – Letzteres geht dem „Mann, der Deutschlands Wirtschaft rettete“ (Wall Street Journal), runter wie nix.

Als Requisiten kommen für dieses Buch zum Einsatz: ein Aufnahmegerät, reichlich Kaffee, bisweilen eine Cohiba, mehr braucht es nicht. Als Kulisse grüßen von der Wand neben dem offenen Kamin die Porträtfotos sämtlicher Kanzler der Bundesrepublik Deutschland sowie daneben – in Übergröße – ein gezeichneter Otto von Bismarck. Es fehlt: Angela Merkel, Schröders Nachfolgerin. Sie muss warten, bis sie ihr Amt verliert, brummt der sein Kanzlerbrummen: „Da ist noch Platz, wenn sie nicht mehr Kanzlerin ist.“

Wie es seiner SPD gelingen soll, nicht zu versauern als Juniorpartner der Großen Koalition, wie sie je wieder das Kanzleramt erobern könnte, dafür hat er kein vorgekochtes Rezept, ein paar Ideen aber schon: „Schlage die Trommel und fürchte dich nicht“ (Heinrich Heine).

KAPITEL 1Die Agenda 2010 und der Primat der Politik

Herr Schröder, in der Reihe der sozialdemokratischen Kanzler steht Helmut Schmidt für das Effiziente, Technokratische, Willy Brandt für die Ostpolitik und „Mehr Demokratie wagen“. Was ist der bleibende Kern Ihrer Ära?

Das zu beurteilen will ich anderen überlassen. Professionelle Beobachter wissen jedenfalls zu würdigen, dass wir unser vereinigtes und damit wieder vollständig souveränes Land mit angemessenem Selbstbewusstsein auf seinen Platz in der Weltpolitik geführt haben. Und das Zweite ist die Agenda 2010, durchgesetzt gegen massive Widerstände und eine der Grundlagen dafür, dass wir besser durch die wirtschaftliche Krise von 2008/09 gekommen sind als andere Staaten in Europa. Diese beiden Handlungsfelder werden im späteren Urteil ganz sicher eine wichtige Rolle spielen. Hinzu kommt, dass Rot-Grün das Land innenpolitisch verändert hat.

Zum Beispiel?

In der Migrationsdebatte etwa. Heute spricht selbst die CDU von der Notwendigkeit der Einwanderung. All das musste hart erkämpft werden. Man durfte ja nicht mal sagen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, obwohl wir Millionen Einwanderer im Land hatten. Dabei waren und sind wir in einer Situation, in der Einwanderung objektiv notwendig ist. Dass wir sie steuern, dass wir Kriterien festlegen müssen, ist klar. Wir können nicht nur die Wirtschaftsflüchtlinge aufnehmen, sondern müssen uns auch um die ökonomischen und wissenschaftlichen Eliten kümmern. Wir haben damals die Greencard eingeführt, um Computerexperten ins Land zu holen, die wir dringend brauchten. Es kamen fast 20.000 Menschen. Unsere Initiative wurde im nordrhein-westfälischen Wahlkampf von der CDU mit dem platten Slogan „Kinder statt Inder“ bekämpft. Dass die Union sich heute als Integrationspartei präsentiert, zeugt von einem bemerkenswerten Sinneswandel. Er ist mindestens so spannend wie ihre Pirouette in der Atompolitik.

Was ist denn Ihrer Meinung nach die Aufgabe einer zeitgemäßen Integrationspolitik?

Zunächst einmal: Deutschland braucht Zuwanderung. Denn wir haben ein Demographieproblem, das nur mit Hilfe von Zuwanderern gelöst werden kann. Aber mehr und mehr Menschen verlassen unser Land wieder, gerade qualifizierte türkischstämmige Deutsche, die in der Türkei beste Aussichten haben, in Deutschland aber ebenso dringend benötigt werden. Zurzeit haben wir noch einen sogenannten Wanderungsüberschuss: Es bleiben mehr, als gehen. Aber das wird nicht reichen. Wissenschaftler haben errechnet, dass wir pro Jahr etwa 400.000 Zuwanderer brauchen, um unsere Wirtschaftskraft und unseren Lebensstandard halten zu können. Was ist zu tun? Erstens: Wir sollten dafür sorgen, dass sich bei uns ein entsprechendes Klima ausbreitet, das Zugewanderten das Gefühl gibt, willkommen zu sein. Wir müssen erklären: Wir sind ein Einwanderungsland. Wir brauchen die Zuwanderer nicht nur, wir wollen auch, dass sie zu uns kommen. Und wir sollten dann dafür sorgen, dass sie bleiben und nicht zurückkehren oder in andere Länder weiterwandern. Schon jetzt leben in Deutschland über sieben Millionen Menschen mit ausländischem Pass. Mehr als 16 Millionen Menschen haben einen Migrationshintergrund, ein Fünftel unserer Bevölkerung. Also stünde uns Gastfreundlichkeit gut zu Gesicht. Zweitens brauchen wir die doppelte Staatsbürgerschaft, damit niemand gezwungen ist, eine seiner Identitäten aufzugeben. Diese alte Forderung der SPD stieß bisher immer auf Ablehnung bei CDU und CSU. Es ist nun höchste Zeit, den Doppelpass einzuführen.

Einen ersten Schritt hat die Große Koalition unternommen: Zumindest Kinder, die hier geboren werden, können problemlos zwei Pässe besitzen. Das betrifft vor allem Türken, aber auch Bosnier, Serben, Russen, Afghanen. Zufrieden?

Wenn die Optionspflicht abgeschafft wird, ist dies ein wichtiger Schritt zur doppelten Staatsbürgerschaft – aber nur ein Zwischenschritt. Die Endstufe muss sein: die völlige Akzeptanz der doppelten Staatsangehörigkeit. Dass in der neuen Großen Koalition nicht gleich Nägel mit Köpfen gemacht worden sind, ist bedauerlich, aber man darf der Gegenseite, vor allem der CSU, vielleicht nicht sofort den zweiten Schritt zumuten. Die Bereitschaft muss sich ergeben. Und sie wird sich auch ergeben – aus politischen wie ökonomischen Gründen.

Die lautesten Warner vor den Gefahren einer Überfremdung sind zwei prominente Sozialdemokraten: Thilo Sarrazin und Heinz Buschkowsky, der Bezirksbürgermeister aus Berlin-Neukölln.

Das sind Positionen der Vergangenheit, mit den aktuellen Debatten in der Partei wie in der Gesellschaft haben diese Ansichten nichts zu tun. Die SPD war immer die Partei für Menschen, die an staatsbürgerliche Gleichheit und Gerechtigkeit geglaubt haben. Als Partei hat uns die Sarrazin-Debatte außerordentlich geschadet. Immer mehr Migranten haben gefragt: Warum sagt er das? Die SPD ist doch unsere Partei. Daher war es ausgesprochen klug von Sigmar Gabriel, Aydan Özoguz zur Staatsministerin für Integration zu machen – ein Novum: Zum ersten Mal ist im Bundeskabinett jemand mit Migrationshintergrund. Für die SPD ist die Berufung von Frau Özoguz eine wichtige Rochade. Sie ist sehr tüchtig, und ihre Arbeit ist für die SPD von besonderer Bedeutung, weil es noch immer so ist: Von den Menschen türkischer Herkunft, die wählen dürfen, stimmt die Mehrheit für die SPD.

Lassen Sie uns zurückkommen zur Agenda: Wie viel von dem Erfolg nehmen Sie für sich in Anspruch, dass Deutschland wiedererstarkt und allseits bewundert aus der Krise gekommen ist?

Die Agenda 2010 allein war es nicht. Drei Dinge haben wir besser gemacht als andere: Zum Ersten haben wir noch eine sehr wettbewerbsfähige Industriestruktur, die sich sehen lassen kann und die einmalig in der Welt ist. Der Anteil der Industrie an der wirtschaftlichen Leistung in Frankreich und Großbritannien liegt bei etwas über zehn Prozent, bei uns immer noch bei fast 25 Prozent. Und dann haben wir ein überlegenes System zum Aushandeln der Arbeitsbedingungen. Diese Sozialpartnerschaft von Arbeitgebern und Gewerkschaften funktioniert auch in der Krise. Ich habe großen Respekt davor, dass die Gewerkschaften während der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 und den nachfolgenden Verwerfungen gesagt haben: In Ordnung, wir akzeptieren Lohnzurückhaltung für eine gewisse Zeit, danach wollen wir unseren Anteil haben. Und der dritte Punkt waren dann unsere Strukturreformen.

Um es ein für allemal zu klären: Das Label, der Name für die Reform stammt von Ihrer Frau, richtig?

Das stimmt. Ich kam mit der Rede nach Hause und bat meine Frau, sie durchzusehen, vor allem sprachlich. Als Erstes hat sie den Titel der Rede in Angriff genommen. Sie sagte: Du brauchst einen Begriff, und den Namen muss man sich merken können. Und dann kam sie mit der Idee „Agenda 2010“. Meine Leute fanden den Vorschlag viel zu abstrakt, zu kalt und zu technokratisch. Aber meine Frau hat mich überzeugt, und sie hat recht behalten. Nicht nur in Deutschland, sondern auch international wurde der Name rasch zu einem Gütesiegel. Auf die Agenda 2010 werde ich weltweit angesprochen, die kennt man in Paris, Seoul, Peking oder Washington. Jetzt diskutiert man über eine Agenda 2020 oder 2030. Das heißt, der Name war ein Glücksgriff, weit über die Kanzlerzeit hinaus.

Bevor wir über eine „Agenda 2020“ reden, mögen Sie kurz erzählen, wie es zur Agenda 2010 kam. Warum haben Sie gerade im Frühjahr 2003 die Sozialreformen angepackt?

Die Debatte über Reformen lief ja schon länger. Wir hatten eine steigende Arbeitslosigkeit, alle Welt redete von einem Reformstau und von Deutschland als dem kranken Mann Europas. Wir haben als Bundesregierung versucht, gemeinsam mit den Sozialpartnern im „Bündnis für Arbeit“ im Konsens zu Reformbeschlüssen zu kommen. Aber was hatten Arbeitgeber und Gewerkschaftsvorsitzende beizutragen? Sie kamen regelmäßig ins Kanzleramt, stellten Forderungen an die Regierung – und zwar gegensätzliche Forderungen – und erwarteten dann, dass wir ihre jeweiligen Wünsche erfüllten. Das verstanden sie unter einem Bündnis. Keiner von ihnen wollte etwas preisgeben, alle wollten ihre Interessen mit Hilfe der Regierung durchsetzen. Das haben wir uns mehr als drei Jahre angeschaut. Als sie dann immer noch blockierten, haben wir gesagt: Jetzt ist Schluss, jetzt machen wir es selber. Das war die Geburtsstunde der Agenda.

Sie haben mit der Einführung von „Hartz IV“ als Ersatz für die Sozialhilfe den Wohlfahrtsstaat umgekrempelt, den Arbeitsmarkt liberalisiert, dafür erfahren Sie heute international Lob und Respekt, daheim aber war ständig vom „Nachbessern“ die Rede.

Dieser abschätzige Gebrauch des Wortes „nachbessern“ stört mich sehr, weil er im Kern demokratiefeindlich ist: Sie müssen Politikern doch zugestehen, dass sie Fehler korrigieren. Angst haben müssen Sie vielmehr vor Regierungen, die behaupten, sie würden nie Fehler machen. Ich habe immer gesagt: Die Agenda 2010 sind nicht die Zehn Gebote. Und ich bin nicht Moses. Wenn Sie so ein komplexes Reformwerk wie die Agenda 2010 entwerfen, quasi am grünen Tisch, haben Sie eine Vorstellung, wie die Welt sich entwickelt. Wenn sich dann herausstellt, dass sich die Wirklichkeit an der Konzeption stößt, dann müssen Sie nachjustieren. Dann müssen Sie die Konzeption verändern dürfen, ohne sich anhören zu müssen: „Die bekommen ja nichts auf die Reihe.“ Das Nachbessern beinhaltet die Erkenntnis, dass man sich irren kann. Und gute Politik zeichnet sich dadurch aus, dass man auf nicht geplante und nicht planbare Auswirkungen angemessen reagiert. Das kann bei komplexen Reformvorhaben in hoch entwickelten, dynamischen Gesellschaften wie unserer ein langer, manchmal dauerhafter Prozess sein.

Was waren aus Ihrer Sicht die unerwünschten Folgen der Agenda? Was ist zu korrigieren?

Ein negativer Aspekt ist zum Beispiel, dass das Konzept der Leiharbeit missbraucht und ausgenutzt worden ist. Wenn in einigen Bereichen Dumpinglöhne gezahlt werden, dann ist es vernünftig und dient im Grunde der Absicherung des Reformprozesses, dass man über einen Mindestlohn gegensteuert. Oder wenn sich herausstellt, dass sich die Reform negativ auf Alleinerziehende auswirkt, muss man sich über Korrekturen unterhalten und die dann auch ins Werk setzen.

Für einen Mindestlohn sind inzwischen ja fast alle: Die FDP als der letzte, zumindest halbherzige Gegner ist nicht mehr im Parlament vertreten. Union und SPD haben einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro die Stunde beschlossen – ungeachtet möglicher schädlicher Nebenwirkungen.

Diese Schlachten sind doch geschlagen! In der Debatte wurde lange übersehen, dass wir fast überall in Europa Mindestlöhne haben – und nicht eingetreten ist, wovor Arbeitgeber und Neoliberale immer gewarnt haben: Der Mindestlohn ist kein Arbeitsplatzvernichtungsprogramm, sondern es ist eine Frage der Gerechtigkeit, ja der Legitimation des politisch-sozialen Systems, die Menschen vor Dumpinglöhnen zu schützen. Ein gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro ist der Versuch, dass die Leute von ihrer Hände und Köpfe Arbeit auch leben können und der Staat nicht gezwungen wird, mickrige Löhne über das Aufstocken auszugleichen. Wenn es so ist, dass Menschen hart arbeiten – etwa in Gaststätten oder in der Fleischverarbeitung –, aber Löhne von nur vier bis fünf Euro in der Stunde bekommen und davon nicht leben können, dann ist das nicht nur ungerecht und unsozial, sondern es stellt auch die Demokratie in Frage. Das kann hier niemand wollen, und deswegen ist die Agenda als Reformwerk ein fortwährender Prozess.

Sie geben aber nicht klein bei gegenüber denen, gerade in der SPD, die das Rad am liebsten komplett zurückdrehen wollen?

Nein, ganz im Gegenteil. Die Agenda hat etwas für Deutschland gebracht. Nicht zuletzt haben wir bewiesen, dass unser Land reformfähig ist. Nicht alle Strukturen sind so verkrustet, dass Reformen unmöglich sind. Das ist auch ein Erfolg der Agenda. Vielleicht mindestens so wichtig wie die einzelnen Wirkungen, die die Reformen entfaltet haben, war das dahinterstehende Menschenbild. Der wichtige Punkt ist die Philosophie: das, was wir „Fordern und Fördern“ genannt haben. „Fördern“ heißt die Menschen qualifizieren, heißt lebenslanges Lernen, heißt aber auch die Bereitschaft der staatlichen Institutionen, dann Hilfestellung zu geben, wenn der Einzelne nicht in der Lage ist, sich aus eigener Kraft zu helfen. Selbstverständlich ist ein Grundsatz von den Reformen unangetastet geblieben: Der Staat gibt in Situationen, wo Bedürftige zu jung, zu alt, krank oder arbeitslos sind, Hilfestellung für ein selbstbestimmtes Leben. Dem gegenüber steht das „Fordern“, das durch die Reformen verstärkt worden ist: Jeder Mensch muss zunächst das ihm Mögliche selber tun, bevor die Gemeinschaft hilft. Das hat nach meiner Überzeugung mit der Würde des Menschen zu tun. Es ist unwürdig und bevormundend, den Menschen zu signalisieren: Egal, ob ihr eigene Anstrengungen entfaltet oder nicht, der Staat wird schon für euch sorgen. Das geht schief, wie wir wissen. Die Politik des „Forderns und Förderns“ ist für mich immer ureigenes sozialdemokratisches Gedankengut gewesen.

Für Leute wie Sahra Wagenknecht, aber auch für Linke in Ihrer Partei haben Sie die sozialdemokratische Idee mit der Agenda auf einen neoliberalen Irrweg geführt. In einem so reichen Land muss das Vermögen nur umverteilt werden, dann ist genug für alle da, lautet deren Propaganda.

Das sind doch nur Schlagworte. Ich halte diese Kritik an der Agenda für völlig überzogen. Fehlentwicklungen müssen korrigiert werden, das Prinzip aber war richtig und es muss auch beibehalten werden. Es ist ja nicht so, dass wir weniger Herausforderungen hätten in der Zukunft. Denken Sie nur an den demographischen Wandel, die Qualifizierung von Menschen mit Migrationshintergrund, anstehende Investitionen in die Infrastruktur, den Reformbedarf im Gesundheitswesen, wo sich ein Missverhältnis zwischen Kosten und Leistung entwickelt hat.

Ärzte berichten, dass auch bei uns klammheimlich rationiert wird. Man überlegt, wie viel Zeit und Geld für welchen Patienten einzusetzen ist – was ethisch fragwürdig ist. Wie kann man das ändern?

Das ist nicht akzeptabel. Mag sein, dass in Kliniken zu viel operiert wird, das kann ich nicht beurteilen. Aber zu sagen: Wenn du zu alt bist, dann lohnt sich ein neues Hüftgelenk nicht mehr – diese Diskussion sollte man erst gar nicht aufkommen lassen. Sie ist ethisch nicht durchzuhalten. Denn wo wollen wir als Gesellschaft die Grenze ziehen, und vor allen Dingen: Wer zieht sie? Wenn der Arzt sagt: Das ist medizinisch geboten, kann doch die Krankenkasse nicht sagen: „Aber du bist zu alt, nun leb mal weiter mit den Schmerzen und der eingeschränkten Beweglichkeit.“ Das geht nicht.

Wie lange werden wir künftig arbeiten müssen? Auf jeden Fall bis 67? Oder noch länger?

Bis 67 Jahre mindestens, wahrscheinlich noch länger. Auf längere Sicht werden wir eher eine Diskussion über eine erneute Verlängerung bekommen als darüber, die Grenze wieder herabzusetzen. Die Rente mit 67 Jahren, von uns vorbereitet und vom damaligen Arbeitsminister Franz Müntefering 2008 durchgesetzt, halte ich nach wie vor für vernünftig. Die Bevölkerungsentwicklung ist ja unser Hauptproblem. Es gibt zu wenig Berufstätige, die mit ihren Beiträgen für die immer größer werdende Gruppe der Rentner aufkommen können. 1960 kamen fast sechs Beschäftigte auf einen Rentner. Zurzeit ist das Verhältnis 3:1, und im Jahr 2030 werden wir voraussichtlich zwei Erwerbsfähige pro Rentner haben. Und dann wird sehr viel Geld in der Rentenkasse fehlen. Wir sollten auch sehen: Es gibt bereits positive Folgen der Rentenreformen. Jüngste Untersuchungen zeigen, dass die Beschäftigung Älterer signifikant zugenommen hat. Das hat natürlich mit dem Arbeitskräftebedarf zu tun. In dem Maße, wie ein Arbeitskräftemangel, insbesondere bei Fachleuten, evident wird, wird sich die Frage der Beschäftigung älterer Menschen, die arbeiten können und wollen, neu stellen. Dass man da nach Berufen und Belastungen differenzieren muss, ist ja selbstverständlich. Das wird aber auch geschehen.

Wenn Sie sagen: Mehr Ältere arbeiten heute, lässt sich das in zwei Richtungen deuten. Erstens: Die wollen es, und es gibt eine Nachfrage. Die zweite, weniger schöne Deutung lautet: Die Altersarmut nimmt zu, die Leute sind von der Not gezwungen, länger zu arbeiten. Was glauben Sie: Wie groß ist die Lust, auch im Alter zu arbeiten?

Man muss da sicher differenzieren. Je nachdem, wie das Arbeitsleben war, wird es Unterschiede geben. Wer sein Leben lang – 40, 45 Jahre – auf dem Bau gearbeitet hat, der ist früher kaputt als derjenige, der in einem Anwaltsbüro gesessen hat oder auch in einer Behörde. Ich glaube, es wird generell mehr Ältere in Arbeit geben. Erstens weil die Menschen es wollen. Und zweitens weil es einen objektiven Bedarf an qualifizierten Älteren gibt, deren Fähigkeiten gebraucht werden und deren Berufserfahrung ja auch ökonomisch nutzbar gemacht werden kann. Wenn ein qualifizierter Meister über die Grenze von 65 oder dann 67 Jahren hinaus arbeiten will und kann, warum denn nicht?

Was sagen Sie eigentlich zu Edmund Stoiber als angeblichem Agenda-Erfinder? Der CSU-Politiker, 2002 Ihnen knapp als Kanzlerkandidat unterlegen, nimmt heute für sich in Anspruch, Sie erst zur Agenda getrieben zu haben: Nur weil er Sie so in die Bredouille gebracht hat, konnten Sie nicht anders, als Reformen anzupacken, hat er argumentiert.

Ach, wissen Sie, wir haben heute ein geklärtes Verhältnis zueinander, ich schätze Edmund Stoiber persönlich sehr. Mit der Äußerung zeigt er, dass er durchaus dialektisch denken kann. Das muss er irgendwo gelernt haben; vielleicht bei Hegel, wenn nicht gar bei Marx.

Wie entfesselt ist der Kapitalismus heute aus Ihrer Sicht? Wer hat das Sagen: die Märkte oder die Politik? Man muss sich entscheiden zwischen Demokratie und Kapitalismus, hat Jakob Augstein geschrieben. Und Sigmar Gabriel fordert demokratiekonforme Märkte.

Ich glaube, dass Gesellschaften wie unsere eine Machtbalance gefunden haben, die eine Dominanz des Marktes über die Demokratie verhindert. Ein Beispiel dafür ist der Atomkonsens aus dem Jahr 2000, ausgehandelt zwischen uns als Regierung und den Energiekonzernen. Deswegen würde ich nie sagen, dass die Politik wegen der Kapitalinteressen handlungsunfähig geworden sei.

Am Ende aber entscheiden Konzerne, wo sie ihren Sitz hinverlegen, welche Fabrik sie schließen – da hat die Politik sich zu bescheiden.

Im Kapitalismus ist es nun mal so, dass über solche Fragen das Kapital entscheidet: zum Beispiel über die Frage, wer entlassen und wer eingestellt wird, welche Investitionen es gibt und welche nicht. Wenn Politik aber von vornherein Angst hat, gegen Kapitalinteressen zu verstoßen, dann funktioniert die Balance nicht mehr. Im Dialog kann Politik durchaus etwas bewegen.

Die von Ihnen angesprochene „Balance“ ist dem linken Spektrum, auch in der SPD, nicht genug, die Märkte sollen gebändigt werden …

Es ist ein großer Irrtum zu glauben, dass die Kernklientel der SPD ein Interesse daran hätte, die Wirtschaft zu strangulieren. Es gibt eine uralte Erfahrung, welche die aufgeklärte Arbeiterbewegung gemacht hat, und die heißt: „Wenn es der Wirtschaft gut geht, fällt für uns Arbeitnehmer am meisten ab, dann können wir unsere Interessen am ehesten durchsetzen. Wenn es der Wirtschaft schlecht geht, dann können Gewerkschaften und SPD uns schützen, aber nie umfassend.“ Deswegen sind Sozialdemokraten und Gewerkschaften viel mehr, als man glaubt, an einer Machtbalance interessiert als am Konflikt mit dem Kapital. In dem Maße freilich, in dem sich die Entscheidungen in der Wirtschaft internationalisieren, muss auch die Politik sich internationalisieren. Deswegen war der Anspruch der G 20 – der Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer –, formuliert im Jahr 2009 auf den Gipfeln in London und später in Philadelphia, richtig und wichtig: Die Politik muss sich gegen das hochkonzentrierte Finanzkapital durchsetzen und die Entscheidungsgewalt zurückerobern. Leider ist dieser Ansatz gescheitert.

Wer trägt dafür die Schuld?

Vor allen Dingen das Nichtwollen in Washington und London – aus Rücksicht auf die Börsenplätze Wall Street und City. Auf der internationalen Ebene gibt es eindeutige Defizite der Politik, sich gegenüber dem Finanzkapital durchzusetzen.

Dabei klagen die Banker, wie sehr sie von der Politik in die Mangel genommen werden.

Auch in der Finanzindustrie wachsen die Bäume nicht in den Himmel, zum Glück. Da dürfen die Banker ruhig mal aufjaulen. Die harten Reaktionen der Politik werden erzwungen von Menschen, die negative Erfahrungen mit dieser Form des Wirtschaftens gemacht haben. So kommt es, dass die EU-Kommission sagt: Wir kümmern uns jetzt mal um die Bonus-Systeme, wir kümmern uns um die Frage, wie wir ein Trennbankensystem einführen. Selbst die Amerikaner üben heftig Kritik, wenn man sich nur einmal anschaut, was Paul Volcker gesagt hat …

Der ehemalige Notenbankchef und Obama-Berater Paul Volcker hat den Bankern in einer Art Wutrede vorgehalten, dass der Geldautomat ihre letzte sinnvolle Innovation war, und die Zerschlagung von Großbanken gefordert …

… das lässt sich doch hören! Auch da zeigt sich, dass die Vorstellung, das Kapital könne alles alleine bestimmen, falsch ist, zumal nicht nur die etablierte Politik reagiert hat, sondern auch die Leute auf der Straße.

Die Occupy-Bewegung tanzte eine Saison, inzwischen ist der Protest ziemlich verpufft.

Glauben Sie das wirklich? Der Protest schafft ein Bewusstsein, das immer wieder aufbrechen kann. Solche Graswurzelbewegungen haben durchaus ihren Sinn und führen dazu, dass Politik sich Schritt für Schritt wieder Terrain erkämpfen muss.

Erst mal hat die Politik Abermilliarden für Rettungseinsätze im Bankenviertel ausgegeben.

Vielleicht hat man tatsächlich zu viel Vertrauen in die Finanzwirtschaft gehabt. Wer reale Güter produziert, der geht anders an die Dinge heran, der weiß: Wenn er es nicht verkaufen kann, geht sein Laden pleite. Deswegen muss im Zuge der Bankenunion dringend ein Abwicklungssystem für Banken her: Die müssen verstehen, dass sie mit ihrem riskanten Treiben die eigenen Unternehmen, im schlimmsten Fall die Volkswirtschaft und damit Staat und Gesellschaft ruinieren: „Too big to fail“ – das kann nicht das Ende der Debatte sein.

Maßgeblichen Finanzleuten geht der Machtanspruch der Politik gewaltig auf die Nerven: Die Finanzkrise war ein Notfall, sagt zum Beispiel ein führender Frankfurter Banker, da war der Staat nötig als Chirurg, jetzt soll er sich zurückziehen und nicht auch noch anfangen, mit Schönheitsoperationen rumzuschnippeln.

Reden die wirklich so?

Durchaus.

Dann geht das für meinen Geschmack doch sehr weit – nach allem, was vorgefallen ist, nach massivem Fehlverhalten in der Bankenwelt. Wenn eine Branche solche Verwerfungen zu verantworten hat, dann rate ich doch zu mehr Bescheidenheit. Da geht es nicht um Schönheitsreparaturen, da geht es um grundlegende Veränderungen. Die Politik hat ein Recht und sogar die Pflicht, sich einzumischen.

Die Ökonomen hantieren gerne mit dem „homo oeconomicus“: Wie stehen Sie zu diesem Bild vom Menschen, der seinen Nutzen maximiert und auf den eigenen Vorteil aus ist und für den Solidarität nicht viel zählt? Trifft das Ihre Erfahrung der Wirklichkeit?

Nein. Die Vorstellung, es gebe nur die Raffgierigen, ist falsch. Schauen Sie sich das Ehrenamt an: All die Übungsleiter in kleinen Fußballvereinen, die Freiwilligen Feuerwehren, die Leute, die sich um hilfsbedürftige ältere Menschen kümmern. Dieser Aspekt gesellschaftlichen Zusammenlebens ist Realität.

Sie sehen nicht, dass die ganze Gesellschaft sich nur ums Geld dreht, wie so oft beklagt wird?

Sicher, es gibt Tendenzen der Ökonomisierung, aber es gibt auch die Gegenbewegung. Junge Menschen, die sich in Umwelt- und Dritte-Welt-Gruppen engagieren, die auf Kirchentagen diskutieren. Gerade in den Kirchen gibt es viele, die sich stark engagieren.

Das angebliche Diktat der Ökonomie ist also eine Schimäre?

Das ist übertrieben, mit der These lassen sich flotte Bücher schreiben. Mit dem, was ich auch in meinem persönlichen Lebensumfeld wahrnehme, hat das wenig zu tun. Durchökonomisiert ist die Gesellschaft nicht. Im Gegenteil. Die Menschen in den entwickelten Industriegesellschaften haben ein Maß an Freiheit und auch an freier Zeit, von dem frühere Generationen nur träumen konnten. Ob sie alle mit diesen Freiheiten und dieser Zeit sinnvoll umgehen, ist eine andere Frage. Aber da kann man nicht einfach von einem Diktat der Ökonomie reden.

Die Stimmung scheint mir trotzdem eine andere: Der amerikanische Philosoph Michael Sandel hat einen Bestseller gelandet mit der Klage, dass der Markt alle Lebensbereiche infiltriert …

… mich sorgt eher eine andere Entwicklung. Das mag jetzt konservativ klingen, aber mir macht Sorge, dass bestimmte gesellschaftliche, auch gesetzliche Regeln nicht mehr eingehalten werden. Wenn ich zum Beispiel „Kampfradler“ und rücksichtslose Hundehalter erlebe, macht mich das wütend. Da offenbart sich ein Mangel an Respekt vor der Freiheit des anderen, gerade vor den Schwächsten in der Gesellschaft, und das sind die Kinder.