Klein-Dorrit - Buch 1 und 2 - Charles Dickens - E-Book

Klein-Dorrit - Buch 1 und 2 E-Book

Charles Dickens.

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Beschreibung

Ein Klassiker der Weltliteratur über Liebe, Familie und soziale Ungerechtigkeit: Amy Dorrit, bekannt als "Klein Dorrit", wächst hinter den Mauern eines Schuldgefängnisses auf – dem einzigen Zuhause, das sie je gekannt hat. Doch ihr Schicksal ist eng mit einem dunklen Familiengeheimnis verknüpft. Als Arthur Clennam, ein aufrechter Gentleman, versucht, Licht ins Dunkel zu bringen, entspinnt sich eine Geschichte über Macht, Korruption und Menschlichkeit. Charles Dickens' Klein Dorrit ist eine zeitlose Kritik an einer von Bürokratie und sozialer Kälte geprägten Welt – und zugleich ein bewegendes Plädoyer für Mitgefühl und Hoffnung. Perfekt für Leser:innen klassischer Literatur und alle, die Geschichten voller Charaktertiefe und scharfsinniger Gesellschaftskritik lieben. Null Papier Verlag

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Charles Dickens

Klein-Dorrit - Buch 1 und 2

Neu überarbeitete Fassung

Charles Dickens

Klein-Dorrit - Buch 1 und 2

Neu überarbeitete Fassung

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2025Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]: Jürgen SchulzeÜbersetzung: Carl Kolb EV: Gutenberg-Verlag 1. Auflage, ISBN 978-3-962819-24-8

null-papier.de/neu

Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Buch – Die Ar­mut

Ein­lei­tung

Ers­tes Ka­pi­tel – Son­ne und Schat­ten

Zwei­tes Ka­pi­tel – Rei­se­ge­nos­sen

Drit­tes Ka­pi­tel – Zu Hau­se

Vier­tes Ka­pi­tel – Mrs. Flint­winch hat einen Traum

Fünf­tes Ka­pi­tel Fa­mi­li­en­an­ge­le­gen­hei­ten

Sechs­tes Ka­pi­tel – Der Va­ter des Mar­schall­ge­fäng­nis­ses.

Sie­ben­tes Ka­pi­tel – Das Kind des Mar­schall­ge­fäng­nis­ses

Ach­tes Ka­pi­tel – Im Ge­fäng­nis

Neun­tes Ka­pi­tel – Müt­ter­chen

Zehn­tes Ka­pi­tel – das die gan­ze Wis­sen­schaft des Re­gie­rens ent­hält

Elf­tes Ka­pi­tel – Frei

Zwölf­tes Ka­pi­tel – Der Hof zum blu­ten­den Her­zen

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel – Pa­tri­ar­cha­lisch

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel – Klein-Dor­rits Ge­sell­schaft

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel – Mrs. Flint­winch hat wie­der einen Traum

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel – Nie­man­des Schwä­che

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel – Nie­man­des Ri­va­le

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel – Klein-Dor­rits Lieb­ha­ber

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel – Der Va­ter des Mar­schall­ge­fäng­nis­ses in zwei bis drei Be­zie­hun­gen

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Die Ge­sell­schaft

Ein­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Mr. Merd­les Übel

Zwei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Eine Ver­le­gen­heit

Drei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Die Ma­schi­ne­rie in Be­we­gung

Vier­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Wahr­sa­ge­rei

Fün­f­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Ver­schwo­re­ne und an­de­re Leu­te

Sechs­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Nie­man­des Ge­müts­zu­stand

Sie­ben­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Fün­f­und­zwan­zig

Acht­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Nie­man­ds Ver­schwin­den

Neun­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Mrs. Flint­winch fährt fort zu träu­men

Drei­ßigs­tes Ka­pi­tel – Das Wort ei­nes Gent­le­man

Ein­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel – Hoch­sinn

Zwei­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel Mehr Wahr­sa­ge­rei

Drei­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel – Mrs. Merd­les Übel

Vierund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel – Eine gan­ze Sand­bank voll Bar­nacles

Fün­fund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel – Was Mr. Pancks in Klein-Dor­rits Hand ge­le­sen hat­te

Sechs­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel – Das Mar­schall­ge­fäng­nis wird ver­waist

Zwei­tes Buch – Der Reich­tum

Ers­tes Ka­pi­tel – Rei­se­ge­nos­sen

Zwei­tes Ka­pi­tel – Mrs. Ge­ne­ral

Drit­tes Ka­pi­tel – Auf dem Wege

Vier­tes Ka­pi­tel – Ein Brief von Klein-Dor­rit

Fünf­tes Ka­pi­tel - Es ist nicht rich­tig ir­gend­wo

Sechs­tes Ka­pi­tel – Et­was rich­tig ir­gend­wo

Sie­ben­tes Ka­pi­tel – Meist Pru­nes und Prism

Ach­tes Ka­pi­tel – Die Wit­we Mrs. Go­wan wird dar­an er­in­nert, dass es nicht geht

Neun­tes Ka­pi­tel – Er­schei­nen und Ver­schwin­den

Zehn­tes Ka­pi­tel – Die Träu­me der Mrs. Flint­winch meh­ren sich

Elf­tes Ka­pi­tel – Ein Brief von Klein-Dor­rit

Zwölf­tes Ka­pi­tel – In wel­chem eine große pa­trio­ti­sche Kon­fe­renz ge­hal­ten wird

Drei­zehn­tes Ka­pi­tel – Der Fort­schritt ei­ner Epi­de­mie

Vier­zehn­tes Ka­pi­tel – Rats er­ho­len

Fünf­zehn­tes Ka­pi­tel – Kei­ne ge­grün­de­te Ur­sa­che und kein Hin­der­nis, warum die­se bei­den Per­so­nen nicht ge­traut wer­den sol­len

Sech­zehn­tes Ka­pi­tel – Vor­wärts

Sieb­zehn­tes Ka­pi­tel – Ver­misst

Acht­zehn­tes Ka­pi­tel – Ein Luft­schloss

Neun­zehn­tes Ka­pi­tel – Der Sturm auf das Luft­schloss

Zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Ein­lei­tung zum nächs­ten

Ein­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Die Ge­schich­te ei­ner Selbst­quä­le­rin

Zwei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Wer kommt so spät bei Nacht vor­bei?

Drei­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Mrs. Af­fe­ry macht ein be­ding­tes Ver­spre­chen be­züg­lich ih­rer Träu­me

Vier­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Der Abend ei­nes lan­gen Ta­ges

Fün­f­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Der Ober­haus­hof­meis­ter gibt sein Amts­sie­gel zu­rück

Sechs­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Stur­mern­te

Sie­ben­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Der Zög­ling des Mar­schall­ge­fäng­nis­ses

Acht­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Eine Er­schei­nung im Mar­schall­ge­fäng­nis

Neun­und­zwan­zigs­tes Ka­pi­tel – Eine Bit­te im Mars­hal­sea-Ge­fäng­nis

Drei­ßigs­tes Ka­pi­tel – Zum Ende kom­men

Ein­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel – Zum Ende

Zwei­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel – Zum Ers­ten

Drei­und­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel – Zum Zwei­ten

Vierund­drei­ßigs­tes Ka­pi­tel – Und zum Drit­ten

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Ihr Jür­gen Schul­ze

Klas­si­ker bei Null Pa­pier

Ali­ce im Wun­der­land

Anna Ka­re­ni­na

Der Graf von Mon­te Chri­sto

Die Schat­zin­sel

Ivan­hoe

Oli­ver Twist oder Der Weg ei­nes Für­sor­ge­zög­lings

Ro­bin­son Cru­soe

Das Got­tes­le­hen

Meis­ter­no­vel­len

Eine Weih­nachts­ge­schich­te

und wei­te­re …

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Erstes Buch – Die Armut

Einleitung

Den Ro­man »Klein–Dor­rit« hat Di­ckens in den Jah­ren 1855/57, also in sei­ner schöp­fe­risch frucht­bars­ten Le­ben­spe­ri­ode, ge­schrie­ben. Klein–Dor­rit ist viel­leicht die be­rühm­tes­te sei­ner vie­len großen Ro­man­ge­stal­ten, zum Min­des­ten ist sie die rüh­rends­te und lich­tes­te. Sie ist der Ag­nes im Da­vid Cop­per­field we­sens­ver­wandt. Aber Ag­nes ist mehr von au­ßen be­schrie­ben, ist vom Dich­ter als Ziel sei­ner Sehn­sucht ge­se­hen, ist ein Fan­ta­sie­ges­chöpf seh­nen­der Lie­be. Klein–Dor­rit da­ge­gen ist aus dem Herz­blut des Dich­ters er­wach­sen; sie ist durch­weg von in­nen her ge­stal­tet. Sie ist nicht Au­ßen­ziel, son­dern sie be­wegt den gan­zen Ro­man. Un­hör­bar dreht sich die Erde, sagt Nietz­sche. Un­hör­bar kreist in die­sem ge­stal­ten­rei­chen Ro­man al­les um Klein–Dor­rit. Klein–Dor­rit ist ei­ner der stills­ten, lei­ses­ten Men­schen, die es ge­ben kann. Sie macht nicht im min­des­ten Be­trieb. Und doch treibt sie al­les an, sich für oder ge­gen das gute Prin­zip, das sie ver­tritt, zu ent­schei­den. So wan­deln En­gel auf Er­den. – Ach, auf Er­den? Sie wan­deln in den ir­di­schen Wer­ken der Dich­ter. Denn in der Wirk­lich­keit dürf­ten wir ein Ge­schöpf wie Klein–Dor­rit ver­ge­bens su­chen. Aber das ist ja ge­ra­de die Gna­den­ga­be der Dich­ter, dass sie das Poe­tisch–Schö­ne auf un­se­re un­voll­kom­me­ne Erde her­ab­zau­bern; dass sie uns jene hö­he­ren Sphä­ren ah­nen las­sen, nach de­nen wir alle ein heim­li­ches Ver­lan­gen tra­gen.

Wun­der­bar schlicht zeich­net Di­ckens Klein–Dor­rit: als das im Schuld­ge­fäng­nis ge­bo­re­ne Kind ei­nes durch al­ler­lei selt­sa­me Schick­sals­ver­ket­tun­gen ver­arm­ten und ver­schul­de­ten Man­nes, dem es nicht ge­lingt, sich von sei­nen Schul­den zu be­frei­en. Das Kind Dor­rit wächst in den Ge­fäng­nis­mau­ern auf, fern von der Frei­heit blü­hen­der Wie­sen und sich un­be­küm­mert be­we­gen­der Men­schen. Es wächst auf in grau­en, muf­fig rie­chen­den Mau­ern der Ge­fäng­nis–Ar­mut, zwi­schen grau­en Ge­sich­tern ar­mer Schuld­ge­fan­ge­ner. Wo blüht für sie je ein biss­chen Freu­de? Wo lacht für sie je ein Son­nen­strahl? Da ge­schieht dann das un­be­greif­li­che Wun­der: die­ses Kind ist sich selbst Got­tes reins­te Freu­de. Es ist nur für an­de­re da, sorgt nur für an­de­re, ar­bei­tet und darbt für den Va­ter, um sein Los zu er­leich­tern. Der Va­ter weiß nicht oder will nicht wis­sen, wo­her die gu­ten Ga­ben stam­men. Er nimmt sie un­wi­der­spro­chen hin. Für alle sorgt Klein–Dor­rit, für die Ge­schwis­ter, die, an­de­ren Blu­tes als sie, sie aus­nut­zen, ihre Auf­op­fe­rung als selbst­ver­ständ­lich an­se­hen. Für alle sorgt sie, auch für die Müh­se­li­gen und Be­la­de­nen ih­rer wei­te­ren Um­welt, wie für das alte Kind Mag­gy, das, mit sei­nem Kopf in Klein–Dor­rits Schoß, schläft, wäh­rend sie die Nacht hin­durch wacht. Und all das tut Klein–Dor­rit so selbst­ver­ständ­lich, als könn­te es gar nicht an­ders sein.

Bis Ar­thur Clen­nam in ih­ren Kreis tritt, der freud­lo­se Sohn ei­nes freud­lo­sen El­tern­hau­ses, des­sen gu­tes Herz in ei­ner von trost­lo­ser Stren­ge über­schat­te­ten Ju­gend ver­küm­mer­te und nun erst auf­blüht, da die­ser lan­ge Ro­man be­ginnt. Wie­der be­schwört Di­ckens’ Fan­ta­sie eine Fül­le von Ge­stal­ten aus der Welt des Gu­ten und Le­bens­tüch­ti­gen wie des Ver­derb­ten, des Ver­ruch­ten und Ge­mei­nen. All das möge der Le­ser selbst nach­le­sen, und er möge sich dar­an freu­en, wie des Dich­ters un­ver­rück­ba­rer Glau­be an den end­gül­ti­gen Sieg des Ed­len und Lich­ten hier wie­der­um sei­ne vol­len Tri­um­phe fei­ert.

Auch bei die­ser Tex­t­re­vi­si­on hat dem Un­ter­zeich­ne­ten Frau Cla­ra Wein­ber­g, Ham­burg, freund­lich mit­ge­hol­fen.

P. Th. H.

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Erstes Kapitel – Sonne und Schatten

Vor drei­ßig Jah­ren lag Mar­seil­le ei­nes Ta­ges im glü­hen­den Son­nen­brand da.

Eine hell­leuch­ten­de Son­ne an ei­nem sen­gend hei­ßen Au­gust­tag war im süd­li­chen Frank­reich da­mals kei­ne grö­ße­re Sel­ten­heit als zu je­der an­de­ren Zeit, vor- und nach­her. Al­les in und um Mar­seil­le starr­te zu der glü­hen­den Son­ne em­por, die wie­der­um auf Mar­seil­le und sei­ne Um­ge­bung her­ab­starr­te, bis zu­letzt al­les weit und breit ein star­ren­des Aus­se­hen an­nahm. Die star­rend wei­ßen Häu­ser, star­rend wei­ßen Wän­de, star­rend wei­ßen Stra­ßen, star­rend wei­ßen dür­ren Land­we­ge und die star­ren­den Hü­gel, de­ren Grün die Son­ne ver­sengt – mach­ten auf den Frem­den den quälends­ten Ein­druck. Das ein­zi­ge, was nicht die­ses un­be­weg­lich star­re und grel­le Aus­se­hen hat­te, wa­ren die Wein­ran­ken, die un­ter der Last ih­rer Trau­ben her­ab­hin­gen und bis­wei­len ein we­nig glit­zer­ten, wenn die hei­ße Luft ihre schlaf­fen Blät­ter flüch­tig be­weg­te.

Kein Wind kräu­sel­te das trü­be Was­ser im Ha­fen oder die schö­ne wei­te See drau­ßen. Die Grenz­li­nie zwi­schen den bei­den Far­ben Schwarz und Blau zeig­te den Punkt, den die rei­ne See nicht über­schrei­ten woll­te. Aber sie lag so ru­hig da wie der häss­li­che Pfuhl, mit dem sie sich nim­mer ver­misch­te. Boo­te ohne Zelt­dach wa­ren zu heiß, um sie zu be­rüh­ren. Die An­ker der Schif­fe be­deck­ten sich mit Bläs­chen. Die stei­ner­nen Qua­der der Kais wa­ren seit Mo­na­ten we­der bei Tage noch bei Nacht kühl ge­wor­den. Hin­dus, Rus­sen, Chi­ne­sen, Spa­nier, Por­tu­gie­sen, Eng­län­der, Fran­zo­sen, Ge­nue­sen, Nea­po­li­ta­ner, Ve­ne­zia­ner, Grie­chen, Tür­ken, kurz Ab­kömm­lin­ge von al­len Er­bau­ern Ba­bels, die han­dels­hal­ber nach Mar­seil­le ge­kom­men, such­ten ei­ner wie der an­de­re den Schat­ten und bar­gen sich in ir­gend­ei­nem Win­kel vor ei­ner See, die zu grell blau war, um lan­ge ih­ren An­blick er­tra­gen zu kön­nen, und vor ei­nem glühro­ten Him­mel, in dem ein großes, flam­men­des Feu­er­ju­wel fun­kel­te.

Der über al­les ver­brei­te­te grel­le Glanz tat den Au­gen weh. An der fer­nen Li­nie der ita­lie­ni­schen Küs­te mil­der­te sich die­se Glut et­was durch leich­te Ne­bel­wölk­chen, die lang­sam aus dem Dunst des Mee­res auf­stie­gen. Sonst trug al­les den Stem­pel star­rer Son­nen­hit­ze. Aus der Fer­ne starr­ten die tief­be­staub­ten Stra­ßen von den Hü­gel­ab­hän­gen, von den Hohl­we­gen, von der end­lo­sen Ebe­ne dem Wan­de­rer ent­ge­gen. Weit in der Fer­ne lie­ßen die stau­bi­gen Wein­ge­län­de bei den Land­häu­sern am Weg und die aus­ge­dorr­ten Bäu­me in den mü­den Al­leen im grel­len Licht von Erd’ und Him­mel die Blät­ter hän­gen. Ge­senk­ten Haup­tes gin­gen die Pfer­de mit ih­ren schläf­ri­gen Glöck­chen an den lan­gen Rei­hen von Kar­ren ein­her, die sie land­ein­wärts zo­gen. Auch die müd’ zu­rück­ge­lehn­ten Fuhr­leu­te lie­ßen die Köp­fe hän­gen, wenn sie wach­ten, was sel­ten der Fall war. Die Schnit­ter im Fel­de beug­ten sich gleich­falls un­ter der Last und Hit­ze. Al­les, was leb­te und web­te, drück­te die Son­nenglut zu Bo­den, nur nicht die Ei­dech­se, die hur­tig über die rau­en, stei­ner­nen Mau­ern hin­husch­te, und die Heuschre­cke, die ihr tro­cken-hei­se­res Ge­zirp, das wie eine Ras­sel klang, im Fel­de er­tö­nen ließ. Der Staub selbst war von der Hit­ze braun ge­sengt, und in der At­mo­sphä­re war ein Zit­tern, als ob die Luft so­gar nach Luft schnapp­te.

Lä­den, Ja­lou­si­en, Vor­hän­ge, Mar­ki­sen wa­ren alle ge­schlos­sen oder her­ab­ge­las­sen, um das blen­den­de und hei­ße Son­nen­licht ab­zu­hal­ten. Wo sich eine Rit­ze oder ein Schlüs­sel­loch zeig­te, schoss es wie ein weiß­glü­hen­der Pfeil hin­ein. Die Kir­chen wa­ren noch am meis­ten da­von ver­schont. Trat man aus dem Zwie­licht von Pfei­lern und Bö­gen, die träu­me­risch von blin­zeln­den Lam­pen be­leuch­tet und träu­me­risch mit häss­li­chen al­ten Schat­ten von Schlum­mern­den, Spu­cken­den und Bet­teln­den an­ge­füllt wa­ren, so war es, als ob man sich in einen glü­hen­den Strom stürz­te und nur mit Le­bens­ge­fahr nach dem nächs­ten Strei­fen Schat­ten schwim­men könn­te. Das Volk lun­ger­te dort um­her, wo nur ir­gend­ein Schat­ten vor­han­den war. Ge­spräch und Ge­bell wa­ren bei­na­he ver­stummt; nur dann und wann hör­te man in der Fer­ne das Ge­läu­te dis­har­mo­ni­scher Glo­cken und den Lärm schlech­ter Trom­meln – so lag Mar­seil­le – eine deut­lich zu rie­chen­de und zu füh­len­de Tat­sa­che – all­täg­lich im glü­hen­den Son­nen­brand da.

Es gab zu je­ner Zeit in Mar­seil­le ein elen­des Ge­fäng­nis. In ei­nem sei­ner Ge­mä­cher, die so ab­sto­ßend fins­ter wa­ren, dass selbst die zu­dring­li­che Son­ne nur hin­ein­zu­blin­zeln wag­te und ih­nen den Ab­fall von Licht­re­fle­xen über­ließ, den sie er­ha­schen konn­ten, sa­ßen zwei Män­ner. Au­ßer die­sen be­fan­den sich dar­in eine viel­be­kerb­te und ver­un­stal­te­te Bank, die sich nicht von der Wand be­we­gen ließ und in die ein Da­men­spiel­brett roh ein­ge­schnitzt war, ein Da­men­spiel aus al­ten Knöp­fen und Knö­cheln, ein Do­mi­no, zwei Mat­ten und zwei bis drei Wein­fla­schen. Das war al­les, was der Ker­ker ent­hielt, mit Aus­nah­me von Rat­ten und an­de­rem un­sicht­ba­ren Ge­zie­fer, nebst dem sicht­ba­ren Ge­zie­fer, den bei­den Män­nern.

Das Ge­fäng­nis er­hielt sein dürf­ti­ges Licht durch ein ei­ser­nes Git­ter, das wie ein ziem­lich großes Fens­ter aus­sah und durch das man es im­mer von der dunklen Trep­pe aus über­se­hen konn­te, auf die das Git­ter hin­aus­ging. An die­sem Git­ter be­fand sich eine brei­te, star­ke, stei­ner­ne Bank, da wo je­nes drei oder vier Fuß über dem Bo­den in die Mau­er ein­ge­las­sen war. Auf die­ser Bank lun­ger­te ei­ner der bei­den Män­ner halb sit­zend, halb lie­gend, die Knie an sich ge­zo­gen und Füße und Schul­tern an die ge­gen­über­lie­gen­den Sei­ten der Ni­sche ge­stemmt. Das Git­ter war weit ge­nug, um ihm zu er­lau­ben, sei­nen Arm bis zum Ell­bo­gen hin­durch­zu­ste­cken; und er tat dies auch, um sich be­que­mer zu stüt­zen.

Al­les rings­um trug das Ge­prä­ge des Ge­fäng­nis­ses. Die ge­fan­ge­ne Luft, das ge­fan­ge­ne Licht, die ge­fan­ge­nen Düns­te, die ge­fan­ge­nen Män­ner – al­les war durch die Ge­fan­gen­schaft ver­dor­ben. Wie die Ge­fan­ge­nen bleich und ha­ger, so war das Ei­sen ros­tig, der Stein schlei­mig, das Holz faul, die Luft dumpf, das Licht matt. Wie ein Brun­nen, ein Kel­ler, eine Gruft ahn­te das Ge­fäng­nis nichts von dem Glanz, der drau­ßen über al­les er­gos­sen war, und wür­de selbst mit­ten auf ei­ner der Ge­wür­zin­seln des In­di­schen Ozeans sei­ne ver­dor­be­ne At­mo­sphä­re un­be­rührt be­hal­ten ha­ben.

Der Mann, der in der Ni­sche am Git­ter lag, fror so­gar. Er zog mit un­ge­dul­di­ger Be­we­gung der einen Schul­ter sei­nen großen Man­tel fes­ter um sich und mur­mel­te: »Zum Teu­fel mit die­sem Stra­ßen­räu­ber von Son­ne, der nicht auch hier her­ein­schei­nen will.«

Er war­te­te auf das Es­sen und schiel­te mit dem Aus­druck ei­nes wil­den Tie­res in ähn­li­cher Lage seit­wärts durch das Git­ter, um mehr von der Trep­pe zu se­hen. Aber sei­ne zu nahe an­ein­an­der­ste­hen­den Au­gen blick­ten nicht so stolz wie die des Kö­nigs der Tie­re und wa­ren mehr scharf als glän­zend – spit­ze Waf­fen mit ge­rin­ger Flä­che, die sie leicht ver­ra­ten könn­ten. Sie be­sa­ßen we­der Tie­fe noch Leb­haf­tig­keit des Aus­drucks: sie blitz­ten, öff­ne­ten und schlos­sen sich. Was die­se Funk­tio­nen be­trifft, so hät­te, ab­ge­se­hen von ih­rem Nut­zen für ihn, ein Uhr­ma­cher ein paar bes­se­re ma­chen kön­nen. Er hat­te eine ge­bo­ge­ne Nase, die in ih­rer Art schön war, aber zu hoch zwi­schen sei­nen Au­gen stand, ge­ra­de wie die­se zu nahe an­ein­an­der la­gen. Im Üb­ri­gen war er von großem und brei­tem Kör­per­bau, hat­te dün­ne Lip­pen, so­weit sie sein di­cker Bart se­hen ließ, und straf­fes, zot­ti­ges Haar, des­sen Far­be schwer zu un­ter­schei­den war, nur eine röt­li­che Mi­schung konn­te man er­ken­nen. Die Hand, mit der er das Git­ter fest­hielt (auf dem Rücken ganz mit häss­li­chen, kaum ge­heil­ten Schram­men be­deckt), war un­ge­wöhn­lich klein und flei­schig und wäre ohne den Ge­fäng­nis­schmutz auch un­ge­wöhn­lich weiß ge­we­sen.

Der an­de­re Mann kau­er­te auf dem stei­ner­nen Fuß­bo­den und war in einen brau­nen Man­tel gehüllt.

»Steht auf, Fer­kel!« brumm­te der Ers­te. »Schlaft nicht, wenn ich hung­rig bin.«

»Es ist al­les ei­ner­lei, Herr«, sag­te das Fer­kel un­ter­wür­fig und nicht ohne freund­li­che Mie­ne, »ich kann wa­chen, wenn ich will, und kann schla­fen, wenn ich will, es ist al­les ei­ner­lei.«

Wäh­rend er das sag­te, stand er auf, schüt­tel­te sich, kratz­te sich, band sei­nen brau­nen Man­tel mit­tels des Är­mels leicht um sei­nen Hals (er hat­te ihn zu­vor als De­cke be­nutzt) und setz­te sich gäh­nend, den Rücken an die Wand ge­gen­über dem Git­ter ge­lehnt, auf den Fuß­bo­den.

»Sagt, wie spät ist es?« brumm­te der Ers­te.

»Die Mit­tags­glo­cke schlägt – in vier­zig Mi­nu­ten.«

Bei der klei­nen Pau­se sah er sich im Ge­fäng­nis um, als woll­te er sich sei­ner Sa­che ver­ge­wis­sern.

»Ihr seid eine Uhr. Wie könnt Ihr das nur im­mer wis­sen?«

»Wie soll ich’s sa­gen? Ich weiß im­mer, was die Uhr ist und wo ich bin. Ich wur­de bei Nacht hier ein­ge­bracht und zwar auf ei­nem Boot, aber ich weiß, wo ich bin. Seht hier den Ha­fen von Mar­seil­le.« Auf dem Bo­den kni­end, zeich­ne­te er näm­lich die Kar­te mit sei­nem ge­bräun­ten Zei­ge­fin­ger. »Tou­lon (wo die Ga­lee­ren sind). Spa­ni­en hier drü­ben. Al­gier dort oben. Hier nach der Lin­ken liegt Niz­za. Am Bo­gen wei­ter fort Ge­nua. Mole und Ha­fen von Ge­nua. Die Qua­ran­tä­ne. Dort die Stadt: ter­ras­sen­för­mi­ge Gär­ten von blü­hen­der Bel­la­don­na ge­rötet. Hier Por­to Fino. See­wärts ge­steu­ert nach Li­vor­no, wei­ter nach Ci­vi­ta­vec­chia. Und so fort bis – hm! da ist kein Platz mehr für Nea­pel«; er war in­zwi­schen bis zur Mau­er ge­kom­men, »aber es tut nichts; es ist eben da drin­nen.«

Er blieb auf sei­nen Kni­en lie­gen und sah sei­nen Mit­ge­fan­ge­nen mit ei­nem für einen Ge­fan­ge­nen ziem­lich mun­te­ren Bli­cke an. Es war ein son­nen­ver­brann­ter, rüh­ri­ger, ge­schmei­di­ger, klei­ner Mann von ge­drun­ge­nem Kör­per­bau. Er trug Ohr­rin­ge in sei­nen brau­nen Ohren, hat­te wei­ße Zäh­ne, die sein wun­der­li­ches brau­nes Ge­sicht et­was er­hell­ten, tief­schwar­zes Haar, das von sei­nem brau­nen Hals bü­schel­ar­tig her­ab­hing, und ein zer­lump­tes ro­tes Hemd ließ die brau­ne Brust vorn se­hen. Wei­te See­manns­ho­sen, be­schei­de­ne Schu­he, eine lan­ge, rote Müt­ze, eine rote Bin­de um sei­ne Hüf­ten und ein Mes­ser dar­in bil­de­ten die Ver­voll­stän­di­gung sei­nes An­zugs.

»Seht, ob ich wohl von Nea­pel mich zu­rück­fin­de, wie ich da­hin ge­lang­te. Seht, hier, Herr, Ci­vi­ta­vec­chia, Li­vor­no, Por­to Fino, Ge­nua, der Meer­bu­sen, dann Niz­za (das dort drin­nen liegt), Mar­seil­le – Ihr und ich. Die Woh­nung des Ge­fäng­nis­wär­ters und sei­ne Schlüs­sel sind da, wo ich den Dau­men hin­set­ze, und hier an mei­nem Hand­ge­lenk be­wah­ren sie das Na­tio­nal­ra­sier­mes­ser – die Guil­lo­ti­ne in ih­rem Kas­ten auf.«

Der an­de­re spuck­te plötz­lich auf den Bo­den und brumm­te et­was in sei­nen Bart hin­ein.

In die­sem Au­gen­blick brumm­te aber auch ein Schloss un­ten et­was in sei­nen Bart hin­ein, und eine Tür ras­sel­te. Lang­sa­me Trit­te ka­men die Trep­pe her­auf, das Ge­plau­der ei­ner sanf­ten klei­nen Stim­me misch­te sich in ihr Geräusch, und der Ge­fäng­nis­wär­ter er­schi­en mit sei­ner Toch­ter, die drei bis vier Jah­re alt sein moch­te, auf dem Arm, wäh­rend er in der Hand einen Korb trug.

»Wie geht es heu­te Mor­gen in der Welt zu, mei­ne Her­ren? Mei­ne Klei­ne da, wie Sie se­hen, hat mich be­glei­tet, um sich mal die Vö­gel ih­res Va­ters zu be­trach­ten. Na! Sieh sie dir an! Sieh dir die Vö­gel an!«

Er be­trach­te­te selbst die Vö­gel mit schar­fem Blick, wäh­rend er das Kind an das Git­ter em­por­hielt. Na­ment­lich warf er ein Auge auf den klei­nen Vo­gel, des­sen Rüh­rig­keit ihm Miss­trau­en ein­zu­flö­ßen schi­en. »Ich habe Euer Es­sen ge­bracht, Si­gnor Jo­hann Bap­tist«, sag­te er (sie spra­chen alle Fran­zö­sisch, aber der klei­ne Mann war ein Ita­lie­ner), »und wenn ich Euch emp­feh­len dürf­te, nicht zu spie­len –«

»Ihr emp­fehl­t’s dem Herrn nicht!« sag­te Jo­hann Bap­tist und zeig­te la­chend die Zäh­ne.

»O, der Herr ge­winnt«, ent­geg­ne­te der Ge­fäng­nis­wär­ter mit ei­nem flüch­ti­gen, nicht be­son­ders freund­li­chen Blick auf den an­de­ren, »und Sie ver­lie­ren. Das ist ganz et­was an­de­res. Sie be­kom­men da­durch rau­es Brot und sau­ren Wein, wäh­rend er Lyo­ner Wurst, Kalbs­bra­ten mit wür­zi­ger Far­ce, wei­ßes Brot, Stra­chi­no1 und gu­ten Wein ge­winnt. Sieh dir die Vö­gel an, lie­be Klei­ne!«

»Die ar­men Vö­gel!« sag­te das Kind.

Das hüb­sche klei­ne Ge­sicht, von gött­li­chem Mit­leid be­wegt, glich, wie es so ban­ge durch das Git­ter sah, ei­ner En­gels­er­schei­nung in dem Ge­fäng­nis. Jo­hann Bap­tist stand auf und trat zu ihm, als ob es eine be­son­de­re An­zie­hungs­kraft auf ihn aus­üb­te. Der an­de­re Vo­gel blieb sit­zen, nur warf er zu­wei­len einen un­ge­dul­di­gen Blick nach dem Korb.

»Halt!« sag­te der Ge­fäng­nis­wär­ter, in­dem er sei­ne klei­ne Toch­ter auf den äu­ßers­ten Sims des Git­ter­fens­ters stell­te, »sie soll die Vö­gel füt­tern. Die­ses Gers­ten­brot ist für Si­gnor Jo­hann Bap­tist. Wir müs­sen es ent­zwei­bre­chen, um es durch das Git­ter zu brin­gen. So, der Vo­gel ist zahm, er küsst dir die Hand. Die­se Wurst in ei­nem Trau­ben­blatt ist für Mon­sieur Ri­gaud: fer­ner die­ses Kalb­fleisch in wür­zi­ger Far­ce ist für Mon­sieur Ri­gaud; – fer­ner die­se drei klei­nen wei­ßen Bro­te sind für Mon­sieur Ri­gaud; – fer­ner die­ser Käse, der Wein – und end­lich der Ta­bak – al­les für Mon­sieur Ri­gaud. Glück­li­cher Vo­gel!«

Das Kind steck­te all die­se Sa­chen durch das Git­ter in die sanf­te, wei­che, wohl­ge­form­te Hand, aber nicht ohne einen Schau­er; denn mehr als ein­mal zog es sei­ne Händ­chen zu­rück und sah den Mann mit ih­rem schö­nen Ge­sicht­chen, in dem sich Furcht und Angst misch­ten, fra­gend an. Da­ge­gen leg­te es mit ei­nem ge­wis­sen Ver­trau­en das Stück schlech­ten Bro­tes in die di­cken, schmie­ri­gen und knor­ri­gen Hän­de Jo­hann Bap­tists (der kaum so vie­le Nä­gel an sei­nen acht Fin­gern und zwei Dau­men hat­te, wie Mon­sieur Ri­gaud an ei­nem ein­zi­gen); und als er des Kin­des Hand küss­te, strich sie ihm so­gar schmei­chelnd über das Ge­sicht. Mon­sieur Ri­gaud, gleich­gül­tig ge­gen eine sol­che Aus­zeich­nung, ge­wann den Va­ter für sich, in­dem er der Toch­ter zu­lach­te und zu­nick­te, so­oft sie ihm et­was gab, und so­bald er alle die Spei­sen an ge­eig­ne­ten Plät­zen um sich her auf­ge­stellt hat­te, be­gann er mit Ap­pe­tit zu es­sen.

Wenn Mon­sieur Ri­gaud lach­te, trat eine Ver­än­de­rung in sei­nem Ge­sicht ein, die mehr merk­wür­dig als ein­neh­mend war. Sein Schnurr­bart bäum­te sich un­ter sei­ner Nase, und sei­ne Nase zog sich auf höchst un­heim­li­che und schau­er­li­che Wei­se über sei­nen Schnurr­bart her­ab.

»So!« sag­te der Ge­fäng­nis­wär­ter, in­dem er den Korb um­kehr­te, dass die Bro­sa­men her­aus­fie­len; »ich habe al­les Geld aus­ge­ge­ben, was ich emp­fing: hier ist die Rech­nung, und da­mit wäre die Sa­che ab­ge­macht. Mon­sieur Ri­gaud, wie ich ges­tern er­war­te­te, will der Prä­si­dent heu­te Nach­mit­tag um zwei Uhr das Ver­gnü­gen Ih­rer Ge­gen­wart ge­nie­ßen.«

»Um mich zu ver­hö­ren«, sag­te Ri­gaud, in­dem er, das Mes­ser in der Hand und ein Stück Fleisch im Mun­de, einen Au­gen­blick in­ne­hielt.

»Ganz recht. Um Sie zu ver­hö­ren.«

»Nichts Neu­es für mich?« frag­te Jo­hann Bap­tist, der zu­frie­den sein Brot zu kau­en be­gon­nen hat­te.

Der Ge­fäng­nis­wär­ter zuck­te die Ach­seln.

»Hei­li­ge Jung­frau! Soll ich denn mein gan­zes Le­ben lang hier lie­gen, Va­ter?«

»Was weiß ich?« rief der Ge­fäng­nis­wär­ter, in­dem er sich mit süd­li­cher Le­ben­dig­keit nach ihm um­wand­te und mit bei­den Hän­den und al­len Fin­gern ges­ti­ku­lier­te, als ob er ihm dro­hen woll­te, er wer­de ihn in Stücke zer­rei­ßen. »Mein Freund, wie ist es mög­lich, dass ich euch sa­gen könn­te, wie lan­ge ihr noch hier lie­gen wer­det? Was weiß ich, Jo­hann Bap­tist Ca­va­let­to? Tod und Le­ben! Es gibt bis­wei­len Ge­fan­ge­ne hier, die es nicht so ver­teu­felt ei­lig mit dem Ver­hör ha­ben.«

Er schi­en bei die­ser Be­mer­kung auf Mon­sieur Ri­gaud hin­zu­schie­len. Aber Mon­sieur hat­te be­reits wie­der sein Mahl in An­griff ge­nom­men, wenn auch nicht mehr mit so gu­tem Ap­pe­tit wie zu­vor.

»Auf Wie­der­se­hen, mei­ne Vö­gel!« sag­te der Ge­fäng­nis­wär­ter, nahm sein ar­ti­ges Kind auf den Arm und sag­te ihm die Wor­te mit ei­nem Kus­se vor.

»Auf Wie­der­se­hen, mei­ne Vö­gel!« wie­der­hol­te das hüb­sche Kind.

Sein un­schul­di­ges Ge­sicht­chen sah so freund­lich über die Schul­ter des Al­ten, wäh­rend die­ser mit ihm weg­ging und das Lied aus dem Kin­der­spiel sang:

»Wer kommt so spät bei Nacht vor­bei? Com­pa­gnon de la Ma­jo­lai­ne! Wer kommt so spät bei Nacht vor­bei? Im­mer froh!«

dass Jo­hann Bap­tist es für eine Ehren­sa­che hielt, durch das Git­ter in glei­chem Rhyth­mus und Ton, wenn auch mit et­was rau­er Stim­me, dar­auf zu ant­wor­ten:

»Die Blü­te al­ler Rit­ter­schaft, Com­pa­gnon de la Ma­jo­lai­ne! Die Blü­te al­ler Rit­ter­schaft, Im­mer froh!«

Und die­ser Ge­sang be­glei­te­te sie so lan­ge über die stei­ner­ne Trep­pe hin­ab, dass der Ge­fäng­nis­wär­ter zu­letzt ste­hen­blei­ben muss­te, da­mit sein Töch­ter­chen das Lied aus­hö­ren konn­te. Dann ver­schwand der Kopf des Kin­des und der Kopf des Ge­fäng­nis­wär­ters, aber die klei­ne Stim­me setz­te das Lied fort, bis die Tür ins Schloss fiel.

Mon­sieur Ri­gaud, dem Jo­hann Bap­tist in die Que­re kam, ehe das Echo ver­stummt war (selbst die­ses schi­en in dem Ge­fäng­nis schwä­cher und lang­sa­mer), er­in­ner­te ihn mit ei­nem Fuß­tritt, dass er bes­ser tun wür­de, sei­nen al­ten dunklen Platz wie­der ein­zu­neh­men. Der klei­ne Mann setz­te sich mit ei­ner Gleich­gül­tig­keit auf den Bo­den, die deut­lich zu er­ken­nen gab, dass er auf Stein zu sit­zen ge­wohnt war: und drei Stücke des rau­en Bro­tes vor sich hin­le­gend und über ein vier­tes her­fal­lend, be­gann er sich zu­frie­den einen Weg durch die­sen Vor­rat zu bah­nen, als ob mit ih­nen auf­zuräu­men eine Art Spiel wäre.

Vi­el­leicht schiel­te er nach der Lyo­ner Wurst, viel­leicht sah er nach dem Kalb­fleisch mit der wür­zi­gen Far­ce, aber sie blie­ben nicht lan­ge sicht­bar und konn­ten ihm den Mund auch nicht lan­ge wäs­se­rig ma­chen. Mon­sieur Ri­gaud er­le­dig­te sie gründ­lich trotz Prä­si­dent und Tri­bu­nal, leck­te dann sei­ne Fin­ger, so rein er konn­te, und wisch­te die­se zu­letzt mit dem Wein­laub ab. Als er mit­ten im Trin­ken auf­hör­te, um sei­nen Mit­ge­fan­ge­nen zu be­trach­ten, bäum­te sich sein Schnurr­bart und sei­ne Nase senk­te sich her­ab.

»Wie schmeckt das Brot?«

»Ich fin­de es ein we­nig tro­cken, aber ich habe mei­ne alte Tun­ke hier«, ent­geg­ne­te Jo­hann Bap­tist, in­dem er sein Mes­ser in die Höhe hielt.

»In­wie­fern Tun­ke?«

»Ich kann mein Brot so schnei­den – wie eine Me­lo­ne. Oder so – wie ein Ome­lett. Oder so – wie einen ge­bra­te­nen Fisch. Oder so – wie eine Lyo­ner Wurst«, sag­te Jo­hann Bap­tist, die ver­schie­de­nen Schnit­te an dem Brot de­mons­trie­rend, das er in der Hand hielt, und ru­hig kau­end, was er im Mun­de hat­te.

»Hier!« rief Mon­sieur Ri­gaud. »Da, trinkt. Leert die Fla­sche!«

Es war kein großes Ge­schenk; denn es war un­ge­mein we­nig Wein üb­rig. Aber Si­gnor Ca­va­let­to sprang auf die Füße und nahm dank­bar die Fla­sche, die er um­ge­stürzt an den Mund setz­te, wor­auf er laut zu schmat­zen be­gann.

»Stell die Fla­sche mit dem üb­ri­gen bei­sei­te«, sag­te Ri­gaud.

Der klei­ne Mann ge­horch­te sei­nen Be­feh­len und stand mit ei­nem an­ge­zün­de­ten Schwe­fel­hölz­chen be­reit; denn der an­de­re roll­te sei­nen Ta­bak mit­hil­fe von Pa­pier­strei­fen, die da­bei la­gen, zu Zi­ga­ret­ten.

»Hier! Da habt Ihr eine.«

»Tau­send Dank, Herr!« Jo­hann Bap­tist sag­te die­se Wor­te in sei­ner Mut­ter­spra­che und mit der leb­haf­ten ge­win­nen­den Wei­se, die sei­nen Lands­leu­ten ei­gen ist.

Mon­sieur Ri­gaud stand auf, zün­de­te eine Zi­ga­ret­te an, steck­te den Rest sei­nes Vor­rats in eine Brust­ta­sche und streck­te sich der Län­ge nach auf eine Bank. Ca­va­let­to setz­te sich auf den Bo­den, in­dem er in je­der Hand einen von sei­nen Knie­knö­cheln hielt und ru­hig fort rauch­te. Ri­gauds Au­gen schie­nen von ir­gen­det­was in der un­mit­tel­ba­ren Nähe des Punk­tes auf dem Bo­den, wo der Dau­men frü­her ge­ruht hat­te, un­an­ge­nehm be­rührt zu wer­den. Sie sa­hen so starr nach die­ser Rich­tung, dass der Ita­lie­ner mehr als ein­mal ver­wun­dert sei­nen Bli­cken auf dem Bo­den hin und her folg­te, um zu se­hen, was das be­deu­ten soll­te.

»Ein höl­li­sches Loch für­wahr!« sag­te Mon­sieur Ri­gaud, eine lan­ge Pau­se ab­bre­chend. »Seht mal die­ses Ta­ges­licht! Tag? Das Licht von ges­tern vor acht Ta­gen, das Licht von vor sechs Wo­chen, das Licht von vor sechs Jah­ren. So matt und farb­los!«

Es kam durch eine vier­e­cki­ge trich­ter­för­mi­ge Öff­nung, die sich an ei­nem Fens­ter in der Trep­pen­mau­er be­fand und durch die man we­der den Him­mel noch sonst et­was se­hen konn­te.

»Ca­va­let­to«, sag­te Mon­sieur Ri­gaud und wand­te plötz­lich sei­nen Blick von je­ner Öff­nung ab, auf die sie bei­de un­will­kür­lich ihre Au­gen ge­rich­tet hat­ten, »Sie ken­nen mich als Ka­va­lier.«

»Ge­wiss, ge­wiss!«

»Wie lan­ge sind wir jetzt hier?«

»Ich mor­gen um Mit­ter­nacht elf Wo­chen. Sie heu­te Nach­mit­tag um fünf Uhr neun Wo­chen und drei Tage.«

»Habe ich je hier et­was ge­tan? Je den Be­sen be­rührt oder die Mat­ten aus­ge­brei­tet oder sie auf­ge­rollt oder das Da­me­spiel ge­holt oder die Do­mi­no­stei­ne ge­sam­melt oder Hand an ir­gend­ei­ne Ar­beit ge­legt?«

»Nie.«

»Habt Ihr je auch nur er­war­tet, ich könn­te mich zu ir­gend­ei­ner Art von Ar­beit her­ab­las­sen?«

Jo­hann Bap­tist ant­wor­te­te mit je­nem ei­gen­tüm­li­chen Schüt­teln des ver­kehr­ten rech­ten Zei­ge­fin­gers, das die aus­drucks­volls­te Ver­nei­nung der ita­lie­ni­schen Spra­che ist.

»Nein! Ihr wuss­tet vom ers­ten Au­gen­blick, als Ihr mich hier saht, dass ich ein Ka­va­lier bin?«

»‚Al­tro!‘« ent­geg­ne­te Jo­hann Bap­tist, in­dem er sei­ne Au­gen schloss und den Kopf hef­tig schüt­tel­te.

Die­ses Wort, das je nach der Be­to­nung der Ge­nue­sen eine Be­ja­hung, eine Ver­nei­nung, eine Be­stä­ti­gung, einen Ein­wand, einen Spott, ein Kom­pli­ment, einen Scherz und fünf­zig an­de­re Din­ge be­deu­ten kann, war im ge­gen­wär­ti­gen Au­gen­blick be­zeich­nen­der als je­des ge­schrie­be­ne Wort und mit dem deut­schen »Selbst­ver­ständ­lich!« gleich­be­deu­tend.

»Haha! Ihr habt recht! Ich bin ein Ka­va­lier! Und als Ka­va­lier will ich le­ben und als Ka­va­lier will ich ster­ben. Ich bin in Scherz und Ernst ein Ka­va­lier. Ich wer­de es zei­gen, wo ich ste­he und gehe, so wahr ich se­lig wer­den will.«

Er än­der­te sei­ne Lage in eine sit­zen­de und rief mit tri­um­phie­ren­der Mie­ne:

»Hier bin ich. Seht mich an! Aus dem Wür­fel­be­cher des Schick­sals in die Ge­sell­schaft ei­nes blo­ßen Schmugg­lers ge­schleu­dert; – ein­ge­schlos­sen mit ei­nem ar­men klei­nen Schmugg­ler, des­sen Pa­pie­re nicht in Ord­nung sind, und den die Po­li­zei pack­te, weil er sein Boot (als Mit­tel, über die Gren­ze zu kom­men) an­de­ren klei­nen Leu­ten zur Ver­fü­gung stell­te, de­ren Pa­pie­re nicht bes­ser sind; und die­ser Mensch er­kennt mei­ne Stel­lung an, selbst bei die­ser Be­leuch­tung und an die­sem Ort. Gut! Beim Him­mel, ich ge­win­ne, wie das Spiel auch fällt.«

Wie­de­r­um bäum­te sich der Schnurr­bart, und die Nase senk­te sich.

»Was ist jetzt die Uhr?« frag­te er mit ei­ner tro­cken-hei­ßen Bläs­se auf den Wan­gen, zu der der scher­zen­de Ton we­nig pass­te.

»Eine klei­ne hal­be Stun­de nach Mit­tag.«

»Gut! Der Prä­si­dent wird bald einen Ka­va­lier vor sich ha­ben. Wohl­an! Soll ich Euch sa­gen, wes­sen ich be­schul­digt bin? Ich müss­te es jetzt tun, sonst wäre es zu spät, denn ich kom­me nicht mehr hier­her zu­rück. Ent­we­der wer­de ich frei­ge­spro­chen oder ich muss mich zum Ra­sie­ren vor­be­rei­ten. Ihr wisst, wo sie das Ra­sier­mes­ser ver­bor­gen hal­ten?«

Si­gnor Ca­va­let­to nahm sei­ne Zi­gar­re aus dem Mun­de und zeig­te sich für den Au­gen­blick ver­drieß­li­cher, als man hät­te er­war­ten sol­len.

»Ich bin ein« – Mon­sieur Ri­gaud stand auf, um es zu sa­gen – »ich bin ein Ka­va­lier und Kos­mo­po­lit. Ich ge­hö­re kei­nem Lan­de an. Mein Va­ter war Schwei­zer – aus dem Waadt­land. Mei­ne Mut­ter war Fran­zö­sin dem Blu­te, Eng­län­de­rin der Ge­burt nach. Ich selbst bin in Bel­gi­en ge­bo­ren. Ich bin ein Welt­bür­ger.«

Sei­ne thea­tra­li­sche Hal­tung, wie er so da­stand, den einen Arm an der Hüf­te in den Fal­ten sei­nes Man­tels, und sei­ne Art, den Mit­ge­fan­ge­nen un­be­ach­tet zu las­sen, wäh­rend er sei­ne Wor­te an die ge­gen­über­ste­hen­de Mau­er rich­te­te, schie­nen weit eher zu er­ken­nen zu ge­ben, dass er sei­ne Rol­le für den Prä­si­den­ten stu­dier­te, des­sen Ver­hör er sich dem­nächst un­ter­zie­hen soll­te, als dass er sich die Mühe neh­me, eine so un­be­deu­ten­de Per­sön­lich­keit wie Jo­hann Bap­tist Ca­va­let­to über den Stand der Din­ge auf­zu­klä­ren.

»Ich bin fünf­und­drei­ßig Jah­re alt. Ich habe die Welt ge­se­hen. Ich habe hier ge­lebt und dort ge­lebt und über­all wie ein Ka­va­lier ge­lebt. Ich bin von al­ler Welt als Ka­va­lier be­han­delt und ge­ehrt wor­den. Wenn Sie mich da­durch be­nach­tei­li­gen wol­len, dass Sie her­aus­brin­gen, ich habe durch mei­nen Esprit mir den Le­bens­un­ter­halt er­wor­ben – so fra­ge ich, wo­durch le­ben denn Ihre Ad­vo­ka­ten – Ihre Staats­män­ner – Ihre Int­ri­gan­ten – Ihre Bör­sen­män­ner?«

Er hielt sei­ne klei­ne wei­che Hand stän­dig in Be­reit­schaft, als wenn sie ein Zeu­ge sei­ner Vor­nehm­heit wäre, der ihm oft schon gute Diens­te ge­leis­tet.

»Vor zwei Jah­ren kam ich nach Mar­seil­le. Ich gebe zu, dass ich arm war; ich war krank ge­we­sen. Wenn Ihre An­wäl­te, Ihre Staats­män­ner, Ihre Int­ri­gan­ten, Ihre Bör­sen­män­ner krank wer­den und nicht vor­her Geld zu­sam­men­ge­scharrt ha­ben, so wer­den auch sie arm. Ich mie­te­te mich im gol­de­nen Kreuz ein – da­mals im Be­sitz des Herrn Hen­ri Bar­ron­neau –, der we­nigs­tens sechs­und­fünf­zig Jah­re alt und noch dazu von sehr schwa­cher Ge­sund­heit war. Ich hat­te vier Mo­na­te in dem Hau­se ge­wohnt, als Herr Hen­ri Bar­ron­neau das Un­glück hat­te zu ster­ben: je­den­falls kein sel­te­nes Un­glück! Es ge­schieht häu­fig, sehr häu­fig, ohne mein Zu­tun.«

Da Jo­hann Bap­tist sei­ne Zi­ga­ret­te bis an die Fin­ger ge­raucht hat­te, hat­te Mon­sieur Ri­gaud die Groß­mut, ihm eine zwei­te zu ge­ben. Er zün­de­te die Letz­te­re an der Asche der Ers­te­ren an und rauch­te fort, in­dem er seit­wärts nach sei­nem Mit­ge­fan­ge­nen blick­te, der, nur mit sei­ner Sa­che be­schäf­tigt, ihn kaum an­sah.

»Mon­sieur Bar­ron­neau hin­ter­ließ eine Wit­we. Sie war vier­und­zwan­zig Jah­re alt. Sie galt für schön und (was oft ein ganz an­de­rer Fall ist) war schön. Ich blieb im gol­de­nen Kreuz woh­nen. Ich hei­ra­te­te Ma­da­me Bar­ron­neau. Es ist nicht mei­ne Sa­che zu ent­schei­den, ob die­se Ver­bin­dung glück­lich war. Hier ste­he ich mit der Schmach des Ge­fäng­nis­ses auf mir; es ist je­doch mög­lich, dass sie mich bes­ser für sie tau­gend ge­fun­den hat als ih­ren frü­he­ren Mann.

Er hat­te, oben­hin be­trach­tet, das Aus­se­hen ei­nes schö­nen Man­nes – war es aber in Wirk­lich­keit nicht; und trug das ober­fläch­li­che Ge­prä­ge ei­nes vor­neh­men Man­nes – was er gleich­falls nicht war. Es war blo­ße Prah­le­rei und An­ma­ßung. Aber dar­in wie in man­chen an­de­ren Din­gen er­setzt die pol­tern­de Be­haup­tung den Be­weis – und das in der hal­b­en Welt!

Sei dem, wie ihm wol­le, Ma­da­me Bar­ron­neau fand an mir Ge­fal­len. Das wird mir hof­fent­lich nicht zum Nach­teil ge­rei­chen?«

Sein Auge fiel zu­fäl­lig bei die­ser Fra­ge auf Jo­hann Bap­tist, der ver­nei­nend den Kopf schüt­tel­te und un­zäh­li­ge Male mit sei­nem bün­di­gen al­tro, al­tro, al­tro die­se An­sicht be­kräf­tig­te.

»Nun ka­men die Schwie­rig­kei­ten un­se­rer ge­gen­sei­ti­gen Stel­lung. Ich bin stolz. Ich sage nichts zur Ver­tei­di­gung des Stol­zes, aber ich bin stolz. Auch liegt es in mei­nem Cha­rak­ter, zu herr­schen. Ich kann nicht ge­hor­chen; ich muss herr­schen. Un­glück­li­cher­wei­se ruh­te das Ver­mö­gen von Ma­da­me Ri­gaud in ih­ren Hän­den. Das war die wahn­sin­ni­ge Ver­fü­gung ih­res ver­stor­be­nen Man­nes. Noch un­glück­li­che­rer­wei­se hat­te sie Ver­wand­te. Wenn die Ver­wand­ten ei­ner Frau sich ge­gen einen Gat­ten ins Mit­tel le­gen, der ein Ka­va­lier, der stolz ist und der herr­schen muss, so sind die Fol­gen für den Frie­den im­mer sehr ge­fähr­lich. Ma­da­me Ri­gaud war un­glück­li­cher­wei­se et­was ge­wöhn­lich. Ich such­te, ih­ren For­men einen fei­nen Schliff zu ge­ben und ih­ren Ton im All­ge­mei­nen et­was zu ver­bes­sern; sie nahm (auch dar­in von ih­ren Ver­wand­ten un­ter­stützt) mei­ne Be­mü­hun­gen übel auf. Es ent­stan­den Strei­tig­kei­ten zwi­schen uns; die Nach­barn be­ka­men durch die ver­leum­de­ri­schen Zun­gen der Ver­wand­ten von Ma­da­me Ri­gaud über­trie­be­ne Kun­de da­von. Man sag­te, ich be­hand­le Ma­da­me Ri­gaud grau­sam. Man woll­te ge­se­hen ha­ben, wie ich ihr ins Ge­sicht ge­schla­gen habe – nichts wei­ter. Ich habe eine leich­te Hand, und wenn man mich Ma­da­me Ri­gaud in die­ser Wei­se zu­recht­wei­sen sah, so konn­te es ihr we­nigs­tens nicht sehr weh tun: denn es ge­sch­ah ja nur auf scherz­haf­te Art.«

Wenn die scherz­haf­te Art des Herrn Ri­gaud in sei­nem Lä­cheln bei die­sen Wor­ten einen ent­spre­chen­den Aus­druck fand, so wür­den die Ver­wand­ten von Ma­da­me Ri­gaud ohne Zwei­fel es weit vor­ge­zo­gen ha­ben, wenn er die un­glück­li­che Frau ernst­haft zu­recht­ge­wie­sen hät­te.

»Ich bin fein­füh­lig und mu­tig. Ich will es nicht für ein Ver­dienst aus­ge­ben, fein­füh­lig und mu­tig zu sein, aber es ist nun mal mein Cha­rak­ter. Wä­ren die männ­li­chen Ver­wand­ten von Ma­da­me Ri­gaud of­fen ge­gen mich auf­ge­tre­ten, wür­de ich ge­wusst ha­ben, was mit ih­nen an­zu­fan­gen ist. Sie merk­ten das und setz­ten ihre Wüh­le­rei­en im Stil­len fort, da­durch ge­rie­ten Ma­da­me Ri­gaud und ich häu­fig in die un­glück­se­ligs­te Kol­li­si­on. Selbst wenn ich ei­ner klei­nen Sum­me Gel­des zu mei­nen per­sön­li­chen Aus­ga­ben be­durf­te, konn­te ich sie nicht ohne Streit be­kom­men – und das ich, ein Mann, in des­sen Cha­rak­ter es liegt zu herr­schen? Ei­nes Abends gin­gen Ma­da­me Ri­gaud und ich freund­schaft­lich – ich darf sa­gen wie Lie­ben­de – auf ei­nem über die See hin­aus­hän­gen­den Fel­sen­weg spa­zie­ren. Ein Uns­tern ließ Ma­da­me Ri­gaud das Ge­spräch auf ihre Ver­wand­ten brin­gen. Ich sprach ver­stän­dig mit ihr über die­sen Ge­gen­stand, mach­te ihr Vor­hal­tun­gen über den Man­gel an Pf­licht­ge­fühl und Hin­ge­bung, den sie da­durch an den Tag lege, dass sie sich von der ei­fer­süch­ti­gen Ge­sin­nung ih­rer Ver­wand­ten ge­gen den Gat­ten be­ein­flus­sen las­se. Ma­da­me Ri­gaud ant­wor­te­te et­was derb, ich nicht min­der. Ma­da­me Ri­gaud wur­de warm, ich wur­de gleich­falls warm und reiz­te sie. Ich ge­ste­he es zu. Of­fen­heit ist eine Sei­te mei­nes Cha­rak­ters. End­lich warf sich Ma­da­me Ri­gaud in ei­nem An­fall von Wut, den ich ewig be­kla­gen wer­de, mit lei­den­schaft­li­chem Ge­schrei auf mich, ohne Zwei­fel das­sel­be Ge­schrei, das man in der Fer­ne ge­hört, zer­riss mei­ne Klei­der, zer­rauf­te mein Haar, zer­kratz­te mir die Hän­de, stampf­te mit den Fü­ßen, dass der Staub hoch auf­flog, und sprang zu­letzt über den Fel­sen hin­ab, wo sie sich an den Rif­fen un­ten zer­schmet­ter­te. Das ist die Ket­te von Er­eig­nis­sen, durch die die Bos­heit mich zu­erst dazu ge­bracht, von Ma­da­me Ri­gaud das Auf­ge­ben ih­rer Rech­te ge­bie­te­risch zu ver­lan­gen und, als sie dar­ein zu wil­li­gen sich stand­haft wei­ger­te, hand­ge­mein mit ihr zu wer­den – sie zu er­mor­den!«

Er trat an den Fens­ter­vor­sprung, wo das Wein­laub noch her­um­lag, nahm zwei oder drei Blät­ter und wisch­te, mit dem Rücken ge­gen das Licht ge­kehrt, sich die Hän­de dar­an ab.

»Nun«, frag­te er nach ei­ner Pau­se, »habt Ihr auf al­les das nichts zu sa­gen?«

»Es ist schänd­lich«, ent­geg­ne­te der klei­ne Mann, der auf­ge­stan­den war und sein Mes­ser an dem Schuh wetz­te, wäh­rend er sich mit ei­nem Arm ge­gen die Wand stemm­te.

»Was soll das?«

Jo­hann Bap­tist wetz­te schwei­gend wei­ter.

»Glaubt Ihr, dass ich die Sach­la­ge nicht streng nach der Wahr­heit dar­ge­stellt?«

»Al–tro!« ent­geg­ne­te Jo­hann Bap­tist. Das Wort war dies­mal eine Recht­fer­ti­gung und soll­te so viel be­deu­ten als: »O, durch­aus nicht.«

»Was denn?«

»Prä­si­dent und Tri­bu­nal ha­ben ge­wöhn­lich ihre vor­ge­fass­te Mei­nung.«

»Wohl­an!« rief der an­de­re, nicht ohne Un­ru­he und mit ei­nem Fluch den Zip­fel sei­nes Man­tels über die Schul­ter wer­fend, »so mö­gen sie ihr Schlimms­tes tun!«

»Das wer­den sie si­cher auch«, mur­mel­te Jo­hann Bap­tist vor sich hin, wäh­rend er sich bück­te, um sein Mes­ser in die Bin­de zu ste­cken.

Man sprach von kei­ner Sei­te mehr, ob­gleich bei­de auf und ab zu ge­hen be­gan­nen und sich na­tür­lich bei je­dem Um­dre­hen be­geg­nen muss­ten. Mon­sieur Ri­gaud blieb bis­wei­len einen Au­gen­blick ste­hen, als ob er sei­ne Sa­che in ein neu­es Licht stel­len oder eine ge­reiz­te Ent­geg­nung ma­chen woll­te. Da aber Si­gnor Ca­va­let­to sei­nen Spa­zier­gang in ei­nem wun­der­lich aus­se­hen­den stoß­wei­sen Trott ge­mäch­lich fort­setz­te und die Au­gen be­stän­dig zu Bo­den senk­te, so blieb es auf der an­de­ren Sei­te bei der Ab­sicht.

Kurz dar­auf ver­an­lass­te das Klir­ren ei­nes Schlüs­sels im Schloss, dass die bei­den ste­hen blie­ben. Man hör­te ein Geräusch von Stim­men und Trit­ten. Die Tür ras­sel­te auf; die Stim­men und die Trit­te ka­men nä­her, und der Ge­fäng­nis­wär­ter stieg in Beglei­tung von ei­ner Wa­che Sol­da­ten die Trep­pe her­auf.

»Nun, Mon­sieur Ri­gaud«, sag­te er, in­dem er mit den Schlüs­seln in der Hand vor dem Git­ter ste­hen blieb, »ha­ben Sie die Güte her­aus­zu­kom­men.«

»Ich soll, wie ich sehe, in fei­er­li­chem Zuge ab­ge­holt wer­den?«

»Wenn das nicht der Fall wäre«, ent­geg­ne­te der Ge­fäng­nis­wär­ter, »so dürf­ten Sie in vie­len Stücken Ihren Ker­ker ver­las­sen, dass es schwer wäre, sie wie­der zu­sam­men­zu­le­sen. Drau­ßen steht eine Volks­mas­se, Mon­sieur Ri­gaud, die Ih­nen nicht be­son­ders ge­wo­gen zu sein scheint.«

Mit die­sen Wor­ten ver­schwand er und schloss und rie­gel­te eine klei­ne Tür in der Ecke des Ker­kers auf. »Nun kom­men Sie«, sag­te er, wäh­rend er öff­ne­te und ein­trat.

Es gibt kei­ne Art von Weiß zwi­schen al­len Far­ben un­ter der Son­ne, die im Ent­fern­tes­ten Ähn­lich­keit mit dem Weiß von Mon­sieur Ri­gauds Ge­sicht in die­sem Au­gen­blick ge­habt hät­te. So gibt es auch ent­fernt kei­nen Aus­druck im mensch­li­chen Ant­litz, der die­sem Aus­druck ähn­lich ge­we­sen wäre, in des­sen kleins­tem Zug man das furcht­er­füll­te Herz po­chen sah. Man ver­gleicht bei­de ge­wöhn­lich mit dem Tod. Aber der Un­ter­schied ist so groß wie die tie­fe Kluft zwi­schen dem aus­ge­run­ge­nen Kampf und dem Streit in sei­ner ver­zwei­felts­ten Wut.

Er zün­de­te eine zwei­te Zi­ga­ret­te an der sei­nes Mit­ge­fan­ge­nen an, steck­te sie zwi­schen die ver­bis­se­nen Zäh­ne, be­deck­te den Kopf mit ei­nem wei­chen, über die Au­gen hän­gen­den Hut, warf den Zip­fel sei­nes Man­tels wie­der über die Schul­ter und trat auf die Sei­ten­ga­le­rie hin­aus, zu der die Tür führ­te, ohne wei­te­re No­tiz von Si­gnor Ca­va­let­to zu neh­men. Was den klei­nen Mann selbst be­trifft, so war sein gan­zes Be­stre­ben nur dar­auf ge­rich­tet, der Tür nahe zu kom­men und hin­aus­zu­se­hen. Ganz wie ein wil­des Tier sich der ge­öff­ne­ten Tür sei­nes Kä­figs nä­hern und gie­rig nach der Frei­heit drau­ßen bli­cken wür­de, so ver­brach­te er die we­ni­gen Au­gen­bli­cke mit lau­ern­dem Hin­aus­schau­en, bis die Tür sich vor ihm schloss.

Die Sol­da­ten kom­man­dier­te ein Of­fi­zier, ein stäm­mi­ger, dienst­ge­üb­ter und un­ge­mein ru­hi­ger Mann, der mit dem ge­zo­ge­nen De­gen in der Hand eine Zi­gar­re rauch­te. Er be­fahl in kur­z­em Ton, dass Mon­sieur Ri­gaud in der Mit­te der Sol­da­ten gehe, stell­te sich mit vollen­de­ter Gleich­gül­tig­keit an ihre Spit­ze, kom­man­dier­te »Marsch!«, und nun ging es klir­rend die Trep­pe hin­un­ter. Die Tür fiel ins Schloss – der Schlüs­sel wur­de um­ge­dreht –, aber ein Strahl un­ge­wohn­ten Lich­tes und ein Hauch un­ge­wohn­ter Luft schi­en den Ker­ker durch­zo­gen zu ha­ben und sich in den dün­nen Rauch­wölk­chen der Zi­gar­re zu ver­flüch­ti­gen.

Der ein­sam zu­rück­ge­las­se­ne Ge­fan­ge­ne war wie ein Tier nie­de­rer Art – wie ein un­ge­dul­di­ger Affe oder ein ge­reiz­ter Bär der klei­ne­ren Gat­tung – auf die Fens­ter­bank des Ge­fäng­nis­ses ge­sprun­gen, um kei­nen Blick auf den Schei­den­den zu ver­lie­ren. Wie er noch so da­stand, das Git­ter mit bei­den Hän­den hal­tend, drang ein Aufruhr an sein Ohr. Heu­len, Schrei­en, Flu­chen, Dro­hun­gen, Ver­wün­schun­gen, al­les durch­ein­an­der ge­mischt, ob­gleich man (wie bei ei­nem Sturm) nichts als ein wil­des Brau­sen hö­ren konn­te.

Durch sei­ne Gier, mehr zu er­fah­ren, ei­nem ein­ge­sperr­ten wil­den Tier noch ähn­li­cher ge­macht, sprang der Ge­fan­ge­ne rasch her­un­ter, lief in dem Ker­ker her­um, fass­te das Git­ter und such­te dar­an zu rüt­teln; sprang dann wie­der her­un­ter, lief hin und her und horch­te und ruh­te nicht eher, bis das Geräusch, sich im­mer mehr ent­fer­nend, end­lich erstarb. Wie man­chem bes­se­ren Ge­fan­ge­nen ist sein ed­les Herz auf die­se Wei­se ge­bro­chen. Nie­mand dach­te dar­an; nicht ein­mal die Ge­lieb­ten ih­rer See­le hat­ten vol­le Kun­de da­von; wäh­rend große Kö­ni­ge und Statt­hal­ter, die sie ge­fan­gen hiel­ten, hei­ter im Son­nen­lich­te um­her­fuh­ren und das Volk sich schmei­chelnd um sie dräng­te. Die­se großen Her­ren da­ge­gen star­ben, ein er­ha­be­nes Bei­spiel, mit herr­li­chen Re­den in ih­rem Bet­te, und die höf­li­che Ge­schich­te, die noch knech­ti­scher als ihre Werk­zeu­ge, bal­sa­miert sie ein!

Jo­hann Bap­tist, der nun im­stan­de war, sich den ge­eig­nets­ten Ort im Um­kreis der vier Mau­ern zur Aus­übung sei­nes Tal­ents, zu schla­fen, wann er woll­te, aus­zu­wäh­len, leg­te sich, mit dem Ge­sicht auf den ge­kreuz­ten Ar­men ru­hend, auf die Bank nie­der und schlum­mer­te ein – in sei­ner Un­ter­wür­fig­keit, sei­nem leich­ten Blu­te, sei­nem gu­ten Hu­mor, sei­ner rasch wech­seln­den Lei­den­schaft, sei­ner Zufrie­den­heit mit har­tem Brot und har­ten Stei­nen, sei­nem leich­ten Schlaf, sei­nem Auf­brau­sen und sei­nen Zorn­aus­brü­chen ein ech­ter Sohn des Lan­des, das ihn ge­bo­ren.

Das grel­le Licht wur­de end­lich trü­be, die Son­ne ging in ro­ter, grü­ner, gol­de­ner Pracht un­ter, die Ster­ne tra­ten am Him­mel her­vor, und die Leucht­kä­fer äff­ten sie in der nie­de­ren At­mo­sphä­re nach, wie die Men­schen in ih­rer Schwä­che die Güte ei­ner bes­sern Klas­se von Ge­schöp­fen nach­ah­men. Die lan­gen stau­bi­gen Wege und die end­lo­sen Ebe­nen la­gen ru­hig da – und auf dem Meer herrsch­te so tie­fe Stil­le, dass es kaum von der Stun­de flüs­ter­te, wo es sei­ne To­ten wie­der her­aus­ge­ben wird.

ein in der Lom­bar­dei her­ge­stell­ter Sah­nen­kä­se  <<<

Zweites Kapitel – Reisegenossen

Hört man heu­te nichts mehr von dem gest­ri­gen Ge­heul da drü­ben, Sir?«

»Ich habe nichts ge­hört.«

»Dann kön­nen Sie si­cher sein, dass auch kei­nes mehr ist. Wenn die­se Leu­te heu­len, so heu­len sie, dass man es hö­ren soll.«

»Das tun die meis­ten Men­schen, glau­be ich.«

»Aber die­se Leu­te heu­len in ei­nem fort. Sie sind sonst nicht glück­lich.«

»Mei­nen Sie die Mar­seil­ler?«

»Ich mei­ne die Fran­zo­sen. Sie kön­nen es kei­nen Au­gen­blick las­sen. Was Mar­seil­le be­trifft, so wis­sen wir, was Mar­seil­le ist. Es hat die auf­rüh­re­rischs­te Me­lo­die,1 die je­mals kom­po­niert wur­de, in die Welt ge­schickt. Es könn­te nicht exis­tie­ren, ohne zu ir­gen­det­was zu de­mons­trie­ren oder mar­schie­ren – zum Sieg oder Tod, zum Aufruhr oder zu sonst et­was.«

Der Spre­cher, des­sen Ge­sicht von wun­der­lich gu­ter Lau­ne zeug­te, sah mit der größ­ten Ge­ring­schät­zung über die Brust­wehr auf Mar­seil­le nie­der, und dann eine ent­schlos­se­ne Hal­tung an­neh­mend, in­dem er sei­ne Hän­de in die Ta­schen steck­te und mit sei­nem Geld ras­sel­te, re­de­te er die Stadt mit kur­z­em La­chen an:

»Al­lons, mar­chons, ja­wohl.«2 »Es wäre an­stän­di­ger für dich, mei­ne ich, wenn du an­de­re Leu­te in ih­rem recht­mä­ßi­gen Ge­schäf­te al­li­ie­ren und mar­schie­ren ließest, statt sie in die Qua­ran­tä­ne zu sper­ren!«

»Lang­wei­lig ge­nug ist’s«, sag­te der an­de­re. »Aber wir wer­den heu­te ent­las­sen.«

»Heu­te ent­las­sen!« wie­der­hol­te der ers­te. »Es ist bei­na­he eine Er­schwe­rung des Fre­vels, dass wir heu­te ent­las­sen wer­den. Ent­las­sen! Wa­rum wa­ren wir über­haupt ein­ge­sperrt?«

»Ich muss zu­ge­ben, aus kei­nem trif­ti­gen Grun­de! Da wir je­doch aus dem Ori­ent kom­men und der Ori­ent die Hei­mat der Pest ist –«

»Der Pest!« wie­der­hol­te der an­de­re. »Das ist eben mein Kum­mer. Ich habe be­stän­dig die Pest ge­habt, seit­dem ich hier bin. Mir ist wie ei­nem Ver­nünf­ti­gen, den man in ein Ir­ren­haus sperrt; ich kann den Ver­dacht nicht er­tra­gen. Ich kam so wohl und ge­sund hier­her, wie ich je in mei­nem Le­ben ge­we­sen, aber mich im Ver­dacht der Pest ha­ben, heißt mir die Pest in den Leib ja­gen. Und ich hat­te sie – und ich habe sie noch.«

»Sie se­hen gut da­bei aus, Mr. Meagles«, sag­te der Teil­neh­mer an dem Ge­spräch lä­chelnd.

»Nein. Wenn Sie die wirk­li­che Sach­la­ge kenn­ten, so wür­de es Ih­nen nicht in den Sinn kom­men, die letz­te Be­mer­kung zu ma­chen. Ich bin eine Nacht um die an­de­re auf­ge­wacht und habe zu mir ge­sagt: jetz­t habe ich sie, jetz­t hat sie sich ent­wi­ckelt, jetz­t hat sie mich ge­packt, jetz­t ha­ben die Bur­schen die Sa­che aus­fin­dig ge­macht und tref­fen ihre Vor­sichts­maß­re­geln. Wahr­haf­tig, ich möch­te eben­so gern mit ei­ner Na­del durch den Leib in ei­ner Kä­fer­samm­lung auf eine Pa­pier­ta­fel ge­steckt sein, als das Le­ben füh­ren, das ich hier ge­führt habe.«

»Nun, Mr. Meagles, spre­chen wir nicht wei­ter da­von, da es jetzt vor­über ist«, bat eine freund­li­che weib­li­che Stim­me.

»Vor­über!« wie­der­hol­te Mr. Meagles, der, ohne alle Bös­ar­tig­keit, in je­ner ei­gen­tüm­li­chen Stim­mung zu sein schi­en, in der es uns im­mer wie eine neue Be­lei­di­gung vor­kommt, wenn ein an­de­rer das letz­te Wort be­hält. »Vor­über! Und wes­halb soll­te ich nichts mehr dar­über sa­gen, wenn es vor­über ist!«

Es war Mrs. Meagles, die Mr. Meagles an­ge­re­det hat­te; und Mrs. Meagles war wie Mr. Meagles wohl und ge­sund; sie hat­te ein an­ge­neh­mes eng­li­sches Ge­sicht, das fünf­und­vier­zig Jah­re und mehr auf ein schlich­tes ein­fa­ches Da­sein ge­blickt und einen hei­te­ren hel­len Glanz über al­les ge­gos­sen.

»Nun! Den­ke nicht mehr dar­an, Va­ter, den­ke nicht mehr dar­an!« sag­te Mrs. Meagles. »Um der Güte wil­len, sei zu­frie­den mit Pet.«

»Mit Pet?« er­wi­der­te Mr. Meagles, und die Stir­na­der schwoll ihm. Pet aber, die dicht hin­ter ihm stand, tät­schel­te ihm auf die Schul­ter, und Mr. Meagles ver­zieh auf der Stel­le Mar­seil­le vom Grund sei­nes Her­zens.

Pet war un­ge­fähr zwan­zig Jah­re alt. Ein hüb­sches Mäd­chen mit rei­chem brau­nen Haar, das in na­tür­li­chen Lo­cken um ihr Ge­sicht fiel. Ein lieb­li­ches We­sen, mit of­fe­nem Ant­litz und wun­der­vol­len Au­gen, so groß, so sanft, so glän­zend, so voll­kom­men mit ih­rem an­mu­ti­gen, freund­li­chen Ge­sicht har­mo­nie­rend. Sie war rund und frisch, voll Grüb­chen; frei­lich et­was ver­zo­gen, aber sie be­saß da­bei doch in ih­rem We­sen et­was Schüch­ter­nes und Ab­hän­gi­ges, was die bes­te Schwä­che von der Welt war und ihr den ein­zi­gen hö­he­ren Reiz ver­lieh, den ein so hüb­sches und an­ge­neh­mes We­sen ent­beh­ren konn­te.

»Nun fra­ge ich Sie«, sag­te Mr. Meagles mit der schmei­chel­haf­tes­ten Ver­trau­lich­keit, in­dem er einen Schritt zu­rück­trat und sei­ne Toch­ter einen Schritt vor­schob, um sei­ne Fra­ge zu flüs­tern: »Ich fra­ge Sie ein­fach, wie ein ver­nünf­ti­ger Mann den an­de­ren, ha­ben Sie je von ei­nem so ver­damm­ten Un­sinn ge­hört wie den, Pet in die Qua­ran­tä­ne zu sper­ren?«

»Es hat­te we­nigs­tens die gute Fol­ge, dass selbst die Qua­ran­tä­ne da­durch er­freu­lich wur­de.«

»So!« sag­te Mr. Meagles, »das ist al­ler­dings et­was. Ich bin Ih­nen für die­se Be­mer­kung dank­bar. Aber Pet, mein lie­bes Kind, du wür­dest jetzt bes­ser tun, wenn du mit der Mut­ter gin­gest und dich für das Boot fer­tig mach­test. Der Ge­sund­heits­be­am­te und eine Men­ge von Nar­ren mit auf­ge­krem­pel­ten Hü­ten wer­den kom­men, um uns end­lich hier her­aus­zu­las­sen. Wir ge­fan­ge­nen Vö­gel alle wer­den zu­sam­men wie­der in an­nä­hernd christ­li­cher­wei­se früh­stücken, ehe je­der nach sei­nem Be­stim­mungs­ort von dan­nen flieht. Tat­ty­coram, gehe dei­ner jun­gen Her­rin nicht von der Sei­te.«

Er rich­te­te die­se letz­ten Wor­te an ein hüb­sches Mäd­chen mit glän­zend dunklem Haar und Au­gen, das sehr nett an­ge­zo­gen war und mit flüch­ti­ger Ver­beu­gung ant­wor­te­te, wäh­rend es im Ge­fol­ge von Mrs. Meagles und Pet vor­über­ging. Sie schrit­ten alle drei über die kah­le, sen­gend hei­ße Ter­ras­se und ver­schwan­den in ei­nem grell­wei­ßen Tor­weg. Mr. Meagles’ Rei­se­ge­nos­se, ein großer ge­bräun­ter Mann von vier­zig Jah­ren, stand noch im­mer nach dem Tor­weg bli­ckend da, als sie be­reits längst ver­schwun­den wa­ren, bis ihn end­lich Mr. Meagles auf den Arm klopf­te.

»Ich bit­te um Ver­zei­hung«, sag­te er und er­wach­te aus sei­nen Träu­me­rei­en.

»Kei­ne Ur­sa­che«, sag­te Mr. Meagles.

Sie gin­gen im Schat­ten an der Mau­er schwei­gend auf und nie­der und ge­nos­sen auf der Höhe, wo die Qua­ran­tä­ne­ba­ra­cken lie­gen, die küh­le Fri­sche der See­luft, so­weit sol­che mor­gens um sie­ben Uhr vor­han­den war. Mr. Meagles’ Rei­se­ge­nos­se nahm das Ge­spräch wie­der auf.

»Darf ich Sie fra­gen«, sag­te er, »was be­deu­tet der Name –«

»Tat­ty­coram?« fiel Mr. Meagles ein. »Ich habe nicht die min­des­te Idee –«

»Ich mein­te«, sag­te der an­de­re, »dass –«

»Tat­ty­coram«, er­gänz­te Mr. Meagles aber­mals.

»Dan­ke – dass Tat­ty­coram ein Name sei; und ich habe mich häu­fig über sei­ne Selt­sam­keit ge­wun­dert.«

»Nun, die Sa­che ist die«, sag­te Mr. Meagles, »Mrs. Meagles und ich, müs­sen Sie wis­sen, sind prak­ti­sche Leu­te.«

»Das ha­ben Sie des Öf­te­ren im Lauf un­se­rer an­ge­neh­men und in­ter­essan­ten Ge­sprä­che wäh­rend der Spa­zier­gän­ge auf die­sem Pflas­ter er­wähnt«, sag­te der an­de­re, in­dem ein flüch­ti­ges Lä­cheln durch den Ernst sei­nes brau­nen Ge­sichts brach.

»Prak­ti­sche Leu­te! Als wir nun ei­nes Ta­ges, vor un­ge­fähr fünf oder sechs Jah­ren, Pet mit in die Kir­che des Fin­del­spi­tals in Lon­don nah­men – Sie hör­ten doch schon von dem Fin­del­spi­tal in Lon­don? Es ist dem Fin­del­haus in Pa­ris ähn­lich.«

»Ich habe es ge­se­hen.«

»Nun gut! Als wir Pet einst mit in jene Kir­che nah­men, um dort Mu­sik zu hö­ren – weil wir es als prak­ti­sche Leu­te für un­se­re Auf­ga­be hal­ten, ihr al­les zu zei­gen, was ihr Freu­de ma­chen kann –, fing die Mut­ter (mein ge­wöhn­li­cher Name für Mrs. Meagles) so zu wei­nen an, dass ich sie hin­aus­brin­gen muss­te. ‚Was gibt es, Mut­ter?‘ sag­te ich, als wir et­was mit ihr ge­gan­gen wa­ren, ‚du er­schreckst Pet, mei­ne Lie­be‘ – ‚Ich weiß es wohl, Va­ter‘, sag­te die Mut­ter, ‚a­ber ich glau­be, ge­ra­de weil ich sie so in­nig lie­be, ist es mir in den Sinn ge­kom­men‘ – ‚Was kam dir denn in den Sinn, Mut­ter?‘ – ‚O Gott!‘ rief die Mut­ter, wie­der­um in Trä­nen aus­bre­chend, ‚als ich all die­se Kin­der in Rei­hen über­ein­an­der sit­zen und von dem Va­ter auf Er­den, den kei­nes von ih­nen je ge­se­hen, sich an den grö­ße­ren Va­ter von uns al­len im Him­mel wen­den sah, da dach­te ich: Kommt wohl auch ein­mal eine un­glück­li­che Mut­ter hier­her und sieht sich un­ter die­sen jun­gen Ge­sich­tern um, neu­gie­rig, wel­ches das arme Kind sein möch­te, das sie in die­se ver­las­se­ne Welt ge­bracht, da­mit es nie­mals in sei­nem gan­zen Le­ben ihre Lie­be, ih­ren Kuss, ihr Ge­sicht, ihre Stim­me, ja nicht ein­mal ih­ren Na­men ken­nen­ler­nen soll?‘ Das war doch sehr prak­tisch von der Mut­ter, und ich sag­te ihr es. Ich sag­te näm­lich: ‚Mut­ter, das nen­ne ich prak­tisch!‘«

Der an­de­re stimm­te ihm nicht ohne Rüh­rung bei.

»So sag­te ich am nächs­ten Tag: Ich habe dir einen Vor­schlag zu ma­chen, Mut­ter, den du si­cher bil­li­gen wirst. Lass uns eins von den Kin­dern zu uns neh­men: es kann Pet Ge­sell­schaft leis­ten. Wir sind prak­ti­sche Leu­te. Wenn wir des­halb ihr Tem­pe­ra­ment et­was man­gel­haft oder in ir­gend­ei­ner Wei­se ihre Ge­wohn­hei­ten von den un­se­ren ab­wei­chend fin­den, so wer­den wir wis­sen, was wir in die­ser Rich­tung in Rech­nung zu stel­len ha­ben. Wir wis­sen, wie un­ge­heu­er viel von all den Ein­flüs­sen und Er­fah­run­gen, die per­sön­lich­keits­bil­dend für uns wa­ren, ab­ge­zo­gen wer­den muss – kei­ne El­tern, kein Brü­der­chen oder Schwes­ter­chen, kei­ne wirk­li­che Hei­mat, kein glä­ser­ner Pan­tof­fel oder kei­ne Feen­pa­tin!3 Und auf die­se Wei­se ka­men wir zu Tat­ty­coram.«

»Und der Name selbst –«

»Bei St. Ge­org!« sag­te Mr. Meagles, »ich ver­gaß den Na­men. Nun, sie hieß in der An­stalt Har­riet Be­ad­le – na­tür­lich ein will­kür­lich er­fun­de­ner Name. Nun än­der­ten wir Har­riet in Hat­ty ab und dann in Tat­ty, weil wir als prak­ti­sche Leu­te dach­ten, ein scherz­haf­ter Name sei et­was Neu­es für sie und müs­se einen wohl­tu­en­den und ge­winn­brin­gen­den Ein­druck auf sie ma­chen, nicht wahr? Was nun den Na­men Be­ad­le be­trifft, so brau­che ich kaum zu sa­gen, dass er ganz au­ßer dem Spie­le blieb. Wenn es et­was gibt, was un­ter kei­ner Form zu er­tra­gen ist, et­was, was der Ty­pus amts­wich­ti­ger An­ma­ßung und Ab­ge­schmackt­heit ist, et­was, was in Rö­cken und Wes­ten und di­cken Stö­cken un­ser eng­li­sches Fest­hal­ten am Un­sinn, über den je­der­mann sonst hin­aus ist, re­prä­sen­tiert, so ist es ein Be­ad­le (Kir­chen­die­ner). Ha­ben Sie in letz­ter Zeit kei­nen Kir­chen­die­ner ge­se­hen?«

»Als ein Eng­län­der, der mehr als zwan­zig Jah­re in Chi­na war, nein!«

»Dann«, sag­te Mr. Meagles, in­dem er sei­nen Zei­ge­fin­ger mit großer Leb­haf­tig­keit auf sei­nes Rei­se­ge­nos­sen Brust leg­te, »dann wei­chen Sie je­dem Kir­chen­die­ner, wo Sie nur kön­nen, aus. Wenn ich sonn­tags einen Kir­chen­die­ner in vol­lem Staat an der Spit­ze ei­ner Ar­men­schu­le die Stra­ße ent­lang kom­men sehe, so muss ich um­keh­ren und Reiß­aus neh­men; sonst wür­de ich ihm si­cher eins ver­set­zen. Da, wie ge­sagt, der Name Be­ad­le ganz aus dem Spie­le blieb und der Grün­der der An­stalt für die ar­men Find­lin­ge ein se­gens­rei­cher Mann mit Na­men Coram war, so ga­ben wir Pets klei­ner Ge­spie­lin die­sen Na­men. Bald hieß sie nun Tat­ty, bald Coram, bis wir end­lich bei­de Na­men ver­ban­den, und nun heißt sie im­mer Tat­ty­coram.«

»Ihre Toch­ter«, sag­te der an­de­re, als sie wie­der schwei­gend auf und ab ge­gan­gen und, nach­dem sie einen Au­gen­blick über der Mau­er nach der See hin­ab­ge­blickt, ih­ren Spa­zier­gang wie­der be­gon­nen: »Ihre Toch­ter ist Ihr ein­zi­ges Kind, nicht wahr, Mr. Meagles? Darf ich wohl fra­gen – nicht aus unz­ar­ter Neu­gier, son­dern weil es mir in Ih­rer Ge­sell­schaft so wohl ge­fal­len, ich viel­leicht nie wie­der in die­sem La­by­rinth der Welt ein ru­hi­ges Wort mit Ih­nen spre­chen kann und mir eine kla­re Erin­ne­rung von Ih­nen und den Ihren zu be­wah­ren wün­sche –, darf ich Sie fra­gen, habe ich nicht mit Recht aus den Wor­ten Ih­rer gu­ten Frau ge­schlos­sen, dass sie noch an­de­re Kin­der ge­habt?«

»Nein, nein«, sag­te Mr. Meagles. »Nicht ge­ra­de an­de­re Kin­der. Nur ein an­de­res Kind.«

»Ich fürch­te, ich habe un­ab­sicht­lich ein zu zar­tes The­ma be­rührt.«

»Es hat nichts zu sa­gen«, ver­setz­te Mr. Meagles. »Wenn es mich ernst macht, so ver­ur­sacht es mir doch nicht ge­ra­de Schmer­zen. Ich wer­de viel­leicht für einen Au­gen­blick still, aber es macht mich nicht un­glück­lich. Pet hat­te eine Zwil­lings­schwes­ter, die starb, als wir ge­ra­de ihre Au­gen – ganz Pets Au­gen – über dem Ti­sche se­hen konn­ten, wenn sie auf den Ze­hen stand und sich an der Tisch­kan­te fest­hielt.«

»Wirk­lich? O, in der Tat?«

»Ja, und da wir prak­ti­sche Leu­te sind, bil­de­te sich nach und nach eine Vor­stel­lung in Mrs. Meagles und mir, die Sie viel­leicht ver­ste­hen wer­den – viel­leicht auch nicht. Pet und ihre Zwil­lings­schwes­ter sa­hen sich so au­ßer­or­dent­lich ähn­lich und wa­ren so voll­kom­men eins, dass wir sie seit­dem nicht mehr in un­se­ren Ge­dan­ken tren­nen konn­ten. Es hät­te fort­an nichts genützt, wenn wir uns auch ge­sagt, un­ser to­tes Kind sei ein blo­ßes Kind ge­blie­ben. Die­ses Kind hat sich mit den Ver­än­de­run­gen des uns ge­blie­be­nen Kin­des ver­än­dert und war uns im­mer nahe. Wie Pet wuchs, so wuchs auch die­ses Kind; wie Pet ver­stän­di­ger und jung­fräu­li­cher wur­de, so wur­de auch ihre Schwes­ter ver­stän­di­ger und jung­fräu­li­cher – al­les in den­sel­ben Ab­stu­fun­gen. Man wür­de mich eben­so schwer über­zeu­gen kön­nen, dass, wenn ich mor­gen in die an­de­re Welt käme, ich nicht durch die Gna­de Got­tes von ei­ner Toch­ter ge­nau­so wie Pet emp­fan­gen wer­den soll­te, wie man mich da­von über­zeu­gen könn­te, dass Pet ne­ben mir kei­ne re­el­le Exis­tenz sei.«

»Ich ver­ste­he Sie«, sag­te der an­de­re freund­lich.

»Was mei­ne Toch­ter be­trifft«, fuhr ihr Va­ter fort, »so hat der plötz­li­che Ver­lust ih­res klei­nen Eben­bil­des und Ge­spie­len und ihre früh­zei­ti­ge Berüh­rung mit je­nem Mys­te­ri­um, an dem wir alle un­se­ren glei­chen Teil ha­ben, das aber nicht im­mer ei­nem Kind so schroff ent­ge­gen­tritt, not­wen­di­ger­wei­se ei­ni­gen Ein­fluss auf ih­ren Cha­rak­ter ge­habt. Dann wa­ren ihre Mut­ter und ich nicht mehr jung, als wir hei­ra­te­ten, und Pet führ­te im­mer das Le­ben von Er­wach­se­nen mit uns, ob­gleich wir uns be­müh­ten, uns ih­rem kind­li­chen Ide­en­kreis an­zu­schmie­gen. Da sie et­was kränk­lich war, so gab man uns mehr als ein­mal den Rat, sie so oft wie mög­lich in ein an­de­res Kli­ma und in eine an­de­re Luft zu brin­gen – na­ment­lich in dem Al­ter, in dem sie jetzt steht – und ihr viel Zer­streu­ung zu schaf­fen. Und da ich es nun nicht mehr nö­tig habe, hin­ter dem Kon­tor­pult zu ste­hen (ob­gleich ich frü­her sehr arm war, sonst hät­te ich wahr­haf­tig Mrs. Meagles weit frü­her ge­hei­ra­tet), so rei­sen wir jetzt in der Welt um­her. Aus die­sem Grun­de fan­den Sie uns am Nil und bei den Py­ra­mi­den, bei den Sphin­xen und in der Wüs­te und so wei­ter und so wei­ter; des­halb wird Tat­ty­coram auch mit der Zeit eine grö­ße­re Rei­sen­de als Ka­pi­tän Cook4 sein.«

»Ich dan­ke Ih­nen herz­lich für Ihr Ver­trau­en«, sag­te der an­de­re.

»Bit­te sehr«, ent­geg­ne­te Mr. Meagles, »es ist ger­ne ge­sche­hen. Und nun, Mr. Clen­nam, darf ich Sie wohl fra­gen, ob Sie schon zu ei­nem Ent­schluss über Ihr nächs­tes Rei­se­ziel ge­kom­men sind?«

»Wahr­haf­tig, nein. Ich bin ein so her­ren- und wil­len­lo­ser Welt­fah­rer, dass ich mich von je­der Strö­mung fort­trei­ben las­se.«

»Es kommt mir selt­sam vor – ent­schul­di­gen Sie mei­ne Frei­heit, mit der ich das sage –, dass Sie nicht di­rekt nach Lon­don ge­hen«, sag­te Mr. Meagles in dem Ton ver­trau­li­chen Ra­tes.

»Vi­el­leicht wer­de ich es doch wohl tun.«

»Ah! aber ich mei­ne mit ei­nem fes­ten Ziel.«

»Ich habe kein Ziel. Das heißt«, da­bei er­rö­te­te er ein we­nig, »bei­na­he kei­nes, auf das ich hin­ar­bei­ten könn­te. Von blo­ßer Ge­walt er­zo­gen; ge­bro­chen, nicht ge­beugt; fest­ge­ket­tet an einen Ge­gen­stand, we­gen des­sen man mich nie be­frag­te und der nie mei­nes Her­zens Sa­che war; an das an­de­re Ende der Welt ver­setzt, ehe ich noch mün­dig ge­wor­den, und dort­hin ver­bannt bis zu mei­nes Va­ters Tode, der vor ei­nem Jahr ein­ge­tre­ten; im­mer in ei­ner Müh­le mah­lend, die ich stets ge­hasst; was kann man im rei­fen Man­nes­al­ter von mir er­war­ten? Wil­len, Ab­sicht, Hoff­nung! Alle die­se Lich­ter sind in mir aus­ge­löscht wor­den, ehe ich ihre Na­men aus­spre­chen konn­te.«

»Zün­den Sie sie wie­der an!« sag­te Mr. Meagles.

»Ach! das ist leicht ge­sagt. Ich bin der Sohn ei­nes har­ten Va­ters und ei­ner har­ten Mut­ter, Mr. Meagles. Ich bin das ein­zi­ge Kind von El­tern, die al­les wo­gen, ma­ßen und ab­schätz­ten, für die, was nicht ge­wo­gen, ge­mes­sen und ab­ge­schätzt wer­den konn­te, kei­nen Wert hat­te. Streng­gläu­bi­ge Leu­te, wie man es nennt. Be­ken­ner ei­ner fins­te­ren Re­li­gi­on, so­dass selbst ihre Re­li­gi­on ein düs­te­res Op­fer von Nei­gun­gen und Sym­pa­thi­en war, die ih­nen nicht ei­gen und die sie als Kauf­sum­me für die Si­cher­heit ih­rer Be­sitz­tü­mer dar­brach­ten. Stren­ge Ge­sich­ter, un­er­bitt­lich stren­ge Zucht, Buße in die­ser Welt und Schre­cken in der nächs­ten – nir­gends ein Schim­mer von sanf­ter Mil­de und Barm­her­zig­keit, und in mei­nem ge­beug­ten Her­zen öde Lee­re über­all – das war mei­ne Kind­heit, wenn es nicht ein Miss­brauch ist, die­ses Wort auf einen sol­chen Le­bens­an­fang an­zu­wen­den.«

»Wirk­lich?« frag­te Mr. Meagles, den das Bild, das vor sei­ne Fan­ta­sie ge­führt wur­de, in eine sehr un­be­hag­li­che Stim­mung ver­setz­te. »Das war ja ein schreck­li­cher Le­bens­an­fang. Aber raf­fen Sie sich auf. Sie müs­sen nun auf jede Wei­se su­chen, al­les, was dar­über hin­aus­liegt, als prak­ti­scher Mann zu nüt­zen.«

»Wenn die Leu­te, die man ge­wöhn­lich prak­tisch nennt, in ih­rer Wei­se prak­tisch wä­ren –«

»Nun, das sind sie auch!« sag­te Mr. Meagles.

»Wirk­lich?«

»Ich den­ke wohl«, ent­geg­ne­te Mr. Meagles, dar­über nach­sin­nend. »Hm! Man muss prak­tisch sein, und Mrs. Meagles und ich sind wirk­lich prak­tisch.«

»Mein un­ge­kann­ter Weg ist viel­leicht an­ge­neh­mer und hoff­nungs­rei­cher, als ich er­war­tet hat­te«, sag­te Clen­nam, mit erns­tem Lä­cheln den Kopf schüt­telnd. »Ge­nug von mir. Hier ist das Boot!«

Das Boot war mit auf­ge­stülp­ten Hü­ten an­ge­füllt, ge­gen die Mr. Meagles eine na­tio­na­le An­ti­pa­thie hat­te. Die Trä­ger die­ser auf­ge­stülp­ten Hüte lan­de­ten und ka­men die Trep­pe her­auf, und die ein­ge­sperr­ten Rei­sen­den dräng­ten sich auf einen Hau­fen zu­sam­men. Dann brach­ten die auf­ge­stülp­ten Hüte eine Men­ge Pa­pie­re her­vor und ver­la­sen die Na­men, wor­auf un­ter­schrie­ben, ge­sie­gelt, ge­stem­pelt, über­schrie­ben und ge­san­delt5 wur­de, was al­les sehr ver­wisch­te, san­di­ge und un­ent­zif­fer­ba­re Re­sul­ta­te hat­te. End­lich war das Gan­ze nach der Ord­nung ge­sche­hen, und die Rei­sen­den konn­ten ge­hen, wo­hin sie woll­ten.

In der neu­en Freu­de der wie­der­ge­won­ne­nen Frei­heit küm­mer­ten sie sich we­nig um das star­re, grel­le Licht und den Glanz, der das Auge blen­de­te, son­dern fuh­ren in bun­ten Boo­ten über den Ha­fen und fan­den sich wie­der in ei­nem Ho­tel zu­sam­men, von dem die Son­ne durch ge­schlos­se­ne Lä­den ab­ge­hal­ten wur­de, und wo nack­te stei­ner­ne Bö­den, hohe De­cken und hal­len­de Kor­ri­do­re die glü­hen­de Hit­ze mä­ßig­ten. Bald war eine lan­ge Ta­fel in ei­nem großen Saal mit ei­nem köst­li­chen Mahl reich be­setzt, und die Qua­ran­tä­ne­her­ber­ge er­schi­en in­mit­ten die­ser üp­pi­gen Ge­rich­te, die­ser süd­li­chen Früch­te, die­ser ge­kühl­ten Wei­ne, die­ser Ri­vier­a­b­lu­men, des Glet­scher­schnees und der Spie­gel, die alle Far­ben des Re­gen­bo­gens wi­der­strahl­ten, in höchst dürf­ti­gem Licht.

»Aber ich tra­ge jetzt kei­nen Hass mehr ge­gen jene ein­tö­ni­gen Mau­ern im Her­zen«, sag­te Mr. Meagles. »Man be­ginnt sich im­mer mit ei­nem Ort zu ver­söh­nen, so­bald man ihn im Rücken hat; ich möch­te be­haup­ten, ein Ge­fan­ge­ner be­ginnt mild von sei­nem Ge­fäng­nis zu den­ken, wenn er frei­ge­las­sen ist.«

Es wa­ren un­ge­fähr drei­ßig Per­so­nen bei Tisch und alle mit­ein­an­der im Ge­spräch, na­tür­lich in Grup­pen. Va­ter und Mut­ter Meagles sa­ßen, mit ih­rer Toch­ter zwi­schen sich, am einen Ende des Ti­sches; ge­gen­über Mr. Clen­nam; ein großer fran­zö­si­scher Herr mit ra­ben­schwar­zem Haar und Bart, ge­bräunt und von un­heim­li­chem, ich will nicht sa­gen dia­bo­li­schem Aus­se­hen, der sich aber als der sanf­tes­te Mensch von der Welt er­wie­sen; und eine jun­ge hüb­sche Eng­län­de­rin, die ganz al­lein reis­te, mit ei­nem stol­zen be­ob­ach­ten­den Ge­sicht: sie hat­te sich ent­we­der selbst von den üb­ri­gen zu­rück­ge­zo­gen oder wur­de von ih­nen ge­mie­den – nie­mand, au­ßer viel­leicht sie selbst, konn­te dar­über ent­schei­den. Die üb­ri­ge Ge­sell­schaft be­stand aus den ge­wöhn­li­chen Ele­men­ten. Ge­schäfts- und Ver­gnü­gungs­rei­sen­de; be­ur­laub­te Of­fi­zie­re aus In­di­en; Kauf­leu­te, die nach Grie­chen­land und der Tür­kei Han­del trie­ben; ein jung ver­hei­ra­te­ter eng­li­scher Geist­li­cher in ei­ner eng an­lie­gen­den Zwangs­jop­pe, auf der Hoch­zeits­rei­se mit sei­ner jun­gen Frau; ein ma­je­stä­ti­sches eng­li­sches Ehe­paar von Pa­tri­zi­er­ge­schlecht, mit ei­ner Fa­mi­lie von drei her­an­wach­sen­den Töch­tern, die zum Un­heil ih­rer Mit­menschen ein Ta­ge­buch führ­ten; und eine tau­be alte Eng­län­de­rin, die mit ih­rer ent­schie­den er­wach­se­nen Toch­ter auf Rei­sen steif ge­wor­den. Die­se Toch­ter zog skiz­zie­rend durch die Welt, in der Hoff­nung, sich zu­letzt selbst in den Ehe­stand hin­ein­zu­schat­tie­ren.

Die zu­rück­hal­ten­de Eng­län­de­rin nahm Mr. Meagles’ letz­te Be­mer­kung auf und sag­te lang­sam und mit ei­ner ge­wis­sen Be­to­nung: