Klassismus überwinden - Francis Seeck - E-Book

Klassismus überwinden E-Book

Francis Seeck

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Beschreibung

Die Armutsquote in Deutschland ist auf einem neuen Höchststand und angesichts der steigenden Lebensmittelpreise, überfüllten Tafeln und des eklatanten Mangels an bezahlbarem Wohnraum zeigt sich die Klassengesellschaft, in der wir leben, wie unter einem Brennglas. Eine sozial gerechte Gesellschaft lässt sich allerdings nur dann verwirklichen, wenn neben Klassismus auch andere Machtverhältnisse in den Blick genommen, wenn intersektionale Brücken geschlagen und Bündnisse geschmiedet werden. In Klassismus überwinden zeigt Francis Seeck anhand einzelner Gruppen, Initiativen und Bewegungen, die bewusst antiklassistisch handeln, wie das gelingen kann. Wer wissen möchte, wie wir Klassismus nachhaltig entgegentreten können, welche Wege bereits gegangen wurden und welche noch erprobt werden, wer erfahren möchte, was jede einzelne Person ganz konkret unternehmen kann, um der Vision einer sozial gerechten Gesellschaft näherzukommen, wer sich von Vorbildern und wirkmächtigen Ideen inspirieren lassen möchte, um ins klassismuskritische Handeln zu kommen, der findet in diesem Buch handfeste Vorschläge und ungewöhnliche Denkanstöße. »Wer Klassismus verstehen will, muss Francis Seeck lesen.« – Daniela Dröscher

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Seitenzahl: 131

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Francis Seeck ist Professor*in für Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Demokratie- und Menschenrechtsbildung an der TH Nürnberg. Francis Seecks Arbeitsschwerpunkte sind Klassismus(kritik), politische Bildung, Antidiskriminierung und menschenrechtsorientierte Soziale Arbeit. Seit 2010 arbeitet Francis Seeck als Antidiskriminierungstrainer*in und politische*r Bildner*in. 2020 gab Francis Seeck gemeinsam mit Brigitte Theißl bei Unrast den Sammelband Solidarisch gegen Klassismus heraus. 2022 erschien bei Atrium die antiklassistische Streitschrift Zugang verwehrt.

Mehr Infos unter www.francisseeck.net

Francis Seeck

Klassismus überwinden

Wege in eine sozial gerechte Gesellschaft

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Francis Seeck:

Klassismus überwinden – Wege in eine sozial gerechte Gesellschaft

1. Auflage, März 2024

eBook UNRAST Verlag, April 2024

ISBN 978-3-95405-189-2

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Felix Hetscher, Münster

Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

1 Einleitung

2 Mit »Hartzer Käse« und Hashtag: Erwerbslose und Armutsbetroffene organisieren sich

3 »Zwischen den Klassen«. Klassenübergänger*innen und wie sie klassismuskritisch handeln

4 Den Kuchen teilen: Eigene Klassenprivilegien erkennen und Ressourcen abgeben

5 Klimagerechtigkeit klassismuskritisch

6 Klassismus und Intersektionalität: Verwobenen Diskriminierungsverhältnissen entgegentreten

7 Klassismus überwinden: Die nächsten Schritte in eine sozial gerechte Gesellschaft

Literatur

Danksagung

Anmerkungen

1 Einleitung

Im deutschsprachigen Raum wird wieder über soziale Ungleichheit gesprochen, der Klassenbegriff feiert ein Comeback. Warum ausgerechnet jetzt? Der Zeitpunkt dürfte kein Zufall sein, sondern mit den gesellschaftlichen Zumutungen zusammenhängen: einer hohen Inflation, steigenden Lebensmittel- und Energiekosten, dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum, überfüllten Tafeln und einer zunehmenden Spaltung zwischen Arm und Reich. Laut Paritätischem Armutsbericht (Der Paritätische 2023) hat die Armut in Deutschland mit einer Armutsquote von 16,9 Prozent einen neuen Höchststand erreicht. 14,1 Millionen Menschen waren im Jahre 2021 in Deutschland von Armut betroffen. Diskriminierungen nehmen zu, auch jene entlang von Klassenherkunft und -zugehörigkeit: Klassismus. Menschen, die armutsbetroffen sind oder Sozialleistungen beziehen, erleben alltäglich Ausgrenzung und Hass. Arbeiter*innenkinder, Care-Leaver*innen[1], Kinder mit Migrationsgeschichte und Kinder erwerbsloser Eltern finden sich in einem Bildungssystem wieder, das viel zu oft »aussortiert«, statt Teilhabe zu ermöglichen. Mehr und mehr Menschen wissen und spüren am eigenen Leib: Wir leben in einer Klassengesellschaft.

Die Misere ist bekannt. Deshalb will dieses Buch vor allem Handlungswege aufzeigen: Wie können wir Klassismus entgegentreten, welche Wege wurden und werden dafür bereits erprobt? Was können wir, was kann jede einzelne Person tun, um der Vision einer sozial gerechten Gesellschaft näherzukommen? Wie organisieren sich einkommensarme und wohnungslose Personen, wie gehen Arbeiter*innenkinder und Heimkinder gegen Diskriminierung vor? Wie gelingt es ihnen, die Klassenscham zu überwinden, um sich zusammenzutun und andere zu mobilisieren – zum Beispiel in der Erwerbslosenbewegung, der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen oder im Rahmen der Kampagne #IchBinArmutsbetroffen? Welche Bündnisse suchen und schließen sie? Auch Klassenübergänger*innen[2] und politisch engagierte Menschen aus der Ober- und aus der Mittelklasse können sich für Gerechtigkeit einsetzen. Welche Wege finden sie, ihre alten oder neu gewonnenen Klassenprivilegien – etwa Erbschaften – für eine sozial gerechte Gesellschaft einzusetzen? Wie schaffen es Initiativen wie taxmenow oder Resource Transformation – rückverteilen bewegt (rtrb), Menschen aus den oberen zehn Prozent für Themen sozialer Gerechtigkeit zu gewinnen?

In politischen Talkrunden, in den Zeitungen und auf dem Buchmarkt steht nach wie vor der weiße westdeutsche Arbeiter im Mittelpunkt, wenn es um das Thema Klasse geht. Dabei sind die meisten Menschen, die Klassismus erleben, zugleich von anderen Diskriminierungen betroffen: als Muslima etwa oder als trans Person, als Jude, als Lesbe oder als Geflüchtete*r, als Frau mit einer Behinderung, als Romni oder als Schwarzer Mann. Ostdeutsche Klassenerfahrungen (vor und nach der Wende) unterscheiden sich ganz grundlegend von westdeutschen (Seeck 2021). Ein weiteres Thema kann heute nicht mehr außen vor bleiben, wenn es um die Frage sozialer Gerechtigkeit geht: die Klimakrise. Ihre unmittelbaren Folgen haben ebenso wie die politischen Maßnahmen, die ergriffen werden, eine soziale Dimension – global sowieso, aber auch innerhalb Deutschlands: Wer ist von den zunehmenden Hitzewellen, Dürren und Überflutungen besonders betroffen, wer kann sich schützen und absichern? Mildern oder verstärken die politischen Antworten auf die Klimakrise Ungleichheiten? Wie kann Klimaschutz sozial gerecht gestaltet werden?

Ich nehme die Leser*innen mit in Gruppen, Initiativen und Bewegungen, die antiklassistisch handeln und für soziale Gerechtigkeit eintreten. Diese Reise führt uns an verschiedene Orte unserer Klassengesellschaft. Vor allem aber führt sie uns vor Augen, wie es anders gehen kann. Was bedeutet eine sozial gerechtere Welt und welche Wege führen dahin? Wo können wir ansetzen, um dieser Utopie näherzukommen? Klar ist: Soziale Gerechtigkeit wird sich nicht verwirklichen lassen, ohne andere Diskriminierungsverhältnisse wie Sexismus und Rassismus anzugehen; ebenso wenig kann die Klimakrise ignoriert werden, die zu einem Katalysator sozialer Ungerechtigkeit zu werden droht. Deshalb zeige ich auch Strategien für intersektionale und ökologisch gerechte Bündnisse gegen Diskriminierungen auf.

Viele Menschen haben sich bereits auf den Weg gemacht, und ihre Strategien stehen im Mittelpunkt dieses Buches. Dabei zeigt sich: Alle Menschen können sich gegen Klassismus engagieren. Die eigene Klassenherkunft und -position jedoch prägen, wie, in welcher Rolle und mit welcher Perspektive dies geschieht und möglich ist. Deshalb habe ich in dem Buch verschiedene Möglichkeiten, klassismuskritisch zu handeln, in den Blick genommen: von unterschiedlichen Klassenpositionen aus. Neben der Erwerbslosenbewegung und dem Bündnis #IchBinArmutsbetroffen als Felder, in denen sich armutsbetroffene Menschen engagieren, komme ich auch auf Ideen zu sprechen, die Klassenübergänger*innen, Personen mit deutlichen Klassenprivilegien oder in der sozioökonomischen Mitte der Gesellschaft verfolgen (können).

Mit diesem Buch möchte ich Denkanstöße liefern, um konkrete Schritte in Richtung einer sozial gerechten Gesellschaft zu gehen. Dafür nutze ich sozialwissenschaftliche Analysen und den Stil des persönlichen Essays. Das Buch richtet sich an Einzelpersonen, aber auch Gruppen, die sich inspirieren lassen möchten: Was tun andere, was kann ich selbst tun, um unsere Gesellschaft sozial gerechter zu machen? Wo finde ich Vorbilder und konkrete Ideen, um klassismuskritisch zu handeln? Ebenso wendet sich das Buch an Bildungs- und Antidiskriminierungsprojekte, an Träger der Sozialen Arbeit, an Medien- und Kultureinrichtungen und an politische Gruppen und Initiativen.

Seit zehn Jahren arbeite ich zum Thema Klassismus: Ich forsche dazu, schreibe darüber und halte Lesungen ab; ich gebe Fortbildungen und halte Vorträge für Lehrer*innen, Erzieher*innen, Sozialarbeiter*innen, Kulturarbeiter*innen, Justizvollzugsbeamte, Jugendamtsleiter*innen, Hochschullehrende, Studierende, Aktivist*innen und viele mehr. Dieses Buch ist auch eine Reaktion auf die vielen Gespräche, die ich in diesem Rahmen geführt habe, eine Antwort auf die vielen Fragen, die mir gestellt wurden, und eine Reflexion meiner ersten beiden Bücher zum Thema. 2020 veröffentlichte ich gemeinsam mit der Journalistin und Erwachsenenbildnerin Brigitte Theißl den Sammelband Solidarisch gegen Klassismus. Organisieren, intervenieren, umverteilen. In persönlichen Essays, theoretischen Beiträgen und in Interviews berichteten 27 Beteiligte, wie sie Klassismus entgegenwirken: in sozialen Bewegungen und Initiativen, in Hochschulen, auf dem Wohnungsmarkt und im Gesundheitssystem. Der Sammelband war der erste deutschsprachige zum Thema Klassismus und liegt mittlerweile in der 4. Auflage vor. Zwei Jahre später erschien meine antiklassistische Streitschrift Zugang verwehrt – Keine Chance in der Klassengesellschaft: wie Klassismus soziale Ungleichheit fördert. Darin führte ich in das Thema Klassismus ein, auch für Leser*innen, die nicht politisch aktiv sind und die keine Vorkenntnisse haben. Ich zeigte auf, dass die Diskriminierung aufgrund von sozialer Herkunft und Position unsere Gesellschaft grundlegend bestimmt: von der Geburt bis zum Tod.

Während ich dort vor allem auf die oftmals ignorierte Diskriminierungsform Klassismus aufmerksam machen wollte und aufgezeigt habe, wie Klassismus unsere Gesellschaft prägt, steht in diesem Buch klassismuskritisches Handeln im Mittelpunkt: Wege, wie sich Klassismus überwinden lässt. Dabei knüpfe ich an einige Ideen und Ansätze aus dem Sammelband Solidarisch gegen Klassismus an, etwa die der Prolo-Lesbengruppen und von Erwerbsloseninitiativen.

Seit 2020 sprach ich auf über 250 Veranstaltungen – Lesungen, Podiumsdiskussionen, Fortbildungen – über das Thema Klassismus. Dankbar für das große Interesse, notierte ich die Fragen, die meine Zuhörer*innen umtrieben. Eine Frage wurde mir besonders häufig gestellt, von hunderten Menschen, sie bildet die Leitfrage dieses Buches: Wie kann man Klassismus überwinden, und was sind Wege, erste Schritte zu einer sozial gerechten Gesellschaft?

Das ist keine einfache Frage, und ich habe kein Geheimrezept, das man befolgen könnte, um das Problem zu lösen oder zumindest abzumildern. Deshalb ziehe ich Texte zurate, die aus sozialen Bewegungen und Initiativen heraus zu Klassismus und sozialer Ungerechtigkeit geschrieben wurden. Ich hörte Menschen zu, die sich damit – aus ganz verschiedenen Perspektiven – beschäftigen. Ich beobachte, tausche mich mit anderen aus, ich lese und suche. Dieses Buch ist eine Suchbewegung und ein Zwischenergebnis. Sicherlich werden viele Fragen zu Klasse und Klassismus offenbleiben, auch deshalb, weil mein eigener Denkprozess dazu nicht abgeschlossen ist. Es geht in diesem Buch weniger um die ganz großen politischen Theorien, sondern mehr um die direkten Konsequenzen der gesellschaftlichen Klassenstruktur – und vor allem darum, wie sie verhindert, abgebaut, überwunden werden können. Die Vorschläge dafür sind auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt. Manchmal geht es um den Abbau von verinnerlichtem Klassismus im eigenen Selbstbild, an anderen Stellen um die Überwindung von Klassismus in sozialen Bewegungen, an wieder anderen um größere strukturelle Fragen der Verteilung von Kapital. Eine große Rolle spielt das ganz konkrete klassismuskritische Handeln im Alltag, was manchmal schwieriger ist, als große Ideale einer sozial gerechten Gesellschaft zu postulieren. Es war schön, im Laufe des Schreibprozesses zu merken, an wie vielen Orten sich bereits Menschen auf den Weg machen! Ich fragte: Wo wird Solidarität schon gelebt?

Klassismus. Eine oftmals ignorierte Diskriminierungsform

Da ich nicht davon ausgehe, dass alle Leser*innen meine oder andere Bücher zum Thema gelesen haben und da mir Zugänglichkeit wichtig ist, möchte ich zu Beginn noch einmal erklären, was Klassismus ist, woher der Begriff stammt und wie Klassismus unsere Gesellschaft prägt. In meiner Streitschrift Zugang verwehrt schrieb ich dazu:

»Klassismus wirkt schon vor der Geburt und bis über den Tod hinaus. So ist etwa der Zugang zu Bildung oder Gesundheitsversorgung davon geprägt, und selbst die Art, wie wir bestattet werden. Klassismus kann sogar lebensbedrohlich werden. Und die längerfristige gesellschaftliche Entwicklung verschärft die sozialen Unterschiede, die Schere zwischen Arm und Reich geht seit Jahren immer weiter auseinander, die Schranken zwischen den Klassen verfestigen sich. Trotzdem wurde Klassismus bislang kaum beachtet. Das muss sich dringend ändern! Denn nur, wenn wir uns mit Klassismus auseinandersetzen, ist eine sozial gerechte Gesellschaft möglich.«

Der Begriff Klassismus beschreibt analog zu Rassismus und Sexismus eine Diskriminierungs- und Unterdrückungsform (Seeck/Theißl 2020: 10). Angelehnt an Andreas Kemper und Heike Weinbach (2009) verstehe ich Klassismus als Abwertung, Ausgrenzung und Marginalisierung entlang von Klasse. Klassismus beschreibt die Diskriminierung entlang von sozialer Herkunft oder sozialem Status. Er richtet sich gegen Menschen aus der Armuts- oder Arbeiter*innenklasse, zum Beispiel gegen einkommensarme, erwerbslose oder wohnungslose Menschen sowie Arbeiter*innenkinder (Seeck/Theißl 2020: 12). Tanja Abou beschreibt in ihrem Artikel Klassismus. Oder: Was meine ich eigentlich, wenn ich von Klassismus spreche? Eine Annäherung Klassismus als ideologisch gestützte Herrschaftsform (Abou 2017). Julia Roßhart definiert Klassismus in Klassenunterschiede im feministischen Bewegungsalltag als »Unterdrückung, Abwertungen, Ausgrenzungen, Marginalisierung entlang von Klasse« (Roßhart 2016: 33). Klassismus hat konkrete Auswirkungen auf die Lebenserwartung und begrenzt den Zugang zu Wohnraum, Bildungsabschlüssen, Gesundheitsversorgung, Macht, Anerkennung, Geld und gesellschaftlicher Teilhabe. Klassismus wirkt häufig in Kombination mit anderen Diskriminierungsformen: Trans Personen, alleinerziehende Mütter und Personen, die Rassismus erfahren, erleben häufig auch Klassismus (Arzouni 2018).

Die Auseinandersetzung mit Klassismus ist nicht neu, die Wurzeln des Begriffs liegen in Schwarzen und lesbisch-feministischen Bewegungen der 1970er- und 1980er-Jahre (Abou 2020, Bublitz 1980, Myron 1972, Meulenbelt 1988, hooks 2000, Roßhart 2016, Roßhart/Witte 2019, Witte 2013). Klassismus stellt jedoch immer noch eine Diskriminierungsform dar, die oft vergessen wird. Nach wie vor begegnen mir, wenn auch seltener als noch vor einigen Jahren, Fragen wie diese: »Klassismus? – Meinen Sie Klassizismus?«, »Gibt es heutzutage überhaupt noch soziale Klassen?« oder »Ist der Begriff Klasse nicht veraltet?«. Die klassistische Diskriminierungsform wird gerne übersehen – und der Begriff Klassismus mit einer Kunstepoche verwechselt. Immer mehr Menschen aber wird bewusst: Wir leben in einer sozial ungerechten Gesellschaft, in einer Klassengesellschaft, in der einkommensarme Menschen immer ärmer und reiche Menschen immer reicher werden; in einer Gesellschaft, in der unsere Lebensmöglichkeiten durch unsere Klassenherkunft geprägt werden. Die Schriftstellerin und feministische Aktivistin Rita Mae Brown versteht Klasse folgendermaßen:

»Klasse bedeutet weit mehr als die marxistische Definition von Beziehungen im Spiegel der Produktionsverhältnisse. Klasse schließt dein Verhalten und deine fundamentalen Überzeugungen mit ein; wie du gelernt hast, dich zu verhalten; was du von dir und anderen erwarten darfst; deine Idee von der Zukunft, wie du Probleme verstehst und löst; wie du denkst, fühlst, handelst.« (Brown 1974)

Die Klassenposition und Klassenherkunft wird von mehreren Kapitalen oder deren Abwesenheit geprägt (Bourdieu 1992). In seiner Analyse der sozialen Klassen erarbeitete Bourdieu vier Arten von Kapital: das ökonomische Kapital, also der Zugang zu Vermögen, Besitz und Eigentum; das kulturelle Kapital, zu dem Objekte gehören wie Musikinstrumente, Kunstobjekte oder ein Bücherregal, das zudem in den Körper eines Menschen eingeschrieben ist und dessen Sprache und Habitus prägt oder das sich in Institutionen erwerben lässt, etwa das Abitur, der Bachelor- oder Masterabschluss oder ein Doktortitel; das soziale Kapital, also der Zugang zu Netzwerken und die Kontakte zu einflussreichen Personen; das symbolische Kapital, nämlich Titel, Nachnamen oder eine Adresse mit Prestige (ebd.). Die Arten von Kapital sind miteinander verschränkt: Eine wohlhabende Familie kann ihre Kinder in eine renommierte Privat-Kita schicken. Hier erhalten sie früh Zugang zu kulturellem Kapital, etwa durch die musikalische Früherziehung und Sprachunterricht. In der Kita bilden sich soziale Netzwerke wohlhabender Familien, die später im Leben von Bedeutung sein können. Hier wird soziales Kapital angehäuft. Klassismus kann auch verstanden werden als das systematische Abgeschnittenwerden von diesen Kapitalsorten.

Es bewegt sich jedoch etwas: Immer mehr Menschen fangen an, sich mit Klassismus auseinanderzusetzen. In Berlin wurde 2020 das neue Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) verabschiedet. Neu in das LADG aufgenommen wurde der rechtliche Schutz vor Diskriminierungen aufgrund des sozialen Status. Damit wurde eine große Schutzlücke im Antidiskriminierungsrecht geschlossen; dies ist umso wichtiger, weil immer mehr Menschen von Armut betroffen sind und die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht. Ich hoffe, dass Vergleichbares bald auch bundesweit und auf EU-Ebene umgesetzt wird.

Klassismus ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig und prägt alle gesellschaftlichen Bereiche: sdas Bildungssystem, den Wohnungsmarkt, das Gesundheitssystem, den Kulturbereich, die Politik und viele mehr. Auch im Alltag ist Klassismus allgegenwärtig. Tanja Abou gibt ein konkretes Beispiel:

»Ihr kennt es sicher: Es wird eingeladen zu einer ›Trash-Party‹ mit ›trashiger Musik‹. Die Art, wie sich die Leute dort kleiden, ist oft eine Karikatur ihrer Vorstellung davon, wie ›die aus der Unterschicht‹ sich anziehen. Jogginghose, Feinripp-Shirt und Aldi-Tüte. Außerdem ist es eine ironische Abgrenzung zu der Musik, mit der ich aufgewachsen bin. Ich finde Pop-Musik geil, ich habe schon immer Hip-Hop gehört! Seit Sookee darf man das auch in der queer-feministischen Szene, vorher nicht. In dieser Abgrenzung liegt eine enorme Abwertung. Es ist eine klassistische und rassistische Zuschreibung. Oft ist es auch eine Abgrenzung von der eigenen bürgerlichen Herkunft: indem ich Klamotten anziehe, für die mich meine Eltern ausschimpfen würden; gleichzeitig tue ich so, als wäre ich prekär. Das Wort ›Trash‹ heißt Abfall, Müll. Auch schon Marx hat über das Lumpenproletariat gesagt, es sei der Auswurf der Gesellschaft, die, die es eigentlich nicht wert seien, eine Stimme zu bekommen. Ich finde es wichtig, drauf zu achten, wie wir im täglichen Sprachgebrauch andere klassistisch abwerten und uns damit vermeintlich erhöhen.« (Abou/Theißl/Witte 2020: 40)

Klassismus ist allgegenwärtig: in der Sprache, in Zuschreibungen, in gesellschaftlichen Vorstellungen und Normen. Bei der Auseinandersetzung mit Klassismus geht es immer auch um die Rückbindung an konkrete Erfahrungen in der Klassengesellschaft; Erfahrungsexpertise wird wertgeschätzt. Daher wird Wissen zu Klassismus oft in Räumen hergestellt, in denen Erfahrungen mit Ungleichheit verarbeitet und erforscht werden. Bei der Auseinandersetzung mit Klassismus geht es um konkrete alltägliche Erfahrungen der Ausgrenzung, Diskriminierung und Unterdrückung, die Menschen in der Klassengesellschaft machen. Diese Perspektiven sollten gehört werden und nicht hinter universitären Fachdebatten verschwinden. Ich plädiere daher dafür, Erfahrungsexpertise genauso ernst zu nehmen und wertzuschätzen wie Fachexpertise, und viele Menschen verfügen über beides.