Knochengrab - Ellison Cooper - E-Book

Knochengrab E-Book

Ellison Cooper

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Beschreibung

Sie sieht die Schwärze unserer Seele – Der zweite Fall für Neurowissenschaftlerin und FBI-Agentin Sayer Altair Im Shenandoah Nationalpark wird eine Grube mit menschlichen Knochen entdeckt. Das Alter der Knochen: fast 20 Jahre. Als dort außerdem zwei Leichen gefunden werden, die erst wenige Tage in der Grube liegen, wird aus dem Cold Case ein aktueller Fall. Eine erste Spur führt zu einer Mutter und ihrer Tochter, die vor kurzem in der Gegend verschwunden sind. Hängen die beiden Fälle miteinander zusammen? Senior Special Agent Sayer Altair vom FBI, nach einer Schussverletzung zum Schreibtischdienst gezwungen, darf endlich wieder ermitteln. Dabei wird sie immer wieder von Sabotageversuchen aus Washington gestört, aber Sayer lässt sich nicht aufhalten.

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Knochengrab

Die Autorin

Ellison Cooper promovierte in Anthropologie. Sie spezialisierte sich dabei im Bereich kulturelle Neurowissenschaften und Archäologie. Ihre wissenschaftlichen Publikationen erschienen in zahlreichen anerkannten Zeitschriften. Sie studierte außerdem Jura an der Georgetown University und arbeitete als Mordermittlerin beim Washington, D.C. Public Defender Service, wo sie Einblick in das System der Kriminaljustiz erhielt. Mit ihrem Mann und ihrem Sohn lebt sie in der San Francisco Bay Area.Von Ellison Cooper ist in unserem Hause bereits erschienen:Todeskäfig

Das Buch

Senior Special Agent Sayer Altair vom FBI weiß, wie Mörder denken. Sie beherrscht ihren Job wie keine andere. Doch die Ermittlungen im letzten Fall haben Sayer an ihre Grenzen gebracht: Sie wurde in einer Schießerei schwer verletzt und war monatelang an den Schreibtisch gefesselt. Als ein Polizeihund im Shenandoah Nationalpark ein Massengrab aufspürt, werden alle Einsatzkräfte gebraucht, und Sayer darf endlich wieder ermitteln. Schnell wird klar, dass die Knochen bereits viele Jahre in der Grube liegen, zwei Leichen jedoch erst wenige Tage alt sind. Als Sayers Kollegin, die Rechtsmedizinerin Dana Wilbanks, die Toten im UV-Licht untersucht, findet sie eine mit Speichel geschriebene Botschaft auf einem der beiden Körper: »Helft uns«. Die DNA-Spur führt zu einer Mutter und ihrer Tochter, die in der Gegend entführt wurden. Sayer sucht fieberhaft nach einer Verbindung zwischen den Fällen, um Frau und Kind zu retten. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt …

Ellison Cooper

Knochengrab

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Sybille Uplegger

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Deutsche Erstausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Januar 2020© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020© 2019 by Ellison CooperPublished by Arrangement with Ellison CooperTitel der amerikanischen Originalausgabe: Buried(Minotaur Books, St. Martin’s Press, New York)Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, München (Wald + Schrabbel); © Reilika Landen / arcangel images (Frauenkörper); © Joana Kruse / arcangel images (Frauenkopf)Autorenfoto: © Michael SooE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-2137-0

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Turk Gap Trail, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Sayer Altairs Wohnung, Alexandria, Virginia

Shenandoah Nationalpark, Virginia

Shenandoah Nationalpark, Virginia

Shenandoah Nationalpark, Virginia

Südliche Rangerstation, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Anhörungssaal des Kongresses, Capitol Hill, Washington, D.C.

Südliche Rangerstation, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Unbekannter Ort

Südliche Rangerstation, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Unbekannter Ort

Südliche Rangerstation, Shenandoah Nationalpark, Virginia

FBI-Hauptquartier Quantico, Virginia

Sayers Wohnung, Alexandria, Virginia

Ezra Coens Wohnung, Quantico, Virginia

Straße zum Shenandoah Nationalpark, Virginia

Südliche Rangerstation, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Straße nach Charlottesville, Virginia

Unbekannter Ort

Charlottesville, Virginia

Unbekannter Ort

Historische Fakultät der University of Virginia, Charlottesville, Virginia

Psychologische Fakultät der University of Virginia, Charlottesville, Virginia

Anhörungssaal des Kongresses, Capitol Hill, Washington, D.C.

Südliche Rangerstation, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Sayers Wohnung, Alexandria, Virginia

Südliche Rangerstation, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Auf dem Weg zum Haus der Familie Watts, Charlottesville, Virginia

Unterwegs nach Quantico, Virginia

Südliche Rangerstation, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Die Grube

Südliche Rangerstation, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Die Grube

Danas Hütte, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Südliche Rangerstation, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Südliche Rangerstation, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Unterwegs zum County-Archiv, Rockfish Gap, Virginia

Universitätsklinikum, Charlottesville, Virginia

Südliche Rangerstation, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Büro von Senator DeWitt, Capitol Hill, Washington, D.C.

Skyline Drive, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Die Grube

Skyline Drive, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Lüftungsschacht

Südliche Rangerstation, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Unterirdischer Fluss

Südliche Rangerstation, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Unbekannter Ort

Südliche Rangerstation, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Haus von Hannah Valdez, Charlottesville, Virginia

Universitätsklinikum, Charlottesville, Virginia

Südliche Rangerstation, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Südliche Rangerstation, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Dark Hollow, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Universitätsklinikum, Charlottesville, Virginia

Südliche Rangerstation, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Unterwegs zum Haus von Kyle Nelson, Rockfish Gap, Virginia

Vor dem Haus der Familie Nelson, Rockfish Gap, Virginia

Südliche Rangerstation, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Erster Stock des Hauses der Familie Nelson, Rockfish Gap, Virginia

Südliche Rangerstation, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Universitätsklinikum, Charlottesville, Virginia

Südliche Rangerstation, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Universitätsklinikum, Charlottesville, Virginia

Südliche Rangerstation, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Charlottesville, Virginia

Universitätsklinikum, Charlottesville, Virginia

Südliche Rangerstation, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Südliche Rangerstation, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Sayers Hütte, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Die Grube

Wildcat Ridge, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Die Grube

Wildcat Ridge, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Die Grube

Bergwerkstunnel

Universitätsklinikum, Charlottesville, Virginia

Danksagung

Empfehlungen

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Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Turk Gap Trail, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Widmung

Für meinen Sohn Grayson, der mich jeden Tag aufs Neue lehrt, was es heißt, ein Leben in Kühnheit und Liebe zu leben.

 

Sayer Altairs Wohnung, Alexandria, Virginia

Die FBI-Agentin und Neurowissenschaftlerin Sayer Altair fuhr mit einem Ruck aus dem Schlaf hoch. Ihr Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen, und das Gefühl der Kugel, die in ihre Schulter eindrang, sandte eine Woge der Panik durch ihren Körper. Instinktiv griff sie nach der Pistole auf ihrem Nachttisch.

Doch statt Metall berührten ihre Finger etwas Kaltes, Nasses.

Schlagartig wach, stellte sie fest, dass ihr schlaksiger dreibeiniger Hund auf ihr lag und sie mit seiner feuchten Schnauze anstupste, weil er gestreichelt werden wollte.

»Mann, Vesper. Ich hätte gern noch ein bisschen länger geschlafen.«

Das Tier mit dem silbergrauen Fell ignorierte ihren Protest, stieß erneut gegen ihre Hand und grinste sie mit hängender Zunge an.

Sayer ärgerte sich, und nach dem Albtraum klopfte ihr Herz wie rasend, doch es war ein Ding der Unmöglichkeit, Vesper lange böse zu sein. Dazu war er einfach viel zu niedlich.

»Schon gut, schon gut, du verzogenes Vieh. Was willst du bloß machen, wenn ich wieder arbeiten gehe?«

In wenigen Tagen würde sie endlich in den aktiven Dienst zurückkehren, nachdem sie sechs qualvolle Monate lang zur Schreibtischarbeit verdammt gewesen war. Vesper hatte sich definitiv an ihre geregelten Arbeitszeiten gewöhnt.

Als er die gute Laune in ihrer Stimme hörte, wälzte er sich auf den Rücken, und Sayer kraulte ihm lachend den Bauch.

Die Schussverletzung an ihrer linken Schulter brannte mittlerweile nicht mehr wie Feuer, sobald sie den Arm bewegte, sondern machte sich meistens nur noch als dumpfes Ziehen bemerkbar, das sich gut aushalten ließ – sogar wenn sie mit einem zappelnden Hund kämpfte.

Nachdem der unmittelbare Schock des Erlebten überwunden und die Wunde verheilt war, hatte Sayer ihre Zwangspause durchaus genossen. Wenigstens hatte sie nun wieder Zeit, sich ihrer wissenschaftlichen Arbeit zu widmen. Als Neurobiologin beim Nationalen Zentrum für die Analyse von Gewaltverbrechen des FBI, kurz NCAVC, untersuchte sie die Gehirne von Serienmördern. Während sie in der Physiotherapie schwitzte und zahlreiche Psychotests über sich ergehen ließ, nutzte sie die Gelegenheit, ihr aktuelles Forschungsprojekt voranzutreiben und den bisherigen Stand ihrer Arbeit zu dokumentieren, damit sie mit der nächsten Phase, der Erforschung nicht straffällig gewordener Psychopathen, beginnen konnte. Ihr Ziel war es, anhand von Interviews und Gehirn-MRTs herauszufinden, weshalb einige Psychopathen eine Laufbahn als erfolgreicher Chirurg oder Anwalt einschlugen, während andere zu Serienmördern wurden.

Außerdem hatte sie die Auszeit dazu nutzen wollen, mehr über den mysteriösen Tod ihres Verlobten Jake in Erfahrung zu bringen, doch darin war sie leider auf ganzer Linie gescheitert. Sie wusste nach wie vor nur, dass er während eines Einsatzes ums Leben gekommen war – und dass die offizielle Version der Ereignisse nicht den Tatsachen entsprach.

Obwohl sie sich freute, endlich den nächsten Schritt in ihrem Projekt in Angriff nehmen zu können, fehlte Sayer der Kontakt zu ihren Kollegen. Ihr fehlte die aktive Ermittlungsarbeit.

»Sayer, bist du schon wach?«, rief Adi aus dem Wohnzimmer. Sayer erschrak. Obwohl das achtzehnjährige Mädchen nun schon seit mehreren Monaten bei ihr lebte, vergaß Sayer manchmal immer noch, dass sie nicht allein war. »Du kommst schon wieder im Fernsehen«, fügte Adi mit deutlich hörbarer Belustigung hinzu.

»Mist.« Sayer machte sich von Vesper los, schob den Stapel Akten über Jake beiseite und wankte schlaftrunken ins Wohnzimmer.

Adi Stephanopolous saß, eine Strähne ihres verblassten pinkfarbenen Haares zwischen den Fingern zwirbelnd, auf dem Futon. Sie hatte eine Tasse Kaffee in der Hand und ein dickes Lehrbuch auf den Knien. Ihre Lider waren halb geschlossen, doch Sayer wusste, dass in den Tiefen ihrer braunen Augen all die typischen widerstreitenden Gefühle eines Teenagers brodelten.

Im Fernsehen ließ gerade eine aufgedrehte blonde Nachrichtensprecherin ihre makellos weißen Zähne blitzen. »FBI-Agentin Sayer Altair mag den Korruptionsskandal innerhalb ihrer Behörde aufgedeckt haben – aber wer weiß, ob sie selbst eine weiße Weste hat?«

Neben ihr saß ein Mann im Anzug und mit kantigem Kinn, der eindringlich nickte. »Da sprichst du einen wichtigen Punkt an, Bethany. Ist Agent Altair eine Heldin, oder steht sie emblematisch für die Kultur der Korruption, die sie zu enthüllen vorgab?«

Sayer stakste zum Fernseher und schlug mit der flachen Hand auf den Aus-Knopf.

»Hey!«, protestierte Adi und setzte sich auf.

»Das reicht.«

»Aber sie wollten noch darüber reden, wie du vor einer Million Jahren mal einem Journalisten eine geknallt hast.« Adi grinste frech.

Adi nahm das Gerede in den Medien nicht ernst, denn niemand wusste so gut wie sie, was Sayer hinter sich hatte – und dass sie beim Versuch, Adi zu retten, beinahe ums Leben gekommen wäre.

Sechs Monate zuvor war Sayer einer äußerst umtriebigen Serienmörderin innerhalb des FBI auf die Schliche gekommen – eine Frau, die Adi verschleppt und sowohl Sayer als auch Vesper durch Schüsse schwer verletzt hatte. Der Kongress hatte einen Untersuchungsausschuss einberufen, um die Vorfälle aufzuarbeiten und nach den Schuldigen zu suchen. Ein Killer in den Reihen des FBI bedeutete, dass nun die gesamte Behörde am Pranger stand, und halb Quantico befand sich im Ausnahmezustand, weil der Ausschuss Hunderte alter Fälle durch unabhängige Sachverständige prüfen ließ.

Sayer nahm ihr Handy und marschierte in die Küche, um sich erst mal einen Kaffee zu holen. Sobald sie eine ausreichende Dosis Koffein im Blut hatte, würde sie sich diese verfluchte Nachrichtensprecherin zur Brust nehmen.

Sie griff nach der Kaffeekanne. Sie war noch warm – aber leer. Mit einem missmutigen Knurren nahm sie die Kaffeedose und schüttelte sie.

»Hast du den letzten Kaffee aufgebraucht?«, rief sie laut.

»Ups, sorry!«, kam es zurück.

Sayer starrte auf ihre leere Tasse und atmete einmal tief durch. Dann marschierte sie zurück ins Wohnzimmer und schnurstracks zur Wohnungstür hinaus, wobei sie Adi einen vielsagenden Blick zuwarf.

Unten im Garten saß ihr Nachbar Tino de la Vega, der im Erdgeschoss wohnte und mit dem sie sich gewissermaßen das Sorgerecht für Vesper teilte. Vesper überholte sie auf der Treppe, um seinem Herrchen einen guten Morgen zu wünschen.

»Mein allerliebster Lieblingshund!« Der stämmige Mann mit Drahtbrille und struppigem Schnauzbart strahlte über das ganze Gesicht, ehe er Vesper die Ohren zu kraulen begann. »Na, wie geht es dir an diesem schönen …« Er verstummte jäh, als er Sayer im roten Flanellpyjama und mit wilder brauner Lockenmähne die Stufen herunterkommen sah.

»Kaffee?« Sie streckte ihm auffordernd ihren leeren Becher entgegen.

Er lachte. »Na, du bist ja ein richtiger Sonnenschein heute Morgen.«

Sayer zog finster die Brauen zusammen. »Dieser Satansbraten, den ich aus der Güte meines Herzens heraus in meinem Heim aufgenommen habe, hat meinen letzten Kaffee aufgebraucht und es nicht mal für nötig befunden, mir zu sagen, dass wir neuen kaufen müssen. Darf ich sie jetzt gleich ermorden, oder muss ich warten, bis ich Kaffee intus habe?«

»Ich glaube, die richtige Reihenfolge lautet: erst Kaffee, dann Mord. Es ist gerade eine frische Kanne fertig.«

Sie verschwand in Tinos gemütlichem Apartment und schenkte sich Kaffee ein. Dann kam sie wieder nach draußen. Mit dem Becher in der Hand ließ sie sich vorsichtig auf einen der Stühle am Gartentisch sinken. Die klare Herbstluft und das weiche Morgenlicht verliehen dem Garten etwas Märchenhaftes.

Der wunderschöne Anblick sowie das nussige Aroma des Kaffees trugen dazu bei, Sayers Mordlust ein wenig zu besänftigen.

Sie musterte ihren Nachbarn über den Tisch hinweg. Nach seinem Ausscheiden beim Militär war Tino als Küchenchef erfolgreich gewesen, aber dann hatte er irgendwann festgestellt, dass er schwul war, die Scheidung eingereicht und seinen Job gekündigt. Nun steckte er – so zumindest Sayers Interpretation der Sachlage – bis zum Hals in einer Midlife-Crisis und verbrachte den Großteil seiner Tage damit, im Garten zu arbeiten, sich um Vesper zu kümmern oder Bücher zu lesen, während er nach einer sinnvollen Lebensaufgabe suchte.

»Interviewst du gleich wieder einen deiner Verrückten?«, erkundigte er sich mit einem Anflug von Missbilligung in der Stimme.

Sayer schüttelte den Kopf. »Heute Morgen nicht. Mein nächstes Gespräch ist erst am Abend.« Sie wollte noch mehr sagen, wurde aber vom Klingeln ihres Handys unterbrochen.

Sie ignorierte es.

»Willst du nicht drangehen?«

»Das ist bloß wieder irgendein Reporter«, sagte Sayer und beugte sich über ihren Kaffeebecher.

Das Handy verstummte, nur um kurz darauf erneut loszuklingeln.

»Es könnte deine Großmutter sein«, meinte Tino mit hochgezogenen Augenbrauen. Selbst er, ein ehemaliger Verhörspezialist, wusste, dass mit Sayers Nana nicht zu spaßen war.

Mit einem leidgeprüften Seufzer nahm Sayer ihr Handy vom Tisch.

»Scheiße, es ist Holt!« Hastig ging sie ran. Vesper, der die Anspannung in ihrer Stimme wahrgenommen hatte, sprang erregt auf.

»Sayer«, blaffte die stellvertretende Direktorin des FBI, Janice Holt, in dem ihr eigenen barschen Ton. Als Leiterin der Critical Incident Response Group CIRG, der zentralen Krisen-Interventions-Einheit des FBI, und Chefin von Quantico war sie eine knallharte Frau – und stolz darauf, innerhalb der Behörde als alter Drachen verschrien zu sein.

Die vertraute Stimme zauberte Sayer ein Schmunzeln ins Gesicht. »Stellvertretende Direktorin Holt.«

»Sie haben einen neuen Fall.«

»Schon? Ich dachte, ich fange erst nächste Woche an.«

»Nein. Wegen dieses lächerlichen Untersuchungsausschusses herrscht bei uns akute Personalknappheit, und ich habe hier einen Wisch auf meinem Schreibtisch liegen, der besagt, dass Sie offiziell für den aktiven Dienst zugelassen sind. Es wird Zeit, sich wieder aufs Pferd zu schwingen. Einer unserer Agenten ist im Shenandoah Nationalpark in eine Grube voller menschlicher Skelettreste gestürzt. Sieht ganz nach dem Ablageort eines Mehrfachmörders aus. Die Parkverwaltung hat uns angerufen, ich habe bereits ein Team von der Spurensicherung und eine Rechtsmedizinerin losgeschickt. Die werden sicher eine ganze Weile brauchen, um sämtliche Knochen zu bergen, trotzdem will ich, dass Sie unverzüglich aufbrechen. Sie leiten die Ermittlungen.«

»Skelettreste … Weiß man schon, wie viele Tote es sind und wie lange sie in der Grube gelegen haben?«

»Noch nicht. Unser Agent Maxwell Cho erwartet Sie am Südeingang des Parks. Er wird Sie hinbringen und mit allen nötigen Informationen versorgen.«

Sayer versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Das ist ein Cold Case, oder?«

»Vermutlich.« Die stellvertretende Direktorin seufzte. »Hören Sie, ich weiß, dass Sie es kaum erwarten können, wieder loszulegen, aber ich möchte, dass Sie es erst mal ruhig angehen lassen – mit einem Fall, bei dem niemand auf Sie schießt. Ich sage den Leuten von der Datenanalyse, sie sollen Ihnen die Akte schicken. Aller Augen sind auf uns gerichtet, verbocken Sie es also nicht.« Mit diesen Worten legte Holt auf.

Sayer blinzelte verdutzt angesichts der plötzlichen Stille in der Leitung.

»Klingt so, als wärst du wieder im Dienst?«, fragte Tino, der aus seinem Unmut keinen Hehl machte.

»Agent Altair meldet sich zum Einsatz.« Sayer kippte ihren letzten Schluck Kaffee herunter, dann lief sie nach oben, um sich anzuziehen.

 

Shenandoah Nationalpark, Virginia

Sayer legte sich mit ihrem alten Motorrad in die Kurve, als sie vom Highway 64 auf den Skyline Drive abbog. Sie fuhr noch einige Meilen weiter die schmale, holprige Straße entlang, bis sie den Eingang des Shenandoah Nationalparks erreicht hatte. Die Vormittagssonne drang durch die herbstlich gefärbten Kronen der Bäume, sodass es aussah, als ob der Himmel in Flammen stünde.

Sie ließ ihre Silver Hawk ausrollen und hielt vor der Rangerstation neben einer niedrigen Steinmauer. Sie nahm den Helm ab und freute sich über die kühle Bergluft in ihrem Gesicht. Nach all den Monaten der Schreibtischarbeit tat es gut, wieder draußen zu sein.

Auf der Mauer saß ein mittelgroßer Mann in Outdoorbekleidung. Zu seinen Füßen lag ein großer schwarzer Hund.

»Ah, Senior Special Agent Altair. Ich kenne Sie aus dem Fernsehen.« Der Mann sprang von der Mauer, trat auf sie zu und streckte ihr die Hand zum Gruß hin. Trotz seines warmherzigen Lächelns erkannte sie sofort, dass er früher beim Militär gewesen sein musste; das verrieten sein wettergegerbtes Gesicht, das breite Kreuz und die raspelkurz geschnittenen schwarzen Haare.

Sayer lächelte ein wenig verkrampft, während sie ihm die Hand schüttelte. In den letzten Monaten war sie sehr oft in den Nachrichten zu sehen gewesen. Allmählich fragte sie sich, ob sie sich jemals wieder unerkannt in der Öffentlichkeit würde bewegen können. Der einzige Vorteil der permanenten Medienpräsenz bestand darin, dass sich inzwischen niemand mehr wunderte, wenn sie, eine dunkelhäutige Frau Mitte dreißig, sich als FBI-Agentin vorstellte.

»Und Sie müssen der Agent sein, der den Tatort gefunden hat«, erwiderte sie.

»In den Tatort gestürzt ist, trifft es wohl eher. Ich bin Max Cho von der Hundestaffel.« Sein Hund stand achtsam neben ihm. »Das hier ist Kona, meine Leichenspürhündin. Streng genommen gebührt ihr das Lob, sie hat die Knochen gefunden.« Er legte dem Tier sanft eine Hand auf den Kopf. »Stellen Sie Ihre Maschine ruhig hier ab, wir fahren dann in meinem Truck weiter.«

Die amerikanische Flagge, die über der Rangerstation gehisst war, flatterte in einem plötzlichen Windstoß. Sayer sah sich um und nahm erstaunt die dunkle Wolkenwand zur Kenntnis, die sich in der Ferne langsam über den blauen Himmel schob. Ein Unwetter braute sich zusammen. Als sie in Max’ Truck stieg, überkam sie ein unangenehmes Kribbeln.

»Also. Die stellvertretende Direktorin Holt meinte, Sie arbeiten für das Büro in D.C. Was haben Sie und Kona heute Morgen hier draußen gemacht?«, erkundigte sie sich, als sie sich auf die Fahrt in die Berge machten.

»Eigentlich ist heute mein freier Tag. Ich wollte eine schöne Wanderung zum Turk Mountain machen und dann nach Rockfish Gap fahren, um meine Mutter zu besuchen.«

»Tja, so viel dazu …« Sayer kraulte Kona zwischen den Ohren. Vesper wäre ausgeflippt vor Freude, die große schwarze Hündin jedoch ließ die Streicheleinheiten regungslos über sich ergehen und blickte, die breite Brust vorgereckt, stoisch geradeaus.

Max lachte leise. »Tut mir leid, sie verhält sich nicht wie ein normaler Hund. Sie ist das spaßbefreiteste Tier, mit dem ich je gearbeitet habe.«

Sie verließen den Skyline Drive und gelangten auf etwas, das man nur mit sehr viel Höflichkeit als Straße bezeichnen konnte – und Höflichkeit war nicht Sayers Stärke. Max hatte den Blick aufmerksam nach vorn gerichtet und hielt das Lenkrad fest in der Hand, damit der Truck auf dem losen Schotter nicht ins Schlingern geriet. Fast hätte Sayer gelacht, so ähnlich waren sich Max’ und Konas ernste Mienen.

»Dann sind Sie hier in der Nähe aufgewachsen?«

»Genau. Ich stamme aus Rockfish Gap. Sie sind auf dem Weg hierher durchgefahren.«

»Ich bin durch eine Ortschaft gefahren?«

Max nickte bedächtig. »Na ja, eigentlich ist es eher ein Pickel am Berghang als eine richtige Ortschaft.«

»Wissen Sie von irgendwelchen Vermissten hier aus der Gegend, von denen die Skelettreste stammen könnten?«

»Im Laufe der Jahre sind immer mal wieder Leute im Park verschwunden – aber nichts in dieser Größenordnung.«

»Wie alt könnten die Knochen denn sein? Ich meine, kann Kona beispielsweise auch zehn Jahre alte Überreste erschnüffeln? Oder sogar noch ältere?«, wollte Sayer wissen.

Max warf seiner Hündin einen liebevollen Blick zu. »Bei ihrer letzten Prüfung hat Kona einen einzelnen, dreißig Jahre alten menschlichen Wirbelknochen aufgespürt, der sechzig Zentimeter tief in der Erde vergraben war. Ich habe sogar schon von Hunden gehört, die zweihundert bis dreihundert Jahre alte Überreste finden können.«

»Beeindruckend.«

Sie fuhren über eine Bodenwelle und wurden in die Höhe geschleudert. Sayer stieß gegen die Decke der Fahrerkabine und rieb sich den Kopf.

»Tut mir leid, das hier sind alte Bergbaustraßen. Ich werde einen Ranger bitten, heute Nachmittag mit einer Planierraupe herzukommen und die Straße zu glätten.«

Sayer gab einen zustimmenden Laut von sich.

Während sie weiter den Berg hinaufholperten, schmunzelte Max. Ihm schien die Herausforderung Spaß zu machen, zwei Tonnen Stahl über eine Buckelpiste zu lenken.

Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt, als sie neben mehreren SUVs vom FBI, Trucks der Parkverwaltung und dem Van der aus Quantico herbeorderten Kriminaltechniker parkten.

Max reichte Sayer einen Regenponcho und ein Paar Handschuhe. »Sie wollen ja bestimmt nicht, dass Ihre Bikerjacke was abkriegt.«

Mit einigem Bedauern zog Sayer ihre bordeauxrote Lederjacke aus und streifte stattdessen den dünnen Plastikponcho über ihr T-Shirt. Zu dumm, dass sie nicht daran gedacht hatte, wetterfeste Kleidung mitzubringen. Sie war nicht gerade ein Naturkind. Wenigstens hatten ihre Stiefel Gummisohlen.

Max und Kona sprangen aus dem Truck. Ihnen schien die nasskalte Witterung nicht das Geringste auszumachen. Im Gegensatz zu Sayers knallgrünem Poncho sah Max’ dicke Jacke warm und behaglich aus. Er und seine Hündin bewegten sich in perfektem Einklang.

Mit einem ergebenen Seufzer wagte auch Sayer sich in den kalten Nieselregen hinaus. Schon nach kürzester Zeit klebte ihr der Poncho am Körper, und sie begann zu frösteln. Immerhin: Die Handschuhe, die Max ihr gegeben hatte, hielten warm. Ihr Gürtel mit Pistole und Taschenlampe fühlte sich ungewohnt schwer an. Sechs Monate waren eine lange Zeit.

»Es sind nur ein paar Hundert Meter in diese Richtung«, rief Max ihr mit irritierender Munterkeit zu.

In Sayer machte sich eine gewisse Besorgnis breit. Die meisten Labors in Quantico taten nach wie vor ihren Dienst, aber die rechtsmedizinische Abteilung war komplett stillgelegt worden, während der Untersuchungsausschuss des Kongresses die Strukturen innerhalb des FBI unter die Lupe nahm. Sie hatte keine Ahnung, wen man ihr geschickt hatte. Virginia verfügte über ein eigenes rechtsmedizinisches Institut, vielleicht war es also jemand aus der Gegend? Der Rechtsmediziner konnte für die Lösung eines Falls von entscheidender Bedeutung sein, und Sayer hoffte inständig, dass man ihr keinen Neuling aufs Auge gedrückt hatte.

»Und?«, rief sie Max zu. »Wie sieht die Umgebung aus? Irgendwas in der Nähe?«

Max und Kona verlangsamten ihre Schritte, damit Sayer aufholen konnte. Zu dritt gingen sie weiter. »Sie sind über den Skyline Drive gekommen, der führt etwa hundert Meilen am Gebirgszug entlang, von Rockfish Gap bis nach Front Royal.« Max führte Sayer ins dichte Unterholz. »Wir sind zwar nur ein paar Stunden von D.C. entfernt, aber hier draußen gibt es jede Menge unberührte Natur. Wenn Sie den Skyline Drive noch ein Stück weiterfahren, sind es teilweise dreißig oder vierzig Meilen bis zur nächsten Straße.«

»Zieht!«, ertönte plötzlich ein lauter Ruf von vorn.

Instinktiv flog Sayers Hand an ihre Pistole. Max hob fragend die Augenbrauen. Erst jetzt merkte sie, wie nervös sie war – wahrscheinlich vor Aufregung, weil es ihr erster Tag war. Oder was auch immer. Sie ließ die Hand wieder sinken und tat so, als hätte sie Max’ Blick nicht bemerkt.

Gleich darauf kamen sie auf eine kleine Lichtung. Dort mühten sich gerade vier uniformierte Ranger mit einer blauen Plastikplane ab, die sie über ein großes Loch im Boden zu spannen versuchten. Durch den starken Wind blähte sich die Plane immer wieder wie ein Segel, sodass die vier Schwierigkeiten hatten, sie unter Kontrolle zu bringen.

Eine große, stämmige Frau in zerknitterter Rangeruniform stand daneben und rief ihren Kollegen Anweisungen zu. Sie war so groß, dass ihr Oberkörper leicht zur Seite geneigt war, so als beuge sie sich unter der Last ihres eigenen Körpergewichts. »Will, du musst das höher festbinden! Lydia, zieh die Ecke weiter nach links!«

Einem der Ranger wurde es zu bunt. »Piper, wenn du nicht helfen willst, dann sei einfach still!«

Die Frau machte ein leicht betretenes Gesicht, ehe sie sich zu Max und Sayer umdrehte. Die fleischige Hand zum Gruß ausgestreckt, kam sie in ihre Richtung gestapft. Von der breiten Krempe ihres braunen Hutes tropfte Wasser. Mit ihren Pausbacken, der hellen Haut voller Sommersprossen, den strohigen rotblonden Haaren und ihrer kräftigen Statur sah sie aus wie ein Footballspieler mit dem Gesicht eines Babys. Sie winkte Max freundlich zu, ehe sie sich an Sayer wandte. »Piper MacLaughlin, zu Ihren Diensten.« Sie kniff beim Lächeln die Augen zusammen. »Ich bin Ihre Ansprechpartnerin bei der Parkverwaltung. Sie müssen Senior Special Agent Altair sein.«

»Freut mich, Rangerin MacLaughlin.«

Die Frau lachte kurz auf. »Ach was, nennen Sie mich einfach Piper.«

»Freut mich, Piper. Sie beide kennen sich schon?« Sayer sah zwischen Max Cho und der hünenhaften Rangerin hin und her.

»Piper ist so was wie eine Institution hier im Park. Wie lange arbeitest du schon hier – zwanzig Jahre?«, fragte Max.

»Erst sechzehn«, antwortete Piper.

»Jedenfalls länger als jeder andere Ranger. Sie kennt sich aus.«

»Der Wald ist mein Zuhause.« Piper ließ den Blick voller Zuneigung in die Runde schweifen, als handle es sich bei den Bäumen um ihre liebsten Freunde.

Nachdem sie Piper und Max kennengelernt hatte, keimte in Sayer die Frage auf, ob wohl alle Menschen in den Bergen von Virginia so fröhlich und ausgeglichen waren. »Also, was können Sie beide mir erzählen?«

»Das ist wirklich eine irre Geschichte, oder?« Piper führte die beiden unter die Plastikplane, die ihre Kollegen mittlerweile festgezurrt hatten. »Wir sind noch bei den Vorbereitungen, aber die Planen müssten bald aufgespannt sein. Ihr Team von der Spurensicherung ist schon unten in der Höhle.« Sie deutete in Richtung des Lochs.

Sayer reckte den Hals, um einen Blick hineinzuwerfen, und sah eine Strickleiter, die nach unten in die Finsternis führte.

Max hielt sie mit ausgestrecktem Arm zurück. »Gehen Sie lieber nicht zu nah ran, sonst stürzt vielleicht noch mehr ein.«

Sayer wich einen halben Schritt zurück und beäugte den felsigen Untergrund, auf dem sie standen. »Ich habe den Eindruck, als wären wir hier fernab jeder Zivilisation. Hier kommt man doch nicht zufällig vorbei. Was meinen Sie, könnte derjenige, der die Leichen da unten abgelegt hat, hier aus der Gegend stammen?«

Piper machte ein nachdenkliches Gesicht. »Wäre schon möglich. Hier, ich zeige Ihnen, auf welchem Weg die Skelette in die Höhle gelangt sind.« Sie führte sie zu einem flachen Felsvorsprung etwa sieben Meter von der Einsturzstelle entfernt. Die Gerätschaften an ihrem Gürtel klapperten, als sie nach unten sprang. »Sie müssen hier runterkommen, sonst sehen Sie es nicht.«

Sayer folgte ihr. Am Fuß des Vorsprungs befand sich im Fels ein horizontaler Spalt.

»Sehen Sie?« Piper leuchtete mit ihrer Taschenlampe in die schmale Öffnung. »Wer auch immer die Leichen hier abgelegt hat, muss sie durch diesen Spalt geschoben haben.«

Max beugte sich vor und stieß einen Pfiff aus. »Wie die Buchrückgabe in einer Bibliothek – der perfekte Mordopfer-Abgabe-Schlitz.«

Sayer runzelte die Stirn und blickte sich um. So weit das Auge reichte, nichts als Felsen und Bäume. Sie zog ihre Gebets­perlen aus Bernstein aus der Hosentasche, um ihren Fingern etwas zu tun zu geben, während sie nachdachte. Ursprünglich waren die Perlen ein Geschenk ihres Vaters gewesen. Sie halfen ihr dabei, sich besser zu konzentrieren.

»Gibt es hier viele solcher Hohlräume?«, erkundigte sie sich.

»Aber klar doch«, antwortete Piper mit einem verschmitzten Grinsen. »Ideal für Käseliebhaber.« Sie breitete die Arme aus und deutete in die Umgebung.

»Ich verstehe nicht ganz …«

»Na ja, das Gebiet hier ist voller Löcher. Verstehen Sie? Wie ein Schweizer Käse …«

Max schnaubte.

Sayer schürzte die Lippen.

»’tschuldigung.« Piper räusperte sich. »Ja, die ganze Gegend besteht aus Karst, porösem Kalkstein mit ein paar Graniteinschlüssen. Im Laufe der Zeit spült das Wasser das weichere Gestein weg, dadurch sind zahlreiche unterirdische Höhlen entstanden. Einige davon sind so groß wie Kathedralen. Wir haben sogar unterirdische Flüsse, unterirdische Seen – alles, was das Herz begehrt.«

Sayer drehte sich einmal um sich selbst. »Der Eingang hier kann doch nicht allzu weit von der Bergbaustraße entfernt sein. Wie viele Leute könnten darüber Bescheid wissen?«

Piper zuckte die Achseln. »Früher gab es an der Westflanke des Gebirges jede Menge Stollen. Die meisten Zugangsstraßen sind mittlerweile überwuchert, aber es wäre nicht schwer, sie wieder freizulegen. Jugendliche aus dem Ort nutzen sie manchmal, wenn sie hier oben feiern wollen. Insofern würde ich sagen, dass jeder sie kennt.«

»Unser Mörder war also aller Wahrscheinlichkeit nach jemand aus der näheren Umgebung. Aber könnte man die Leichen einfach mit dem Auto herbringen?« Sayer sah sich um. »Ich meine … mir kommt es hier doch ziemlich abgelegen vor.«

»Das wirkt vielleicht so, aber wie Sie eben sagten: Wir sind ganz in der Nähe der alten Straße und nur ein paar Hundert Meter vom Hauptwanderweg entfernt. Jeder Wanderer hätte zufällig auf die Höhle stoßen können. Außerdem befinden wir uns nah an der Parkgrenze, es wäre also nicht weiter schwer, aus dem Tal hier raufzukommen.« Piper deutete auf den sanft abfallenden Hügel. »Etwa fünfzehn Meilen Luftlinie westlich von hier gibt es einige kleinere Ortschaften.«

»Okay, Piper, da Sie unsere Ansprechpartnerin im Park sind, wäre es gut, wenn Sie die lokalen Polizeibehörden darüber in Kenntnis setzen würden, was wir hier gefunden haben. Und ich brauche eine Karte vom Gelände – möglichst eine, auf der die alten Bergbaustraßen verzeichnet sind.«

»Ich habe bereits alle entsprechenden Stellen informiert. In unserer Gegend verbreiten sich Neuigkeiten schnell, da ist es besser, der Gerüchteküche zuvorzukommen. Karten mit den alten Bergbaustraßen gibt es nicht, aber wenn ich ein paar Alteingesessene um Hilfe bitte, müsste es möglich sein, sie auf einer topografischen Karte einzuzeichnen«, bot Piper an.

»Ausgezeichnet.« Sayer nickte und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den schmalen Spalt im Fels. Sie rieb ihre Gebets­perlen. Der Spalt war etwa neunzig Zentimeter hoch und gut zwei Meter breit – die ideale Größe für einen menschlichen Leichnam.

»Also – dieser Spalt hier führt nach unten in die Höhle?« Sie bückte sich, um ihn genauer zu untersuchen. Aus der Öffnung wehte ihr warme, abgestandene Luft entgegen.

»Ja, Ma’am«, antwortete Piper. »Er ist wie eine Rutsche, nur flacher. Wahrscheinlich könnte man sich auf den Rücken legen und in die Höhle gleiten lassen, auch wenn ich das nicht empfehlen würde.«

»Irgendjemand muss aber da runter, allein schon, um sicherzugehen, dass keine Überreste mehr im Spalt festhängen.«

Piper nickte langsam. »Ich kann einen unserer Ranger runterschicken.«

»Ausgezeichnet«, sagte Sayer noch einmal. Dann nahm sie sich erneut einen Moment Zeit, die Umgebung zu inspizieren. Abgelegen, aber leicht zugänglich. Der Mörder hätte seine Leichen nur wenige Meter weit transportieren müssen. Jeder körperlich halbwegs gesunde Mensch wäre dazu in der Lage gewesen. »In Ordnung. Wie komme ich nach unten zu meinem Team?«

»Über die Strickleiter vorn«, antwortete Piper.

Sayer rang sich ein Lächeln ab, das wahrscheinlich eher wie eine Grimasse aussah. Sie steckte ihre Perlen wieder in die Hosentasche und fragte sich, was ihre Schulter zu einem Abstieg über eine Strickleiter sagen würde.

Sie kehrte zurück zur Einsturzstelle und wollte gerade nach unten klettern, als eine wütende Stimme durch den Wald schallte: »Maxwell Cho!«

Ein schlaksiger, rotgesichtiger Mann in adretter Polizeiuniform kam auf die Lichtung gestürmt und nahm Kurs auf Max. »Wo ist sie?«

»Kyle.« Max hob die Hände, als wolle er sich dem Neuankömmling ergeben. »Wir wissen noch nichts.«

»Ich weiß, dass ihr menschliche Überreste gefunden habt.« Der Polizist baute sich vor Max auf und zeigte mit dem Finger auf ihn, ehe er aufgebracht in der Luft herumfuchtelte. »Ist sie hier?«

Kona, die eine Bedrohung witterte, trat vorsorglich neben ihr Herrchen.

Sayer schob sich zwischen Max und den wutschnaubenden Mann.

»Ich bin Senior Special Agent Altair vom FBI. Und wer sind Sie?«

Der Mann war viel größer als Sayer und starrte über ihren Kopf hinweg weiterhin auf Max.

»Officer …?«, versuchte Sayer seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

Endlich riss er den Blick von Max los. Seine Nasenflügel bebten. »Ich bitte um Verzeihung. Kyle Nelson, Chief der Polizei von Rockfish Gap.« Mit festem Griff schüttelte er Sayer die Hand. In seinen Augen glomm es derart finster, dass sie beinahe erschauderte. Ein Zucken ging über sein längliches Gesicht, und er verzog den Mund. »Ich wollte wissen, ob meine Schwester gefunden wurde. Sie ist vor siebzehn Jahren verschwunden, und ich dachte, dass sie vielleicht … Und dann komme ich her, und wer schnüffelt am Tatort rum? Max Cho.« Kyle spie den Namen förmlich aus.

Sayer drehte sich zu Max um. Der hatte die Augen weit aufgerissen und eine Hand noch immer beschwichtigend erhoben, während er mit der anderen Konas Kopf tätschelte.

»Sie haben nichts von einem verschwundenen Mädchen erwähnt«, sagte sie.

Kyle Nelson schnaubte. »Das war ja klar.«

Die Atmosphäre zwischen Max und Kyle war spürbar feindselig. »Okay, ich habe keine Ahnung, was hier los ist, aber das ist nicht der richtige Ort, um es auszudiskutieren. Ich muss jetzt erst mal den Tatort begehen und die Spurensicherung anleiten, aber dann will ich mehr über die Angelegenheit hören. Chief Nelson, sobald wir unsere temporäre Einsatzzentrale eingerichtet haben, sollten Sie unbedingt zu mir kommen und mir alles über Ihre Schwester erzählen. Aber fürs Erste möchte ich Sie bitten, zurück in den Ort zu fahren.« Sie wandte sich an Max. »Hier stehen mehrere Ranger rum, die nichts zu tun haben. Max, Sie und Piper sorgen dafür, dass die Umgebung systematisch abgesucht wird. Sie sollen nach Abfall Ausschau halten und so weiter – nach irgendwelchen Anzeichen dafür, dass kürzlich jemand hier war. Zunächst reicht mir ein Radius von einer Meile.«

Der dünne, hoch aufgeschossene Polizeichef atmete geräuschvoll ein, als ringe er um Beherrschung. Max ließ die Hände sinken und nickte knapp.

»In Ordnung, Agent Altair. Ich entschuldige mich dafür, dass ich hier einfach so reingeplatzt bin.« Kyle neigte leicht den Kopf zur Seite. »Ich komme später zu Ihnen, und dann unterhalten wir uns. In der Zwischenzeit kann ich gerne einige meiner Kollegen herschicken, die Ihnen behilflich sind, wenn Sie möchten.«

»Danke für das Angebot. Ich muss mir erst mal einen Überblick über die Lage verschaffen. Ich sage Ihnen dann Bescheid, ob wir noch Unterstützung brauchen.«

Erneut neigte Kyle den Kopf, funkelte Max noch ein letztes Mal zornig an und entfernte sich. Am Rand der Lichtung warf er einen Blick zurück zum Einsturzloch. »Agent Altair, es könnte sein, dass Sie meine Schwester gefunden haben …«

Seine Wut war verraucht. Stattdessen sah Sayer einen Anflug von Trauer in seinen Augen.

»Schon verstanden«, sagte sie.

Er bat sie, respektvoll mit den Toten umzugehen.

Shenandoah Nationalpark, Virginia

Sayers Herz hämmerte noch von der Konfrontation zwischen Max und Kyle, als sie über die Sprossen der Strickleiter nach unten in die Höhle stieg. Das war genau das, was sie brauchte: Streit zwischen den lokalen Cops und einem ihrer Agenten.

Ein unangenehmes Ziehen ging durch das Narbengewebe an ihrer Schulter und ließ sie das Drama vergessen, das sich soeben oben abgespielt hatte. Sie atmete tief, ließ den Schmerz zu und versuchte, durch das Gefühl hindurchzugehen, so wie der Physiotherapeut es ihr geraten hatte. Doch statt langsam zu verschwinden, setzte sich der Schmerz in ihrer Schulter fest, und als sie unten wieder festen Boden unter den Füßen spürte, war er so stark, dass sie die Zähne zusammenbeißen musste.

Noch einmal holte sie tief Luft und schüttelte die Arme aus, um die Spannung zu lockern. Sie versuchte, sich in der Höhle umzusehen, wurde aber von Scheinwerfern geblendet, sodass sie im ersten Moment nichts anderes wahrnahm als das Prasseln des Regens auf der Plane hoch über ihrem Kopf.

»Sayer«, empfing sie eine scharfe Stimme.

Eine scharfe Stimme, die ihr wohlbekannt war.

»Dana?«

Eine wettergegerbte Frau Anfang fünfzig tauchte aus dem Dunkel auf. Die forensische Anthropologin und erfahrene Rechtsmedizinerin Dana Wilbanks, ebenso winzig wie hartgesotten. Und sie hatte noch immer dieselben strahlend grünen Augen und dasselbe schmallippige Lächeln wie bei ihrer letzten Begegnung vor mehreren Jahren. Als Sayers Verlobter Jake noch am Leben gewesen war, hatten sie zu dritt unzählige Stunden im Pub in der Nähe von Quantico verbracht.

Die zwei kleinen Totenschädel-Ohrringe an Danas großen Ohrläppchen schwangen heftig hin und her, als sie die Arme ausbreitete und Sayer drückte.

»Hat Holt dir nicht gesagt, dass ich hier bin?«

Sayer erwiderte die herzliche Umarmung. Obwohl die zierliche Frau ihr nur bis zur Schulter reichte, war ihr Griff erstaunlich fest. »Holt hat mir gesagt, es sei ein Rechtsmediziner vor Ort, aber ich hatte keine Ahnung, dass du es bist! Ich dachte, du bist noch im Kongo und exhumierst Leichen. Was machst du hier?«

Als weltweit führende Expertin für Massengräber hatte Dana dem FBI den Rücken gekehrt, um für die Vereinten Nationen zu arbeiten. Das Letzte, was Sayer von ihr gehört hatte, war, dass sie in der Demokratischen Republik Kongo dabei half, Kriegsverbrechen zu dokumentieren.

»Ich bin erst gestern zurückgekommen.« Dana zog ihre Handschuhe aus. Darunter kamen winzige, schwielige Hände zum Vorschein. »Nach all den Skandalen haben die Rechtsmediziner in Quantico wohl gerade anderes zu tun, deshalb hat Holt bei der UNO angerufen. Offenbar hatte sie noch was gut bei denen. Ich bin offiziell ans FBI ausgeliehen, bis der Untersuchungsausschuss abgeschlossen ist. Tja, und wie man sieht, konnte sie mir nicht mal einen einzigen freien Tag gönnen, ehe sie mir einen Fall aufs Auge drückt.« Sie tätschelte Sayer die Schulter. Im Gegensatz zu der kühlen Luft unter der Erde war ihre Hand angenehm warm. »Ich habe gehört, du hast dir eine Kugel eingefangen.«

»Nur eine kleine«, antwortete Sayer – ein Scherz, den sie bestimmt schon hundertmal gemacht hatte. Der FBI-Psychologe hatte gemeint, das hinge mit ihrem Bedürfnis zusammen, ihre Verletzung herunterzuspielen, damit bloß niemand auf die Idee kam, sie könne in irgendeiner Weise beeinträchtigt sein.

»Hey, angeschossen zu werden, ist kein Pappenstiel.« Dana durchschaute sie sofort. »Ich bin froh, dass es dir gut geht.«

Sayer nickte knapp. Sie wollte nicht weiter über das Thema reden. »Also, was hast du für mich?«

Dana musterte ihre alte Freundin einen Moment lang mit zusammengekniffenen Augen, als wolle sie abschätzen, ob es ihr wirklich gut ging. Dann wandte sie sich zur Höhle um. »Nun, meine Liebe, ich präsentiere dir … Knochen!«

»Nicht dein Ernst«, entgegnete Sayer trocken.

»Sogar mein vollster. Hier gibt es jede Menge Knochen – das ist meine fachfrauliche Meinung.«

Sayer bedachte sie mit einem Blick, wie um zu sagen Sehr witzig, und drehte sich einmal langsam im Kreis, wobei sie achtgab, nicht die kleine Freifläche zu verlassen, auf der sie standen. Dana hatte nicht übertrieben. Der Untergrund war fast vollständig mit Knochen bedeckt.

Wie bei forensischen Ausgrabungen üblich, war der Boden der etwa fünf mal fünf Meter großen Höhle mittels gespannter Schnüre in ein Netz aus gleich großen Quadranten unterteilt worden. Zwei Kriminaltechniker bewegten sich vorsichtig zwischen den Skelettresten hin und her und fotografierten jeden einzelnen Quadranten.

Danas Miene wurde ernst. »Der schieren Menge nach, und wenn man davon ausgeht, dass alle diese Knochen menschlichen Ursprungs sind, müssten wir es mit sechs bis sieben Opfern zu tun haben. Ganz ehrlich? Das hier ist das verwirrendste Massengrab, das ich je gesehen habe. Bei Weitem nicht das größte, aber definitiv das chaotischste. Die Knochen wurden massiv und wiederholt in Unordnung gebracht.«

»Wie meinst du das?«

»Es gibt keine erkennbare Stratigrafie.« Dana ging in die Hocke und zog eine kleine Kelle aus ihrer hinteren Hosentasche, mit der sie behutsam einen Röhrenknochen vom Boden auflas. »Normalerweise wird ein Massengrab ausgehoben, die Leichen werden reingeworfen und dann mit Erde zugeschüttet. Selbst wenn sie eine Weile in der Erde gelegen haben, kann man noch genau sagen, welche Knochen zusammengehören und in welcher Reihenfolge die Leichen ins Grab gelegt wurden. Aber hier ist alles vollkommen durcheinander. Siehst du?« Dana zeigte ihr die Kelle.

Sayer beugte sich nach vorn.

»Das hier ist ein Oberschenkelknochen, aber er ist viel zu lang, als dass er zu den Knochen in seiner unmittelbaren Fundumgebung gehören könnte. Ich muss sie noch genau ausmessen, wenn wir sie erst mal ins Labor geschafft haben, aber ich würde sagen, dass dieser Oberschenkelknochen aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer Person gehört hat, die eins fünfundachtzig oder größer war. Aber der Schädel direkt daneben stammt von einem eher zierlichen Menschen. Und dieses Beckenbein da sieht aus, als käme es von einer jungen Frau, vielleicht Anfang zwanzig. Sie liegen alle kreuz und quer und weisen außerdem erhebliche Schäden auf. Es ist, als hätte jemand ein paar Skelette auseinandergenommen, sie wahllos in einen Sack geworfen und dann in das Loch geschüttet. Allein die Dokumentation des Fundorts wird einen ganzen Tag in Anspruch nehmen.«

Dana fuhr sich frustriert mit der Hand durch ihr kurzes graues Haar. »Einen kleinen Lichtblick gibt es immerhin: Ich sehe keine Kinder.«

»Ich bin für jede positive Nachricht dankbar.« Sayer ließ die Szene auf sich wirken. Während ihr Blick über die Knochen glitt, stellte sie sich die Menschenleben vor, die ein jähes, gewaltsames Ende gefunden hatten. So viele Menschen, die nie die Chance bekommen hatten, alt zu werden. War Kyle Nelsons Schwester unter ihnen? »Und was könnte das zu bedeuten haben? Wurden alle Leichen zur selben Zeit hier runtergeworfen? Wurden sie woanders getötet und die Knochen dann hier abgelegt? Haben Tiere sie durcheinandergebracht?«

»Alles möglich. Was davon stimmt, weiß ich erst, wenn ich sie mir gründlicher angesehen habe. Nachdem wir hier alles dokumentiert haben, müssten wir morgen so weit sein, dass wir damit anfangen können, die Knochen zu exhumieren und nach oben zu schaffen. Das wird dauern.«

»Irgendeine Ahnung, wie lange die Knochen schon hier unten liegen?«

»Noch nicht. Ich sehe hier einige verwitterte Stofffetzen, ich hoffe, die können uns dabei helfen, den Hergang der Ereignisse zu rekonstruieren, oder wenigstens eine grobe Chronologie liefern, anhand derer sich weiterarbeiten lässt.« Plötzlich verstummte Dana. Irgendetwas schien sie stutzig gemacht zu haben.

»Was ist denn?« Sayer bemerkte die Unsicherheit ihrer Freundin.

»Na ja, ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich schon was dazu sagen sollte. Vielleicht ist es noch zu früh.«

»Wozu?«, hakte Sayer nach.

»Zu dem hier.« Mit der Spitze der Kelle deutete sie auf das Ende eines langen Knochens. »Siehst du, dass die Enden ganz glatt sind, fast wie poliert?«

Sayer kniff die Augen zusammen. »Wenn du das sagst.«

»Das bezeichnet man als pot polish.« Dana schüttelte sich, als bereite es ihr Unbehagen, den Begriff auszusprechen.

»Okay, und was bedeutet das?«

Dana seufzte. »Das Phänomen der pot polish wird in Fachkreisen kontrovers diskutiert. Es deutet darauf hin, dass diese Menschenknochen möglicherweise gekocht wurden, ehe man sie hier abgelegt hat. Die Knochen erhalten eine glatte, fast glänzende Oberfläche, weil sie in einem Kessel mit kochendem Wasser liegen und sich aneinander reiben. Solche Spuren werden fast immer als Hinweis auf Kannibalismus gedeutet.«

»Was?«, fragte Sayer schrill. »Hat hier ein Kannibale seine Essensreste entsorgt?«

»Nein. Deshalb war ich ja auch unsicher, ob ich es überhaupt erwähnen soll. Ich muss die Knochen erst analysieren, aber bisher sehe ich keine Anzeichen dafür, dass die Menschen geschlachtet und zerlegt wurden, so wie man es erwarten würde, wenn jemand sie gegessen hat. Es gibt keine für das Ausbeinen typischen Schnittmarken, und es wurde auch keiner der Knochen aufgebrochen, um an das Mark zu gelangen.«

»Sie wurden also gekocht, aber nicht gegessen … Worüber sind wir hier bloß gestolpert?«, rätselte Sayer laut, während sie den Blick erneut über den Boden der unterirdischen Kammer schweifen ließ.

Dana schwieg.

»Also gut.« Endlich fühlte sich Sayer bereit, in den aktiven Ermittlungsmodus umzuschalten. »Ich sorge dafür, dass Agent Cho die Umkreissuche organisiert. In einer halben Stunde komme ich wieder.«

Bevor sie ging, warf sie noch einen letzten Blick auf die Knochen. Sie trug jetzt die Verantwortung für sie, und die Last der vielen Menschenleben lag schwer auf ihren Schultern, als sie zurück ans Tageslicht kletterte.

Sobald Max und Piper mit den Rangern losgezogen waren, kehrte Sayer zu Dana und den Kriminaltechnikern zurück, die inzwischen bei den Fahrzeugen standen und kleine Pappkartons hinten in den Van luden.

»Man hat uns angeboten, die südlich gelegene Rangerstation als Einsatzzentrale zu nutzen. Ich schicke mein Team jetzt dorthin, um das Labor einzurichten«, sagte Dana über das immer heftiger werdende Rauschen des Regens hinweg. »Ich würde morgen gerne damit anfangen, die Knochen hochzuholen. Dafür brauchen wir eine sterile Umgebung, in der wir sie lagern können.«

»Sehr gut. Max und Piper suchen gerade die Umgebung ab.« Sayer warf Dana einen Blick zu. »Bist du sicher, dass du in der Rangerstation ohne ein voll ausgestattetes Labor arbeiten kannst?«

»Ja, ich durfte mir alle mobilen Gerätschaften ausleihen, die wir aus der Demokratischen Republik Kongo mitgebracht haben.« Dana trat von einem Fuß auf den anderen, um sich warm zu halten. »Die Rangerin meinte, die Station sei sehr weitläufig und hätte sogar einen kleinen Praxisraum – das wäre perfekt für meine Analysen. Die südliche Station ist offiziell nicht mehr in Betrieb, die Ranger nutzen nur noch die im Norden, wir haben also den gesamten Komplex für uns.«

Sayer sah Danas Team im Van davonfahren. »Perfekt. Das ist allemal besser, als wenn wir uns unten in Rockfish Gap zusammen in ein Haus quetschen müssten. Und was ist mit dir? Wolltest du dir den Fundort noch mal ohne dein Team ansehen?« Sayer schnitt eine Grimasse. Der Regen prasselte auf ihren Poncho, der – so kam es ihr wenigstens vor – rein gar nichts gegen die Wassermassen auszurichten schien.

Dana holte eine silberne Thermoskanne aus ihrer Tasche und bot sie Sayer an, während sie gemeinsam zurück zum Einsturzloch gingen. »Kaffee?«

Dankbar nahm Sayer die Flasche entgegen und trank einen Schluck. Sie seufzte wohlig, als sich die Wärme des Kaffees in ihrem Innern ausbreitete. »Du bist eine Göttin.«

»Da hast du recht. Und ja, ich möchte mir die Höhle gern noch mal in aller Ruhe anschauen. So kann ich mich vergewissern, dass ich keine wichtigen Hinweise übersehen habe. Gib mir nur noch einen kurzen Moment zum Nachdenken, in Ordnung?«

Sie hatten sich unter die Plastikplane zurückgezogen, und Sayer starrte hinaus in den Regen. Sie wusste, dass die Rechtsmedizinerin ihre ganz eigene Arbeitsweise hatte, und wartete geduldig ab. In kameradschaftlichem Schweigen standen sie da und lauschten den Geräuschen des Waldes. Der Regen trommelte rhythmisch auf die Plane über ihren Köpfen. Eichhörnchen sprangen raschelnd durchs Gehölz. Der melodische Ruf einer Walddrossel schallte durch die nassen Bäume.

Endlich unterbrach Dana ihr Zwiegespräch mit der Natur. »Also. Gehen wir noch mal runter und schauen uns das Ganze mit frischem Blick an.«

In dem Moment vernahmen sie über den strömenden Regen hinweg ein leises Gluckern.

»Hörst du das?«, fragte Sayer.

Dana legte den Kopf schief und spitzte die Ohren. »Ist das fließendes Wasser?«

Sayer versuchte, die Quelle des Geräuschs auszumachen. »Kommt das etwa aus der Höhle?« Sie leuchtete mit ihrer Taschenlampe nach unten. Tatsächlich: Ein kleines Rinnsal Wasser lief über den Höhlenboden.

Dana trat neben sie und verzog das Gesicht, als sie sah, wie die Knochen vom Wasser umspült wurden. Sie stöhnte leise. »Das erklärt dann wohl die pot polish.«

»Was?« Sayer sah sich um, weil sie verstehen wollte, woher das Wasser kam.

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Turk Gap Trail, Shenandoah Nationalpark, Virginia

Maxwell Cho genoss die erhabene Stille der Shenandoah Moun­tains. Selbst seine große Hündin Kona zügelte ihre sonst so unbändige Energie und trottete geräuschlos neben ihm her. Max atmete tief ein, legte den Kopf in den Nacken und blickte in der kühlen Morgensonne zu dem dichten Baldachin aus kupferfarbenen und goldenen Blättern auf.

»Ich glaube, der Herbst hat seinen Höhepunkt erreicht, mein Mädchen«, sagte der FBI-Agent leise, um den Zauber nicht zu stören. Er hatte sich seit Monaten auf einen freien Tag gefreut, und nun spürte er, wie nach und nach der Stress von ihm abfiel. Er liebte sein Leben im quirligen, lauten, dreckigen Washington, D.C., aber manchmal überkam ihn die Sehnsucht nach den Bergen.

Er wollte den steil ansteigenden Pfad weitergehen, als Kona plötzlich erstarrte und, die Nase in die Luft gereckt, aufgeregt zu schnüffeln begann.

Auch Max blieb regungslos stehen. Er vertraute seiner Hündin; außerdem waren in der Gegend jüngst einige Bären gesichtet worden.

»Was hast du denn, Kona?«

Sein Blick glitt über den Felsvorsprung, der Richtung Norden hinter den Baumwipfeln aufragte, dann über den dichten Wald im Osten.

Nichts zu sehen.

Plötzlich bellte Kona. Es war nicht das tiefe Wuff, das sie von sich gab, wenn sie der Spur eines Vermissten folgten, sondern ein kurzer, scharfer Laut. Ihre Rute stand waagerecht nach hinten ab. So zeigte sie an, dass sie eine Leiche gewittert hatte.

»Wir haben heute frei. Komm, lass uns weitergehen.« Er machte der Hündin ein Zeichen, ihm zu folgen, doch die bellte erneut und rührte sich nicht von der Stelle.

Als Spürhundeteam des FBI waren Max und Kona darauf spezialisiert, vermisste Personen zu finden – egal, ob tot oder lebendig. Und aus irgendeinem Grund schien Kona zu glauben, dass sie im Dienst waren.

Max seufzte. So viel zu dem Mittagessen bei seiner Mutter nach einer langen Bergwanderung. Wahrscheinlich stand sie schon in der Küche und bereitete ein Festmahl für ihn zu. Er mochte sich gar nicht ausmalen, was ihm blühte, wenn er absagte.

»Hast du Witterung aufgenommen?«

Kona bellte zum dritten Mal, und dann tat sie etwas, was Max in den vier Jahren ihrer Zusammenarbeit noch nie erlebt hatte: Sie fing an zu winseln.

Ein ungutes Gefühl ließ ihm die Haare im Nacken zu Berge stehen.

»Warte. Ich gebe das lieber mal durch, bevor wir uns hier auf eine wilde Querfeldeinjagd einlassen.«

Max zückte sein Handy und wählte.

»Shenandoah Nationalpark, wie kann ich Sie weiterverbinden?«, meldete sich eine Frau mit deutlich ausgeprägtem Südstaatenakzent.

Max erkannte die Stimme sofort. Er schwieg einen Moment und überlegte, wie er das Gespräch beginnen sollte. Er war in Rockfish Gap, einem kleinen Ort knapp zwanzig Meilen entfernt, aufgewachsen und kannte praktisch jeden aus der Gegend. Es gab einen guten Grund, weshalb er nach seiner Rückkehr aus dem Irak zum FBI gegangen war, statt in seiner Heimatstadt bei der Polizei anzufangen. Aber die Wunden der Vergangenheit durften ihn nicht daran hindern, seine Pflicht zu tun.

»Piper, hier ist Max Cho.«

»Max! Wie schön, deine Stimme zu hören. Wie geht’s dir? Bist du in der Stadt, um deine Mutter zu besuchen?«

»Ja, wir sind später noch verabredet. Aber eigentlich rufe ich an, um etwas zu melden. Ich bin auf dem Wanderweg zum Turk Mountain unterwegs, und meine Leichenspürhündin hat gerade angeschlagen.«

»Ach du liebe Zeit, ist das einer dieser Hunde, die Tote erschnüffeln? Soll das heißen, da oben im Wald liegt eine Leiche?«

»Möglich. Irgendwas muss sie jedenfalls gewittert haben, ich habe noch nie erlebt, dass sie falschen Alarm gegeben hätte. Gibt es irgendwelche Vermisstenmeldungen bei euch?«

Max gebot Kona mit der flachen Hand, sich nicht vom Fleck zu rühren. Die Hündin tänzelte erregt auf der Stelle und schien es gar nicht erwarten zu können, der Fährte zu folgen, die sie aufgenommen hatte.

»Im Moment nicht, nein«, antwortete Piper.

»Okay. Dann lasse ich meine Hündin jetzt suchen. Falls wir was finden, melde ich mich noch mal.«

»Braucht ihr Hilfe? Soll ich einen Kollegen zu euch rausschicken?«

Max warf einen Blick auf Kona, die mit zitternden Flanken dastand, die Witterung in der Nase. »Nicht nötig. Meine Hündin ist kaum noch zu halten, die Geruchsquelle muss also ganz in der Nähe sein. Ich würde sagen, wir schauen erst mal, womit wir es hier überhaupt zu tun haben.«

Während Max noch telefonierte, sträubte sich plötzlich Konas Nackenfell. Augenblicklich schrillten bei Max sämtliche Alarmglocken los.

»Warum sagst du mir nicht wenigstens, wo ihr seid, damit ich schon mal jemandem Bescheid geben kann?«

Max las die Koordinaten ihres Standorts von seinem Handy ab und fügte leise hinzu: »Ich rufe an, wenn ich was gefunden habe.«

»Sei bloß vorsichtig – so ganz allein im tiefen dunklen Wald«, zog Piper ihn auf.

Max beendete die Verbindung und zuckte leicht zusammen, als Kona erneut bellte. Er fragte sich, wann ihm der draufgängerische Mut seiner Jugend abhandengekommen war. Früher war er hinter feindlichen Linien aus Hubschraubern abgesprungen. Jetzt gruselte es ihn bei der bloßen Vorstellung, in den Wäldern von Virginia über eine Leiche zu stolpern.

»Such, Kona!«, befahl er und zeigte mit der Hand auffordernd in den Wald.

Mit einem Kläffen schoss Kona davon.

In einer weiten Zickzackbewegung immer hin und her laufend, folgte sie der Geruchsspur in der Luft. Erst ging es einen steilen Hang hinauf, dann über eine Lichtung voller Wiesenhafer und schließlich in einen Bestand aus Ahornbäumen hinein. Die Sonne war zwischenzeitlich höher gestiegen und erwärmte die frische, klare Herbstluft. Der Duft taufeuchter Erde stieg Max in die Nase, als sie sich weiter und weiter vom Wanderweg entfernten.

Konas Pendelbewegungen wurden kleiner, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie sich ihrem Ziel näherten.

Sie erklommen noch einen Felsen und erreichten schließlich einen Aussichtspunkt, von dem aus man den Blick über das ganze Flusstal hatte. Max hielt einen Moment lang inne, um den She­nandoah River zu betrachten, der in trägen Mäandern und vom Feuerrot und Orange der Herbstbäume gesäumt die Hügellandschaft durchschnitt.

Weiter vorne stieß Kona ein Knurren aus.

Max spürte ein Kribbeln im Nacken.

Gleich darauf sauste Kona ohne jede Vorwarnung mit voller Geschwindigkeit den Abhang hinunter und verschwand im Wald.

Max bemühte sich nach Kräften, mit ihr Schritt zu halten. Je weiter sie vordrangen, desto dichter wurde die Vegetation. Zweige peitschten ihm ins Gesicht, während er blindlings durchs Unterholz stolperte.

»Hey!«, rief er. »Kona, stopp!«

Kona ignorierte seinen Befehl. Das hatte sie noch nie getan.

Irgendetwas war hier faul.

Max, der längst den Sichtkontakt zu seiner Hündin verloren hatte, folgte, so schnell er konnte, ihrem Rascheln im Gehölz. Etwa auf halber Höhe des Berghangs gelangte er auf ein kleines Plateau mit einer Lichtung. Dort war auch Kona. Sie lief wie wild im Kreis herum und hörte gar nicht mehr auf zu bellen. Ihr Verhalten erschien Max immer rätselhafter.

Hohe Bäume beschatteten die felsige, sanft abfallende Stelle, die in einem steilen Vorsprung endete. Langsam wagte Max sich weiter vor, wobei er wachsam den Boden mit Blicken absuchte. Er konnte nichts entdecken, was Konas Aufregung erklärt hätte.

»Such!«, befahl er noch einmal in der Hoffnung, dass sie ihm eine konkrete Stelle anzeigen würde.

Stattdessen jaulte sie, scheinbar verwirrt, und setzte sich auf die Hinterläufe. Sie war ein sehr pflichtbewusstes Tier und sichtlich zerknirscht, weil sie die Geruchsquelle nicht ausfindig machen konnte.

Vorsichtig überquerte Max die mit Geröll übersäte Lichtung, bis er neben Kona stand, die auf einem kleinen Felsen hockte. Weit und breit war nichts zu sehen als Steine und ein paar kleine Grasbüschel. Hier konnte man unmöglich eine Leiche verstecken.

»Was ist nur los mit dir, Mädchen? Ist das etwa dein erster falscher Alarm?« Er streckte die Hand aus, um sie zu streicheln.

Doch kaum hatte er das Gewicht nach vorn verlagert, geriet der Boden unter ihm ins Rutschen.

Seine Zeit beim Militär lag Jahre zurück, doch das Training saß tief. Blitzschnell machte er einen Hechtsprung zur Seite.

Zu spät. Im nächsten Moment brach er ein.

Wild mit Armen und Beinen rudernd und begleitet von einer Lawine aus Erde und Geröll, stürzte er in die Tiefe. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihm, seinen Körper zu drehen, sodass er auf den Füßen landete. Trotzdem war die Wucht des Aufpralls so heftig, dass er vor Schmerz ächzte und die Knie unter ihm wegknickten.

Die Arme schützend über den Kopf haltend, wartete er ab, während Erdklumpen und kleine Steine auf ihn herabrieselten. Weiter oben bellte Kona wie verrückt, weil ihr Herrchen plötzlich verschwunden war.

Als der Erdregen aufgehört hatte, rief Max aus der Finsternis nach oben: »Mir ist nichts passiert, Kona. Alles in Ordnung.«

Der Klang seiner Stimme beruhigte die Hündin, deren Bellen in ein stetiges Winseln überging. Max rappelte sich auf, wischte sich den Staub aus dem Gesicht und versuchte, sich ein Bild der Lage zu machen. Sobald seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte er, dass er in einem kleinen unterirdischen Hohlraum gelandet war. Er war nicht größer als sein Schlafzimmer, und die einzige sichtbare Öffnung war ein langer horizontaler Spalt an der gegenüberliegenden Felswand. Das Loch, durch das er gestürzt war, befand sich gut sieben Meter über ihm – viel zu weit weg, um hochzuklettern.

»Ein Erdfall, na wunderbar«, murmelte er halblaut. Er zog das Handy aus der Tasche. Kein Netz. »Warte, Kona«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Ich schaue mal, ob ich einen anderen Weg nach draußen finde.« Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete er die schmale Felsspalte. Auf der anderen Seite glaubte er, einen schwachen Lichtschein wahrzunehmen. Vielleicht konnte er im Liegen durch den Spalt ins Freie kriechen.

Oben lief Kona noch immer am Rand des Einsturztrichters auf und ab. Max fürchtete, dass sie versuchen könnte, zu ihm nach unten zu springen. »Bleib, wo du bist, Kona. Bleib.«

Die Hündin gab ein missbilligendes Rrff! von sich, gehorchte aber. Brav ließ sie sich am Rand der Öffnung nieder und schaute auf ihn herab.

Als Max sich einen Schritt zur Seite bewegte, hörte er ein trockenes Knacken unter der Schuhsohle. Zum ersten Mal seit seinem Sturz richtete er den Blick zu Boden.

Aus dem Haufen von Erde und Steinen, der mit ihm in die Höhle gefallen war, ragte das Stück eines bleichen Knochens hervor.

Mit angehaltenem Atem ging Max in die Hocke, um den Fund zu inspizieren. Unter der dünnen Schicht Geröll war der gesamte Boden der unterirdischen Kammer mit Knochen übersät.

»Oh mein Gott, bitte lass das hier keine Bärenhöhle sein …«, wisperte er mit trockenem Mund. Aber es roch nicht nach Tier. Er nahm noch ein paar weitere Knochen in Augenschein, und nach und nach breitete sich eine Gänsehaut auf seinem Körper aus. Er hob etwas Großes, Rundes vom Boden auf, und als er es umdrehte, starrte er in die leeren Augenhöhlen eines menschlichen Schädels.

Sein Magen krampfte sich zusammen. Als Nächstes nahm er einen Röhrenknochen in die Hand. Definitiv menschlichen Ursprungs.

»Du hast tatsächlich eine Leiche gefunden, Kona«, flüsterte er.

Mit ruhiger Hand räumte er die lose Erde zur Seite. Es kamen zwei weitere Schädel, mindestens drei Rumpfknochen, mehrere Rippen sowie ein Schlüsselbein zum Vorschein. Das Weichteilgewebe war lange verwest, aber Max konnte einige rotgoldene Stofffetzen erkennen. Einen Augenblick lang durchzuckte ihn die irrationale Angst, dass es keinen Ausweg aus der Höhle gab und er hier unten sterben würde.

»Mach dich doch nicht lächerlich«, wies er sich selbst zurecht. »Piper weiß, dass wir hier draußen sind. Wenn sie nichts mehr von mir hört, schickt sie jemanden los, um nach uns zu suchen.«

Der Klang seiner Stimme vermochte die Panik ein wenig einzudämmen, und er besann sich auf das, was er während seiner Ausbildung gelernt hatte. Erstens: ruhig atmen. Zweitens: sich einen Überblick über die Situation verschaffen. Drittens: handeln.

Er schaltete die Taschenlampe seines Smartphones ein und ließ den Lichtstrahl in einem weiten Bogen durch die Höhle gleiten. Im hellen Licht warfen die zahllosen Knochen lange, scharfkantige Schatten, die an den Höhlenwänden tanzten.

Er versuchte, behutsam einen Schritt nach vorn zu machen, doch ein weiterer Knochen zerbrach unter seinem Schuh wie ein trockener Zweig. Max schluckte und kämpfte gegen das kalte Gefühl der Beklemmung an, das sich in seiner Brust ausbreitete. Ihm war, als wäre die Höhle von einem tiefen, uralten Zorn erfüllt.

Das hier waren mit Sicherheit nicht die Skelette von Wanderern, die sich verirrt hatten oder einem Bärenangriff zum Opfer gefallen waren. Jemand hatte all diese Menschen ermordet. Er presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Um den Tatort nicht noch weiter durcheinanderzubringen, blieb er, wo er war. Bald würde ein Ranger kommen, und Kona war klug genug, sich bemerkbar zu machen, sobald sich ein Mensch näherte. Nicht mehr lange, und man würde ihn hier rausholen.

»Platz, mein Mädchen«, rief er seiner Hündin zu. »Es kann noch eine Weile dauern.«

Kona gab ein kurzes Bellen von sich, um zu signalisieren, dass sie verstanden hatte.

Umgeben von Toten, hockte Maxwell Cho sich hin, um zu warten.