Kognitive Kriegsführung - Jonas Tögel - E-Book

Kognitive Kriegsführung E-Book

Jonas Tögel

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  • Herausgeber: Westend Verlag
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

"Die Kognitive Kriegsführung könnte das fehlende Element sein, das den Übergang vom militärischen Sieg auf dem Schlachtfeld zum dauerhaften politischen Erfolg ermöglicht." Seit dem Jahr 2020 treibt die NATO eine neue Form der psychologischen Kriegsführung voran: die sogenannte "Kognitive Kriegsführung" ("Cognitive Warfare"), die als die "fortschrittlichste Form der Manipulation" bezeichnet wird. Diese nimmt die Psyche jedes Menschen direkt ins Visier, mit einem ganz bestimmten Ziel: unseren Verstand wie einen Computer zu "hacken". Der Propagandaforscher Jonas Tögel erläutert die Hintergründe und Entstehungsgeschichte der Kognitiven Kriegsführung: vom Beginn moderner Kriegspropaganda vor 100 Jahren über die Militarisierung der Neurowissenschaften bis hin zu Zukunftstechnologien wie Nano-Robotern oder Neurowaffen. Und er zeigt, dass der Gedankenkrieg über sogenannte "Soft-Power-Techniken" bereits heute meist unbemerkt stattfindet.

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Ebook Edition

Jonas Tögel

Kognitive Kriegsführung

Neueste Manipulationstechniken als Waffengattung der NATO

Mehr über unsere Autor:innen und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN: 978–3-86489–422-0

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt / Main 2023

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Für Maria und Bernhard

Inhalt

Titel

Einleitung

Die North Atlantic Treaty Organization

Die Unterscheidung von Hard und Soft Power17

Soft Power wird bald wichtiger sein als Hard Power

Ein genauer Blick auf Soft Power: Die Psyche des Menschen ist der Schlüssel

I Die Chronologie der Kognitiven Kriegsführung

Die Menschliche Sphäre als möglicher sechster Kriegsschauplatz

Die Planungen werden seit 2020 intensiv vorangetrieben

Das Symposium zum Cognitive Warfare

Der Innovationswettbewerb »Countering Cognitive Warfare«

Der drittplatzierte »Influence Influencers« wählt ein interessantes Szenario

NATOs Innovation-Challenge erregt nur wenig journalistische Aufmerksamkeit

Eine Veröffentlichung zu COVID-19 und dem Cognitive Warfare aus dem Jahr 2022

Zusammenfassung der Chronologie

II Die Kognitive Kriegsführung als Kriegspropaganda

1. Grundlegendes

Die Bedeutung von Soft Power für das Militär

Die menschliche Natur hat sich nicht geändert

Die Kognitive Kriegsführung hat eine lange Vorgeschichte

Der Cognitive Warfare nutzt Kriegspropaganda

2. Die Geschichte der Kriegspropaganda

Das Fundament für die moderne Propaganda wird im 20. Jahrhundert in Europa und den USA gelegt

Die moderne Psychologie als »Warenkorb«

Die Massenpsychologie

Die Psychoanalyse

Der Behaviorismus

Kriegspropaganda ist nicht schwer zu verstehen

Propaganda im Einsatz33

Das Ludlow-Massaker

Die Arbeit der Creel-Kommission

Die Techniken werden seit dem Ersten Weltkrieg erweitert

Die Bedeutung von Sprache:100 Propaganda wird nicht gerne Propaganda genannt

Der Zweite Weltkrieg

3. Techniken der Kriegspropaganda vom Zweiten Weltkrieg bis heute

Die Schafherde

Die Status-quo-Neigung

Der Schäfer (oder die Wirkung von Autorität)

Die Kriegspropaganda beim Sturz der Regierung in Guatemala (1954)

Die Bedürfnispyramide von Maslow185

Angst ist ein Werkzeug der Propaganda

Der menschliche Wahrnehmungsprozess

Der Bestätigungsfehler nutzt eine Schwachstelle der menschlichen Informationsverarbeitung

Die Aufmerksamkeitslenkung nutzt eine weitere Schwachstelle der menschlichen Informationsverarbeitung

Die Manipulierbarkeit durch die heutige Informationsflut233

Die Macht der Wiederholung

Drei Punkte zum Verständnis von Propaganda

Zusammenfassung und ein abschließender Blick auf die Kognitive Kriegsführung als Kriegspropaganda

III Die Kognitive Kriegsführung als digitale Manipulation

Das Internet verändert alles – auch die Propaganda

Die Informationsrevolution

Der Informationskrieg

Die helle Seite der Informationsrevolution

Die dunkle Seite der Informationsrevolution

Mikro-Targeting und der Cambridge-Analytica-Skandal

Der Skandal um Uber

Die Möglichkeiten der Manipulation durch die Suchmaschine Google

Die Datensammlung von Googles Projekt Nachtigall

Netflix und der Nachfahre von Edward Bernays

Die Propagandaabteilung des Pentagons im Jahr 2009

Die Propagandaabteilung des Pentagons im Jahr 2021

Die Propagandaabteilung des WEF ab 2020122

Die Facebook-Krieger der britischen Armee

Veriphix gewinnt den NATO-Innovationswettbewerb

Zusammenfassung des Cognitive Warfare als digitale Manipulation

IV Die Kognitive Kriegsführung als kulturelle Manipulation

Die Bedrohung der westlichen Weltanschauung durch Russland

Die Bedrohung der westlichen Weltanschauung durch China

Die kulturelle Manipulation durch die NATO

Zusammenfassung des Cognitive Warfare als kulturelle Manipulation

V Die Kognitive Kriegsführung als Zukunftstechnologie

Die Verschmelzung von Mensch und Maschine

Baut die NATO einen Terminator?

Die Zukunft der Biowaffen

Die Militarisierung (Weaponization45) der Neurowissenschaften46

Zusammenfassung des Cognitive Warfare als Zukunftstechnologie

VI Zusammenfassung der Kognitiven Kriegsführung

Die Bedeutung von Soft Power und des Cognitive Warfare nimmt stetig zu

Der Cognitive Warfare als Verteidigung und Angriff

Wer steht im Visier des Cognitive Warfare?

Fazit

VII Die Aktualität von Kognitiver Kriegsführung und mögliche Auswege

1. Der Cognitive Warfare und der Krieg in der Ukraine

Von der dunklen zur hellen Seite von Soft Power

Die helle Seite von Soft Power

Das Empowerment und der Blick nach innen

Vernetzung macht Mut

Empathie und der Verzicht auf Gewalt und Manipulation

Zusammenfassung

VIII Die Manipulationswaffen der Kognitiven Kriegsführung erkennen, verstehen und neutralisieren: eine Übersicht

Nachwort

Anmerkungen

Orientierungspunkte

Titel

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

»Der Cognitive Warfare ist schon bei uns. Die größte Herausforderung ist, dass er praktisch unsichtbar ist; alles, was man sieht, ist sein Einfluss, und dann … ist es oft schon zu spät.«1

– Bernard Claverie und François du Cluzel2

Hinter uns liegt eine fast unglaubliche Geschichte von Kriegen mit unermesslichem Leid und vielen Toten. Der Erste Weltkrieg mit ca. 16 Millionen Toten sowie der Zweite Weltkrieg mit über 70 Millionen Toten beschäftigen uns dabei noch heute. Nach diesen beiden »großen« Kriegen waren der Schock und das Erwachen nach der Gewalt besonders spürbar, und eine Frage beschäftigt die Menschen bis heute ganz besonders: Wie konnte das passieren?

Dazu gibt es Antworten aus ganz unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft, und wissenschaftliche Disziplinen wie die Geschichte, die (Geo-)Politik, die Soziologie, die Finanzwissenschaft oder die Psychologie steuerten viele kluge Antworten bei. Als konkrete Folge erstarkte die Friedensbewegung vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg. Darüber hinaus entstanden aufgrund der Schrecken dieses Krieges die Vereinten Nationen und eine internationale Ächtung sowie das Verbot von Angriffskriegen.

Dennoch hört die Gewalt nicht auf, sodass uns Kriege und Leiden bis heute begleiten. Schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg begann der Kalte Krieg, wegen dem viele weitere Kriege wie der Viet­nam-Krieg oder der Krieg in Guatemala geführt wurden. Das neue Jahrtausend brachte den sogenannten Krieg gegen den Terror, der bis heute andauert und der alleine im Irak mindestens eine Million Todesopfer gefordert hat.

Daher bleibt die Frage nach dem Warum von Kriegen leider aktuell. Wie konnten sie geschehen, und warum ist es bis heute möglich, Kriege zu führen, obwohl sie unmoralisch, grausam und für die große Mehrheit der Bevölkerung zum Nachteil sind und gegen das Völkerrecht verstoßen?

Darauf gibt es viele Antworten auf ganz unterschiedlichen Ebenen, und Geschichts-, Politik- und andere Wissenschaften haben interessante Perspektiven und wertvolle Erklärungen geliefert.

Hierbei wird eine Perspektive gerne vergessen, nämlich der Aspekt der Kriegspropaganda. Die gezielte psychologische Beeinflussung der Gedanken und Gefühle der Menschen ist spätestens seit dem Ersten Weltkrieg nicht nur eine wissenschaftliche Disziplin, sie hat auch maßgeblich dazu beigetragen, dass Kriege möglich waren und es bis heute sind. Bei Kriegspropaganda denken viele Menschen vielleicht an Joseph Goebbels, an Stalin oder an Hitler und es stimmt, dass sie alle sehr effiziente Kriegspropaganda betrieben haben.

Wenn ich in meinen Vorträgen oder Seminaren das Publikum frage, wer mit den Namen Edward Bernays oder George Creel etwas anfangen kann, dann zeigt sich deutlich, dass diese beiden Personen viel weniger bekannt sind. Doch gerade sie prägten die Entwicklung wissenschaftlich fundierter Kriegspropaganda seit dem Ersten Weltkrieg maßgeblich. Dabei wäre es ein Fehler, zu denken, dass diese Zeit so weit zurückliegt, dass die Erkenntnisse von damals heute nicht mehr relevant sind und es heute keine Kriegspropaganda mehr gibt. Das Gegenteil ist der Fall: Die Vielfalt an gut erforschten Techniken zur Beeinflussung der Menschen wurde im Laufe der letzten 120 Jahre immer weiter verfeinert und verbessert. Die Manipulationstechniken ermöglichen es bis heute, die Menschen immer wieder aufs Neue in schreckliche Kriege zu führen.

Es überrascht daher nicht, dass die Militärs immer noch an der Weiterentwicklung der Manipulationstechniken arbeiten. Die modernste und fortschrittlichste Form dieser Kriegsführung heißt »Cognitive Warfare« oder zu Deutsch Kognitive Kriegsführung.

Sie ist das Thema dieses Buches.

Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass die Militärs und Regierungen verschiedener Länder derzeit intensiv an dieser neuen Art der Kriegsführung forschen und neben den USA vor allem China und Russland treibende Kräfte sind – zumindest gemäß Aussagen der NATO.

Diese mag mit ihren Behauptungen, dass auch Russland und China den Cognitive Warfare3 vorantreiben, durchaus recht haben. Daher wäre es spannend, auch einen Blick auf die Cognitive-Warfare-Programme Russlands und Chinas zu werfen, dies ist jedoch aufgrund der Sprachbarriere und der nicht immer leicht zugänglichen Quellenlage dazu schwierig.

Dass die NATO die Kognitive Kriegsführung aktiv vorantreibt und damit die Kriegspropaganda und die damit verbundene Manipulation der Bevölkerung auf ein ganz neues Niveau heben möchte, steht jedoch zweifelsfrei fest und lässt sich gut belegen.

Der Schwerpunkt dieses Buches wird daher die Kognitive Kriegsführung der NATO sein, die seit spätestens 2020 verstärkt vorangetrieben wird.

Sie ist hochaktuell und gilt als »eines der heißesten Themen für die NATO im Moment«, wie der ehemalige französische Oberstleutnant und Innovationsmanager des IHub François du Cluzel4 betont.5

Wie ernst das Militärbündnis sein neuestes Manipulationsprogramm nimmt, erkennt man auch daran, dass parallel zu den Plänen der Kognitiven Kriegsführung ein neuer, sechster Kriegsschauplatz festgelegt werden soll: die »Menschliche Sphäre«6.

Dieser »langwierige Prozess«7 hat gerade erst begonnen und es ist wichtig, ihn weiter kritisch zu betrachten. Auf dem neuen Kriegsschauplatz wird mit den psychologischen Waffen des Cognitive Warfare gekämpft. Dabei kommen die modernsten und fortschrittlichsten Manipulationstechniken zum Einsatz mit dem Ziel, jeden einzelnen Menschen ins Visier nehmen zu können.

Die Kognitive Kriegsführung hat viele Facetten, welche alle in diesem Buch behandelt werden. Zunächst werden im Folgekapitel die Chronologie und konkreten Planungsschritte der NATO seit 2020 beleuchtet, bevor die einzelnen Facetten der Kognitiven Kriegsführung erläutert werden. Dabei muss man, um diese psychologischen Waffen des Cognitive Warfare zu verstehen, zunächst zurückblicken auf die Geschichte der Kriegspropaganda. Der Cognitive Warfare steht hier nicht isoliert, sondern er entwickelte sich aus einer langen Tradition von Propaganda, psychologischer Kriegsführung und dem Informationskrieg heraus. Spätestens seit dem Krieg gegen den Terror hat dieser psychologische Bereich der Kriegsführung massiv an Bedeutung gewonnen: Als die USA als Führungsnation der NATO im Krieg gegen den Terror die Erkenntnis machen mussten, dass trotz eines »Sieges auf dem Schlachtfeld« zum Beispiel im Irak sich kein »andauernder politischer Erfolg einstellte«8, wurde immer deutlicher, dass der Kampf um die Köpfe und Herzen der Menschen ganz entscheidend ist und seine Bedeutung daher auch in Zukunft immer weiter zunehmen wird.

Daher wird heute im Zuge der Kognitiven Kriegsführung überlegt, ob man das »traditionelle Schlachtfeld« überhaupt noch brauchen wird, wenn man durch psychologische Manipulation doch nachhaltigere und bessere Ergebnisse erzielen kann.

Als direkte Folge dieser Erkenntnisse wurde der psychologische Aspekt der Kriegsführung in den letzten Jahrzehnten immer weiter verstärkt und ausgebaut, eine Entwicklung, die in der Kognitiven Kriegsführung ihren derzeitigen Höhepunkt erreicht hat. Im vorliegenden Buch werden die unterschiedlichen Seiten der Kognitiven Kriegsführung daher ebenso erläutert wie der Weg, welchen die NATO für die Zukunft geplant hat.

Dabei wird zunächst auf die NATO eingegangen, welche als Militärbündnis den Cognitive Warfare als eine ihrer wichtigsten Waffen intensiv erforscht. Im Anschluss daran wird die grundlegende Unterscheidung zwischen militärischer Gewalt (Hard Power) und psychologischer Beeinflussung (Soft Power) erläutert. Im nächsten Kapitel wird die aktuelle Entwicklung des Manipulationsprogramms der NATO seit 2020 dargestellt, was die große Aktualität des Themas betont.

Dies dient als Basis für die Ausführungen zu den unterschiedlichen Facetten des Cognitive Warfare, der als direkte Folge der militärischen und psychologischen Entwicklungen, die ihm vorangingen, heute von der NATO betrieben wird. Ihnen schließt sich eine zusammenfassende Betrachtung dieses Programms an, bevor im letzten Kapitel auf Möglichkeiten zur Neutralisierung der Kognitiven Kriegsführung eingegangen wird, die jeden von uns ermächtigen, auch den modernsten Manipulationsmethoden zu widerstehen.

Zur besseren Übersichtlichkeit sind diese Manipulationsmethoden der Kognitiven Kriegsführung im letzten Kapitel in einer Liste zusammengefasst.

Die North Atlantic Treaty Organization

Die NATO oder North Atlantic Treaty Organization wurde am 4. April 1949 in Washington gegründet und hatte damals zwölf Mitgliedsstaaten. In ihren mehr als 70 Jahren Geschichte ist die Allianz heute auf 30 Länder angewachsen.9 Ein Großteil der neuen Mitgliedsländer befindet sich im Osten Europas und trat dem Bündnis nach dem Ende der Sowjetunion bei.

Während des Kalten Krieges standen sich die NATO als westliches, kapitalistisches Militärbündnis und der Warschauer Pakt, welcher am 14. Mai 1955 gegründet wurde, als östliches, kommunistisches Militärbündnis gegenüber.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde der Warschauer Pakt als großer Gegenspieler der NATO im Jahr 1991 aufgelöst. Aufgrund dieser historischen Entwicklung fragen sich viele Menschen bis heute, warum sich die NATO nicht ebenfalls aufgelöst hat.10 Der amerikanische Intellektuelle Noam Chomsky fasst das so zusammen:

»Die offizielle Rechtfertigung für die NATO war, dass ihr Zweck darin bestand, Westeuropa vor den russischen Horden zu beschützen, die Westeuropa angreifen könnten. Ich möchte nicht fragen, wie plausibel diese Erklärung war, aber zumindest war das die offizielle Erklärung. Nun gut, im Jahr 1990/1991 – keine russischen Horden. Die natürliche Schlussfolgerung – OK, lasst uns die die NATO auflösen. Das Gegenteil passierte, die NATO dehnte sich aus.«11

Das ist überraschend, denn der damalige Staatspräsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, schlug ein »gemeinsames Haus Europa« vor, mit »gleichen Rechten und Pflichten« für alle Staaten, die in Kooperation friedlich zusammenleben könnten.12 Dieser kluge Vorschlag hätte von beiden Seiten wichtige politische Veränderungen verlangt, zu denen es unglücklicherweise nicht kam.

Für die NATO bleibt somit die Frage nach ihrer Existenzberechtigung und Legitimation bei der Bevölkerung ein aktuelles Thema, auf das im Laufe der folgenden Kapitel noch näher eingegangen wird.

Ein weiterer, kontroverser Aspekt ist die NATO-Osterweiterung: Nicht nur blieb die NATO auch nach dem Fall der Mauer bestehen, sondern sie dehnte sich immer weiter nach Osten aus, was bis heute zu Spannungen mit Russland führt. Eigentlich wären diese Spannungen vermeidbar gewesen, denn im Jahr 2000 machte der russische Präsident Wladimir Putin sogar den Vorschlag, dass Russland der NATO beitreten könne: »Wieso nicht? Wieso nicht? Ich schließe solch eine Möglichkeit nicht aus … für den Fall, dass Russlands Interessen berücksichtigt werden, falls es ein gleichwertiger Partner wird«13, wird Putin in der Washington Post zitiert.

Die NATO jedoch ging auf diesen Vorschlag nicht ein. Der Publizist Hauke Ritz ist der Überzeugung, dass diese Ablehnung der NATO von den USA ausging und strategische Gründe hatte: »Das bestehende Machtgefüge mit den USA als Hegemon hätte keine unangefochtene Gültigkeit mehr gehabt [wenn Russland der NATO beigetreten wäre].«14 Ritz meint, dass der Grund für die Ablehnung der NATO die kulturelle Ähnlichkeit zwischen Russland und Europa gewesen sei. Wäre Russland in die NATO aufgenommen worden, hätte es einen Gegenentwurf zum amerikanischen Gesellschaftsmodell gegeben, eine Thematik, die im Zusammenhang mit dem kulturellen Aspekt des Cognitive Warfare (Kapitel 5. »Die Kognitive Kriegsführung als kulturelle Manipulation«) noch ausführlich behandelt wird.

Heute muss das Militärbündnis daher seine Existenz, die Erweiterung und auch die hohen Rüstungsausgaben der Mitgliedsländer immer wieder erklären und rechtfertigen, was nicht immer leicht ist. Diese steigen seit vielen Jahren immer weiter an und erreichten im Jahr 2021 mit rund 1,175 Billionen US-Dollar einen neuen Höchststand.15 Alleine die USA als das mächtigste Mitglied investierten über 800 Milliarden in ihre Rüstung. Damit gab die US-Regierung für ihr Militär mit Abstand am meisten Geld aus, China liegt auf Platz zwei mit 293 Milliarden US-Dollar, gefolgt von Indien (76,6 Milliarden), Großbritannien (68,4 Milliarden) und Russland (65,9 Milliarden).16

Ein großer Teil dieser unglaublich hohen Geldbeträge fließt in neue Waffen, und somit ist es nicht schwer zu verstehen, dass ein Militärbündnis Hard Power, also militärische Gewalt, als seine Aufgabe ansieht.

Dabei kann man leicht vergessen, dass neben dem Ausüben von Hard Power auch ein weiteres Aufgabenfeld ganz zentral für jede Armee ist: der Bereich der Soft Power. Beide Bereiche, sowohl die Hard Power als auch die Soft Power der NATO, werden nun näher erklärt.

Die Unterscheidung von Hard und Soft Power17

»Wir müssen uns erinnern, dass das, was in Kriegszeiten von Seiten des Feindes von der Front berichtet wird, immer Propaganda ist, und was von uns von der Front berichtet wird, Wahrheit und Aufrichtigkeit ist, die Sache der Menschlichkeit und ein Kreuzzug für den Frieden.«18

– Walter Lippmann

Der Bereich der Hard Power ist einfach zu verstehen, da wir offene Gewalt gut erkennen können. Das kann am eigenen Leib sein, wenn wir beispielsweise zu etwas gezwungen werden, das wir nicht wollen.

Dieser Zwang ist aus psychologischer Sicht jedoch wenig wünschenswert, denn spürbarer Zwang ruft meist Widerstand hervor. Der Grund für diesen Widerstand liegt an dem Wunsch jedes Menschen nach Selbstbestimmung, welcher ein gut dokumentiertes psychologisches Grundbedürfnis darstellt.19 Richard Ryan, einer der bekanntesten Forscher auf diesem Gebiet, erklärt das so: Jeder Mensch besitzt »tief verwurzelte Tendenzen«, sogenannte »psychologische Grundbedürfnisse«, zu denen an erster Stelle das Bedürfnis nach Autonomie oder Selbstbestimmung gehört.20

Die meisten Menschen lehnen verständlicherweise den Einsatz von Hard Power ab, und er führt meist zu Widerstand. Dennoch gibt es bis heute Kriege und offene Gewalt.

Auch die NATO hat als eine ihrer Kernaufgaben das Ausüben von Hard Power. Obschon sie sich selbst als Verteidigungsbündnis bezeichnet, hat das Militärbündnis im Laufe Ihrer Geschichte immer wieder militärische Gewalt angewandt. So griffen NATO-Länder im Jahr 1999 Serbien an, im Jahr 2003 den Irak und später Libyen (2011) und Syrien (ab 2014).

Um diese Kämpfe im Bereich der Hard Power führen zu können, hat die NATO für sich sogenannte Kriegsschauplätze definiert. Sie sind dort zu finden, wo Kampfjets oder Drohnen fliegen, wo Panzer und Schiffe fahren und seit Neuestem auch dort, wo Satelliten oder Raketen fliegen. Das Internet ist ebenfalls ein bedeutender Kriegsschauplatz, denn es verbindet all die anderen Kriegsschauplätze miteinander.21

Derzeit gib es somit fünf Kriegsschauplätze der NATO: Die klassischen sind zuWasser, zuLande und in der Luft. In den letzten Jahren wurden diese erweitert und sie umfassen nun auch das Internet oder den »Cyberspace« (ab 2016) sowie den Weltraum oder »Space« (ab 2019). Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, was mit Wasser, Land oder Luft gemeint ist und wie das Militär auf diesen Kriegsschauplätzen kämpft. Soldaten fahren einen Panzer, lenken ein Flugzeug, eine Drohne oder steuern ein Schiff.

Dieses Aufgabenfeld der NATO ist inzwischen gut dokumentiert und es gibt viele Bücher und Reportagen, die sich mit ihren Kriegen, welche nicht immer im Einklang mit dem Völkerrecht stehen, beschäftigen.22

Dabei kann man leicht vergessen, dass es neben dem Ausüben von Hard Power noch ein zweites, mindestens genauso wichtiges Aufgabenfeld jedes Militärs gibt, nämlich den Bereich der Soft Power. Er ist weniger bekannt und dennoch genauso wichtig, weil ohne Soft Power das Ausüben von Hard Power gar nicht möglich ist.23

Für die NATO ist der Bereich der Soft Power so bedeutsam, dass sie nun überlegt, ihre bisherigen fünf Kriegsschauplätze um einen weiteren zu ergänzen: die »Human Domain«, oder »Menschliche Sphäre«.24

Anders als bei Hard Power geht es hier nicht um direkte Gewalt, sondern um oft unbemerkte Manipulation. »Soft Power ist die Fähigkeit, andere zu überzeugen das zu tun, was du willst, ohne dass du Gewalt oder Zwang anwendest«, erklärt der amerikanische Politikprofessor Joseph Nye.25 Soft Power beschreibt somit all jene Techniken, welche man einsetzen kann, um Menschen so zu steuern, dass sie diese Beeinflussung gar nicht bemerken. Bei der Entwicklung dieser Manipulationswaffen werden unterschiedliche Wissenschaftsbereiche herangezogen, wie beispielsweise die Psychologie, die Sozialwissenschaften, Geschichts- und Kulturwissenschaft, Sprachwissenschaft.

Die Techniken der Soft Power werden von vielen Menschen bei der Betrachtung von Konflikten oft vernachlässigt und wenig beachtet. Doch in den Augen eines Militärs ist es mindestens genauso wichtig, was die Menschen beispielsweise über Bomben denken, die auf ein Ziel abgeworfen werden, wie die Frage, ob diese das Ziel treffen und den Schaden anrichten, den sie anrichten sollen.26

Ein Beispiel für die Lenkung der öffentlichen Meinung mittels Soft Power in Kombination mit militärischer Gewalt ist der Abwurf der größten nicht-atomaren amerikanischen Bombe am 13. April in der Nangarhar-Provinz in Afghanistan.27 Wegen ihrer Sprengkraft wird sie auch die »Mutter aller Bomben« (auf Englisch: Mother Of All Bombs oder MOAB) genannt. Als sich herausstellte, dass die Bombe nicht wie anfangs angenommen 36 Menschen, sondern 94 Menschen getötet hatte, bemühte sich das Verteidigungsministerium mit einer bestimmten Kommunikationsstrategie, ihren Abwurf als gerecht und nötig zu verteidigen. »Zum Glück gibt es keine Berichte über getötete Zivilisten«, zitiert der Spiegel einen Vertreter des US-Verteidigungsministeriums28, das bis zum Jahr 1947 noch »Kriegsministerium« hieß. »Dies ist die richtige Munition, um diese Hindernisse aus dem Weg zu räumen und das Momentum unserer Offensive gegen den IS zu erhalten«, bekräftigte der Kommandeur der US-Truppen in Afghanistan, General John Nicholson.29 Bei dem Wort »Hindernisse« denkt man zunächst nicht daran, dass Menschen getötet werden, doch genau das geschah. Diese öffentlichen Äußerungen können daher als ein Werkzeug gesehen werden, wie die Gedanken und Gefühle der Menschen im Krieg gelenkt werden.

Das Veröffentlichen von Pressemitteilungen oder offiziellen Statements ist jedoch nur ein Werkzeug von vielen, mit denen im Bereich der Soft Power gearbeitet wird. In den kommenden Kapiteln zu den einzelnen Facetten der Kognitiven Kriegsführung wird eine Vielzahl solcher Werkzeuge vorgestellt und anhand konkreter Beispiele erläutert, wie man mit Soft Power Menschen beeinflusst.

Soft Power wird bald wichtiger sein als Hard Power

Auch wenn Hard Power immer noch eine Rolle spielt und weiterhin Gewalt eingesetzt wird, so beobachtet die NATO dennoch eine neue Rollenverteilung. Hard Power wird immer weniger wichtig werden, die Bedeutung von Soft Power wird jedoch zunehmen. Das trifft nicht nur auf Kriege zu, sondern ist eine allgemeine Tendenz, welche auch die internationale Politik und die Gesellschaften weltweit verändert.30 Aus diesem Grund wird der Cognitive Warfare immer wichtiger werden, denn als Programm zur Sammlung und Anwendung einer Vielzahl von Soft-Power-Techniken hat er die gezielte und unmerkliche Manipulation der Gedanken und Gefühle der Menschen als Ziel.

»Während die Psychologie schon immer wichtig war in der Kriegsführung, ist sie erst seit Kurzem so wichtig geworden, dass sie den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage ausmacht. […] Wenn die kinetische Kraft [also Hard Power] den Feind nicht besiegen kann, was dann? Hier können die Psychologie und verwandte Verhaltens- und Sozialwissenschaften [also Soft Power] die Lücke füllen«, beschreibt der Militärpsychologe Michael Matthews des U. S. Naval Institute31 die Verschiebung der Bedeutung hin zu Soft Power.32

Der Grund dafür liegt auch in der unterschiedlichen Wirkung von Hard und Soft Power, die im nächsten Kapitel genauer erklärt wird. Matthews deutet an, worin der Unterschied besteht: »Wir haben immer wieder erlebt, dass militärische Gewalt Aggression und Wut nur anheizt. Sie mag zwar die zweckmäßigste Reaktion sein, stellt aber oft keine langfristige Lösung dar.«33 Diese Erfahrung mussten die USA im Krieg gegen den Terror machen. Sie konnten zwar relativ leicht militärische Siege erringen, doch die Köpfe und Herzen der Menschen gewannen sie nicht, und daher scheiterte auch beispielsweise die langjährige Besetzung Afghanistans und endete mit einem Rückzug der NATO im Jahr 2021.34

Der Professor für Journalismus an der Moskauer Universität für Internationale Beziehungen Igor Jakowenko meint, dass auch Russland den Wechsel hin zu Soft Power verstanden hat: »Wenn frühere autoritäre Regime zu drei Teilen aus Gewalt und zu einem Teil aus Propaganda bestanden, so besteht dieses Regime praktisch nur aus Propaganda und relativ wenig aus Gewalt«, so die Kritik von Jakowenko35 an der russischen Regierung.

François du Cluzel36 fasst die zunehmende Bedeutung von psychologischen Manipulationswerkzeugen so zusammen: »Psychologie und Sozialwissenschaften waren schon immer sehr bedeutend für die Kriegsführung, und während sich die Kriegsführung weg von kinetischen Operationen [also Hard Power] bewegt, könnten sie [also Soft-Power-Techniken] der neue Game Changer sein.«37

Es lohnt daher, einen näheren Blick auf Soft Power zu werfen und im Anschluss daran die Verwendung von Soft-Power-Techniken zum Zwecke der Kriegspropaganda zu erläutern, denn diese bildet ein wesentliches Fundament der heutigen Kognitiven Kriegsführung.

Ein genauer Blick auf Soft Power: Die Psyche des Menschen ist der Schlüssel

»Im kognitiven Krieg ist es wichtiger als jemals zuvor, dich selbst zu kennen.«38

– Zac Rogers

Mit Soft-Power-Techniken kann man die Menschen so beeinflussen, dass sie diese Beeinflussung gar nicht bemerken. Um diese Art der Beeinflussung dreht sich der Cognitive Warfare, daher sind Soft-Power-Techniken für den Cognitive Warfare genauso wichtig wie Gewehre oder Panzer für eine Armee, denn sie liefern die Waffen, mit denen die Kognitive Kriegsführung arbeitet.

Wenn es möglich ist, Menschen unbewusst zu beeinflussen, führt das zu der Frage, wieso und wie das überhaupt möglich ist. Warum kann man Menschen durch den Einsatz von Soft Power zu »automatischer, gedankenloser Willfährigkeit«39 bringen, wie es der amerikanische Professor und Soft-Power-Forscher Robert Cialdini im Gespräch mit dem bekannten Talk-Show-Moderator Larry King beschreibt.

Die Antwort darauf liegt in uns selbst, genauer in der Struktur unserer Psyche, unserer Wahrnehmung und unserer Informationsverarbeitung. Unsere Psyche ist so gestaltet, dass wir ganz vieles von dem, was in Gedanken und Gefühlen in uns entsteht und was unser Handeln prägt, nicht bewusst wahrnehmen können.

Das mag zunächst ungewöhnlich klingen, doch in der psychologischen Forschung ist es gut belegt, dass die meisten psychischen Prozesse wie bei einem Eisberg unterhalb der Wasseroberfläche liegen. Das, was wirklich sichtbar ist, stellt – genau wie bei einem Eisberg – nur den kleinsten Teil von dem dar, was uns wirklich ausmacht.40

In einem Lehrbuch zur Persönlichkeitspsychologie wird das so formuliert: »Inzwischen kann kein Zweifel mehr daran bestehen, dass der weitaus größte Teil der menschlichen Informationsverarbeitung faktisch unterhalb der Bewusstseinsschwelle verläuft und auch bei größter willentlicher Anstrengung nicht ins Bewusstsein geholt werden kann.«41

Der große, unbewusste Teil des Menschen beschäftigt die (psychologische) Forschung schon lange. In den letzten 120 Jahren wurden unter anderem von der Psychologie, den Sozialwissenschaften sowie der Sprach- und Kommunikationswissenschaft große Fortschritte erzielt, um diese für den Menschen selbst nicht zugänglichen Bereiche der Psyche zu erforschen. Man kann die Techniken, welche der Cognitive Warfare nutzt, um diesen Bereich zu beeinflussen, daher auch als Soft-Power-Techniken bezeichnen.

Wenn man sich den unbewussten Teil des Menschen wie eine Maschine vorstellen möchte, dann sind Soft-Power-Techniken wie eine Sammlung von Werkzeugen, mit denen man an der Psyche des Menschen ansetzen und »herumschrauben« kann, um die Gedanken und Gefühle in die gewünschte Richtung zu lenken.

Bei Robert Cialdini, zu dessen Kunden u. a. die NATO gehört, klingt das weniger harmlos: Er spricht nicht von Werkzeugen, sondern von »Waffen der Einflussnahme«42.

Anders als die »Waffen« der Hard Power, wie Raketen oder Gewehrkugeln, spüren wir Menschen solche »Waffen der Einflussnahme« kaum. Und während Gewalt oder Zwang bei uns nicht dazu führen, dass wir sie bemerken, sondern auch, dass wir einen Widerstand gegen sie ausbilden, ist ein Widerstand gegen Soft-Power-Techniken zunächst viel schwerer. Das hat zur Folge, dass Propagandaspezialisten davon überzeugt sind, dass Soft Power noch mächtiger ist als Hard Power: »Ich fand heraus, dass Ideen Waffen sind und sogar effektiver als Gewehrkugeln«, so der »Vater der Public Relations« Edward Bernays.43 Dabei gilt für die Entwicklung dieser Waffen der Einflussnahme das Gleiche wie für die Entwicklung von Kriegswaffen: Einerseits werden sie ständig weiterentwickelt, um immer neue und noch wirkungsvollere Waffen zu finden. Andererseits gibt es solche Waffen, die sich seit über 100 Jahren bewährt haben und auch heute noch eingesetzt werden. Ein Gewehr aus dem Ersten Weltkrieg funktioniert immer noch ähnlich wie ein modernes Gewehr. Ebenso sind die Propagandatechniken aus dieser Zeit heute noch wirkungsvoll und nach wie vor im Einsatz.

Die psychologische Forschung hat das zwar erkannt, sie spricht dennoch nicht gerne offen über die Möglichkeiten von Soft Power. Man muss daher lange suchen, bis man den Begriff dort findet. Eine der seltenen Definitionen im psychologischen Kontext definiert »sanfte« Einflusstechniken so: »Es handelt sich hierbei um Einflussstrategien, die üblicherweise als anstößig gelten und Formen der Manipulation darstellen. Solche Einflusstechniken können auch deshalb besonders wirksam sein, weil die unmerkliche Steuerung des Verhaltens keine Reaktanz [also Widerstand] erzeugt.«44

Es gibt ganz viele unterschiedliche Techniken, die eingesetzt werden können, und ganz unterschiedliche Bereiche der menschlichen Psyche, an denen die Werkzeuge ansetzen.

Das klingt sehr abstrakt, daher kann man Soft Power an dieser Stelle am besten mit einem konkreten Beispiel aus der Psychologie erklären. Viele Menschen kennen sogenannte optische Täuschungen. Eine der bekanntesten Täuschungen sind die gedrehten Tische des amerikanischen Psychologen Roger N. Shepard.45

Abbildung 1: Die gedrehten Tische von Roger N. Shepard46

Die Täuschung setzt bei der menschlichen Wahrnehmung und Informationsverarbeitung an, die sehr gut erforscht sind. Obwohl es fast unmöglich ist, dies auf den ersten Blick und ohne Nachmessen zu erkennen, haben die beiden Tischplatten die identische Oberfläche (sie ist nur gedreht). Diese Täuschung wird bis heute im Bereich der Soft-Power-Forschung zitiert und gilt als ein Beleg dafür, »dass wir systematisch irren«47.

Das Beispiel wurde auch deshalb gewählt, weil es in einem Dokument zur Kognitiven Kriegsführung ebenfalls auftaucht. Das heißt, auch die NATO beschäftigt sich mit psychologischer Forschung, kennt diese optische Täuschung und führt sie als ein Beispiel an, warum man Menschen mit Soft Power in der Kognitiven Kriegsführung lenken kann.48

Sie sammelt und verknüpft in ihren Dossiers die unterschiedlichsten Manipulationstechniken, um im Cognitive Warfare als Weiterentwicklung der Kriegspropaganda und des Informationskrieges auf möglichst viele dieser Werkzeuge (oder Waffen der Einflussnahme) zurückgreifen zu können. Es sind genau diese unbewussten Mechanismen, die allen Menschen eigen sind, welche die Möglichkeit zur Beeinflussung und unbewussten Steuerung der Bevölkerung liefern, und sie stehen daher im Zentrum der Kognitiven Kriegsführung.

Man kann die Anwendungsgebiete, in denen die Kognitive Kriegsführung diese Techniken nutzt, in vier übergeordnete Bereiche unterteilen, welche alle als ein Teil der Kognitiven Kriegsführung gesehen werden können:

Kriegspropaganda, digitale Manipulation, kulturelle Manipulation, Zukunftstechnologien und Neurowissenschaften.

Jedem dieser vier Bereiche ist in diesem Buch ein Kapitel gewidmet, das sich mit der Anwendung der Soft-Power-Techniken, ihrer geschichtlichen Entwicklung und der Forschung dazu beschäftigt. Nach der Darstellung der Chronologie werden die vier Bereiche der Kognitiven Kriegsführung näher ausgeführt. An diesen Teil schließt sich eine Zusammenfassung an, bevor schließlich auf die Kognitive Kriegsführung in unserem Alltag und was jeder Einzelne tun kann, um ihn zu neutralisieren, eingegangen wird. Das Buch ist so geschrieben, dass es auch ohne Vorwissen für jeden verständlich ist.

I Die Chronologie der Kognitiven Kriegsführung

»Die sechste Domäne [gemeint ist: Kriegsschauplatz der NATO], eine Domäne, in der Einflussnahme und Gedankenkontrolle es dem Gegner ermöglichen, eine direkte Konfrontation zu vermeiden, die stets kostspielig und oft riskant ist.«1

– Hervé Le Guyader

Die Kognitive Kriegsführung ist kein abstraktes, theoretisches Konzept mehr, sondern sie findet in diesem Augenblick schon mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln statt, obschon sie nicht immer als solches bezeichnet wird.2

Im Zuge dieser Entwicklung befindet sich die NATO derzeit auf dem Weg, einen neuen, sechsten Kriegsschauplatz festzulegen, auf dem mit den Waffen der Kognitiven Kriegsführung gekämpft werden soll, und sie muss sich hier zwischen der »kognitiven Domäne« und der »menschlichen Domäne« entscheiden, welche ein »ehrgeizigeres« Ziel wäre.3

Dieser Prozess, ein neues, sechstes Schlachtfeld festzulegen, ist langwierig und es lohnt sich, seine Geschichte zu betrachten, um die Planungsschritte und die große Aktualität, die der Cognitive Warfare heute für uns alle besitzt, nachvollziehen zu können.

Es ist nicht sicher, wann der Begriff zum ersten Mal verwendet wurde, eine der ersten Veröffentlichungen dürfte jedoch eine Analyse des ehemaligen Navy-Kommandanten Stuart Green aus dem Jahr 2008 sein, als die Informationsrevolution schon in vollem Gange war. Stuart argumentiert, dass arabische Muslime durch den Cognitive Warfare erfolgreich »Israel zerstören« und »die USA aus dem Nahen Osten vertreiben« könnten und das trotz ihrer militärischen Unterlegenheit.4

Bernard Claverie und François du Cluzel scheinen dieses Dossier nicht zu kennen, für sie wurde der Begriff Cognitive Warfare in den Vereinigten Staaten von Amerika das erste Mal im Jahr 2017 verwendet.5 Zu diesem Zeitpunkt waren die Möglichkeiten des Internets als Mittel zur Manipulation um vieles besser erforscht als noch im Jahr 2008, und auch die NBIC-Wissenschaften hatten große Fortschritte gemacht – welche wiederum als Soft-Power-Waffen im Informationskrieg nutzbar gemacht werden sollten. Beides, sowohl die Manipulationsmöglichkeiten durch das Internet als auch der Begriff der NBIC-Wissenschaften werden in den Kapiteln 3 bzw. 5 ausführlich dargestellt.

Claverie und du Cluzel zitieren den Autor des Dossiers von 2017 mit einer Definition des Cognitive Warfare, der ihn als eine Sammlung von Möglichkeiten beschreibt zur »Manipulation der Kognitionsmechanismen eines Feindes oder seiner Bürger, mit dem Ziel, ihn zu schwächen, zu durchdringen, zu beeinflussen oder sogar zu unterwerfen oder zu zerstören«6. Damit zeigt sich schon in den ersten Entwürfen die radikale Natur der Kognitiven Kriegsführung, die letztlich auch die »Zerstörung« von Menschen als Ziel hat.

In den kommenden Jahren wurden von verschiedenen Think-Tanks oder anderen Organisationen Analysen zur Kognitiven Kriegsführung publiziert, so zum Beispiel eine Analyse von »The Cove«, der »Entwicklungsplattform« des australischen Militärs, in welchem die Autoren betonen, dass »Cognitive Warfare der Kampf ist, den wir haben«, und dass man sich diesem Kampf stellen müsse.7 Die Autoren stellen richtigerweise fest, dass der Cognitive Warfare »Informationskrieg ist«, jedoch darüber hinausgeht und »noch etwas hinzugefügt« wird.

Ein weiteres Beispiel ist der Aufsatz des Belfare-Centers mit dem Titel: »Cognitive Warfare: die russische Bedrohung der Integrität der Wahlen in den baltischen Staaten« vom November 2019.8 Stets wird in diesen Analysen betont, wie wichtig es sei, die Manipulationstechniken immer weiter zu verbessern, um so die Gedanken und Gefühle der Menschen immer effizienter steuern zu können.

Die Menschliche Sphäre als möglicher sechster Kriegsschauplatz

Unter Federführung der USA und von der NATO nahestehenden Think-Tanks wurden die Theorie zur geistigen Kriegsführung sowie ihre Techniken kontinuierlich weiterentwickelt, und das führte ab 2020 zu konkreten Überlegungen, den Menschen als neues Einsatzgebiet oder Kriegsschauplatz festzulegen.9

Einsatzgebiete sind für die NATO die Bereiche, auf denen sowohl mit Hard Power als auch mit Soft Power gekämpft wird. Denkt man an Panzer, Schiffe oder Flugzeuge, fällt es nicht schwer, sich Wasser, Land und Luft als drei der bisherigen Einsatzgebiete vorzustellen. Zu diesen kommt noch seit 2016 das Internet (»Cyberspace«10) und seit 2019 der Weltraum (»Space«)11 hinzu.

Obwohl das Internet bereits den digitalen Raum umfasst, reicht dieser digitale Aspekt der Kriegsführung der NATO nicht aus. Für die NATO haben der Informationskrieg und damit die Gedanken und Gefühle der Menschen einen so hohen Stellenwert, dass sie den Menschen selbst als Einsatzgebiet definieren möchte. Momentan geht aus den Veröffentlichungen hervor, dass ein sechster Kriegsschauplatz fest eingeplant zu sein scheint – man muss nur noch überlegen, ob man es die »Cognitive Domain« oder die »Human Domain« nennt. Das heißt, entweder stehen der ­Verstand, die Gedanken und Informationsverarbeitungsprozesse der Menschen im Visier oder eben der Mensch in seiner Gesamtheit. Diese Entscheidung dürfe sich die NATO nicht leicht machen: Ein neues Schlachtfeld festzulegen sei eine »höchst komplexe Aufgabe« und das Auswahlverfahren müsse daher »hart und rigoros« sein, meint Hervé Le Guyader, denn schließlich »kann es nur ein sechstes Schlachtfeld geben!«.12

Wie wichtig die NATO den Informationskrieg nimmt, zeigen die heutigen Definitionen des Cognitive Warfare, der meist als eine Art Weiterentwicklung und Modernisierung des Informationskrieges beschrieben wird. Claverie und du Cluzel schreiben dazu:

»Im Cognitive Warfare werden alle Elemente des Informationskrieges – einschließlich der operationalen Aspekte der Psychologie und der Neurowissenschaften […] – für militärische Aktionen miteinander kombiniert. Er befindet sich an der Überschneidung zweier operationaler Bereiche, die bisher getrennt verwaltet wurden: PsyOps und Einflussoperationen (Soft Power) auf der einen Seite und Cyberoperationen (Cyberverteidigung), welche das Ziel haben, physische Informationsquellen zu verschlechtern oder zu zerstören, auf der anderen Seite. Diese Überschneidung ermöglicht es, Konzepte und Standpunkte aus verschiedenen wissenschaftlichen, militärischen oder nachrichtendienstlichen Interessengruppen zu vereinen und so einen interdisziplinären Ansatz für die Auswirkungen von Technologien auf die Menschheit zu entwickeln.«13

Einmal mehr wird hier der Umfang der Kognitiven Kriegsführung deutlich, und wie viele Bereiche der Gesellschaft im Zuge des Informationskrieges in die Manipulationsbemühungen einbezogen werden sollen.

Die Planungen werden seit 2020 intensiv vorangetrieben

Seit 2020, als die ersten konkreten Überlegungen für ein neues Schlachtfeld aufkamen, sind eine Reihe von Publikationen erschienen, welches das Thema innerhalb der NATO bekannt machten. Wichtig war für die Autoren, dass sie die Kognitive Kriegsführung für die höchsten Führungsschichten des Militärbündnisses so aufbereiteten, dass deren Interesse geweckt wurde und die Planungen immer weiter vorangetrieben werden konnten.

Ein erster Aufsatz war »Weaponization of neurosciences« (Militarisierung der Neurowissenschaften) von dem Gründer des European Center for Communication und Cyberexperten Le Guyader14. Er wurde im Februar 2020 für die »Warfighting 2040«-Studie des Allied Command Transformation (ACT, Alliiertes Transformationskommando, verantwortlich für die Strategien und Weiterentwicklung der NATO) veröffentlicht.15

Im September 2020 folgte die Publikation »NATO’s Sixth Domain of Operations«16 (»Das sechste Einsatzgebiet der NATO«), für die wieder Le Guyader verantwortlich war. Sie ist im Erzählstil verfasst und schildert fiktionale Szenarien, welche als Denkanstöße für die höchsten Führungsebenen der NATO dienen sollen.17 Le Guyader verfasste das Dokument zusammen mit dem Verteidigungsexperten August Cole18 für NATOs Innovation Hub. Damit ist es ebenfalls noch keine offizielle Veröffentlichung der NATO, sie hatte jedoch Erfolg damit, »die höchsten Führungsebenen der NATO«19 zu erreichen – und das war auch ihr Ziel.