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Drei wissenswerte Tatsachen 1. Dies ist eine Geschichte über den Tod. 2. Dies ist eine Geschichte über den Tod, der das Nasenbein gestrichen voll hat von rostigen Sensen und kratzigen Umhängen. 3. Dies ist eine Geschichte über den Tod, die folgende Dinge beinhaltet: - Das Leben - Das Schicksal - Eine Reise zur Zeit - Den todesmutigen Versuch, ein paar Menschen zu retten - Und ein zufällig gelüftetes Geheimnis, das alles über den Haufen wirft. Aber lest selbst.
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Seitenzahl: 332
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Impressum
Prolog
Kapitel 1
Teil 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Teil 2
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Epilog
FAQ
Sentimentales Gedöns und dergleichen!
Über die Autorin
Copyright © 2016 by
Drachenmond Verlag
Astrid Behrendt
Rheinstraße 60
51371 Leverkusen
http: www.drachenmond.de
E-Mail: [email protected]
Lektorat: Alexandra Fuchs
Korrektorat: Michaela Retetzki
Layout: Michelle N. Weber
Umschlagdesign: Marie Graßhoff
Bildmaterial: Shutterstock
Illustrationen Tod: Sarah Adler
ISBN 978-3-95991-193-1
Alle Rechte vorbehalten
Manche Dinge geschehen im Jetzt. Manche haben bereits stattgefunden. Und manche geschehen in der Zukunft …
Hier beginnt meine Geschichte.
Irgendwann nachts, in einer schmutzigen kleinen Stadt, auf einem von Laub und durchnässten Zeitungen erstickten Gehsteig, starb eine Katze.
Es war – nach Menschenzeit – 01:26 Uhr morgens, an einem Donnerstag, der trübe war wie so viele Donnerstage, und die Geschichte ihres Todes war weder kurios noch besonders inspirierend. Es war ein Tod, wie ihn viele Katzen starben.
Verursacht hatte ihn folgender unglücklicher Zufall: Auf der anderen Straßenseite hatte etwas geraschelt. Es gibt vieles, das in der Art kleiner Nager raschelt, die sich im hohen Gras verstecken, und solch ein Geräusch kann lauter sein als das Dröhnen eines herannahenden Autos.
Scheinwerfer leuchteten grell auf, es gab einen dumpfen Aufprall. Es war kein besonders schöner Anblick, aber es dauerte nicht lange.1
Danach schleppte sich die Katze an den Straßenrand und brach kraftlos zusammen. Der Mörder hatte Fahrerflucht begangen und die Katze war ganz alleine, wie Sterbende es oft sind. Ihre Schnurrhaare zuckten. Ihr Atem verflüchtigte sich als dünner silberner Faden in der regenfeuchten Luft. Dann war alles still.
Einige Minuten verstrichen.
Auf der anderen Straßenseite bewegte sich etwas.
Aus der Dunkelheit, die vorhin so verlockend geraschelt hatte, löste sich ein Schatten. Eine zweite Katze, schwarz wie ein Rabenflügel in einer sternenlosen Nacht, senkte eine schmale Pfote auf den feuchten Asphalt. Mit der Gewandtheit eines Wesens ganz aus Wasser und Seide tänzelte das Tier näher, umging lässig die Abwasserpfützen, die hier und dort in den dreckverkrusteten Schlaglöchern lauerten, und wich geschmeidig einer verbeulten Bierdose aus. Als sie vor ihrem gefallenen Artgenossen zum Stehen kam, verdunkelte sich der Nachthimmel. Knisternd sprangen die Lichter der Straßenlaternen der Schwärze entgegen. Die Katze hob ihren golden schimmernden Blick.
Und sah geradewegs durch mich hindurch.
»Kusch«, sagte ich. Für einen Moment herrschte Stille. Die Ohren der Katze zuckten sanft, als sie zu mir aufschaute und sich meinen Vorschlag durch den Kopf gehen ließ. Dann sträubte sich ihr Fell. Sehr weise. Katzen wussten besser als jedes andere Lebewesen, wann es Zeit war, sich aus dem Staub zu machen.
»Verschwinde«, wiederholte ich mahnend, und endlich wölbte das Tier seinen Buckel und sprang mit einem Geräusch wie ein geplatztes Reifenventil in die Dunkelheit davon. Ich blieb reglos stehen und gab mich dem Neid hin. Auch ich hätte gern einem kleinen Panther mit vom Mondlicht umspielten Fell geglichen, der leichtfüßig durch die Nacht tanzte und dessen Schwärze nur von der des tiefsten Punkts des Marianengrabens übertroffen wurde.
Stattdessen war ich ein Besen.
Ihr habt richtig gelesen.
Drei wissenswerte Tatsachen
Drei wissenswerte Tatsachen
1. Dies ist eine Geschichte über den Tod.
2. Dies ist eine Geschichte über den Tod, die folgende Dinge erklären wird:
• warum ich aussah wie ein Besen,
• warum ich die schwarze Katze beneidete,
• warum ich – als Besen – dennoch sprechen konnte
• und wem ich dies alles zu verdanken hatte.
3. Dies ist eine Geschichte über den Tod,
und sie beginnt ganz am Anfang. Lasst es mich euch erklären.
Macht es euch bequem.
Als sich die Seele der Katze in den übernächtigten Borsten des Besens verfing, lichtete sich der Himmel …
1 Was der Katze garantiert kein besonders großer Trost war.
Anderswo war die Luft schwer vor Nebel.
Das einzige Geräusch war das endlose Branden der Wellen gegen zerklüfteten Stein.
Wo befinden wir uns? An der Küste von Cornwall. In welcher Zeit? Sagen wir einfach: Eines Tages …
Eines Tages saß ich an der Küste von Cornwall und las in einem abgegriffenen Buch, und das Schicksal war auch da. Seine langen, himmelblauen Gewänder spielten im Wind. Es stand nur ein paar Meter von mir entfernt und beobachtete vergnügt zwei miteinander zerstrittene englische Anwälte, die sich auf den Klippen entgegenkraxelten und dadurch unerwarteterweise zu Wanderkumpanen wurden. Erst dann, als sie sich in neu gefundener Eintracht eine Packung Trockenpflaumen teilten, drehte Schicksal sich zu mir um und tat so, als hätte es mich gerade eben erst bemerkt.
Was für ein Heuchler. In der Tat wusste ich, dass es mich schon gesehen hatte, bevor ich überhaupt dazu gekommen war, mich zu setzen.
Unter dem Schleier hoben sich seine Mundwinkel zu einem Lächeln.
»Wie schön, dass man dich auch mal wieder sieht, Tod. Es muss Ewigkeiten her sein. Was tust du?«
Und hier wird unsere Geschichte merkwürdig.
Ich hob meine Lektüre ein bisschen an, um den Blick auf den Einband freizugeben. Auf ihm waren die leicht abgewetzten Worte »Erste Hilfe – Spezialausgabe Sanitäterausbildung« zu lesen. Darunter prangte das Bild eines recht bleich geschminkten Mannes mit Platzwunde am Kopf, der (das wusste ich aus Berufserfahrung) ganz bestimmt nicht tot war. Es war nicht der alltäglichste Lesestoff für jemanden meines Berufs, auch wenn die Umstände, unter denen ich an das Buch geraten war, dunkel und verworren waren und die ein oder andere Leiche natürlich nicht entbehren konnten.
»Ich lerne, wie man Menschen das Leben rettet.«
Wie das Schicksal so spielte, stand es plötzlich recht unerwartet neben mir – das war eine seiner nervenaufreibenderen Eigenschaften – und hieb mir ziemlich fest auf die Schulter.1 Sein verschleierter Blick senkte sich neugierig auf die erste Seite und es ließ ein Geräusch hören, das entfernt an ein Lachen erinnern mochte. »Tod, du Trottel!«, verkündete es leichthin. Nerven muss man haben. »Das ist ein Buch von vor über zehn Jahren! Die Richtlinien sind bestimmt alle schon längst wieder überholt!«
Ich fragte nicht, woher es das wusste. Man hätte meinen sollen, das Schicksal habe mit Medizin nicht allzu viel am Hut – aber die traurige Tatsache war, dass die Type seine Finger so ziemlich überall drin hatte. Oh, natürlich kümmerte es sich in seiner Freizeit auch um tragische Liebende und was es an dergleichen Überflüssigkeiten noch so gab, aber einen erstaunlichen Großteil seiner Ränkeschmiedereien durfte am Ende der finstere Genosse auf dem Felsen mit dem Buch in der Hand ausbaden.
Wovon ich rede? Von Strängen, die im Hintergrund aus Langeweile gezupft, von Vorschriften, die geändert wurden, und von Todesopfern, die darunter leiden mussten, dass sich in den ersten paar Wochen niemand eine genaue Vorstellung davon bilden konnte, wie man sich mittlerweile zu verhalten hatte.
Davon, dass es auf der ganzen Welt mit ihrem unermesslichen Umfang nur einen gab, an dem dergleichen jedes einzelne Mal hängen blieb. Mich.
Dies ist eine Geschichte über den Tod, und sie beginnt nicht zufällig mit dem Schicksal.
Nennt es eine bis auf die Knochen reduzierte Biographie.
Eine kleine Vorgeschichte
Ein aufmerksamer Leser wird nicht umhinkommen, sich zu fragen, wie ein sonst so pflichtbewusster Tod auf die Idee kommt, Leben retten zu wollen, anstatt sie zu nehmen.
Das Ganze begann vor sechstausendeinhundertsechsundachtzig Jahren und ein paar Zerquetschten.
Damals hing der Rauch in dicken Schwaden in der kleinen Hütte. Geräuchertes Fleisch und getrocknete Pflanzen lagen in gut verschnürten Bündeln neben der Feuerstelle.
Damals beugte ich mich gerade über die in einer Ecke kauernde vogelnesthaarige Alte, die aussah wie ein Dörrapfel, und wartete geduldig darauf, dass sie endlich den Löffel abgab, als es geschah.
Sie sah mich an. Sie entblößte einen scharfen, gelblichen Zahn. Sie fluchte.
»Rotz und Bärenscheiße!« spie sie mir ins Gesicht. »Ich hasse den Tod!«
Ich fuhr zurück. Das für sich allein genommen war schon beleidigend genug, aber nichts, woran ich nicht gewöhnt gewesen wäre.2
Es kam jedoch noch dicker. Damals ließ die ganze Sippe, die sich um die muffige Bettstätte versammelt hatte, ein einträchtiges Brummen hören, das in der heutigen Zeit mit zustimmenden Ellenbogenstößen einhergegangen wäre. Damals ließ das junge Mädchen, das auf Kopfhöhe der Alten am Bett saß und garantiert weder von Tuten oder Blasen noch von Sterben eine Ahnung hatte, ein enthusiastisches Quäken hören, das mir verdächtig nach »Ich auch!« klang.
In der folgenden halben Stunde, die ich mich unwohl fühlend im Kreis dieser düsteren Gestalten herumdrücken musste, keimte ein Gedanke.
Damals gab es noch keine Bücher über Erste Hilfe.
Am Tag besagtenEines Tages schreckte ich in die Zukunft zurück und warf Schicksal einen strafenden Blick zu. Es hatte sich die Sache gespannt angehört, und jetzt erschien es mir beinahe, als lachte es mich aus. Ich ließ meinen Blick noch ein klein wenig finsterer werden.
»Rotz und Bärenscheiße, ich hasse dich. Glaubst du denn, jemand käme auf die Idee, dem Leben in die Augen zu schauen und so etwas zu sagen?
»Ach, darum geht es also. Du regst dich mal wieder über Leben auf.«
Das war mehr oder weniger mein Job, und jeder andere hätte sich an meiner Stelle auch aufgeregt. Aber das wollte ich Schicksal nicht wissen lassen.
»Die Menschen sind schlecht erzogen. Die meisten von ihnen heulen sich zwar unentwegt darüber aus, wie furchtbar ungerecht das Leben doch sei, aber dann schicken sie ganz schnell ein aber natürlich haben andere es schlechter hinterher, oder zumindest einen flüchtigen Gedanken à la aber sterben möchte ich doch noch nicht. Heuchler.«
»Das erscheint mir ganz angebracht für Lebewesen mit einem gesunden Arterhaltungstrieb.«
Davon wollte ich nichts hören.
Ihr müsst verstehen, warum ich auf Schicksal nicht besonders gut zu sprechen war.
Letzten Endes lief es seit Jahrmillionen auf eines hinaus: Meine Kollegen hatten ihren Spaß, und ich bekam jedes Mal die Scherereien ab, ohne dass jemand auf die Idee gekommen wäre, mich vorzuwarnen. Das wäre auch mal eine nette Abwechslung gewesen: Dass jemand es ausnahmsweise, welch haarsträubender Gedanke, für nötig gehalten hätte, sich mit mir abzusprechen. Aber nein; der Tod kennt keine Kompromisse, hieß es.
Diese Sorte von alten Vorurteilen führt dazu, dass meinereiner nie einen einzigen Tag Urlaub bekommt. Ich bin sogar sehr kompromissbereit. Es versucht nur nie einer.
»Natürlich bin ich nicht der Einzige, der sich Woche um Woche und Jahrtausend um Jahrtausend den Hintern wund schuftet«, fuhr ich fort; in erster Linie, um oben genannte Kompromissfähigkeit zu beweisen.
»So wie ich«, sprang Schicksal hilfreich ein.
»Ja. So wie du. Und du findest deinen Job –«
»Großartig. Für Glück und Freude zuständig zu sein, die Menschen zum Lachen und Lieben bringen zu können …«
»Ich kann nicht umhin, zu bemerken, dass du die ganzen Todesfälle auslässt.«
»Es ist, wie der Geschäftsleiter der größten Süßwarenfabrik des Universums zu sein und ab und zu ein paar Tonnen Gratisbonbons zu verteilen.«
Und das, da musste ich zustimmen, war ziemlich treffend formuliert. Der einzige Nachteil war, dass sich irgendjemand um die anfallenden Bonbonpapierchen kümmern musste, die in der realen Welt nur allzu oft einem Haufen Leichen entsprachen. Und da, oh Freude, kam dann wieder ich ins Spiel.
Ich war sozusagen die Müllabfuhr.
»Es ist einfach keine besonders gerechte Aufteilung.«
»Und noch schlimmer als das.«
»Ja?«
»Du hast noch nicht einmal einen Hintern, den du dir wund schuften könntest. Du hast nur ein Becken.«
Wenn, wenn, wenn.
Wenn die Welt eine Grundschullehrerin gewesen wäre, hätte sie die ganzen Smileysticker an das Leben verteilt und an mich die Zusatzaufgaben in Mathe.
Ich hatte es satt, dass alle schrien: »Oh Gott, nicht du schon wieder!«, wenn ich mich meldete, um höflich meinen Senf beizutragen. Ich fand es unverschämt, dass das Leben die Mitte vom Pausenbrot bekam und ich immer nur die Ränder. Und ganz gewiss wollte ich keine deprimierenden Klassenbucheinträge mehr, nur weil ich rechtzeitig zur Schulstunde erschienen war!
Das würde sich alles ändern, hatte ich mir vorgenommen. Nun gut, vielleicht hatte ich sechstausendeinhundertsechsundachtzig Jahre gebraucht, um diesen Entschluss zu fassen, aber ich kann euch eines sagen: Von all den verwirrenden, sinnlosen und oftmals haarsträubenden Sprichwörtern der Vielzahl an menschlichen Sprachen gab es zumindest eines, das ausnahmsweise immer stimmte:
Der Tod hält sein Wort.
Neuerungen standen bevor.
1 Wie ihr euch denken könnt, war ich an diesem Tag ausnahmsweise in anständiger Erscheinung unterwegs. Besen haben keine Schultern.
2 Der große Vorteil an der Unsichtbarkeit ist, dass man immer genau weiß, wer hinterrücks über einen ablästert.
Berufliche Qualifikationen.
Ein Dossier
Dies ist eure Erde, von oben gesehen. Sie ist mehr oder weniger kugelförmig. Manche Gegenden sind verdammt heiß, andere verflucht kalt. Das Wasser der großen Meere und schmalen Bachläufe steigt auf und schwebt in klammen Sahnehäubchen durch den Himmel. Gemeinhin bezeichnet man das als Wolken. Es gibt dunkle Wälder und tiefe Ozeane. Es gibt weite Steppen und verschneite Berge. Dies ist eure Erde, umgeben von tausenden von Sternen.
Milliarden von Jahre musste ich mich hier herumtreiben.
Gute Güte.
Was ich an meinem Job ganz besonders verabscheute?
Das ist leicht.
Natürlich erwartet ihr jetzt, dass ich mir dramatisch an die knochige Brust greife und rufe: »Die Menschen! Die Menschen in all ihrer Tragödie und Liebenswürdigkeit, die Menschen, die ich viel zu früh aus dem Leben reißen musste! Die Kinder! Die Säuglinge! Die weinenden Mütter! Ach – die Menschen!«
Nun ja. In einer Hinsicht zumindest würdet ihr in eurer grenzenlosen Egozentrik recht behalten. Es waren nämlich tatsächlich zu einem Großteil die Menschen.
Aber nicht aus oben genannten Gründen.
Ich hatte erwartet, in den Menschen dankbare Abnehmer zu finden. Sie zerbrachen sich schließlich so gerne über alles den Kopf und kleideten es in schöne Worte.
Tiere? Oh ja, die gehörten selbstverständlich auch zu meinen Kunden. Tiere flohen, sie mühten sich ab, sie kämpften, und dann starben sie, ohne groß darüber nachzudenken.
Aber Menschen, stellte sich heraus, verendeten, und das machte keinen Spaß. Menschen hielten den gesamten Betriebsablauf auf, indem sie so unnötige Fragen stellten wie: »Warum ich?!«, oder gar: »Warum nicht ein anderer?«, möglicherweise gefolgt von Anschuldigungen wie: »Warum nicht mein Nachbar, den ich so hasse, und der immer seine Feinrippunterhosen zum Trocknen an meine Wäscheleine hängt?« Fragen solcher Art hätten meiner Meinung nach an meinen alten Kumpel Schicksal weitergeleitet werden sollen, oder möglicherweise auch an Karma. Das Problem mit Karma war, dass es immer nur dann auftauchte, wenn man es am wenigsten erwartete – und ganz garantiert nicht dann, wenn man es ausnahmsweise einmal hätte brauchen können. Da machte es auch für mich keine Ausnahme.
»Warum?«, seufzten mir die Menschen wehmütig entgegen, und dann erwarteten sie tatsächlich auch noch eine Antwort. Ich bin genauso wenig für die Beantwortung philosophischer Fragen zuständig wie ein Klempner. Es gibt nur einen einzigen Grund, warum Toiletten verstopfen. Es gibt nur einen Grund, warum durchgerostete Rohre brechen, Regenrinnen sich lockern und Wasserboiler im Winter vereisen. Es gibt nur einen Grund, weshalb ihr sterben müsst.
Dinge existieren, und Dinge enden.
Ich hielt mich mit Erklärungen inzwischen gar nicht mehr auf. Tatsache war, dass es eines Tages jeden einzelnen der zig Milliarden Menschen treffen würde, die die Erde belagerten wie Großmütter einen Laden für reduzierte Backförmchen und garantiert juckende Unterwäsche. Ob Freund oder Feind, ob Enkel oder Ekel, alle mussten sie irgendwann dran glauben. Na und? So war das eben. Leben wollte jeder, nur nicht sterben. Aber so funktionierte das einfach nicht – man bekam uns nur im Doppelpack.
Und da begann auch schon das nächste Thema.
Die Sache mit dem Umhang.
Oh ja, ihr wisst ganz genau, was ich meine.
Die Sache mit dem Umhang spielt in genau demselben Orchester wie die Sache mit der Sense. Und es ist ein Orchester der Frechheit, dessen Instrumente aus Rufmord und Unverfrorenheit gefertigt sind.
Ein kleines Gedankenspiel
Versetzt euch für einen Moment in meine Lage.
Oh, ich spreche nicht vom Töten. Mit ein bisschen Glück kommt ihr darum herum.
Lasst mich euch ein ganz und gar nicht so abwegiges Szenario ausmalen.
Ihr seid jung und dynamisch, einer der besten Mitarbeiter eurer Firma. Als ihr hört, dass ein neuer Standort aufgemacht werden soll und ihr von heute auf morgen mitten ins Nirgendwo verlegt werdet, lasst ihr dies anstandslos über euch ergehen. Ihr seid immerhin ein zuverlässiger Angestellter – der Allerjüngste unter all euren Kollegen –, und ihr erledigt sämtliche eurer Aufgaben mit Bravour, Flexibilität und unter Einsatz all eurer Multitasking-Fähigkeiten!
Und plötzlich, von heute auf morgen, sind alle anderen befördert worden und ihr hockt alleine an eurem Schreibtisch, den irgendwer mit schwarzen Tüchern verhüllt hat, und in eurer Hand befindet sich ein rostiges mittelalterliches Landwirtschaftsgerät. Und als ob es der Ungerechtigkeit noch nicht genug wäre, werden plötzlich neue Regeln eingeführt, die euch vorschreiben, strenge Diät zu halten und nur noch in einer muffigen Kutte zur Arbeit zu kommen, die obendrein juckt wie ein Sack voller Flöhe, Nesseln und Hundehaare.
Ende des Szenarios.
Jahrtausendelang lief alles gut. Am Anfang machte mir die Sache sogar noch Spaß – weshalb auch nicht? Und dann, ohne jede Warnung, musste ich bemerken, dass ich in allerlei Kulturen rund um den Globus als düsterer Grufti dargestellt wurde. Entweder war ich all die Jahre lang extrem ignorant gewesen, oder sie hatten sich allesamt abgesprochen. Kümmerte es mich da, ob ich mit Beil oder Binsenboot, Sense oder Sichel, Schere oder Schnabelmaske, Schakalschnauze oder Straußenfeder bewaffnet durch die Gegend ziehen musste?1
In einigen Teilen der Welt war ich weiterhin willkommen, wurde in Liedern besungen, mit Respekt behandelt und mit Räucherstäbchen und weißen Blüten geschmückt.
In anderen Gegenden nannte man mich Hein Klapperbein.
Es ist leicht, zu erraten, wo mir meine Arbeit mehr Vergnügen bereitete.
Irgendwann schien man sich überall in einer Sache einig zu sein: Dass ich ein alter, griesgrämiger Zeitgenosse war, der nichts lieber mochte als Knochen. Die fehlende Logik schien niemandem aufzufallen. Sammelte ein Chirurg für sein Leben gern gebrauchte OP-Handschuhe? Liebte ein Schüler nichts mehr als leere Tintenpatronen? Hegte und pflegte ein Zuckerwatteverkäufer mit Inbrunst die Löcher in seinen Zähnen? – Na also. Die ganzen Knochen und Schädel waren nur ein Nebeneffekt.
Kleine Richtigstellung am Rande
Ich will ja nicht pingelig sein, aber eigentlich verhielt es sich so: Zeit war zuerst da. Dann, so ziemlich zum gleichen Zeitpunkt, drängelten sich Schicksal, Zufall und Glück durch die Tür. Daraufhin, in den tiefsten Tiefen des Ozeans, beschlossen auch Leben und Karma, sich endlich mal zu zeigen. Und dann, dann erst trat ich auf den Plan.
Ich war also genau genommen noch gar nicht so lange da.
Ich war der Jüngste von uns allen. Ich verdiente ein bisschen mehr Nachsicht.
Natürlich ahnte ich bereits, dass einiges an Scherereien auf mich zukommen würde, als ich Lebens allerersten, selbst gebastelten Einzeller in die Tonne kloppen musste. Doch dass die Nachfahren dieses mickrigen Geschöpfes mich Jahrmillionen später aus Rache als merkwürdiges Gruftgespenst darstellen würden, nein, damit hatte ich nicht gerechnet! Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich vielleicht von Anfang an versucht, sämtliche Einzeller gleich wieder aufzusammeln, bevor sich daraus der erste Schimpanse entwickeln konnte.
Inzwischen aber war es dafür reichlich spät.
Und selbst wenn ich gewollt hätte, gekonnt hätte ich trotzdem nicht.
Denn das war genau das Problem mit meinem Job: Ich hatte keinerlei Verfügungsgewalt. Und obwohl Leben doch eigentlich viel betagter war als ich, musste ich immer den alten, fleischlosen Kauz spielen, während sich mein Kollege als wunderschöner Schmetterling oder lichterhelle junge Dame durch die Weltgeschichte gaukeln durfte.
»Oh, du bist ja so kreativ!«, hauchten alle ihm zu. »Du hast ja so viele innovative Ideen! Und wie du alles so schön evolutionierst – also, ich muss schon sagen! Das soll dir erst mal einer nachmachen!«
… Und ich?
Wenn ich mal kreativ war, fanden das alle gleich »grausam« oder bestenfalls noch »schockierend«. Entschuldigt mal – ich konnte mir auch mal was ausdenken. So schockierend war das nun wirklich nicht.
Aber zuerst …
Wie gesagt, es begann alles in den Tiefen des Meeres.
Es war gut, dass ich nicht auf Augen angewiesen war, denn das winzige runde Etwas, das vor mir im düsteren Wasser dümpelte, war wirklich leicht zu übersehen.
»Das ist mein erstes Projekt«, verkündete jemand nervenaufreibend nahe an meinem Ohr. Ich konnte nicht umhin, den gewissen Berufsstolz in der Stimme zu bemerken – wie ein Zahnarzt, der soeben eine Alternative zur glühenden Schmiedezange erfunden hatte. Nur, dass es damals noch keine Zahnärzte gab. Genau genommen gab es nicht einmal Zähne.
»Es ist eine Zelle, die sich teilen kann. Damit hätte ich den Einstellungstest wohl bestanden«, fuhr das Stimmchen triumphierend fort.
Oh nein. Ich wusste ganz genau, wen ich da vor mir hatte. Nicht schon wieder.
Ich betrachtete die wacklig dahintreibende Zelle und schwieg für einen Moment.
»Na ja«, meinte ich dann mit einer gewissen Skepsis. Aber da es unser erster gemeinsamer Arbeitstag war, wollte ich nicht unhöflich sein. »Wenn du meinst, dass du damit Erfolg hast«, fügte ich deswegen großzügig hinzu.
»Es ist eine Basis, die sich in der Vergangenheit schon oft bewährt hat«, winkte mein Gegenüber ab und lieferte mir damit das Schränkchen, das ich später für mein Schubladendenken brauchen würde. In der Tat war mir bereits in diesem Moment klar, in welche Kategorien ich meinen Mitarbeiter stecken würde: A wie Angeber und F wie faul. Vielleicht würde er sich ja ein Beispiel an seinen Zellen nehmen und sich teilen, damit ich ihn problemlos in beiden Schubladen zugleich unterbringen konnte.
Damals wusste ich noch nicht, wie gut ich darin war, Dinge in der Mitte durchzuschneiden.
Mein Misstrauen war wohl bemerkt worden.
»Manche Ideen lassen sich einfach immer wieder anwenden. Einzeller sind leicht herzustellen und sogar tauglich zur Massenproduktion. Aber das Beste ist, dass man sie getrost sich selbst überlassen kann. Der Bestand wird auf jeden Fall fortgeführt. Schau, die da drüben habe ich auch alle hergestellt, und zwar heute Morgen. Noch bevor du gekommen bist!«
Eine körperlose Hand zeigte auf eine Stelle direkt neben mir, und als ich widerwillig den Kopf drehte, musste ich zu meinem Entsetzen eine ganze Gruppe durchsichtiger Pünktchen erkennen, die zielstrebig auf mich zuwaberte.
»Huch!«
»Tja ja«, kam die stolze Antwort, begleitet von einem selbstgefälligen Lachen, denn in diesem Augenblick teilte sich die erste Zelle tatsächlich und trieb gemächlich in zwei verschiedene Richtungen davon.
»Wer soll das alles aufräumen?«, fragte ich entsetzt und starrte auf die nervtötenden Partikelchen, die sich überall um uns herum ausbreiteten. Ich war deshalb so entsetzt, weil ich die Antwort bereits wusste, und mein unsichtbares Gegenüber kannte sie ebenfalls.
»Die da kannst du gleich wieder mitnehmen«, meinte er fröhlich und schnipste eine seiner Kreationen lässig in meine Richtung. Die Zelle trudelte durchs Wasser wie ein hilfloses Luftbläschen. Irgendwie war ich von dieser Innovation nicht richtig überzeugt. Die Dinger sahen einfach nicht aus, als ob sie’s draufhätten.
»Hättest du die nicht ein bisschen stabiler bauen können?«, fragte ich leicht giftig. Die Einzeller starben bei einer Rate weg, bei der ich nie im Tod hinterherkommen würde – ein wasserfester Staubsauger wäre mir jetzt ganz gelegen gekommen. Oder zumindest ein Strohhalm.
Der andere schien sich nicht besonders von meinem Einwand beeindrucken zu lassen, denn er schenkte mir nur einen nachdenklichen Blick und ließ eine Handvoll neuer Jungzellen ins Salzwasser blubbern.
»Man merkt, dass du noch nicht lange im Job bist«, stellte er nüchtern fest – oder vielmehr es, denn mit all dem komplizierten Geschlechterzeug waren wir noch nie allzu gut zurechtgekommen. »Was sich bewährt hat, ist gut. Ich habe Vorgaben von der Zeit, an die ich mich halten muss.«
»Zeit?«, wiederholte ich. Ich musste zugeben, ich war davon ganz schön beeindruckt. Zeit hatte das ganze Unternehmen sozusagen gegründet. Ich war ihr noch nie persönlich begegnet. Sie war eine Legendengestalt, ein weit entferntes Stückchen Geschichte, das ich nur vom Hörensagen kannte. Dass sie sich dazu herabließ, uns ihre Vorgaben persönlich mitzuteilen – noch dazu jemandem, der seinen Tag damit verschwendete, so etwas Nutzloses herzustellen –, das war doch in etwa so allerhand wie die vielfingrige Göttin Hlaktamsnflrg des Planeten Minxskx! »Na, da könnten wir doch mal mit ihr reden. Ihr sagen, dass wir bei dem Materialverbrauch …«
»Du willst eine Audienz mit der Zeit ausmachen?«, wurde ich (recht unhöflich) unterbrochen, begleitet von einem skeptischen Räuspern. »Wenn mir das Wortspiel gestattet ist: Du tickst nicht mehr ganz richtig.2 Verzeihung. Aber weißt du, wie schwer so etwas ist? Und das gleich am ersten Tag? Nein, lass das lieber und sieh zu, dass du deinen eigenen Kram erledigt bekommst. Wie wir das hier alles regeln, geht dich sowieso nichts an. Du bist nur für’s Wegräumen zuständig.« Blicke können sehr bedeutsam sein, selbst wenn man sie nicht sehen kann. »Nicht, dass ich dich entmutigen möchte. Zeit wird nicht gern gestört. Du weißt ja – sie ist ziemlich kostbar.«
Damit entschwebte mein neuer Kollege in die Dunkelheit, um die Meere mit weiteren Horden seiner willenlosen kleinen Monster zu verseuchen.
Vielleicht lag es nur am Wortspiel, aber in diesem Moment beschloss ich, dass ich Leben nicht ausstehen konnte.
Ein kleiner Einschub über regionale und interregionale Dienstleistung
Aber, allmächtiger Meister Tod, höre ich die Romantiker und Quantenphysiker unter euch jetzt schüchtern fragen; bei allem Respekt an Euch und Eurer Großartigkeit, aber was ist denn mit all den Parallelwelten da draußen, oder mit den ganzen Planeten, von denen sicherlich zumindest eine Handvoll ebenfalls Leben beherbergen? Und wo Leben ist, braucht es doch wohl auch einen Tod? Vermutlich liegt es an unseren nutzlosen kleinen Menschenhirnen, dass wir Euch falsch verstanden haben, aber möglicherweise könntet Ihr in Eurer unglaublichen Güte doch noch einmal erklären, warum Ihr das Leben nicht bereits schon von früheren … äh, Arbeitseinsätzen kanntet.
Nun gut, wenn ich so nett gefragt werde. Zuallererst lasst mich euch sagen, dass ich euch zu eurer ehrlichen Selbsteinschätzung applaudiere. Bei der Sache mit den Gehirnen liegt ihr ausnahmsweise so was von richtig.
Und zweitens: Es mag der Formulierung zuschulden sein, aber das ist doch tatsächlich der erste sinnvolle Einwand, den ich seit langer Zeit von einem Mitglied eurer Spezies gehört habe.
Lasst es mich euch erklären: Es gibt Millionen von Realitäten. Diese Realitäten, die sich in äußerst komplizierter Weise …
Ach, was soll’s.
Die Realität ist ein Blätterteig.
Ein äußerst unschmackhafter Blätterteig, der aus sehr vielen, sich überlappenden Schichten besteht – oder die größte Fürst-Pückler-Torte, die jemals fabriziert wurde, wenn man so will.
Genau genommen besteht alles aus vielen feinen Schichten: Ihr Menschen seid da keine Ausnahme. Zwischen den metaphorischen Teiglappen eurer Seelen lauern Irrsinn und Glauben, Hoffnung und Wahn wie eingelegte Schnapskirschen. Bohrt man nur tief genug mit der Gabel, wird man früher oder später schon auf sie stoßen.
Mit der Wirklichkeit verhält es sich um einiges komplizierter. Einer der großen Vorteile meines Jobs ist es, dass ich mich zwischen den Schichten frei bewegen kann.3
Ich kann in unglaublich vielen Realitäten und Zeiten zugleich sein. (Das muss ich auch – gestorben wird immer und überall. Was glaubt ihr, wie ich die Zeit finde, dieses Buch zu schreiben? Na also.) Ich selbst, das Leben, der Raum, der Zufall, wir sind genau genommen alle gigantische Fürst-Pückler-Torten. Sogar (und ganz besonders) die Zeit – aber sagt ihr das bloß nicht ins Gesicht.
Es gibt natürlich, wie bei jedem großen Vorteil, auch einen Haken. Lassen wir den guten alten Tod einfach so in der Vergangenheit herumreisen, hat sich Zeit wohl gedacht, dann riskieren wir am Ende noch, dass er nachlässig wird, und wo würden wir denn da hinkommen. Nein, wir müssen ihm schön im Kram rumpfuschen und sichergehen, dass er alle seine Aufträge sofort erledigt und nicht auf die lange Bank schiebt, weil er weiß, dass er sie jederzeit im Nachhinein nachholen kann.
Das bedeutet: Zeigt sich die Sonne vierundzwanzig Stunden nach meinem Auftrag am Horizont, und dieser ist noch nicht erledigt, gibt es kein Zurück und der Fehltritt kommt raus. Würde ich versuchen, auf einen Sprung in der Vergangenheit vorbeizuschauen und mich an die vernachlässigte Arbeit zu machen, könnte ich mir die Szene nur tatenlos anschauen, anstatt noch etwas daran ändern zu können. Außerordentlich witzig, nicht wahr? Was wäre so ein Job auch ohne Komplikationen. Aber was soll’s. So etwas ist mir selbstverständlich sowieso4noch nie passiert.
Jedenfalls könnt ihr euch das Ganze vorstellen wie eine Schicht Blätterteig, die mit Überwachungskameras ausgestattet ist und sich nach einer gewissen Weile selbst zerstört, um …
Na schön, ich gebe zu, hier hat sich die Gebäck-Metapher fürs Erste erschöpft.
Am Anfang machte mein Job der Redewendung »sterbenslangweilig« alle Ehre.
Ähm, Tod …?
Was ist denn jetzt schon wieder?
Und wie kommst du bei so einem komplizierten System nicht ständig durcheinander?
Oh. Ach so.
Ein weiterer Einschub, der Verständlichkeit halber
Um das alles zumindest ansatzweise auseinanderzuhalten, hat sich irgendjemand mal ein recht geschicktes Verfahren ausgedacht, das es mir ermöglicht, mich immer ganz auf die Realität zu konzentrieren, in der ich gerade unterwegs bin. Natürlich weiß ich, dass ich auch in tausenden von anderen Versionen durch das Universum streife, aber zumeist gelingt es mir, dies geflissentlich zu ignorieren. Es ist sozusagen, als hätte ich mir für jeden meiner Arbeitgeber einen eigenen E-Mail-Account angelegt, in den ich mich bei Bedarf einloggen kann. Nur so kann ich das ganze Kuddelmuddel irgendwie ordnen. Welche Aufträge, Konversationen oder Kontaktdaten in [email protected] gespeichert sind, geht [email protected] überhaupt nichts an.
So gesehen war es also Jahrmillionen vor eurer Zeit, in den Tiefen des Meeres, tatsächlich das allererste Mal, dass Leben mich mit irgendwelchen Einzellern nervte.
Ob ich manche Realitäten lieber mag als andere? Aber, aber. Du musst doch nicht gleich eifersüchtig sein. Ich denke, seine persönlichen Vorlieben hat jeder. Auf einem wirklich ausgesprochen liebreizenden roten Planeten beispielsweise, der in einigen hundert Jahren vermutlich von einem gewaltigen schwarzen Loch verschlungen werden wird, werde ich als wunderschöne Hirschkuh mit hübsch geschwungenen gläsernen Flügeln dargestellt.
Na gut, und mit einem Maul voller Tentakel und Dornenranken, aber das tut hier nichts zur Sache.
So, nun aber.
Am Anfang machte mein Job der Redewendung »sterbenslangweilig« alle Ehre. Den ganzen langen Tag war ich nur damit beschäftigt, irgendwelche Zellen aus dem Meer zu picken, was in etwa so spaßig ist, wie es sich anhört.
Auch als es sich dann anstelle von einzelnen Zellen plötzlich um mehrere davon handelte, die alle in irgendeiner Weise zusammenhingen, wurde die Sache nicht unbedingt spannender. Auch die Vielzahl raffinierter Bakterien, die Leben sich ausdachte, ließen mich eher kalt.
Auf jeden Fall, irgendwann steckte Zufall kurz die Nase ins Büro, und plötzlich schwammen überall glibberige Würmer und Quallen rum – oder so. Ganz genau weiß ich das auch nicht mehr, es ist immerhin schon um die dreitausend Millionen Jahre her. Hier und da wuchsen schwammartige Gebilde, die sich zwar nicht sonderlich viel bewegten, aber immerhin ein bisschen komplizierter aufgebaut waren als Lebens allererste Prototypen. Noch ähnelten all diese neuen Modelle unabweisbar ihren Vorgängern – allesamt waren sie fragil und glitschig und erweckten den Anschein, als ob ein einziges Niesen ausreichen würde, sie fein säuberlich zu durchlöchern. So gesehen war es vermutlich ein echter Glücksfall, dass sie sich einen Lebensraum unter Wasser ausgesucht hatten, wo niemand über Nasenlöcher verfügte. Ich weiß nicht, wie lange ich wie ein Obdachloser auf der Suche nach Flaschenpfand durch die Ozeane gestrichen war und gleichgültig Pilze, Algenpartikel, Anemonen und Keime aufsammelte.
Irgendwann verlagerte Leben einen Teil seiner Arbeit in Ufernähe, wo es sich den ganzen Tag damit beschäftigte, langweilige farnähnliche Strukturen herzustellen, die sich kaum bewegten und von denen ich nicht einmal genau sagen konnte, ob es sich um Tiere oder Pflanzen handelte. Es war alles furchtbar primitiv, und ich kann euch versichern: Ein Kassenschlager wäre das alles schon damals nicht gewesen.
Tja, und dann, urplötzlich, geschahen zwei Dinge, die meine Arbeit um Längen interessanter machten. Fragt mich nicht, was damals mit Leben los war, aber plötzlich bekam ich es so gut wie überhaupt nicht mehr zu Gesicht. Dies führte dazu, dass ich meine Tiefseeschwämme nun mit sehr viel mehr Genuss ausquetschte und mich für ein paar Wochen sogar freute, einfach mal meine Arbeit erledigen zu können, ohne dabei ständig von besserwisserischem Gequatsche unterbrochen zu werden – bis dann eines Tages, als ich gerade damit beschäftigt war, eine verendende Koralle einzusacken, ein winziges, vielbeinig zappelndes Etwas an mir vorbeizog. Jetzt erklärte sich auch, warum ich in letzter Zeit so gar nicht über ein faul herumdümpelndes Leben gestolpert war: Es hatte das Wunder der Bewegung entdeckt! Wurde aber auch langsam mal Zeit.
In den folgenden Jahren fing mein Beruf mir zum ersten Mal seit der Erschöpfung der Einzeller-Idee an, Spaß zu machen. Und an diejenigen unter euch, die gerade hörbar entsetzt gekeucht haben: Die Logik erklärt sich von alleine. Es ist einfach sehr viel abwechslungsreicher, etwas Flinkes, Kampfbereites, Denkendes zur Strecke zu bringen anstatt eine flach auf dem Ozeanboden aufliegende Scheibe, die entfernt an einen platt gewalzten Wurm erinnert und sich auch in etwa so faszinierend verhält. So oder ähnlich sahen nämlich meine Hauptinteressenten der ersten paar Millionen Jahre aus – bis das Leben sich endlich mal auf die Socken machte. Bis heute kann ich mir nicht erklären, was damals passiert war, dass es sich plötzlich so aufraffte, aber ich muss gestehen, ich war begeistert. In den folgenden Jahrtausenden lernte ich, wie viele unterschiedliche Arten es gab, zu sterben: Korallen ließen sich dafür so viel Zeit, dass ich sie teilweise mit Steinen verwechselte, Seesterne lachten mir ihrer tödlichen Verwundungen ungeachtet ins Gesicht, während sie sich einfach fröhlich neue Gliedmaßen wachsen ließen. Bakterien zerfielen und lösten sich im Wasser auf, Algen trudelten langsam auf den Meeresboden und verwandelten sich in grünlichen Glibber. Neunaugen wälzten sich in meinen Armen dem Verfall entgegen. Meeresschnecken zogen sich verwundet in ihre Häuser zurück und taten so, als ob sie friedlich entschliefen. Tintenfische verpufften in einer hübsch anzusehenden Wolke aus Furcht und Trotz und schwebten wie zerrissene Brautkleider durch die unterseeischen Strömungen. Gräser versuchten bis zuletzt, ihre Wurzeln noch tiefer ins Erdreich zu graben.
Eines Tages ertappte ich einen merkwürdig geformten Fisch dabei, wie er versuchte, an Land zu gelangen, und wies ihn nachdrücklich darauf hin, dass seine Kiemen außerhalb des Wassers ziemlich nutzlos waren. Das schien Leben damals stark zu verärgern, denn kaum ein halbes Jahrtausend später ließ sich eine ziemlich ähnlich aussehende Fischart den ersten Prototyp einer Lunge wachsen, nur um sich dann in Scharen an Land zu stürzen und mir frech zuzugrinsen, während sie sich im Dreck wälzten. Sollten sie doch!
Ach ja, damals war alles so viel einfacher. Manchmal sehnte ich mich voll sinnloser Nostalgie in die guten alten Zeiten zurück, in denen ich noch schuld- und formlos durch die Gegend wabern und nach Lust und Laune töten konnte.
Was?! Jetzt schaut mich doch nicht schon wieder so an! Zugegeben, hätte irgendwer anders das gesagt, wäre das wohl ziemlich daneben gewesen. Aber ich bin der Tod! Von mir wird man ja wohl erwarten, dass ich meinen Job mache. Na also.
Ich gebe es ungern zu, aber damals, im wunderschönen Devon-Zeitalter, gab es sogar Tage, an denen ich mich mit Leben ganz gut verstand. Hatte es am Anfang noch peinlich genau aufgepasst, dass ich jede einzelne Zelle zur rechten Zeit abholte, gab es sich jetzt damit zufrieden, mir alle paar hundert Jahre freundlich über die Schulter zu schauen. Ab und zu lobte es mich sogar, dass ich zur Ausrottung der ungeeigneten Individuen beitrug, was mich insgeheim freute.5
Manchmal, in beschämenden Momenten der Gefühlsduselei, erschien es mir beinahe, als ob wir beide unablässig an derselben Sache arbeiteten – ein wundervoller Kreislauf von Entstehen und Vergehen, Kreation und Zerfall. Wie jung und idealistisch ich damals noch war. Kaum viertausend Millionen Jahre auf der Erde, und schon hatte ich den Eindruck, dass ich tatsächlich etwas verändern könnte. Im Nachhinein war ich wohl ziemlich blauäugig. Aber was soll ich sagen? Es war die Zeit der Evolution! Praktisch jeden Tag gab es eine neue Erfindung, und ich war dafür zuständig, auszutesten, ob sie funktionierte. Languste im Baum? Keine so gute Idee. Spinne im Baum? Schon besser! Vermehrung durch saubere Teilung in der Mitte? Hatte bei den Einzellern noch ganz gut geklappt, war aber für einen Aal keine geeignete Strategie, auch wenn beide Hälften irgendwie gleich aussahen. Ich wusste nach einer Weile beinahe genauso gut über die vielen Fallstricke der Gesundheit Bescheid wie das Leben selbst, und ganz ehrlich: Wenn mein Job heute noch so wäre, würde ich mich kaum beklagen. Kein Kugelfisch hielt mir jemals eine Moralpredigt. Keine Urzeithaidame machte mir Vorwürfe, wenn ich ihr ihre Eier wegnahm, weil sie bei Ebbe zu nah an den Strand geraten waren. Das Klima war trocken und mild, zu Wasser tummelte sich allerlei unterhaltsames Getier, und das Land war dicht von riesigen Bäumen überwuchert. Heutzutage hätte man so etwas als Kur an gestresste Städter verkaufen können, und glaubt mir: Genau so fühlte es sich auch für mich an.
Aber jetzt war ich hier.
Wie bereits zuvor erwähnt: Gute Güte.
1 Oder Schachbrett, Waagschale, Schimmel – sowohl Pferd als auch Pilz –, Stundenglas, Mondscheibe, Geierhals, Schwert, Stachel, Giftkelch, Ruder, Münze, Ring… die Liste der Möglichkeiten war unendlich. Manchmal war ich auch einfach nur ein Anwalt.
2 Natürlich gab es zu dieser Zeit noch keine Uhren, die in irgendeiner Weise hätten ticken können. Es war ein Witz, der (trotz aller Geschmacklosigkeit) in eurer plumpen Sprache nicht funktioniert.
3 Um eure Vorstellungskraft nicht überzustrapazieren: Es verhält sich sozusagen wie mit Schokosoße.
4 fast
5 In meinem Beruf bekommt man nicht so oft Komplimente.
Auf Veränderungen reagiert man mitunter etwas langsam, wenn man sich seit Jahrmillionen in einer bestimmten Routine festgefahren hat. Deswegen ist es der guten alten Erde in ihrer Begriffsstutzigkeit auch noch nicht eingefallen, die nervigen Krabbelviecher, die ihre sorgfältig frisierte Ozonschicht durchlöchern und all die wunderhübsch angelegten Wälder niederwalzen, mit einer Ladung explosiver Lava von ihrem Angesicht zu pusten. Aber glaubt mir: Das kommt schon noch.
Inzwischen hatte ich immerhin eines begriffen: Was heute von der Evolution noch übrig war, äußerte sich viel mehr in der Technologie als in den Genen. Ich war – erlaubt mir einen flüchtigen Moment des Selbstmitleids – beinahe nutzlos geworden. Woher solch ungewohnt finstere Töne? Früher hatte meine Aufgabe einen tieferen Sinn gehabt. Erinnert ihr euch noch an all das pathetische Gerede vom Zusammenspiel von Leben und Tod etwa zwei Seiten zuvor? Das Hohelied auf den ewigen Kreislauf der Evolution? Besagte Hymne war hier krächzend zum Ende gekommen, der Chor schluchzte und der Erste Geiger ließ sein Instrument fallen, was mit einem Scheppern und dem vielstimmigen Twoioioioioing gesprungener Saiten vonstattenging. Hier war ich an einem Punkt angelangt, an dem alles stillstand. Die Zeit des Recyclings war vorbei. Lebensformen, die sich jahrtausendelang bewährt hatten, starben mir ohne mein Zutun unter der Sense weg und kamen nie wieder. Das war keine Neuigkeit. In der Tat hatte ich die Veränderung bereits vor Hunderten von Jahren bemerkt, aber ihr wisst ja, wie schnell die Zeit verfliegt, wenn man eine unangenehme Tatsache mit aller Kraft verdrängt.
Eine kleine Anekdote von einer alten Vogelart
Als ich den letzten Dodo abholen musste, fühlte ich mich verraten. Jahrtausendelang hatte Leben am Erbgut herumgetüftelt, und jahrtausendelang hatte ich die fehlerhaften Eier abgeholt – alles nur, um diesen fetten, hässlichen, flugunfähigen Vogel zu kreieren. Ein Vogel, der den Eindruck erweckte, als ob er über mindestens zehn verschiedene Abonnements für Hochglanzzeitschriften über das Leben der europäischen Königsfamilien verfügte. Ein Vogel, der sich trotz seiner überragenden Fähigkeit, zu ertrinken, in Felslöcher zu fallen, über weithin sichtbare Gegenstände zu stolpern, an etwas Schmackhaftem zu ersticken, sich den eigenen Fuß ins Auge zu rammen, über sehr genießbares, nahrhaftes Körperfett zu verfügen und gelegentlich in Dingen stecken zu bleiben – oftmals alles zur selben Zeit –, beharrlich durch die Irrwindungen der Evolution gekämpft und es all unserer Wetteinsätze zum Trotz und gegen jede Chance bis ins siebzehnte Jahrhundert geschafft hatte.
Und jetzt war er einfach weg!
Ich war empört.