Knochengrund - Lotte Petri - E-Book
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Knochengrund E-Book

Lotte Petri

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Beschreibung

Die dänische forensische Anthropologin Josefine Jespersen wird nach Gotland gerufen, um einige Steinzeit-Skelette zu untersuchen, die bei Grabungen gefunden wurden. Doch als Josefine einen weiblichen Schädel genauer betrachtet, macht sie eine schaurige Entdeckung: Die Frau ist erst vor einigen Jahren getötet worden – und in ihrem Schädel befindet sich der Knochen einer weiteren Person. Die Spur bringt Josefine und den Kriminalkommissar Alexander Damgaard auf einen alten Vermisstenfall. Und als zwei weitere Frauen ermordet werden, ist klar: Josefine und Damgaard jagen einen perfiden Serienmörder …

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Buch

Die junge Rechtsanthropologin und Knochenexpertin Josefine Jespersen wird nach Gotland gerufen. Dort wurden bei archäologischen Grabungen in einer einstigen Moorlandschaft mehrere Steinzeit-Skelette gefunden. Als Josefine vor Ort einen weiblichen Schädel genauer untersucht, macht sie jedoch eine erschütternde Entdeckung: Die Frau ist erst vor einigen Jahren getötet worden – und in ihrem Schädel befindet sich der Knochensplitter eines Kindes. Die Spur bringt Josefine und den Kriminalkommissar Alexander Damgaard auf einen alten Vermisstenfall. Und als weitere Opfer gefunden werden, ist klar: Josefine und Damgaard jagen einen perfiden Serienmörder …

Weitere Informationen zu Lotte Petri

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Lotte Petri

Knochengrund

Thriller

Aus dem Dänischenvon Maike Dörries

Die dänische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Maskemanden« bei Saga, Lindhardt og Ringhof Forlag A/S, Kopenhagen.

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © der Originalausgabe 2021 Lotte Petri og Saga

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack GbR, Hamburg

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: Stocksy/Lindsay Crandall, Simone Anne; FinePic®, München

Redaktion: Julie Hübner

KS · Herstellung: ik

Satz: Mediengestaltung Vornehm GmbH, München

ISBN: 978-3-641-24410-1V001

www.goldmann-verlag.de

Björnen sover,

björnen sover,

i sitt lugna bo!

Han er inte farlig,

bara man är varlig!

Men man kan dock,

men man kan dock,

honom aldrig tro!

Der Bär, der schläft,

der Bär, der schläft,

in seinem ruhigen Bau.

Er ist nicht bedrohlich,

solange man sieht vor sich.

Doch man kann ihm,

doch man kann ihm,

niemals wirklich trau’n!

Freie Übersetzung des schwedischen Kinderliedes »Björnen sover«, nach der Melodie Nr. 35 »Gubben Noak« aus Fredmans Sånger von Carl Michael Bellman von 1792.

»What you are now we used tobe; what we are now youwill be …«

»Was du jetzt bist, waren wir einst. Was wir jetzt sind, wirst du sein …«

Inschrift des Beinhauses in Santa Maria della Concezione dei Cappuccini, Rom.

Kapitel 1

1985

Im Villenviertel war es dunkel, der Wind zauste durch die hohen Baumkronen wie durch Haare.

Der schwarze Land Rover fuhr langsam über den nassen Asphalt. Abgebrochene Zweige und Blätter bildeten zufällige Muster, die von den kräftigen Frontscheinwerfern illuminiert wurden. Das Radio lief, doch der Mann bekam nichts von der langen, verwickelten Debatte mit. Sein Blick war wachsam. Der Regen legte sich wie eine glänzende Haut über die Teerdecke, auf der die gestrichelten Linien wie von innen heraus leuchteten. In regelmäßigen Abständen fuhren die Wischerblätter über den durchsichtigen Wasserschleier auf der Frontscheibe.

Die Straßenlaternen sprangen blinkend an.

Die Innenseite der Windschutzscheibe war beschlagen. Er wischte mit dem Ärmel darüber und schaute auf die Uhr im Armaturenbrett.

Das Haus stand etwas versetzt hinter einem hohen Naturholzzaun auf dem sehr dunklen Villenweg. In dem dazugehörigen Garten bildeten ein paar kegelförmige Thujen eine dunkelgrüne Mauer wie stumme Soldaten im Schulterschluss.

Der Kies knirschte, als der Geländewagen langsam die Einfahrt hinunterrollte. Der Mann stieg aus, nahm ein paar Einkaufstüten aus dem Kofferraum, zog einen Schlüssel aus der Tasche und schloss die Tür auf.

Bis auf ein gleichmäßiges Tropfen war es still im Haus. Monoton, ein bisschen wie ein langsamer Puls.

Er machte Licht und trug die Tüten ins Schlafzimmer, wo eine Reispapierlampe kaltes Licht verströmte und sich im Luftzug eines gekippten Fensters leise bewegte.

Die Wände im Schlafzimmer waren hellgrün wie das Fleisch einer Avocado, die Vorhänge dunkelgrün wie die Schale. Auf dem Boden stand eine Sporttasche mit blutigen Kleidern.

Der Betthimmel aus Stoff war blutverschmiert. Die Substanz hatte sich wie roter Staub auf der Wand und dem Kopfteil des Bettes verteilt. Die Bettwäsche war dunkelrot. Der metallische Geruch mischte sich mit einem synthetischen Duft. Vor dem Bett lag eine grüne, nach wie vor leuchtende Lampe umgekippt auf dem Boden und verströmte einen weichen, pistazienfarbenen Schimmer, der dem Blut eine schwarze Farbe verlieh. Auf dem Nachtschrank stapelten sich Bücher, das Poster mit der antiken Männerbüste, die mit leblosen Augen vor sich hinstarrte, hatte ebenfalls Blutspritzer abbekommen.

Er stieg über ein paar Glasscherben und ließ den Blick einen Moment auf dem Bett ruhen, während er sich die letzten Minuten vor ihrem Tod ins Gedächtnis rief. Der Wahnsinn, dachte er. Ihre Augen waren ganz dunkel geworden, als sie begriff, was passieren würde. Sie hatte den Kiefer zu einem Schrei aufgerissen, den die Socke erstickt hatte, die er ihr in den Mund gestopft und mit einem ihrer Nylonstrümpfe am Hinterkopf festgeknotet hatte.

Er nahm einige in Plastik eingeschweißte Päckchen aus der Einkaufstasche und ging ins kaffeebraun gekachelte Bad. Es rieselte leise. Das Plastik raschelte, als er das Regencape auspackte und anzog. Danach befreite er mehrere identische Pappfiguren aus ihrer Verpackung und hängte sie an eine über die Wanne gespannte Wäscheleine. Er lächelte. Die bunten Formen drehten sich langsam um ihre eigene Achse, bis sie sich eingependelt hatten und ein süßlicher Duft sein Bewusstsein erfüllte.

Das Wasser, das in die Wanne lief, hatte die Farbe von Fleischsaft. Wie ein Engel zeichnete sich ihre blasse Gestalt darin ab. Die Brustwarzen schimmerten durch die unruhige Oberfläche, das Haar umfächerte ihr Gesichtsoval wie ein schwarzer Heiligenschein. Sie hatte anklagend auf ihn gezeigt, aber jetzt hing ihr Arm schlaff über den Wannenrand, als hätte sie klein beigegeben. Er bemerkte, dass ihre Nägel fast die gleiche Nuance wie das Wasser hatten.

Ihre Augen starrten auf einen Punkt hinter ihm, ohne etwas zu sehen.

Ein blassrosa Rinnsal lief über den Rand und bewegte sich wie ein Lavastrom zu dem Abflussrost unter dem Waschbecken.

Er beugte sich über die Leiche, drehte den Wasserhahn zu und streifte dabei ihr Gesicht mit der Hand. Es war kalt wie Marmor. Einen Augenblick sah er sein eigenes verzerrtes Spiegelbild in den zitternden Ringen auf dem Wasser.

Er schob den Ärmel seiner Jacke hoch, steckte die Hand ins Wasser und zog den Stöpsel heraus. Sie bewegte sich leicht hin und her, als der Pegel sich allmählich senkte und rote Ränder an der Innenseite der Wanne hinterließ. Nach einigen Anläufen bekam er sie ordentlich zu fassen und hob sie hoch. Es gab einen dumpfen Klatscher, als sie ihm aus den Armen glitt und auf den braunen Bodenfliesen aufschlug. Wie sie dort lag, erinnerte sie ihn an eine dieser Schaufensterpuppen, die einen feindselig aus der Auslage anstarrten. Gefühlskalte, arrogante Statuen mit unnatürlich totem Lächeln. Schlechte Kopien.

Er ging zurück ins Schlafzimmer, holte eine Steppdecke und zog die Leiche auf die Decke, deren Muster wie in stiller Übereinkunft mit dem Blut harmonierte. Er nahm eine Spraydose mit Blumenmotiv und zog den Verschluss ab. Es zischte, als er auf den weißen Sprühkopf drückte. Der Duft verdrängte den Blutgeruch und schickte seine Gedanken auf Reisen.

Als der Doseninhalt über der Leiche versprüht war, schlug er die Decke um die Frau und zog sie raus in den Flur, wo ein Spiegel hing. Er betrachtete sein Spiegelbild mit einem angedeuteten Lächeln und zog die Kapuze des Regencapes zurecht. Er fühlte sich aufgekratzt.

Er öffnete die Haustür, ging hinüber zur Garage und fuhr das elektrische Tor hoch.

Dann trug er die Leiche in die Garage und legte sie auf den Boden. Der Wind fuhr unter das Regencape, blähte es auf und ließ es flattern. Er fuhr das Garagentor wieder herunter, das sich mit einem gedämpften Laut schloss, der in der windgepeitschten Dunkelheit unterging.

Kapitel 2

2019 Oskarshamn, Schweden

Der Regen prasselte auf die Windschutzscheibe des betagten Volvo Kombi, in dem Josefine Jespersen in der Warteschlange für die Gotlandfähre stand, die kurz darauf wie ein riesiger Eisberg in den Hafen glitt. Die dicken Wassertropfen verzerrten die Aussicht, ehe sie von den an Taktstöcke erinnernden Scheibenwischern entfernt wurden. Irgendwo aus dem dunstigen Nichts tönte das tiefe Signal eines Nebelhorns.

Sie war schon bei schlechtem Wetter aus Kopenhagen losgefahren, aber in der hier herrschenden Nebelsuppe war die Sicht minimal. Himmel und Meer verschwammen ineinander. Sie kurbelte das Seitenfenster herunter und spürte die verdichtete Feuchtigkeit des Nebels, in die sich der Geruch nach Meer und ein Hauch Diesel mischte. Von weit oben über der Wolkendecke erklang heiseres Möwengeschrei, und der Abgasgestank klebte sich an die Schleimhäute.

Es kribbelte im Bauch bei der Aussicht, endlich einmal wieder ihr altes Institut auf der schwedischen Insel Gotland wiederzusehen, wo sie ihre Ausbildung zur Rechtsanthropologin begonnen hatte – oder zur Knochenexpertin, wie ihre Freunde es lieber nannten, um die korrekte, zungenbrechende Berufsbezeichnung zu umgehen. Josefine war sich schon im Klaren darüber, dass alle ihren Beruf ziemlich abgedreht fanden, und sie hatte sich im Lauf der Zeit an die Reaktionen der Leute gewöhnt, wenn sie wegen eines Knochenfundes ganz aus dem Häuschen war. Natürlich hatte sie sich auch schon häufig gefragt, ob ihre Entscheidung für ausgerechnet diesen Fachbereich einer Art seelischer Störung entsprang, aber glücklicherweise hatte sie Kollegen, die ihre glühende Begeisterung teilten. Trotzdem vermied sie es in Alltagsgesprächen, präziser auf ihre Arbeit einzugehen. Längst nicht alle Menschen verkrafteten ihre Geschichten von bizarren Morden, Skeletten und Bruchflächen an Knochen. Und sie hatte im Laufe ihrer Karriere gelernt, dass der Tod nach wie vor ein so großes Tabuthema war, dass die Wenigsten darüber reden wollten, und schon gar nicht bei einem gemütlichen Abendessen, während der Gastgeber den Braten aufschnitt. Das war ein absolutes No-Go.

Sie war von den schwedischen Kollegen eingeladen worden, um ihnen bei der Untersuchung von Skeletten zur Seite zu stehen, die an Visbys Galgenberg ausgegraben worden waren. Der Vergleich der schwedischen Funde mit dänischen Knochen aus der gleichen Periode fügte sich wunderbar in ihre Studien über die Volksgesundheit der Dänen im 19. Jahrhundert, für die sie in den letzten Jahren altes Knochenmaterial von Friedhöfen und anderen Ausgrabungen untersucht hatte. Sie war gespannt zu sehen, ob es im Laufe der Zeit geografische Unterschiede der Krankheiten gab. Das Projekt war vom Institut für Archäologie und Alte Geschichte auf Gotland initiiert. Dem Namen zum Trotz befasste sich das Institut mit ganz ähnlichen Aufgaben wie die Rechtsmedizin in Kopenhagen, wo Josefine die Gerichtsmediziner und die Polizei dabei unterstützte, bis zur Unkenntlichkeit versehrte Leichen und Skelette zu identifizieren. Eins ihrer Spezialgebiete war, herauszufinden, welche Mordwaffe angewendet worden war. Einmal hatte sie bei einem Mann, der mit eingeschlagenem Schädel bei sich zu Hause gefunden worden war, den Schädelknochen so wieder zusammengepuzzelt, dass man deutlich den Abdruck eines großen Schraubenschlüssels am Hinterkopf des Toten erkennen konnte. Das war Josefines Steckenpferd; in Knochen zu lesen, indem sie die Bruchkanten und Schlagspuren am Skelett studierte.

Sie fuhr erschrocken zusammen, als sie hektisches Hupen hinter sich hörte. Im Rückspiegel sah sie den Fahrer hinter sich wild gestikulieren. Sie hatte offenbar einen kurzen Aussetzer gehabt. Es kam Bewegung in die Schlange, und sie startete den Motor, der asthmatisch hustend ansprang.

*

In der gefühlt kilometerlangen Warteschlange im Fährcafé betrachtete Josefine die Menschenmassen. Vor ihr stand ein Typ mit kräftigen Nackenmuskeln. Stiernacken, dachte sie und verdrehte die Augen.

In dem Moment drehte er sich um und sah sie mit einem schiefen Lächeln an. Wenn er wüsste, dass sie ihn gerade nicht sehr freundlich bedacht hatte. Josefine erwiderte sein Lächeln.

»Hi, öfter hier?«, fragte er beiläufig.

Josefine musste innerlich über das Klischee einer Anmache grinsen, das offensichtlich universell einsetzbar war.

»Nein … eigentlich nicht. Ich bin wegen eines Arbeitsprojekts in Visby …«

»Aha? Dann laufen wir uns ja vielleicht da irgendwo mal über den Weg …«

In dem Augenblick schlingerte die Fähre heftig, und sie verloren sich aus den Augen.

Ein Kistenstapel krachte mit ohrenbetäubendem Lärm zu Boden.

Nach diesem kurzen Flirt richtete Josefine ihre Aufmerksamkeit auf das Angebot üppig belegter Sandwiches in der Glasvitrine. Sie hatte morgens nur eine kleine Portion Müsli gegessen. Jetzt knurrte ihr Magen, und das Wasser lief ihr im Mund zusammen. Die Wahl fiel auf ein Krabbensandwich und dazu Mineralwasser. Sie fand einen Platz, von dem aus sie beim Essen die Mitreisenden beobachten konnte, die regelmäßig die Überfahrt zu machen schienen. Die einen spielten Karten, andere unterhielten sich lebhaft oder hatten sich für ein Nickerchen auf den gepolsterten Bänken ausgestreckt, nachdem sie brav die Schuhe ausgezogen und ordentlich unter die Bank geschoben hatten.

Etwa auf halber Strecke wurde das Schlingern der Fähre spürbarer, aber Josefine gewöhnte sich schnell an die Rollbewegungen. Nach dem Krabbensandwich wurden ihre Lider schwer. Sie lehnte sich gegen die gepolsterte Rückenlehne und schloss die Augen.

*

Ein paar Stunden später liefen sie in den Hafen von Visby ein. Auf dem Autodeck entfernte ein Mann in neonfarbener Warnweste demonstrativ ein paar an lange knallblaue Schnüre geknotete Keile, mit denen er offensichtlich Josefines Auto arretiert hatte. In einer Mischung aus Englisch und Schonisch machte er ihr klar, dass sie dringend ihre Handbremse reparieren lassen müsste, weil das Auto sich bei dem heftigen Seegang wohl bewegt hatte.

Ein schwedischer Familienvater untersuchte besorgt die Stoßstange seines Autos, das jetzt auf Tuchfühlung mit Josefines Wagen stand. Er sah sie vorwurfsvoll an, als hätte sie mit voller Absicht sein schönes Fahrzeug touchiert.

Sie fühlte sich wie eine Kleinkriminelle, als sie mit quietschenden Bremsen die viel zu schmale Rampe hinunterfuhr, und überlegte ernsthaft, den Koloss gegen einen zeitgemäßeren Kleinwagen einzutauschen. Aber sie hatte den Volvo von ihrem mittlerweile fürs Fahren zu dementen Vater übernommen und konnte sich nicht überwinden, ihn zu verkaufen. Ihr Vater lebte seit Kurzem in einem Pflegeheim, nachdem es ein paar unschöne Zwischenfälle gegeben hatte, als er sein Haus verlassen und sich verlaufen hatte. Die Betreuerin hatte irgendwann gesagt, dass es so nicht weiterginge, und Josefine musste ihr recht geben. Ihrem Vater ging es zu schlecht, um noch alleine in seinem Haus zu wohnen. Nach dem Umzug ins Pflegeheim hatte sie das Haus zum Verkauf angeboten, aber bedauerlicherweise hatten sich bislang noch keine Kaufinteressenten gefunden. Doch Josefine war in jedem Fall erleichtert, dass sie sich nicht mehr um seine Sicherheit sorgen und in der permanenten Angst leben musste, dass er eines Tages vergaß, den Herd auszuschalten, oder die Kellertreppe hinabstürzte. Zugleich hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil er sich ganz offensichtlich im Pflegeheim nicht wohlfühlte. Sein unglücklicher Gesichtsausdruck und die tiefe Trauer in seinem Blick ließen sie natürlich nicht kalt. Sie war sich im Klaren darüber, dass es keine optimale Lösung für dieses Problem gab, aber es fiel ihr jedes Mal schwer, sich von ihm zu verabschieden, wenn sie ihn besuchte.

Josefine schob die negativen Gedanken beiseite und betrachtete im Vorbeifahren die Häuser, die sich zwischen den grauen Felsen vor dem ewigen Wind zu ducken schienen, der permanent über die Insel jagte. Alles bewegte sich in einer Grautonskala, vom sich im Meer spiegelnden Himmel bis hin zu den schieferfarbenen Gebäuden, die sich in das unwegsame Terrain der Insel fügten.

Vor dem Institut hielt Josefine Ausschau nach einem freien Parkplatz. Als sie ein Stück entfernt fündig geworden war, kämpfte sie sich durch den Wind zurück. Ihre Augen tränten, und die Wangen glühten, als sie endlich den Haupteingang erreichte.

An der Rezeption wurden ihr eine provisorische Mitarbeiterkarte ausgehändigt und alle praktischen Fragen geklärt. Danach fuhr sie in die Mitwohnzentrale im Zentrum von Visby, wo sie die Schlüssel für ein kleines Häuschen abholte, das sie gebucht hatte. Sie überlegte kurz, auf dem Weg dorthin noch etwas einzukaufen, war aber zu müde und verschob es auf den nächsten Tag.

*

Am nächsten Morgen waren die Farben nach Gotland zurückgekehrt. Es stürmte noch immer, aber der nahezu wolkenlose Himmel hatte einen tiefblauen Ton angenommen. Josefine stand vor dem Institut und genoss das schöne Wetter mit zugekniffenen Augen. Als sie schließlich eintrat, war es ganz still in den langen, vertrauten Korridoren.

Sie öffnete die Tür zu einem großen Raum und wurde in ihre Studienzeit zurückkatapultiert, in der sie unzählige Stunden mit ihren Kommilitonen an den langen Arbeitstischen verbracht und Knochen sortiert hatte. Die Plastikboxen mit den vergilbten Prägeetiketten, auf denen »Schwein« und »Schaf« stand, konnten ohne weiteres noch dieselben Kästen sein wie zu ihrer Zeit, dachte sie grinsend. Das Sortieren der Knochen war eine triviale, aber gute Übung für die Unterscheidung von Menschen- und Tierknochen gewesen. Dieses grundlegende Wissen kam ihr täglich zugute, wenn dem Rechtsmedizinischen Institut von Kopenhagen nach oder bei Grabungsarbeiten im Straßenbau, für die Kopenhagener U-Bahn oder im Rahmen anderer Bauprojekte Knochenfunde eingereicht wurden, und die Polizei ausschließen wollte, dass ein Verbrechen stattgefunden hatte. In den meisten Fällen handelte es sich tatsächlich um Tierknochen oder um alte menschliche Knochen von eingeebneten Friedhöfen, also um Funde, die möglicherweise von historischem Interesse waren, aber kein Fall für die Polizei.

Josefine gähnte. Sie war in dem kleinen Fachwerkhäuschen hinter der Kirche mit Blick aufs Meer viel zu früh wach geworden. Das Gebimmel der verschiedenen, aus diversen Teilen der Altstadt zu hörenden Kirchenglocken hatte sie geweckt, also hatte sie beschlossen, ihren ersten Arbeitstag früh zu starten.

Sie zog den Mantel aus. Der Kittel, der an der Garderobe hing, passte sogar einigermaßen. Sie zog ihn über den Rollkragenpullover. Dann stieg sie aus den Gummistiefeln und schob die Füße in ein Paar Gästeclogs. Der Wind rüttelte an den Fenstern, und die dunkelblauen Ostseewellen trugen weiße Schaumkronen.

Trotz des warmen Pullis fror sie.

Sie sah aus dem Fenster auf die scharfe Horizontlinie. Diese windgepeitschte Insel mit den grauen, spitzen Felsformationen, die interessanterweise einer der wenigen Orte auf der Welt war, an denen man Rechtsanthropologie studieren konnte, hatte sie von Anfang an fasziniert, seit sie vor einigen Jahren als junge Studentin zum ersten Mal mit der Fähre hier angekommen war. Das Meer in seiner ewigen Bewegung gab ihrem Geist Ruhe, und sie konnte stundenlang auf die Wellen schauen.

Sie betrat den großen Saal und sah als Erstes ein Plastikskelett, das an einem Stativ hing. Irgendein Witzbold hatte eine violette Federboa um den knochigen Hals geschlungen, vielleicht derselbe Witzbold, der für die makaber dekorierte Installation eines großen Fischskeletts in dem leeren Aquarium verantwortlich war.

Sie sah sich die Fischinstallation genauer an. Ihr gefiel der schwarze Humor in der ansonsten eher tristen Atmosphäre des Raums. Ein unschönes Gefühl von Einsamkeit machte sich in ihr breit. Sie sehnte sich schon lange nach einem Menschen, zu dem sie nach Hause kommen und mit dem sie ihr Leben teilen konnte. Aber da steckte der Wurm drin. Von ihrer Reise nach Gotland erhoffte sie sich ein bisschen Abwechslung im Alltag, aber während sie nun ganz allein hier stand, umgeben von Knochen in jeder Schattierung, kamen ihr beträchtliche Zweifel.

Josefine richtete sich auf und beschloss, dem Ganzen noch eine Chance zu geben. Immerhin war sie gerade mal einen Tag hier.

Ihr Magen knurrte. Sie hatte am Abend in einem der Schränke in der kleinen Küche ihres Häuschens ein Paket Nudeln gefunden, die sie gekocht und mit einem Rest Ketchup aus dem hintersten Winkel des Kühlschranks gegessen hatte.

In der Teeküche des Instituts hatte eine gnädige Seele ein paar Kekse auf einem Teller liegen lassen. Das musste als Frühstück reichen, dachte Josefine und notierte sich im Kopf, den Kühlschrank zu füllen. Zur Abrundung des improvisierten Frühstücks zog sie sich einen Kaffee aus dem Automaten.

Mit einer Handvoll Kekse und dem Kaffee begab sie sich zurück in den Arbeitsraum. Die Kekse schmeckten etwas altbacken.

Sie sah sich das Skelett noch einmal genauer an und bestimmte routinemäßig sein Geschlecht: die breiten Schultern sprachen für einen kräftig gebauten Mann etwa so groß wie Alexander Damgaard, der Kollege von der Polizei, mit dem sie in einem zurückliegenden Fall zusammengearbeitet hatte. Josefine dachte oft an ihn, schob die Gedanken aber immer schnell wieder beiseite. Sie schnupperte. Das Skelett war absolut geruchsneutral. Sie ging zurück zum Tisch und spülte die restlichen Kekse mit dem Kaffee hinunter.

Danach betrat sie einen Raum, den die meisten Menschen wohl als sehr speziell bezeichnen würden – das bienenstockförmige Knochendepot, in dem mehrere Hundert Skelette gelagert wurden. An den weiß gekalkten Wänden standen übereinandergestapelte Pappkartons mit Skeletten von bislang noch unidentifizierten Toten, die mit Referenznummern gekennzeichnet waren. Bei diesen Skeletten, die hoffentlich irgendwann eine Identität bekamen, waren die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen. Aber je mehr Zeit verstrich, desto geringer waren die Chancen.

Das Institutsgebäude war ein ehemaliges, umgebautes Käselager. In der Decke befand sich ein kugelrundes Fenster wie ein großer Türspion, in dem sich der selten blaue Himmel spiegelte und durch das die Sonnenstrahlen wie durch eine Linse gebündelt in den Raum fielen und im Laufe des Tages wie auf einer Sonnenuhr von einer Wand zur anderen wanderten. Josefine hatte immer schon gefunden, dass das Gebäude wie eine kleinere Ausgabe des Pantheons in Rom aussah, wohin sie vor vielen Jahren mal eine Studienreise unternommen hatte.

Hier herrschte eine besondere Stimmung. Vielleicht wegen des Wissens um die vielen Toten, die sich dort befanden. Wie in einer Kathedrale.

Als die Tür plötzlich aufging, zuckte sie zusammen, dann erkannte sie Professor Ohlsson, einen reizenden älteren Herren mit graumelierter Mähne, die immer in Unordnung war.

»Willkommen, meine liebe Josefine!«, rief der betagte Professor und begrüßte sie mit zwei galanten französischen Wangenküsschen. Sie roch das Aftershave, das ihr Vater auch eine Weile benutzt hatte. »Du bist aber früh unterwegs.«

Er trug einen weißen Arbeitskittel und balancierte eine schmale Brille mit rotem Gestell auf der Nase.

»Ich bin früh geweckt worden … An die Glocken muss ich mich erst mal wieder gewöhnen«, erklärte Josefine.

»Die hör ich gar nicht mehr«, sagte er und fing ihren Blick ein. »Wir fühlen uns übrigens äußerst geehrt, dass du uns bei der Untersuchung des Knochenmaterials assistieren willst. Ich habe so gehofft, dass wir irgendwann mal wieder zusammenarbeiten.«

Sie lächelte.

»Ganz meinerseits.«

»Ich wusste damals schon, dass du es zu was bringen und eine Koryphäe deines Fachs werden wirst. Dass du eine von denen bist, die Knochen zum Sprechen bringen können.«

»Wirklich?« Josefine wurde rot.

»Du hattest …«, er strich sich übers Kinn und suchte nach den treffenden Worten, »… schon immer diese besondere Gabe für deine Arbeit, wie ich sie nur selten erlebt habe. Die nötige Leidenschaft, die man braucht, wenn man zur Elite gehören will. So alt bist du ja noch nicht … und kannst es noch weit bringen. Sieh zu, dass du noch mehr Artikel schreibst, damit du bekannter wirst. Ich habe mit großem Vergnügen deine Untersuchung zur Volksgesundheit der Kopenhagener gelesen … Es wird spannend, deine Resultate mit unseren Funden am Galgenberg zu vergleichen.«

»Ich freu mich, loszulegen. Ich liebe die Arbeit im Feld. Zu viel Schreibtischarbeit macht mich rastlos …«

Der Professor nickte und bekam einen melancholischen Blick.

»Genauso ging es mir auch, als ich jünger war«, sagte er. »Ich konnte gar nicht genug kriegen von Ausgrabungen und Knochen. Meine Freunde waren davon überzeugt, dass bei mir eine Schraube locker war. Sie konnten nicht begreifen, wieso ich meine Nächte lieber irgendwo im Wald in einem Biwak verbracht habe, als mit ihnen in die Kneipe zu gehen.«

Josefine nickte verständnisvoll.

Der Professor seufzte.

»Ach ja, das waren noch Zeiten. Aber kein Grund zur Trauer, weil wir unsere Arbeit lieben.« Er strich die Haare glatt. »Apropos … um zehn Uhr ist Abteilungstreffen. Ich hab die Sekretärin zum Bäcker geschickt. Wenn ich mich richtig erinnere, hast du einen süßen Zahn, oder?«

Josefine nickte.

»Das hört sich gut an.«

»Und denk dran, dir an der Rezeption eine Parkkarte ausstellen zu lassen … die Parkwächter hier sind gnadenlos, was Knöllchen betrifft. Wahrscheinlich kriegen sie Provision.«

*

Josefines Blick blieb zerstreut an einem Regal hängen, in dem ein paar Schädel wie Perlen auf einer Schnur aufgereiht waren. Der erste Schädel in der Reihe war der eines Erwachsenen, gefolgt vom Schädel eines Jugendlichen und so weiter. Der letzte Schädel in der Reihe stammte von einem fünf Monate alten Fötus und sah aus wie von einem kleinen Alien. Ein beendetes Leben, ehe es richtig begonnen hatte. Sie dachte nur ungern darüber nach, ob sie selbst jemals Kinder haben würde, aber sie näherte sich unaufhaltsam dem Fertilitäts-Verfallsdatum, und die Gedanken wurden drängender. Irgendwann würde sie sich entscheiden müssen. Die biologische Uhr tickte gnadenlos weiter. Aber es gab einen konkreten Grund für ihr Zögern. Ihr Bruder war an einem chronischen Nierenleiden gestorben, und sie hatte Angst, diese genetische Anlage womöglich weiterzuvererben. Außerdem arbeitete sie viel zu viel. Wirklich Platz für ein Kind war gerade nicht in ihrem Leben.

*

Für den Rest des Tages war Josefine mit der Untersuchung der Skelette vom Galgenberg beschäftigt. Wenig überraschend wiesen alle Verletzungen an den Halswirbeln auf, ein paar von ihnen hatten dazu hässliche Frakturen am Schädel, als hätte es nicht gereicht, sie zu hängen. Sie arbeitete bis zum späten Nachmittag und beschloss dann, Feierabend zu machen.

Sie koppelte den Laptop von der Dockingstation ab und packte ihn in den Rucksack. Danach hängte sie den weißen Kittel zurück an den Garderobenständer, zog die Daunenjacke an, stellte die Clogs zurück und schlüpfte in ihre Gummistiefel.

Ihr Outfit war eher unauffällig. Abgetragene Jeans, langärmliges Shirt und Rollkragenpullover. Sie kaufte ihre Kleidung im Internet und gerne mehrere Exemplare von einer Marke in dunklen Farben, wobei sie sich nie lange mit der Auswahl aufhielt. Kleiderkauf war etwas, das sie schnell hinter sich bringen wollte, und den Toten war es egal, wie sie angezogen war. Außerdem trug sie in der Rechtsmedizin eh einen Kittel.

Sie verließ das Institut durch den inneren Laubengang. An das alte Gebäude war ein Glasbau angegliedert, in dem der Eingangsbereich und die Kantine untergebracht waren. Josefine gefiel es, wie die Schweden Alt und Neu auf eine ästhetische und funktionelle Art zu mischen verstanden. Auf dem Weg die Treppe hinunter passierte sie ein feuerwehrrotes Banner mit dem weißen Schriftzug UPPSALAUNIVERSITET und trat durch die Glastür ins Freie.

Der kräftige Wind verwirbelte die grauen Gedanken, als sie durch die schmalen Gassen mit ihrem Kopfsteinpflaster zum Parkplatz spazierte. Sie genoss die offene Landschaft mit ihrem rauen Klima und den kleinen, teilweise strohgedeckten Häusern, die so ganz anders war als Kopenhagen.

Sie bog rechts ab und erhaschte einen Blick auf ihren uralten, kantigen Volvo, den ihre Kollegen frotzelnd »Leichenwagen« nannten. Bei der Überfahrt nach Gotland hatte sie einen skeptischen Blick des schwedischen Zöllners kassiert, als er den großen Kofferraum nach nicht verzollten Waren durchwühlt hatte. Er hatte sie wie eine verdächtige Alkoholschmugglerin behandelt, bis klar war, dass er nichts finden würde. Sie hatte ihn entwaffnend angelächelt, was er mit einem kalten Blick beantwortet hatte. Humor gehörte offensichtlich nicht zur Arbeitsplatzbeschreibung der schwedischen Zollbehörde.

*

Sie fuhr langsam durch das alte, schmale Burgtor in der Stadtmauer, die zum UNESCO-Weltkulturerbe gehörte.

In Visby war alles fußläufig zu erreichen, hässliche Reklameschilder waren aus dem Innenstadtbereich verbannt, und alles war frisch renoviert und gepflegt. Das Auto holperte ächzend über die unebenen Pflastersteine. Sie hatte Glück und fand direkt eine freie Parklücke, normalerweise eine dauerhafte Mangelware auf der Felseninsel.

Sie quetschte sich haarscharf auf das markierte Feld zwischen zwei Teslas, nahm den Rucksack aus dem Kofferraum und schloss das Auto ab.

Durch den Kern der Altstadt bewegte man sich am besten zu Fuß. Man verfranzte sich sonst leicht in den verwinkelten Gassen, von denen jede zweite eine Einbahnstraße war. Und ihr großer Wagen war dort ungefähr so praktisch wie ein Panzer.

Sie erreichte den Spirituosenshop gerade noch rechtzeitig vor Ladenschluss. Vor der Eingangstür saß eine Roma auf dem Boden und trotzte der schneidenden Kälte. Josefine fischte ein paar Münzen aus der Tasche und legte sie auf ein Stück faltigen Velours. Die Frau bedankte sich mit einem zahnlückigen Lächeln.

Im Laden herrschte eine entspannte Stimmung. Josefine entschied sich für eine der günstigeren Flaschen Rotwein, die allerdings auch schon fast hundert Kronen kostete, und legte sie in ihren Einkaufskorb. Dann packte sie noch ein paar Flaschen Pilsner Urquell dazu, bezahlte und verließ den Laden. Von dort ging sie in den Supermarkt nebenan und kaufte Koteletts, Sahne, Champignons und ein paar andere Dinge, die ihr fehlten.

Sie stellte den Einkauf in den Kofferraum, startete den Wagen und schlängelte sich dann mühsam durch die enge Gasse, ehe sie scharf links in die steile Kopfsteinpflasterstraße abbog zu dem bezaubernden kleinen Fachwerkhaus, das sie gemietet hatte.

Nachdem sie den Wagen abgestellt hatte, schleppte sie die Einkaufstüten zur Haustür und schloss auf. Sie freute sich auf einen gemütlichen Abend vor dem Kamin. Aus dem Fenster sah man die Türme der Domkirche und dahinter das unruhige Meer mit den weißen Gischtkronen.

Sie öffnete ein Bier, machte Feuer im Kamin und bereitete Ofengeschnetzeltes vor, eins der wenigen Gerichte, die sie meisterte, ohne sich sklavisch an ein Rezept zu halten.

Sie nahm den Teller mit vor den Fernseher, den sie aber bald wieder ausschaltete, weil nichts Spannendes lief. Sie schaute stattdessen auf die Glut hinter der Glasscheibe des Kamins. Die rubinrote Farbe und das Ticken des Metalls hatten etwas Beruhigendes. Aber es konnte das Gefühl von Einsamkeit nicht ganz vertreiben, das sie schon den ganzen Tag hatte. Und wieder einmal dachte sie an Xander. Aber das hatte keinen Sinn, sie musste ihn vergessen. Außerdem war sie diejenige gewesen, die die Notbremse gezogen hatte.

Sie holte ihren Laptop und schrieb ein bisschen was zu ihrem Projekt am Galgenberg, bis sie müde wurde. Sie beschloss, früh ins Bett zu gehen, doch dann konnte sie nicht einschlafen. Der Sturm pfiff ums Haus, und sie musste sich erst an die vielen ungewohnten Geräusche gewöhnen. Als ihr gerade die Augen zufielen, erreichte sie mit einem Pieps eine SMS des früheren Pflegers ihres Vaters, Whinston. Er machte sich Sorgen um ihren Vater, weil er so traurig wirkte und sie sehr zu vermissen schien.

Die bedrückende Nachricht befeuerte Josefines ewig schlechtes Gewissen. Trotzdem war sie froh, dass der ehemalige Pfleger ihren Vater so treu in seinem neuen Pflegeheim besuchte.

Kapitel 3

Linköping, Schweden

Ein sensationeller Knochenfund in einem Altertumsgrab nahe der schwedischen Stadt Motala hatte für Schlagzeilen in den Medien gesorgt, und der leitende Archäologe Calle Åberg erzählte bei diversen Auftritten im Fernsehen nur zu bereitwillig von dem aufsehenerregenden Grabfund.

An der Stelle, wo Göta Kanal und Motala Ström sich kreuzten, hatten die Archäologen auf einer grünen Wiese ein Gemeinschaftsgrab freigelegt, wo früher einmal Moor gewesen war. Elf Individuen lagen dort zusammen mit einem Haufen Tierknochen und diversen Grabbeigaben.

Der fruchtbare Boden um Motala herum war eine archäologische Goldgrube für sowohl Menschen- als auch Tierknochen. Åbergs Team hatte also reichlich zu tun an diesem idyllischen Ort, der sicher schon früher eine große Anziehungskraft besessen hatte.

Dass die Knochen nach beinahe achttausend Jahren in der Erde nicht zerfallen waren, war schon eine Sensation an sich, aber dass einige der Schädel komplett intakt waren, hatte international Aufsehen erregt.

Åberg war ein ambitionierter Forscher in den Vierzigern, der seine älteren Kollegen inzwischen um Längen überholt hatte, was wissenschaftliche Artikel und epochale Funde betraf. Er war ein energischer Verfechter moderner Technologien, um den Knochen ihre Geheimnisse zu entlocken, und er nutzte gerne die bildgebenden Verfahren wie MRT, die normalerweise für die Diagnose von Krankheiten bei lebenden Menschen eingesetzt wurde. So hatte er diesbezüglich auch hier eine Absprache mit dem Krankenhaus vor Ort getroffen, dessen Leitung dem Projekt unter der Bedingung zugestimmt hatte, die Untersuchungen außerhalb der normalen Öffnungszeiten durchzuführen.

Åberg hatte die zwei am besten erhaltenen Schädel aus dem Grab für das MRT der Klinik ausgesucht. Auf dem Ausgrabungsplatz nutzten sie ein mobiles Röntgengerät, aber die miese Bildqualität zeigte nur unscharfe Konturen dessen, was einmal ein lebendiger Mensch gewesen war. Das hatte zu seinem Entschluss geführt, die Knochen nur teilweise auszugraben, um sie vor dem Zerfall zu schützen. Die ausgewählten Schädel hatte er mit der sie umgebenden Erde in selbstgezimmerte Holzkisten gepackt, die das empfindliche Material wie ein natürlicher Helm beschützen sollten. Zuerst wollte er die Schädel im Erdreich durchleuchten, ehe sie gereinigt und konserviert wurden. So vermied er, das empfindliche Knochengewebe zu beschädigen, das weder Licht, Luft noch menschliche Berührung vertrug. Åberg hatte die Kisten persönlich mit seinem Assistenten gezimmert, um kein unnötiges Risiko einzugehen. Diese Gründlichkeit und turmhohen Ambitionen waren der Schlüssel zu seinem Erfolg.

Der Professor hatte an die Presse durchsickern lassen, dass er im MRT ein paar Schädel aus der Steinzeit untersuchen wollte, danach hatte es nicht lange gedauert, bis auf allen Newskanälen zu lesen war, dass die Skelette mit dem gleichen Gerät untersucht würden wie die lebenden Patienten, was Åberg gut in den Kram passte. Solche Schlagzeilen waren die beste Werbung, und die Presse hatte den Köder roh geschluckt.

*

Mit der Leiterin der Röntgenabteilung hatte er abgemacht, die Untersuchung sehr früh am Morgen durchzuführen, damit sie nicht mit dem normalen Krankenhausbetrieb kollidierte.

Jetzt rollten die Steinzeitschädel in einem unauffällig aussehenden Lieferwagen gemächlich in nahezu royalem Tempo durch Linköpings Straßen. Der Himmel war bleigrau, und in dem dichten Nieselregen wirkten die Straßenlaternen gespenstisch mit ihren milchig gelben Lichtkegeln, die sich in dem glänzenden Asphalt spiegelten.

Als der Wagen sich dem Krankenhaus am Rand des Zentrums näherte, wurde er noch langsamer. Und vor dem Haupteingang wurde er von einem grellen Blitzlichtgewitter empfangen.

Åberg betrachtete die vor dem Eingang zusammengeströmte Menschenmenge und gab dem Fahrer Anweisungen, während er seinen breitkrempigen Cowboyhut zurechtrückte, den er gerne im Fernsehen trug oder wenn er draußen beim Ausgrabungsplatz gefilmt wurde.

Sie parkten vor dem Haupteingang. Åberg stieg aus und plauderte mit ein paar Journalisten, die er von früheren Begegnungen kannte. Er war ein großer Mann, der gerne praktische Kleidung trug, mit Vorliebe von Fjällräven. Das schüttere Haar war in einem dünnen Pferdeschwanz zusammengebunden. Der Fahrer, ebenfalls Archäologe und Åbergs Assistent, ging zum Empfang und organisierte einen Rollwagen.

Mit einem Lächeln bat Åberg die Presseleute, Platz zu machen, öffnete die Türen zum Laderaum und hievte zusammen mit seinem Assistenten zwei große Holzkisten auf den Rollwagen, den sie dann feierlich ins Krankenhaus schoben.

Im Gebäudeinneren brannte grelles Licht, es roch nach chlorhaltigen Reinigungsmitteln und anderen Chemikalien. Die Flure waren lang, und an den Türen standen kryptische Nummern.

Die Räder quietschten leise in den fast menschenleeren, stillen Korridoren.

Sie fuhren mit dem Aufzug ins Untergeschoss. Åberg rückte den Hut so zurecht, dass er etwas schräg saß. Am Ende des Flurs bogen sie links ab und blieben vor einer Tür stehen, nachdem sie die Nummer auf dem kleinen Metallschild überprüft hatten.

»Erfreulich viele Journalisten«, sagte Åberg zufrieden.

Der Assistent strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Da wird ja wohl der eine oder andere was schreiben«, nickte er.

»Ich werde sie briefen, sobald wir hier fertig sind«, sagte Åberg. »Das kommt authentischer rüber als die vorher abgesprochenen Interviews, die immer so gestellt wirken.«

Der Assistent nickte erneut.

Sie betraten einen grellweiß erleuchteten Raum, in dem ein elektronisch brummendes, großes Gerät stand.

Sie hörten Schritte draußen im Korridor, ehe eine weißgekleidete Frau eintrat und sie begrüßte. Sie leitete die Röntgenabteilung und hatte dem Archäologen-Team die Nutzung ihrer Geräte angeboten. Ihr graues Haar war hochgesteckt, und sie sah sie mit lebhaften blauen Augen an.

»Danke für das Angebot, Ihre Geräte nutzen zu können«, sagte Åberg und drückte ihre Hand.

»Es freut mich, wenn ich helfen kann. Das hört sich alles sehr spannend an. Wie alt sind die Schädel, sagen Sie?«

»Ungefähr achttausend Jahre, schätzen wir.« Er lächelte.

»Aber … wie ist so etwas überhaupt möglich?«

»Glück … in Kombination mit einer optimalen Bodenbeschaffenheit.«

Er hielt ihren Blick eine Sekunde fest und richtete seinen Fokus dann auf die Holzkisten.

Åberg hatte selbst seinen Augen nicht getraut, als die Ergebnisse der vorläufigen Analysen des Knochenmaterials gekommen waren. Er hatte Knochen aus verschiedenen Sektionen des großen Gemeinschaftsgrabes zum Test eingereicht. Dass die Knochen aber so alt sein würden, da musste selbst ein erfahrener Archäologe wie er sich in den Arm kneifen.

Dementsprechend ungeduldig war er, mit der Arbeit anzufangen, in die er große Erwartungen setzte. Die vorläufigen Untersuchungen des Grabes mit dem Bodenradar und dem mobilen Röntgengerät hatten gezeigt, dass die Schädel extrem gut erhalten waren, aber einige interessante Verletzungen aufwiesen, die möglicherweise bedeuteten, dass die Menschen aus der Zeit besonders kämpferisch veranlagt gewesen waren und sich gegenseitig bekriegt hatten – eine Verhaltensweise, die die Archäologen dem nordischen Steinzeitmenschen bisher eher nicht zugeschrieben hatten. Åberg hatte mehrere auf Holzpflöcken steckende Schädel gefunden, was mindestens so sensationell war wie die Knochenfunde selbst, weil Holz nach mehreren Tausend Jahren in der Erde normalerweise längst verrottet sein müsste.

Diese Knochen waren insgesamt in einem so erstaunlich guten Zustand, dass ihre Entdeckung in die Annalen eingehen würde. Åberg schwebte vor, dass der Fund seinen Namen unsterblich machte.

Er hatte die Ausgrabungen im Flussdelta von Motala organisiert und war über Nacht berühmt geworden, als sich herausstellte, dass die Knochen von Steinzeitmenschen stammten.

Er nahm den Hut ab, legte ihn weg und strich sich über die Stirn. Dann richtete er den Pferdeschwanz.

In einer der Holzkisten lag der kleinere Schädel einer vermutlich jüngeren Frau. Er wies einen massiven Schaden am Scheitel auf, ob natürlich verursacht oder gewaltsam zugefügt, würde hoffentlich im MRT geklärt werden. Åberg stellte sich die Frau mit hellblonden Haaren und blauen Augen vor. Eine skandinavische Schönheit, die vor dreihundert Generationen begraben worden war.

Er hatte sie auf den einer Diva würdigen Namen Greta getauft.

Der zweite, größere Schädel mit länglichem Kopf und kräftigem Kiefer wie die Bugklappe einer Fähre gehörte definitiv einem Mann. Das undeutliche Röntgenbild aus dem Gemeinschaftsgrab zeigte nach Åbergs Ansicht das Prachtexemplar eines männlichen Kriegers. Zu dem imposanten Schädel und der breiten, soliden Stirn passte der Name Harald. Vielleicht waren Greta und Harald damals ja ein Paar gewesen, dachte er.

»Legen wir los«, sagte Åberg ungeduldig. »Wir fangen mit Greta … ähm, mit der Frau an.« Sie gingen zu der Kiste mit dem Frauenschädel. »Vorsichtig«, ermahnte er den Assistenten. »Sie war eine zierliche Frau, und ihr darf nichts zustoßen.«

»Greta?«, fragte die Abteilungsleiterin mit einem schelmischen Lächeln.

»Ja«, antwortete Åberg und erwiderte ihr Lächeln. »Einige Exemplare bekommen Namen. Den anderen habe ich Harald getauft.« Er zeigte zu der Kiste mit dem Krieger. »Zu manchen Funden entwickelt man eine ganz persönliche Beziehung. Für die Frau schien mir Greta passend.«

Die Leiterin nickte.

Der Name Greta war ihm in den Sinn gekommen, als er auf der nackten Erde des Flussdeltas gekniet und mit dem mobilen Röntgenapparat nahezu zärtlich über die Erde gewischt hatte und auf dem Bildschirm ganz schüchtern das Schwarzweißbild des Frauenschädels erschienen war. Greta klang urschwedisch, fand er, und natürlich dachte er dabei auch an die schwedische Schauspielerin mit Nachnamen Garbo und an die junge schwedische Umweltaktivistin.

Jedenfalls stand für ihn fest, dass Gretas Schädel zuerst näher in Augenschein genommen werden sollte.

Gemeinsam hoben sie behutsam die Holzkiste aus einem Pappkarton, der zusätzlich mit Holzwolle gepolstert war. Ein paar Fasern rieselten lautlos zu Boden, als sie die Kiste zu dem weißen Arbeitstisch trugen.

Es war mucksmäuschenstill in dem Raum.

Die Leiterin ging an ein Schaltpult und tippte etwas ein.

Währenddessen ging Åberg durch den Kopf, was Greta in ihrem kurzen Leben wohl alles widerfahren sein mochte. Die durchschnittliche Lebenserwartung des Steinzeitmenschen lag bei fünfunddreißig Jahren. Vermutlich hatten sie damals intensiver gelebt. Und was war das Letzte gewesen, was sie gesehen hatte? War sie brutal ermordet worden oder eines natürlichen Todes gestorben? War der Schädelknochen vom Gewicht der Erde zerdrückt worden? Fragen gab es viele, aber er hatte schon vor Langem akzeptiert, dass man auf manche Dinge niemals eine Antwort bekam.

Sie hatten nur den Schädel der jungen Frau gefunden, der Rest des Skeletts war nicht vorhanden. Vielleicht war es ein spezielles steinzeitliches Ritual, den weiblichen Kopf und Körper an unterschiedlichen Stellen zu bestatten.

Es war beeindruckend, wie der Mensch sich seit Gretas und Haralds Zeiten entwickelt hatte.

Die Menschen früher hatten zum Mond aufgeschaut, inzwischen waren einige von ihnen auf dem Mond gelandet. Jahrtausendelang waren Menschen um dieses Grab herum und darüber hinweg gelaufen. Die Skelette waren Besucher aus einer fernen Vergangenheit, wo die Fähigkeit, Feuer zu machen, zu den größten Errungenschaften gehört hatte. Nun sollten diese Schädel durchleuchtet werden – mit einer unfassbaren Technik, die es ermöglichte, ins Innere des Körpers zu schauen, ohne die Haut aufzuschneiden.

»Kommen Sie … das Gerät ist bereit … Wir gehen in den Nebenraum«, sagte die Leiterin und führte sie in einen Kontrollraum, von wo sie durch ein Fenster das MRT und den Tisch sehen konnten, auf dem der Schädel seine langsame, majestätische und einsame Reise in die Röhre antrat und aus ihrem Blickfeld entschwand.

*

Åberg studierte eine Reihe gestochen scharfer Schwarzweißbilder von Gretas Schädel, die sich auf dem Bildschirm eines Laptops vorbeibewegten.

»Das hier sind die ersten Bilder«, sagte die Leiterin und klickte ein Icon an, worauf das Bild sich langsam aufbaute, bis es den ganzen Bildschirm füllte.

Åberg brauchte einen Augenblick, bis er Erde und Knochen unterscheiden konnte. Von dem Loch einmal abgesehen, war der Schädel insgesamt besser erhalten, als er zu hoffen gewagt hatte. Ein vollkommen intakter Schädel nach so vielen Tausend Jahren in der Erde war auch nicht zu erwarten gewesen. Im Gegensatz dazu leuchteten die Zähne erstaunlich weiß.

Die Stimmung im Raum, in dem normalerweise lebende Patienten untersucht wurden, war andächtig. Dies war ein historischer Augenblick, dachte Åberg und spürte ein behagliches Kribbeln im Bauch.

Er rutschte auf die vordere Stuhlkante, um ja kein Detail zu verpassen. Bei der Vorstellung, gleich in das Innere eines jahrtausendealten Schädels zu blicken, spürte er ein aufgeregtes Ziehen im Magen. Das war fast besser als Sex, dachte er.

Außer dem leisen Surren der Lüftungsanlage war es ganz still.

Er freute sich schon auf das ausführliche Detailstudium der Bilder, darauf, alles zu vermessen und herauszufinden, ob es Abweichungen gab, evolutionäre Variationen. Eine Einordnung der Schädelform vorzunehmen, um sagen zu können, ob und welche Entwicklungen es im Laufe der Jahrtausende gegeben hatte.

Da fiel sein Blick auf etwas, das das ekstatische Gefühl einer leichten Unruhe weichen ließ, die ihn wie ein kalter Hauch streifte.

»Könnten Sie das bitte mal ranzoomen … dort?«

Er zeigte auf einen helleren Punkt auf dem Bildschirm. Das Bild wackelte kurz, ehe es sich wieder stabilisierte, und nun sahen auch die anderen den Fleck auf dem Schädel, der Åbergs Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte.

»Was zum Teufel ist das?«, fragte er mit scharfem Tonfall, und die Frage schwebte unbeantwortet durch den weißen Raum.

»Vielleicht ein Stein?«, schlug sein Assistent mit leiser Stimme vor, als würde er selbst nicht daran glauben.

Åberg reckte den Hals und studierte mit zusammengekniffenen Augen den Bildausschnitt.

»Können wir den Schädel auch von unten sehen?«

Die Abteilungsleiterin gab etwas in die Tastatur ein.

»Augenblick …«

Das Bild fror kurz ein und verrutschte einen Hauch, ehe sie aus einem neuen Winkel vom Unterkiefer aus in den Schädel schauen konnten. Das Loch, wo die Nackenwirbel an den Schädel ansetzten, sah aus wie eine schwarze Pupille. Die Zähne schienen vollzählig zu sein, wie Åberg nach einem automatischen Check feststellte, während seine Nervosität wuchs.

Er spürte die Blicke der Leiterin und seines Assistenten auf sich brennen, als hätten sie das Gleiche gesehen.

»Könnte unsere Datierung falsch sein?«, fragte der Assistent zurückhaltend, wohl wissend, dass er sich auf gefährlich dünnem Eis bewegte. »Vielleicht eher frühe Bronze?«

»Nein«, widersprach Åberg mit fester Stimme. »Die Grabanlage … und die Analysen der übrigen Knochenfunde deuten ganz klar auf Steinzeit.«

»Vielleicht haben … äh, Bronzezeitmenschen das Grab gefunden und etwas dazugelegt? Eine Opfergabe?«

»Sieht das vielleicht aus wie eine verfluchte Pfeilspitze?!«

Åberg erschrak selber vor seiner lauten Stimme, die von den nackten Wänden zurückhallte.

»Nein, das … so sieht es nicht aus«, sagte der Assistent eingeschüchtert.

Åberg ging zu der Kiste, in der ein kleiner Teil des Schädels unbedeckt war. Er strich sich über das Kinn, und eine angespannte Stille senkte sich über die Anwesenden.

»Ruf im Institut auf Gotland an«, sagte er zu seinem Assistenten. »Sag ihnen, dass sie so schnell wie möglich jemanden schicken sollen!«

Der Assistent bewegte sich zum Ausgang.

»Ich geh raus auf den Flur, in diesen Bleiwänden ist kein Empfang.«

Kapitel 4

Josefine bemerkte ein paar Ü-Wagen mit langen Antennen von einem der großen schwedischen Fernsehsender, die rücksichtslos kreuz und quer vor dem Klinikeingang parkten. Dazwischen liefen die Fernsehleute herum und bauten ihre Ausrüstung auf. Es herrschte die reinste Jahrmarktstimmung. Sie war gespannt, was es mit dem Eilauftrag auf sich hatte. Die Nachricht, dass sie so schnell wie möglich zum Krankenhaus nach Linköping kommen sollte, hatte natürlich ihre Neugier geweckt, und dass es obendrein noch etwas mit dem sensationellen steinzeitlichen Knochenfund zu tun haben sollte, von dem sie gelesen hatte, machte das Ganze extra spannend. Da ihr schwedischer Kollege sich krankgemeldet hatte, hatte sie die Gelegenheit ergriffen und sich auf den Weg gemacht.

Josefine tätigte einen Anruf, um zu fragen, wo sie sich treffen sollten, und erhielt eine Raumnummer im Untergeschoss. Sie quetschte sich durch die Journalistentraube, die sich vor dem Haupteingang des Klinikgebäudes gebildet hatte, und begab sich über die Treppe in die Kellerebene. Sie irrte eine Weile herum, ehe sie den richtigen Raum fand und anklopfte. Ein großer Mann mit dünnem Pferdeschwanz und Hakennase öffnete ihr die Tür.

»Kommen Sie rein«, sagte er und stellte sich als Calle Åberg vor. Er wirkte sehr kurz angebunden. »Wir haben das eine Individuum durchleuchtet … eine jüngere Frau aus der Steinzeit.« Er fing ihren Blick ein. »Ich gehe davon aus, dass Sie von dem Fund in Motala gelesen haben?«

Josefine nickte. Natürlich hatte sie alle Neuigkeiten über den sensationellen Fund gut erhaltener Knochen aus der Steinzeit mit großem Interesse verfolgt.

»Es gibt einen Hinweis auf den Röntgenbildern, dass wir uns womöglich geirrt haben …«

Josefines Herz schlug schneller.

*

Ein großes weißes MRT-Gerät dominierte den Raum. Josefine begrüßte die Radiologin, die die Röntgenabteilung leitete, und Åbergs Assistenten, der sie gebeten hatte zu kommen. Er war leichenblass, wirkte nervös und wischte sich trotz der niedrigen Temperaturen im Raum ständig mit einem Papiertuch den Schweiß von der Stirn.

»Könnte ich mir die Bilder mal ansehen?«, bat sie.

Die Leiterin drehte ihr den aufgeklappten Laptop zu.

Josefine setzte sich auf einen Rollhocker, zog sich näher an den Bildschirm heran und versuchte, auf den dunklen Bildern etwas zu erkennen. Die Konturen eines Schädels traten langsam hervor. Die Erde zeigte sich auf dem Bildschirm in Hellgrau, und um den Schädel herum waren runde weiße Formationen verteilt, vermutlich kleinere Steine.

Ihr Blick blieb an etwas hängen, das herausstach.

»Könnte das Metall sein?«, überlegte sie laut und strich sich eine Strähne aus der Stirn.

Åberg nickte wortlos. Sein Blick wirkte ruhig, aber die Kiefermuskeln arbeiteten energisch, und sein Gesicht glänzte unter einem dünnen Schweißfilm.

»Sehr merkwürdig«, stellte sie fest. »Darf ich mir das mal genauer ansehen? Ich bin auch sehr vorsichtig.«

Åberg nickte. Sein Adamsapfel bewegte sich hektisch auf und ab.

»Selbstverständlich … Da drüben in der offenen Kiste.« Er zeigte zu einem Tisch, auf dem die beiden Holzkisten standen. »Wir haben befürchtet, dass die Schädel zerfallen, wenn wir sie aus der Erde nehmen.«

Es war nicht ungewöhnlich, altertümliche Funde in ihrem Milieu zu belassen, bis die Konservatoren die Objekte präparieren und stabilisieren konnten.

Aus der Kiste stieg ein erdiger Geruch. Sie erkannte die Umrisse eines mit Erde gefüllten Schädels. Auf der oberen Schädeldecke war ein großes Loch, das wie ein dunkler Krater aussah.

*

Mit einem kleinen, an ein Messer erinnernden Spatel, den sie sich von Åberg geliehen hatte, entfernte Josefine in winzigen Portionen die Erde aus dem Innern des Frauenschädels.

Der Assistent saß auf einem Stuhl und tippte auf seinem iPhone herum. Die Kiste mit dem männlichen Schädel stand in der Ecke. Der war inzwischen auch durchleuchtet, aber ohne etwas Ungewöhnliches zu finden.

Die Klinik hatte ihnen einen kleinen Wäscheraum zur Verfügung gestellt, wo sie ungestört arbeiten konnten, nachdem der Tagesbetrieb wieder losgegangen war. Josefine trug einen Mundschutz und Handschuhe, um das Knochenmaterial nicht zu kontaminieren.

Åberg saß auf einem Stuhl neben ihr und verfolgte mit glanzlosem, steifem Blick ihre Bewegungen.

Josefine arbeitete gründlich und zielstrebig und hatte bald den größten Teil der Erde aus dem Schädelinnern entfernt, als der kleine Spatel mit einem scharfen Laut auf etwas Hartes traf, entweder ein Stück Schädelknochen oder einen Stein in der Erde.

Ganz behutsam hob sie den Gegenstand heraus und zog die Augenbrauen hoch. Für einen Stein war er zu leicht, dachte sie, als sie ihn in der Hand wog.

Åberg erhob sich und stellte sich hinter sie.

Sie reinigte das kleine Teil sorgfältig mit einem weichen Pinsel. Im Pinzettengriff drehte sie den Gegenstand im Licht hin und her und begutachtete ihn ausgiebig.

Dann verglich sie die MRT-Aufnahme mit dem leuchtenden Gegenstand, der die Form einer Pyramide hatte.

»Sehr merkwürdig«, murmelte sie und legte das Objekt vorsichtig auf ein Stück Polsterwatte.

»Was ist das?«, fragte Åberg.

»Ein Knochenfragment«, antwortete Josefine.

»Und was ist daran merkwürdig? Ich meine … die Schädeldecke ist schließlich zertrümmert …«

»Ich glaube nicht, dass der Knochensplitter von der Schädeldecke stammt.«

Sie sah sich das Loch im Schädel an, zog die Latexhandschuhe zurecht und fuhr mit der Zeigefingerspitze in langsamen Kreisen am Rand entlang, der die Farbe von vergilbtem Elfenbein hatte. Sie ertastete keine Kerben im Schädelknochen, wie man es bei altertümlichen Werkzeugen erwarten würde, die Bruchfläche war ganz glatt und messerscharf. Wäre sie abgerundet gewesen, hätte man davon ausgehen können, dass die Frau mit der Verletzung weitergelebt hatte und der Knochen irgendwann verheilt war. Aber eine derart massive Verletzung konnte kein Mensch überleben. Der obere Teil der Schädeldecke war abgetrennt worden wie bei einem geköpften Ei. Mit chirurgischer Präzision.

Josefine hatte noch immer nicht herausgefunden, was der leuchtende Fleck auf dem MRT-Bild war. Sie drehte den Schädel vorsichtig herum, und ein paar Erdkrumen rieselten aus dem Hohlraum. Als sie sich die Zähne genauer ansah, konnte sie keinerlei Abnutzung daran erkennen. Die Bissseite menschlicher Zahnfunde aus dem Altertum war oft ganz glattgeschliffen, aber diese Frau hatte geriffelte Kauflächen wie kleine Bergrücken.

Josefine räusperte sich.

»Der Schädel stammt aus der Jetztzeit.«

Die Botschaft hing kurz in der Luft, ehe sie bei den anderen ankam.

Åberg sah sie schockiert an, sein Assistent schaute von seinem iPhone hoch.

»Wollen Sie damit sagen …?«

Josefine nickte.

»Sie hat nicht viel länger als zwanzig Jahre dort gelegen, wenn es hochkommt, dreißig. Und hier haben wir die Erklärung für den leuchtenden Fleck auf dem MRT-Bild.« Josefine kippte den Schädel und zeigte auf einen runden, dunklen Fleck auf einem der Backenzähne. »Das ist Amalgam, wie es zur Füllung von Zähnen verwendet wird. Eine Mischung aus Quecksilber, Kupfer, Zinn und Silber … Und wenn Sie sich die Kauflächen ansehen, ist kein Verschleiß zu erkennen.«

Josefine drehte den Schädel wieder um.

»Die Färbung des Knochens um die Bruchstelle herum ist etwas heller als der Rest. Ich gehe davon aus, dass sie auf der Stelle tot war … kein Mensch überlebt so einen brutalen Schaden. Die Bruchfläche ist sehr interessant, die Kante ist ganz sauber und messerscharf«, fuhr sie fort, ohne den Blick von dem Loch in der Schädeldecke zu nehmen.

Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.

»Wir haben es mit zwei Personen zu tun,« fasste Josefine ihre Untersuchung zusammen.

»Dann gehört das Knochenstück nicht zu ihr?«

»Nein«, sagte Josefine. »Das kommt von einer anderen Person. Der Schädel der Frau ist intakt bis auf das Loch an der Schädeldecke. Und das Knochenfragment stammt definitiv von der Schädelbasis.«

Åberg nickte ungläubig wie in Trance.

Josefine sah sich noch einmal das MRT-Bild der vermeintlichen Steinzeitfrau mit dem hübschen Spitznamen Greta an, mit besonderem Augenmerk auf die Zähne. Die Amalgamfüllung sah aus wie ein funkelnder Sternengruß aus der Vergangenheit.

Niemand sagte etwas. Åberg ließ sich wieder auf den Stuhl fallen.

»Könnt ihr euch vorstellen, wie die Presse sich darauf stürzen wird?«, sagte er und zupfte an seinem Pferdeschwanz. »Da interessiert sich doch kein Hund mehr für die Altertumsfunde.«

Er schüttelte langsam den Kopf.

*

Josefine fasste zusammen, was sie bislang herausgefunden hatte. Der Schädel gehörte zu einer jüngeren Frau, vermutlich einer Europäerin. Die Zähne waren gepflegt und gut erhalten, und abgesehen von der Zahnfüllung gab es keine Löcher oder Fehlstellungen. Wegen des Quecksilbers und des Risikos einer Schwermetallvergiftung wurden heute keine Amalgamfüllungen mehr gemacht, aber noch vor dreißig Jahren war das die gängigste und preiswerteste Methode gewesen. Es war also durchaus möglich, dass die Frau seit dreißig Jahren tot war, als Amalgamfüllungen noch üblich waren, ehe sie von den Kunststofffüllungen abgelöst wurden.

Ob diese Frau ermordet worden war, könnten sie erst mit Sicherheit sagen, wenn sie wussten, ob die Kopfverletzung ihr vor oder nach Eintritt des Todes zugefügt worden war. Das Ganze wirkte recht arrangiert, und man musste schon ganz schön abgebrüht sein, einen Schädel auf diese Weise aufzusägen und ein fremdes Stück Knochen hineinzulegen.

Josefine nahm das Knochenstück vom Tisch und hielt es gegen das Licht, während ihr durch den Kopf ging, dass hinter dem Ganzen vermutlich eine sehr beunruhigende Geschichte stand.

Auf eine Eingebung hin suchte sie den Raum nach einem Maßband ab und fand schließlich auf einem Regal ein Metalllineal. Sie vermaß das Knochenstück, notierte alles auf einem Blatt Papier und rechnete mit gefurchter Stirn im Kopf nach.

Ihr wurde eiskalt, als sie zu dem unheimlichen Ergebnis kam.

»Wir sollten besser die Polizei hinzuziehen«, sagte sie.

Kapitel 5

Hampus Oxenstierna von der Polizei Linköping begrüßte sie mit einem festen Händedruck.

Der Chef der Abteilung für Gewaltverbrechen war der Archetyp eines Schweden. Er war kräftig gebaut, hatte kurzgeschnittenes, strohfarbenes Haar und wirkte viel zu groß für die klaustrophobisch enge Wäschekammer im Klinikkeller, wo hinter sorgfältig verschlossenen Türen die Untersuchung von Gretas Schädel durchgeführt wurde, während die Presse ungeduldig vor den Toren wartete.

»Und?«, fragte Oxenstierna. »Was haben Sie für mich?«

Dabei fuhr er sich mit der Hand durchs struppige Haar und grinste schief.

Åberg war stumm, als fehlten ihm die Worte für die niederschmetternde Tatsache, dass eins seiner Steinzeitwunder eine Niete war.

»Sie haben es mit zwei Morden jüngeren Datums zu tun«, sagte Josefine ernst und begegnete seinem Blick. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir haben hier einen Frauenschädel, in dessen Hohlraum das Knochenfragment eines Kinderschädels liegt.«

Es wurde still, während die Nachricht sich setzte.

»Und woher wissen Sie, dass der Schädel nicht aus der Steinzeit ist?«, fragte der Polizist neugierig.

Josefine suchte die Bilder von dem Schädel und hielt sie vor die Lichtarmatur unter der Decke. Sie zeigte auf einen silbrig glänzenden Punkt am unteren Schädelrand.

»Das ist eine Amalgamfüllung«, erklärte sie.

Oxenstierna sah sich das Bild aus der Nähe an und strich sich übers Kinn.