Klaus Maria Brandauer - Ronald Pohl - E-Book

Klaus Maria Brandauer E-Book

Ronald Pohl

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Beschreibung

In den vergangenen Jahren hat Österreichs einziger Weltschauspieler einen atemberaubenden Werkkatalog vorgelegt: Auf die Titelrolle in Lessings "Nathan der Weise" am Wiener Burgtheater folgte Schillers "Wallenstein", Kleists "Dorfrichter Adam", der blinde "Ödipus auf Kolonos" und der Bananen ver schluckende Krapp in Becketts "Das letzte Band". Der epochale "König Lear" an der Burg schließlich zeigt, wie ein auch in Hollywood nachgefragter Star die Fragestellungen der Theatertradition in ein neues, überraschendes Licht zu rücken versteht. Ronald Pohl zeichnet den Gipfelsturm eines kontrovers diskutierten Einzelgängers im Kontext der Bühnentradition, als Kulmination von Entwicklungen aus Surrealismus, epischem Theater und Schwarzer Romantik. Zu Wort kommen Weggefährten wie Hans Neuenfels, Peter Stein und Brandauer selbst.

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Ronald Pohl

Klaus Maria Brandauer

Ein Königreich für das Theater

RONALD POHL

KLAUS MARIA

BRANDAUER

EIN KÖNIGREICH FÜR DAS THEATER

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Auflage 2014© 2014 by Braumüller GmbHServitengasse 5, A-1090 Wien

www.braumueller.at

Cover: Klaus Maria Brandauer als König Lear, Burgtheater, Wien 2013. Foto: Karl Schöndorfer / picturedesk.com Fotos im Innenteil: PATRICK PLEUL / EPA / picturedesk.com (Seite 57), A3116 Tim Brakemeier / dpa / picturedesk.com (Seite 81); ullstein – pwe Verlag GmbH / Ullstein Bild / picturedesk.com (Seite 101); A9999 Maria Laub / dpa / picturedesk.com (Seite 193)

ISBN der Printausgabe: 978-3-99100-121-8

ISBN E-Book: 978-3-99100-122-5

Inhalt

UNTERGANG • Brandauer und Lear

LEERE UND LEHREN • Lear, Aristoteles und das epische Theater

HYBRIS • Das Wiener Burgtheater und Hartmann

HYPOTHESEN • Regiearbeit – Friedrich und Eva Heer

EINE LEITER FÜR LEAR • Lear und Hamlet

FATALE VÄTER • Kreiskys Wien

DAS AUGE • Wittgenstein

KRAPP IN NEUHARDENBERG • KMB und Beckett

DER GENERALSTÄBLER • Brandauer und Stein

DAS HERZ DER FINSTERNIS

DER WELTGEIST IN STIEFELN • Peter Stein und Wallenstein

EXKURS I: REGIETHEATER • Der Salzburger „Julius Cäsar“

EXKURS II: MEPHISTO ODER: „ICH BIN DOCH NUR EIN SCHAUSPIELER!“

VERSUCH ÜBER TOD UND TOLLDREISTIGKEITMephisto und die Monarchie

PSYCHOGRAMM DER HERKUNFT • Altaussee und Oberst Redl

DAS WIENER BURGTHEATER ALS TRAUMFABRIKBrandauer und das Nationaltheater

ÜBER SCHEITERN UND WAHRHAFTIGKEIT • Fritz Kortner

DAS KREUZ DES AUSDRUCKS • KMB als Verführungskünstler

VÄTER UND STELLVERTRETER, MÖRDERGRUBEN UND HERZENHaeusserman und all die anderen

NEUENFELS

VERGEBENS, ABER NICHT VERGESSENHamlet – Wilhelm Reich – Nathan

„STÜRZEN WIR NICHT FORTWÄHREND?“ • Wallenstein und Napoleon

SÜNDENFALL • Adam als letzter Mensch

„WIR HABEN TAUSEND PUBLIKÜMER!“

UNTERGANG

Brandauer und Lear

Besser gelaunt ist noch kein Potentat in sein Unglück gerannt. Lear, der Greisenkönig in Britanniens sturmgepeitschter Heide, eilt verwegenen Schrittes auf die Bühne des Wiener Burgtheaters. Der Horizont ist kahl, kein Sonnenstrahl streichelt dem Unhold die Haare. Klaus Maria Brandauer spielt den rätselhaftesten unter allen Shakespeare-Herrschern als Mann der Tat: ein Steppen-Attila, der auf einem Pony einen Draufgänger zum Fürchten abgäbe.

Wäre England nicht ein Eiland inmitten rauer See, man könnte denken, ein Mongolensturm wäre über das Land hinweggefegt. Brandauers Lear hat vielleicht vor 20, 30 Jahren in einer Jurte gehaust. Gut möglich, der Schlüssel zum Erfolg des Usurpators lag bereits damals in dessen Unfähigkeit, still zu sitzen. Noch ehe Englands stolze Ritter die Lanzen eingelegt hatten, um den Emporkömmling anzugreifen, war dieser behände ins Heidekraut echappiert. Ein Kavallerist ohne Rangabzeichen, ein Krieger aus Instinkt.

„König Lear“ spielt in finsterer, nicht mehr recht gegenwärtiger Zeit. Und doch muss Lear seinen Widersachern einmal als jugendlicher Draufgänger erschienen sein. Er war den Herzögen und Peers über, weil er Machtinstinkt und Schläue in sich vereinte. Obwohl schon achtzig Jahre alt, ist Lear selbst ein Sendbote jener Moderne, die ihn, in einem langen, chaotischen, das ganze Land aufreibenden Prozess, zu Fall bringen wird. Ein Nachteil bleibt auch jetzt, im Spätherbst seiner Allgewalt, schmerzhaft spürbar. Lear hat keinen Sohn. Das Schicksal hat es anders gewollt und ihm drei Töchter geschenkt. Jetzt geht der Reiterkönig daran, sein vom ihm errichtetes, unter vielen Mühen befriedetes Reich unter den längst erwachsenen Kindern aufzuteilen.

Klaus Maria Brandauer, seit 1971 Mitglied des Wiener Burgtheaters, stürmt auf die Bühne, als müsste er jedem Einwand zuvorkommen. Als Tyrann ist er es gewohnt, Entscheidungen aus reiner Machtvollkommenheit heraus zu treffen. Sein Reich wird von einer Landkarte aus Lederhaut symbolisiert. „Sorg’ und Müh‘“ wolle er von sich abschütteln. Seine – im Übrigen schon recht reifen – Mädchen blickt der Potentat im räudigen Mantel ein wenig mitleidig an. Er nimmt sie nicht für voll. Den Plan des aufzuteilenden Landes fährt er mit der Fliegenklatsche ab. Den Entschluss zum Rückzug auf Raten tut er sprechsingend kund. Auch das hat Lear also in den langen Jahren auf der Heide, auf Sturmleitern kletternd, mordend und brandschatzend, gelernt: Man muss, um die Menschen für sich einzunehmen, sich auf die Kunst schöner Worte verstehen.

Lears erste Szene mündet in das von Shakespeare intendierte Fiasko. Lear trifft eine staatsrechtliche Entscheidung. Er möchte das Land unter seinen Töchtern aufteilen. Diese können sich obendrein heiraten lassen, um an der Seite von Fürsten zu regierenden Königinnen zu werden. Unheil kündigt sich an. Der Greis mit den verfilzten Locken möchte von den jungen Damen erobert, am Bart gezupft, umworben und gedrängt werden. Das ist kraus gedacht, denn Lear fragt danach, welche von den dreien ihn wohl am meisten liebe. Er versteht sich ganz offensichtlich nicht auf das Dritteln.

Noch schwerwiegender ist der Missgriff in diskursiver Hinsicht. Ausgerechnet Lippenbekenntnisse sollen ihm als Entscheidungsgrundlage dienen. „Aus nichts kann nichts entstehen“, belehrt er seine Jüngste, die störrische Cordelia (Pauline Knof). Ein lässliches, unter Druck abgegebenes Bekenntnis soll für Nähe und Intimität einstehen. Lears Willkür ist, als stümperhaftes Werk eines Greises, mit allen Anzeichen des dreisten Bubenstückes versehen.

Der Vater pocht mit der Gewalt des Herrschers auf die schuldige Kindespflicht. Er vergeht sich damit gegen das Wesen der Kindesliebe, gegen deren Unbedingtheit und Reinheit. Keinesfalls eignet kindliches Zutrauen sich als Handelsgut, als Gegenstand von Spekulation, von kalkulierender Überbietung. Lear, der im Gegensatz zu William Shakespeare gewiss keine Lateinschule besucht hat, handelt nach dem Prinzip „mundus vult decipi ego decipiatur: Die Welt will verlogen sein, also soll sie verlogen werden“. Er muss damit rechnen, nicht dem Sinne, aber wenigstens dem Grade nach belogen zu werden. Eine letzte Möglichkeit besteht noch, den alten Mann zu entschuldigen: König Lear ist selbst der größte Heuchler von allen. Brandauers Augen funkeln gierig, ein wenig verschlagen. Der Thronsessel, auf dem er Platz genommen hat, ist beinahe zierlich. Solche Möbelstücke passen in keine Heidelandschaft, auch nicht in die kahle Ödnis, die Bühnenbildner Ferdinand Wögerbauer im Wiener Burgtheater zur Welt erweitert hat. Bald schon wird Lear, der größte Unglücksrabe unter lauter Raubvögeln, eine Nacht auf dem kahlen Land verleben. Seine Blindheit ist zugleich die finsterste Menschheitsnacht.

Der aus Altaussee in der Steiermark stammende Schauspieler Klaus Maria Brandauer zählt zum Zeitpunkt der „König Lear“-Premiere im Wiener Burgtheater siebzig Jahre. Es fällt schwer, in der Figur des unbeherrschten Krieger-Königs nicht eine gewisse Folgerichtigkeit zu erkennen. Im Nachhinein gewinnt es sogar den Anschein, Brandauer wäre auf diese Rolle zugesteuert. Nicht zaudernd, aber auch nicht geradlinig, sondern wägend, prüfend, spezifizierend, wie um sich im Fach der tolldreisten Kerle jenseits der fünfzig einzuleben und sich dann als Primus inter Pares zu behaupten.

Das Angebot, in den abgrundtiefsten Wahn zu verfallen, den ein Bühnenberserker durchleben kann, konnte KMB gar nicht ausschlagen. Etwas von dieser kindlichen Freude teilt sich seiner Lear-Performance von Anfang an mit. Brandauer entert die Bühne voller Zuversicht. Den Willen der Töchter ist er gewohnt zu brechen wie sonst nur den Eigensinn kleiner Rosse, auf deren Rücken er früher einmal Englands Eliten in den Staub zwang. (Höchstwahrscheinlich gelten ihm Pferde mindestens so viel wie Töchter.)

Brandauers Darstellungskunst rührt jenseits des sportiven Elans an weitaus tiefere, beunruhigende Geheimnisse. Sein Heidekönig mag vor Zorn überkochen. Er mag mit der ganzen Menschheit brechen, sich einzig unter der Bedeckung seines Narren (Michael Maertens) in die sturmgepeitschte Wildnis hinausbegeben. Dies alles eingeräumt, steht Lear nicht nur mit dem Rücken zur Wand, sondern mit der Vernunft im Bunde. Nicht „jeder“ Lear wohlgemerkt; eher nur Klaus Maria Brandauers Fürst. Kein anderer Lear funkelt das Schicksal derart herausfordernd an. Niemand sonst geifert derart los, sobald Cordelia ihm ihr „Nichts!“ eröffnet hat (auf Lears Frage, was sie ihm zum Ausweis ihrer Liebe zu schenken wünsche).

„Bessre deine Rede“, fordert er die Widerstrebende auf. Gebessert kann die Rede („Ich lieb’ Eu’r Hoheit, wie’s meine Pflicht geziemt, nicht mehr, nicht minder“) nur werden, indem man sie erweitert, ausschmückt, überhöht. Diese Aufgabe ausgerechnet der Zunge der Lieblingstochter zu übertragen, seinem Nesthäkchen und Liebling, ist eines Königs nicht würdig. Wie viel weniger aber ist dieses Ansinnen die letzte Weisheit eines verschlagenen Fuchses. Weshalb sollte Lear, der reife, aber keinesfalls senile Steppenreiter, plötzlich auf Ruhmredigkeit erpicht sein? Was scheren ihn die Schmeichelreden seiner Töchter, die ihm ohnedies blind ergeben sind? Was ist in den Alten gefahren?

Lears Kalkül ist die letzte, höchste Volte der Vernunft: ein fataler Witz, ein toller Streich. Der geübte Verführer hat gelernt, die Reaktionen seiner Mitwelt verlässlich vorauszusagen. Lear erhält von seinem Darsteller Brandauer die vielleicht verblüffendste Mitgift: Er wird zum Verursacher wie zum Zeugen des Ekels, den Politik hervorruft. Lear weiß schon im Voraus, wie seine Töchter sich verhalten werden: Nacheinander singen sie, gleich Nachtigallen, das Loblied des Herrn, ihres Erzeugers. In den gelehrten Brevieren der Renaissance lesen Höflinge zur gleichen Zeit nach, wie sie ihr innerstes Gewissen, ihre Seele vor den zudringlichen Blicken der Konkurrenten zu schützen haben. Wer Politik betreibt, übt sich aus Gründen der Opportunität in der Kunst der Verstellung. Am besten verstellt sich, wer in das kalkulierbare Verhalten seiner Mitmenschen Zutrauen hat.

Klüger ist, wer die weiter reichenden Prognosen erstellt. Shakespeare und seinen Zeitgenossen dämmerte bereits: Es hat nur den Anschein, als ob Menschen, die ihr Handeln am Gebot der Nützlichkeit orientieren, sich „natürlich“ verhalten würden. Am besten hingegen versteht seine Mitmenschen derjenige zu gebrauchen und in den Dienst zu nehmen, der sie am geschicktesten manipuliert. Oswald Wiener schrieb über die außerordentlichen Kapazitäten seines Freundes, des Wiener Dichters und Selbstmörders Konrad Bayer (1932–1964): „er war häufig mit dem arrangement einer szene oder einer situation beschäftigt, um andere zu für ihn vorhersagbaren handlungen zu bringen (…).“ Der Fluchtpunkt solcher Gaukelkunst liegt jenseits jeder Politik. Ihr Kalkül ist auch nicht die Verführung, das Bohren von Brettern dort, wo ihr Holz am dünnsten zu sein verspricht. Lears Gebot ist die größtmögliche Herausforderung. Die allseitig entwickelte Intelligenz zeigt sich entschlossen, die Prämissen ihres eigenen Tuns über den Haufen zu werfen. Lear entfesselt eine Gewalt, die stärker sein soll als alles, was er jemals vermocht hat. Der Gedanke, der seinem politisch-sozialen Experiment zugrunde liegt, lässt an Ausführungen der aristotelischen Logik denken.

Wie allvermögend ist jemand, der unter allen Umständen darauf besteht, nicht oder nichts zu vermögen, nichts mehr Richtiges jedenfalls? Lear scheint es Lust zu bereiten, eine Allmacht zu denken, die, obwohl sie von ihm ausgeht, stärker ist als alles, was er selbst jemals vermöchte. Indem er sein künftiges Geschick von den geheuchelten Teilen der Kindesliebe abhängig macht, zeigt er sich als derjenige, der über praktische Fragen wie die Regelung der Erbfolge erhaben ist. Niemand kann glauben, Brandauers Lear sei so senil, dass er nicht wisse, was er tut. Das Gegenteil ist der Fall.

Es braucht ein paar wenige Szenen, um dem bereits abgerüsteten König die Augen zu öffnen. Lear sitzt auf einer Art Heurigenbank, während sein Gefolge – mitsamt der Attrappe eines kapitalen Hirsches – sich auf der kahlen Erde lagert. Man fühlt sich vage an „Wallensteins Lager“ erinnert. Es ist an der Zeit, des bedeutsamen Umstandes zu gedenken, dass der Regisseur der „König Lear“-Inszenierung mit Klaus Maria Brandauer in der Titelrolle Peter Stein heißt. Stein, der strengste, womöglich preußischste aller großen deutschen Inszenierungskünstler, hat in den vergangenen acht Jahren das Theater mit KMB an seiner Seite im Eilschritt durchmessen. Wallenstein, der Dorfrichter Adam, der blinde Ödipus auf Kolonos, zuletzt sogar der das Tonband betätigende Krapp – sie alle sind Prototypen, die auf den melancholischen Wahnsinn des greisen Königs Lear hindeuten, Hinweise für ihn liefern, ihm vorgreifen, auf ihn einstimmen.

LEERE UND LEHREN

Lear, Aristoteles und das epische Theater

Theater ist im Wesentlichen Instrumentationskunst. Immer neue Saiten zog Brandauer auf, als gelte es, innerhalb weniger Theaterspielzeiten die Versäumnisse ganzer Jahre oder Jahrzehnte nachzuholen. Lear steht für das Bild personalisierter Omnipotenz. Im Inneren des Potentaten nagt schon ein anderer, weitaus hässlicherer Wurm. Während über der Heide noch die Phosphorblitze zucken, während der am Gemüt erkrankte König durch die Steppe irrt, ein Untoter auf Gastspielreise durch die Bezirke des Wahnsinns, wird ein Vakuum spürbar.

Brandauers Lear ist ein Gefäß. Der Mutwille, mit dem er das Königreich von sich stößt, um es – gegen jeden Anstand – weiter zu besitzen, entspringt der Verzweiflung. Dieser König Lear erzählt die Geschichte einer kolossalen Veruntreuung. Es geht nicht so sehr um das Schicksal einer in Herzogtümer zerfallenden Insel, auf deren windgepeitschter Oberfläche die Bastarde (wie Michael Rotschopfs Edmund) die Dummheit der Väter verlachen. Es steht das Konzept der Vernunft auf dem Spiel. Oder wenigstens das ihrer kleinen Schwester, der Vernünftigkeit. Das Vertrauen in die Vernunft veranlasste Platon einst dazu, die Künstler von den Obliegenheiten der Staatsführung fernzuhalten. Ihm erschien ein Menschenschlag suspekt, der bloß Abbilder von Abbildern herstellt. Der wahrhaft Weise vertieft sich in die Wesensschau. Er erfreut sich an der unantastbaren Idealität der Ideen, die an einer Art Firmament ungreifbar wie die Sterne blinken.

Aristoteles fing die aus dem Kreis der nützlichen Tätigkeiten verbannte Kunst mit dem Lasso wieder ein. Er zähmte sie kurzerhand. Nützlich sollte sie fürderhin sein, die Kunst, um sich des allgemeinen Interesses sicher zu sein und sich als öffentliche Einrichtung zu bewähren. Mit dem Konzept seelischer Läuterung, die für Triebabfuhr sorgt, indem sie empfängliche Gemüter erschauern lässt, während die Geschmacksnerven mit immer neuen Arten des Spannungsaufbaus gekitzelt werden, beginnt die Geschichte der Künste im Altertum von Grund auf neu. Sie stehen ab nun im Zeichen der Dienstleistung. Auf dem Theater behält recht, wer auf besonders ökonomische Weise nützliche Einsichten hervorzaubert. Vom Ethos der Nützlichkeit zehrte noch das anti-aristotelische Theater Bertolt Brechts. Seine finale Wendung ins Klassenkämpferische ließ das eigentliche Anliegen in Vergessenheit geraten.

Das epische Theater – dem Klaus Maria Brandauer auf den ersten Blick gewiss nicht zugehört – ist eine Fabrik, die Einsichten produziert, wie der Bäcker Brezeln oder Brotlaibe macht, indem er sie aus Teig formt und in den Ofen schiebt. Einsichten der angedeuteten Art werden in kollektiver szenischer Arbeit gewonnen. Ursächlich zielen sie nicht auf die Läuterung des Publikums ab. Sie dienen zuerst der Orientierung aller am Prozess der Herstellung Beteiligten.

Klug ist, wer sich und seinen nächsten Mitmenschen vorzuspielen vermag, wie er sich, in einer jeweils zu bestimmenden Situation, am besten, nützlichsten verhält. Das Tragische ist nicht mehr um den Preis der alten Ausweglosigkeit zu haben. Kein Mensch, der im 20. Jahrhundert das eine göttliche Gebot verletzt, um einer anderen, gleich mächtigen Satzung aus Sturheit oder Trotz die Treue zu halten. Die alten Zerreißproben abendländischer Opferkultur sind an andere, sichere Orte verbannt worden. Zu ihnen dringt kein Licht der Öffentlichkeit vor. Sie wurden in verborgene Bezirke psychischen Geschehens übersiedelt. Sie gehören heute in einschlägige Reparaturwerkstätten, in therapeutische Einrichtungen.

Die Dichotomien von früher sind aufgelöst. Was mit der neuen Ordnung nicht Schritt zu halten vermag, ist in der Kultur der Repräsentation nicht vorgesehen oder in ihr nicht gut aufgehoben. Verwundert es da noch, dass König Lear, der seit dem 21. Dezember 2013 zügig über die Bühne des Wiener Burgtheaters eilt, auf der Suche nach einer Mitte ist, nach einem Halt? Brandauers Lear findet keinen Ort für sein Leiden. Er ist nicht rückständig oder dumm. Er trägt auch nicht die Schellenkappe des Narren, das tut für ihn Michael Maertens. Dieser verwegene König untersucht Denkvorgänge. Wiederum sei Oswald Wiener zitiert. In dessen Aufsatz über Konrad Bayer wird einmal die Forderung gestellt: „… nicht das zu sein, was man denkt, sondern das eigene denken wie ein fremdes wahrzunehmen.“

Herrschaft und ihre Ausübung sind für den greisen Lear, der bald in den Sonnenuntergang der eigenen Vernunft hineinreiten wird, Mittel, sich des eigenen Vermögens, der eigenen Denkleistung zu versichern. Der König zieht den Faden der Vernunft durch die Löcher des vermorschten Königreichs. Es braucht kein besonderes Hinsehen, um die Verrottung des Staates zu konstatieren. Man muss jedoch mehr leisten, muss die Idee des Staates in ihrer Gänze überwinden. Mit ihr sollen auch die Anschauungen von Gerechtigkeit, von Clan-Kultur, von familiärer Solidarität und spontaner Zuwendung auf der Mülldeponie entsorgt werden. Am besten alle gleichzeitig.

Lear ist der Anarchist am Thron. Vielleicht gehört er zu den metaphysischen Radaubrüdern, die erst das 20. Jahrhundert mit köstlichem Schauder für sich entdecken wird: Bruder Lear. Lears Stammhaus ist die Familie der Narrenkönige, der durchgeknallten Potentaten. Unter seinen Vor- und Nachfahren finden sich – wer wüsste die Abfolge von vornherein festzulegen? – hinkende Scheusale wie Richard III. Man stößt auf schimpfende Hanswurste wie Alfred Jarrys König Ubu, auf gnomische Minderleister (bei Samuel Beckett), aber auch auf Ästheten wie den römischen Sonnengottkaiser Heliogabal, eine ebenso obskure wie suggestive Erfindung aus der Feder des surrealistischen Außenseiters Antonin Artaud. Für sie alle gilt mehr oder weniger, was man Lear in jedem Fall nachsagen müsste: Ihm sei die Herrschaft ein natürlicher Hebel zum Hinausschieben seiner ihm im Herrschen merkbar gewordenen Vorstellungsschranken.

Die Leistung ist einzig und allein Brandauers Verdienst. Durch Peter Steins stark antiquiertes Ritterspiel legt er eine gleißende Spur der Erkenntnis. Der Griff ins Gesicht seiner ältesten Tochter Goneril (Corinna Kirchhoff) dient der Abwehr von Vaterreflexen. Lear ist der große Beleidigte: Er zeigt einer im Ganzen wurmstichigen Welt, was von ihr zu halten sei. Indem er ihr saftigstes Stück, ihren köstlichsten Happen – sein Reich – für teilbar erklärt, zerreibt er die eigenen Besitztümer zwischen den Fingern. Im Grunde müsste die Schar der Töchter über ihn herfallen, ihn im Handumdrehen massakrieren. Ihr Vater ist ein gefährlicher Frevler. Er lehnt sich, als allmächtiger Vertreter des Patriarchats, gegen die von ihm selbst verkörperte Ordnung auf.

Im Steppenreiter, der breitbeinig zu seinem Thronsessel huscht, steckt ein Anarchist. Lear brennt. Sein Leben ist der Brandsatz, der die morsche Welt wie dürres Reisig verzehren soll. Lear weiß, und er hofft instinktiv, seine Töchter wüssten ebenso gut Bescheid wie er. Sie werden dem Vater sein Mehr-Wissen übel vergelten. Die beiden älteren werden ihn auszanken. Sie werden mit dem Fuß aufstampfen, unduldsam sein, seine wiederum gegen sie gerichtete Heftigkeit als die sie quälende Marotte eines Senilen abtun. Lear wird sein Fett abbekommen. Die Idee der Reichsteilung werden sie nachäffen, indem sie die Zahl seiner Geharnischten, die er mit sich führt, halbieren und schließlich in vier Stücke teilen. Jeder Halt geht sukzessive verloren. Lear wird auf der Bank im Freien sitzen, die Unverfrorenheiten seiner Nachkommenschaft im Ohr. Er wird die Welt vor seinem inneren Auge zerfließen sehen, die rinnenden Uhren Salvador Dalis, die auf einem wüsten Land ausliegen, nicht unähnlich der kahlen Einöde von Ferdinand Wögerbauer im Wiener Burgtheater.

Und wäre der große Brandauer tatsächlich Lear, er würde eine Vielzahl der von ihm verkörperten Rollen in einem solchen Moment Revue passieren lassen: schockhaft, wie unter dem Eindruck einer totalen, umkrempelnden, nicht mehr hintergehbaren Erfahrung. Brandauer versteht es wie kein anderer deutschsprachiger Schauspieler, den von ihm gespielten Figuren den Sound der Vernunft mitzugeben. Wozu sich andere Mimen erst mühsam durchringen müssen, zur Einsicht, die durch das Spiel in ihnen aufsteigt, das wird von KMB von vornherein „gewusst“. Insofern gibt es bei Brandauer, in Begriffen der Musik gesprochen, keine Trübung der Intonation. Staunen kann man diesen Darstellungskünstler oft sehen – so wie er das Publikum selbst gerne staunen macht. Das Staunenerregende ist der wesentliche Bestandteil großer Verführungskunst. Gewiss wird KMB von dem Vermögen, andere zu verblüffen, selbst oft in Erstaunen versetzt.

Man kann seinem pfiffigen, mit einer gehörigen Portion Frechheit versetzten Lächeln dann die spontane Befriedigung ablesen: Seht her, ich habe euch wiederum an der empfindlichsten Stelle angefasst. Sein Behagen speist sich jedoch auch plebejisch: Was habe ich vermocht! Brandauer lässt das Publikum an der Einsicht teilhaben, dass man Großes zuwege bringt, ohne sich die Finger am Stein des Sisyphos zu zerschinden. Darum ist Brandauers Kunst im Kern wahrhaft republikanisch. Sie stellt die Mühsal nicht in Abrede, sondern sie wird durch ein Können geadelt, das von sich kein Aufheben macht.

In Brandauers Höhenflügen und Ausritten – auch solchen, die ihn weit über die Bezirke des guten Geschmacks hinausführen – steckt etwas frohgemut Augenzwinkerndes, zum Nachmachen Ermunterndes. (Ein besonders durchtriebener Effekt höchster Kunst: Sie verführt zu der Einsicht, ihr Bestes sei das Kinderleichte.) Sie ist demokratisch, da sie noch in ihren eitelsten Momenten von einem herzhaften „Ecce homo!“ zehrt. Man kann Mephisto förmlich dabei zusehen, wie er in sich selbst vergafft ist. Und doch wird man das Auf-den-Tisch-Hauen, das Auf-den-Schenkel-Klopfen in den Ohren klingeln hören. In Brandauers fröhlichsten Bekundungen versteckt sich die tiefe Befriedigung darüber, uns alle wieder drangekriegt zu haben. Und KMB ist, ganz entgegen dem kolportierten Bild des „Schwierigen“ oder Unnahbaren, ein zutiefst demütiger Künstler. Er macht sich nur nicht kleiner, als er ist. Er hält es hierin mit Goethe, der meinte: „Nur die Lumpe sind bescheiden, die Braven freuen sich der Tat!“

Und so freut sich dieser Lear seiner Tollkühnheit wie einer Marotte, die für seinen höchstpersönlichen Genuss bestimmt ist. Früher, in den Tagen der Machtergreifung, als der Steppenreiter im Sattel schlief, um Englands wehrfähigen Adel einzig durch die Kraft der Beharrlichkeit zu überwinden, da konnte er, Lear, froh sein, wenn die Welt sich seiner Voraussicht fügte. Weise hätte man ihn darum nicht nennen wollen; klug nur, wenn er in die Furchen des Krieges bereits die Saat künftiger Friedensperioden gestreut hätte. Brandauers Lear übertritt leichthin die Grenze, die bewusstes Handeln vom Vabanquespiel trennt. Schlimmer noch, er überrennt sie so zuversichtlich, ist dabei von sich, von seiner Sendung derart eingenommen, dass man ihn gerne jetzt schon toll nennen würde.

Lears Tollheit steht in keinem Lehrbuch der Shakespeare-Zeit. Sie lässt sich mit keinen Salben und Tinkturen kurieren. Auch die Mittel der Naturheilkunde wären fehl am Platz. Lears Gemütsverstimmung reicht herauf in die geheimnisumwitterten Seelenbezirke der Moderne. Sie ist ein Skandal. Nicht weil er unbeherrscht wäre oder weil er im Augenblick der Not die Fassung verlöre. Lear widerfährt Unrecht, weil er sich selbst ins Unrecht setzt; geradewegs, finster entschlossen, wie unter dem Banne eines Schwurs. Von allem Anfang an liegt ein obszöner Schatten über seinem Handeln. Dieser nimmt sich umso ungehöriger aus, als er auch auf die eigenen Kinder fällt, von ihnen Besitz ergreift, sie in die Finsternis mitreißt. Was ficht ihn an? Wohl immerhin die Not, mit sich selbst nicht eins zu sein. Wieder taucht das furchtbare Paradoxon auf, das Lear ohne sein Wissen strapaziert, dem er das Heil seiner Seele opfert: Er, der kraft seiner charismatischen Begabung buchstäblich alles vermöchte, will nicht mehr, dass er vermag.

Was er ab nun zu dürfen hat, wird ihm von außen eingeschärft. Die Natur entlädt sich unter entsetzlichen Windstößen. Es ist, als müsste sie ihren Code – die „Botschaft“, ihr Geheimnis – dem zeternden Greis gewaltsam einschärfen, damit er ihr Wesen von Grund auf verstehe. Lears Ohnmacht ist seine Allmacht. Seine Omnipotenz, die ihn zu Anfang des Stückes federn lässt wie einen, der aus Vergnügen die Rosse tummelt, ist sein völliges Unvermögen. In Klaus Maria Brandauers Darstellung blitzt das Wissen um diese Zweiwertigkeit tückisch auf. Sie gibt sich sofort und ohne Umschweife als moderne Auffassung zu erkennen: Lear gehört nicht in die südenglische Heide. Er könnte genauso gut in einem der schmucken Jahrhundertwende-Häuser sitzen, wie man sie rund um das Wiener Rathaus zuhauf findet.

Diese Wohnstätten gehören der Ringstraßen-Epoche an. Sie sind der sichtbare Ausdruck eines von sich eingenommenen Bewusstseins, das dem geldlichen Vermögen alles abverlangt, dem eigenen Können aber misstraut. Eineinhalb Jahrhunderte trennen das heutige Wien von der Entstehung der Ringstraßen-Zeit. Mit der prunkhaften Ausgestaltung der alten Kaiserstadt Wien als Metropole der Moderne wird das Selbstbewusstsein des österreichischen Liberalismus zelebriert. Zugleich treiben Selbstzweifel und Ich-Schwäche das neu erstandene Bürgertum in ein Spiel mit der Uneigentlichkeit. Man ist nicht der- oder diejenige, die man vorgibt zu sein. Man träumt sich größer und schöner, als man in Wahrheit ist. Man möchte aber auch passiv sein dürfen, köstlich beschwert vom Zierrat, von erlesenen Gegenständen, gekitzelt von Schuldgefühlen, wie nach Genuss eines besonders ausgiebigen, mit jedem Gang raffinierter werdenden Mahls.

HYBRIS

Das Wiener Burgtheater und Hartmann

In solch einem Haus, in einer prächtigen Dachwohnung in relativer Nähe zum Burgtheater, lebt der aus Altaussee gebürtige Schauspieler Klaus Maria Brandauer. Er ist zum Zeitpunkt der „König Lear“-Premiere siebzig Jahre alt. Gäste, die er zu sich vorlässt, empfängt er zumeist in der Küche. An seinen Bauerntisch dort sind unzählige Schauspielkollegen und Burgtheaterdirektoren geladen gewesen. Häufiger Besucher war auch Matthias Hartmann, der bis Anfang März 2014 amtierende Burg-Chef aus Osnabrück. In der Phase der Schlussproben zu „König Lear“ ist das Unheil, das über Hartmann schwebt, noch nicht zu ahnen. Der Deutsche sitzt, ohne den geringsten Argwohn geschöpft zu haben, auf einem Pulverfass.

Auf einem Zukunftskongress des Wiener Burgtheaters – bezeichnender Titel: „Von welchem Theater träumen wir?“ – im Oktober des Vorjahres strapaziert Hartmann seine Hausherrnrolle. Er benützt die Gelegenheit, um auf die Finanzmisere des von ihm geleiteten Hauses hinzuweisen. Man meint, Hartmann komme einer Art Pflicht nach. Die Floskeln klingen vertraut. Hartmann mimt den geschickten Taktiker. Er will die Politik in die Pflicht nehmen. Seit 14 Jahren habe der „Bund“, mithin also das republikanische Gemeinwesen, seine ohnehin beträchtlichen Zahlungen an das Burgtheater nicht erhöht. Hartmann ist der Sachverständige, der in einer schwierigen, von wirtschaftlichen Widrigkeiten gekennzeichneten Zeit als Einziger einen kühlen Kopf bewahrt. Der Herr Direktor steht auf der Bühne der Burg vor einem festlich gestimmten Publikum. Sein Blick adressiert zu mittäglicher Stunde die Ministerin – er weiß natürlich, dass sie anwesend ist. Was er auch schon weiß, ist ihr geplanter Rückzug aus dem Amt. Sie ist de facto für ihn und seine Wünsche nach mehr Geld gar nicht mehr zuständig. Der Herr Bundespräsident zeigt sich in seiner Rede, die den Vormittag beschließen wird, von Hartmanns alarmierenden Worten wenig beeindruckt.

Doch vorerst ist Hartmann im Begriff, alles richtig zu machen. Er nützt die Gunst der Stunde, indem er das Publikum auf seine Seite zu ziehen versucht. Er spürt allenfalls, wie die Vertreter der Presse, die einer Reihe von gelehrten Vorträgen entgegensehen oder diese mit knapper Not heil überstanden haben, im Parkett gelangweilt dahindämmern. Man hört die Programmblätter knistern, auf denen das Anstellen lohnender Betrachtungen über die „Adelsrepublik“ der Burg-Schauspieler verheißen wurde. Sehr bald schon, in den nächsten Minuten, werden die Zuhörer in jene graue Vorzeit zurückgekippt, als man zutrauliche Blicke in die Kaiserloge zu werfen pflegte. Hartmann sind die Umstände genau gegenwärtig. Er wirft den dösenden Hyänen ein paar saftige Happen vor.

Hartmann hält sich für einen begnadeten Wirkungsästheten. Als er 2009 sein Amt in Wien antrat, setzte er der darob nicht genug staunen könnenden Öffentlichkeit sogleich seine Firmenphilosophie auseinander: „Sie wollen das Beste, und Sie bekommen das Beste!“ Hartmann hatte gerade eine Flut von Premieren über Wien hinwegschwappen lassen, als die Ministerin seinen auf fünf Jahre laufenden Vertrag bereits verlängerte.

Selten schien ein Norddeutscher mit sich und der tückischen Stadt an der Donau so sehr im Reinen. Was immer man ihm über die Missgunst der Wiener erzählt hatte: über ihr Übelwollen, das sich in herabsetzenden Reden äußert, die man einem Dritten mitteilt, der sie an den Verunglimpften zurückleitet, um so die Gemeinheit erst wirksam werden zu lassen – an ihm prallte sie ab. Hartmann hatte im Füttern von Raubtieren Fortune. Man zollte ihm Respekt. Jetzt war für ihn der Zeitpunkt gekommen, „die Politik“, die er mit sich verbündet wusste, in die Pflicht zu nehmen. Hartmann erkor sich die Politik zu seinem Gegenüber. Indem er dies tat, stellte er sie vor die Wahl. Die Politik solle sagen, ob sie das Theater, von dem er, wie so viele andere, träume, so haben wolle, wie es sei, oder aber nur „eine abgespeckte Version“ davon. Anders gesprochen, feierlicher, auch prätentiöser: „Kulturpolitik bedeutet, Entscheidungen zu treffen. Sie können die Augen nicht mehr verschließen.“

Hartmann macht als gewiefter Regisseur alles richtig. Er, als Burgtheaterdirektor selbst ein König auf Zeit, versucht sich als Fürstenerzieher. Er hat die höchsten Vertreter des Bundes vor sich. Sie können nicht einfach Reißaus nehmen oder sich für unzuständig erklären (auch wenn sie es im Falle der Frau Ministerin de facto schon sind). Matthias Hartmann, der sportive Kaufmannssohn aus einem Ort unweit der Weser, wähnt sich am Gipfel nicht nur seiner Macht, sondern am höchsten Punkt seiner gesellschaftlichen Wirksamkeit. Zwei Monate später wird die Inszenierung von „König Lear“ ihre Burg-Premiere feiern. Ihr Zustandekommen ist auch ihm, Hartmann, wesentlich zu verdanken. Er hat um Brandauer geworben – hier, am rustikalen Bauerntisch, wenige hundert Meter Luftlinie vom Burgtheater entfernt. Er hat schließlich zugestimmt, dass Peter Stein Regie führt, auch wenn er selbst mit der Aufgabe womöglich geliebäugelt hat. Das spielt zum jetzigen Zeitpunkt – die Probenarbeiten sind weit fortgeschritten – keine Rolle mehr.

Hartmann bemüht sich, sein Territorium zu verteidigen. Er muss die Matinee, den ganzen Burg-Kongress nützen, um der österreichischen Politik ins Gewissen zu reden. Hartmann liest jetzt die Leviten. Er hat doch alles getan, um immer mehr Besucher in sein Haus zu locken. Er wähnt sich im Recht. Hartmann ist, wiewohl er sich selbst vornehmlich als Künstler betrachtet, am Gipfel seiner Machtvollkommenheit angekommen. Noch schont er die Politik. Aber er könnte ihre Vertreter demnächst in den Abgrund reißen.

Kaum fünf Monate später ist die Erinnerung an die vorsorglich mahnenden Worte des Burgtheaterdirektors verblasst. Dabei ist erst durch sie die Bizarrerie seiner Geschäftsführung ans Licht gekommen. Hartmann wird als erster Burg-Chef in der Geschichte des Hauses fristlos entlassen. Man bezeichnet ihn als Miturheber des Finanzchaos. Von einem Tag auf den anderen darf er nicht einmal mehr sein Direktionsbüro betreten; seine Frau, eine in Wien und in Graz geförderte Theaterregisseurin, holt die persönlichen Habseligkeiten ab. Die Entwicklung weniger Wochen und Tage führt zu Hartmanns Entmachtung und Sturz.

Über die Heidelandschaft dieses Königs wird vorderhand wenig bekannt. Sie müsste in einem westlichen Außenbezirk Wiens liegen, dort, wo der Wiener Wald seine unschätzbaren Luftreserven freisetzt. Auch über den Grad der Verblendung weiß man wenig. Am Wort sind die Anwälte.

Der ihn entließ, war der Nachfolger jener Ministerin, die Hartmann mit so besorgter, beflissener Miene an dem besagten Sonntagvormittag angesprochen hatte. Die ihm als Direktorin nachfolgte, war Urheberin und Organisatorin des vom Wiener Burgtheater ausgerichteten Kongresses.

HYPOTHESEN

Regiearbeit – Friedrich und Eva Heer

Klaus Maria Brandauer gehört nicht zu denjenigen Schauspielern, die eine Rolle gerne aufsagen, weil sie schon im Vorhinein die Wirkung genießen, die sie mit ihr auf andere ausüben werden. Brandauer macht sich Gedanken. Er will dem Publikum diejenigen Mühen abnehmen, die es vom Verständnis der Sache: vom Erfassen der Rolle, des Stückes, der Aufführung, abhalten könnten. Von Ahnungen hält KMB wenig. Was auf der Bühne gesagt werden soll, muss klar ausgesprochen werden. Klarheit ist Bestandteil der schauspielerischen Ethik. Brandauers Haltung ist daher unmissverständlich: „Ich muss verstanden werden.“

1975 spielte Brandauer in der Regie von Gerhard Klingenberg in Friedrich Schillers „Kabale und Liebe“ den Ferdinand. Er sei sich, sagt KMB, seiner Qualitäten damals im höchsten Maße bewusst gewesen. Umso irritierender die Begegnung mit einer Dame, die ihn nach einer Probe unvermittelt ansprach. „Ich glaube Ihnen kein Wort“, soll sie als Zeugin eines seiner Auftritte dem immer noch jugendlich wirkenden Genius ins Gesicht gesagt haben.

Aus Brandauers anfänglicher Verblüffung wurde Interesse. Die Frau machte sich erbötig, mit Brandauer an der vernünftigen Erschließung des Textes zu arbeiten. Aus der Feststellung des Mangels wurde eine bis heute andauernde, immens fruchtbare Arbeitsbeziehung. Der Name der Dame lautet Eva Heer. Ihr berühmterer Gemahl war der katholische Publizist, Historiker und Außenseiter Friedrich Heer (1916–1983). Heer war ein privatgelehrtes Genie, dessen notorischer Eigensinn im Nachkriegsösterreich an Barrieren stieß und in Sackgassen führte. Jemanden wie den Privatdozenten und nachmaligen „außerordentlichen Professor“ nannte man damals einen Linkskatholiken. In dem Wort schwingt unsichtbar das Kopfschütteln mit, das Heer mit seinen nimmermüden Bemühungen nicht nur in Kirchenkreisen hervorrief.

In seinen Schriften bemühte Heer sich um die Entzauberung vor allem solcher katholischen Dogmen, die über Gemeinwesen wie das österreichische viel Leid und Schmerz gebracht hatten. Sein Buch über den „Glauben des Adolf Hitler“ erregte im Erscheinungsjahr 1968 regelrechtes Aufsehen. Heers Wirken scheint von dem Impuls getrieben worden zu sein, öffentliche Wirksamkeit zu beweisen. Eine derartige Umtriebigkeit, gepaart mit universalem Wissen und eminentem Fleiß, konnte in der konservativen Alpenrepublik nur Anstoß erregen. Dazu kam Heers im ganzen Land bekannte Unbestechlichkeit. Der Anspruch auf geistige Autonomie wird einem in Österreich keinesfalls verziehen. Hier hält man bis heute das Prinzip der Vormundschaft für eine besonders innige Form von Zuwendung.

Friedrich Heers ungeradliniger Berufsweg führte ausgerechnet an das Theater. Der vormalige Redakteur der katholischen Wochenzeitung „Die Furche“ wurde 1961 zum Chefdramaturgen des Wiener Burgtheaters bestellt. Direktor Ernst Haeusserman, ein ehemaliger Regieassistent des berühmten Max Reinhardt, gestand Heer wahrhaft himmlische Konditionen zu. Der Gelehrte verschwand während vieler Wochen und Monate in einem winzigen Dachzimmer, wo er die Muße zur Abfassung umfangreicher Bücher fand. Es konnten Jahre vergehen, ohne dass andere Burg-Beschäftigte dem Eigenbrötler jemals begegneten. Niemand behelligte Heer inmitten seines wenige Quadratmeter umfassenden Reichs mit Anweisungen oder Bitten. Wünschte Haeusserman in Heers Gelehrsamkeit zu baden, aus ihrem Reichtum Ideen zu schöpfen, stieg er kurz entschlossen die Stufen zur Dachkammer hoch. Bürostunden standen damals im Besitz des Weltgeistes. Das Vertrauen in dessen Wirken muss grenzenlos gewesen sein.

Eva Heer bildet für Klaus Maria Brandauer bis heute die Nabelschnur zum Wesen der Vernunft. Jeder Satz oder Vers, den der Weltstar zu deklamieren sich anschickt, ist das Produkt eines Kalküls. Jedes einzelne Wort ist ausgehört, die Einheit jedes Gedankens ist rekonstruiert. Noch als Brandauer den Cyrano de Bergerac spielte, Rostands galanten Poeten mit der unmäßig langen Nase, verabschiedete er sich von den Proben mit dem Satz: „Ich geh’ jetzt zur Nachhilfe.“ Sein Weg führte ihn zu Eva Heer, mit der er Text lernte. Das Handwerk kann nur beherrschen, wer seine Werkzeuge unaufhörlich überprüft und nachpoliert. Brandauers lebenslanger Widerwille gegen Regieübergriffe rührt her vom Ethos des Könnens. Was jemand auf dem Theater kann, zeigt er dadurch, dass er sein Handwerk zum Verschwinden bringt.