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Der Krieg in der Ukraine spitzt sich weiter zu - damit nimmt nicht nur die Gefahr einer militärischen Eskalation zu. Auch die Propagandaschlacht wird von allen Konfliktparteien erbittert und mit den modernsten Manipulationswaffen geführt. Von russischer Seite wird immer wieder die Karte einer möglichen atomaren Konfrontation ausgespielt. Die Falken im Westen versuchen dagegen, die Gefahr eines Nuklearkrieges als gering und paradoxerweise den russischen Invasionshunger auf Europa gleichzeitig groß darzustellen. Dabei gerät ein Aspekt ins Hintertreffen: Bereits während des Kalten Krieges simulierten sowohl die NATO-Staaten als auch die Sowjetunion immer wieder einen möglichen atomaren Konflikt. Heute führt die NATO diese Planungen und Übungen unter veränderten Vorzeichen fort. Doch über die katastrophalen Folgen einer solchen Konfrontation wird öffentlich kaum gesprochen, obwohl diese Übungen meist von einer vollständigen Zerstörung Deutschlands und weiterer Länder Europas ausgehen.
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Seitenzahl: 172
Ebook Edition
Jonas Tögel
Kriegsspiele
Wie NATO und Pentagon die Zerstörung Europas simulieren
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ISBN: 978-3-98791-088-3
1. Auflage 2025
© Westend Verlag GmbH, Waldstr. 12 a, 63263 Neu-Isenburg
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Lektorat: Luca Groß
Satz: Publikations Atelier, Weiterstadt
Cover
Einleitung
I Die Herzlandtheorie
Wer das Herzland beherrscht, beherrscht die Welt
Die NATO als wichtiges Bündnis zur Kontrolle des Herzlandes
II Planspiele im Kalten Krieg
»Operation Undenkbar« (1945)
»Plan Totalität« (1945)
»Operation Dropshot« (1949)
»Freibrief« (1955)
»Sieben Tage bis zum Rhein« (ab 1964)
»Fähiger Bogenschütze« (1983)
»Wintex-Cimex« (1989)
»Wir Europäer sollen uns opfern«11
Zusammenfassung der Planspiele im Kalten Krieg
Übertragbarkeit der Pläne auf heute
Der Operationsplan Deutschland 2025
Wichtige Zeitzeugen: von Dohnanyi und Wimmer
US-Präsenz in Deutschland und die »Nukleare Teilhabe«
Würden die USA sich durch den Schutz für Europa selbst in Gefahr bringen?
Fazit
III Kriegsszenarien der Gegenwart
Greenpeace-Studie »Auswirkungen einer Atombombe auf Deutschland« (2020)
»Standhafter Mittag« (seit ca. 2008)
Ein nur schwer vorstellbares Szenario zeichnet sich ab
»Standhafter Verteidiger« (2024)
Geprobt wird der Dritte Weltkrieg
IV Die aktuelle militärische Lage
Aufrüstung und der Neue Kalte Krieg
Die Gefahr der Eskalation des Ukraine-Krieges
Die Kognitive Kriegsführung
Auswege
Anmerkungen
Cover
Inhaltsverzeichnis
Für alle, die Frieden in ihrem Herzen und in die Welt tragen.
Während der Krieg in der Ukraine sich im Jahr 2024 weiter zuspitzt und die militärische Lage für die Ukraine sich zunehmend verschlechtert,1 wächst die Gefahr einer militärischen Eskalation. Gleichzeitig wird der Kampf um die Gedanken und Gefühle der Bevölkerungen und Entscheidungsträger aller beteiligten Nationen erbittert und mit den modernsten Manipulationswaffen geführt: Das Fachwort dafür lautet »Kognitive Kriegsführung«.2
Dabei wird von beiden Seiten jeweils ein sehr einfaches Narrativ, also eine Rahmenerzählung, verbreitet, welche die Zustimmung der eigenen Bevölkerung sicherstellen soll und somit die Kriegshandlungen und Waffenlieferungen aller kriegsbeteiligten Nationen erst möglich macht. Das westlich-ukrainische Narrativ lautet hierbei, dass die Ukraine Europa und die westlichen Werte gegen einen unprovozierten russischen Angriffskrieg verteidige.3 Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock ist von diesem Narrativ überzeugt: Russland kämpfe »für eine Weltordnung, in der internationales Recht nichts gilt«4. Wenn Putin nicht in der Ukraine gestoppt werde, dann würde er weiter in Richtung Westen vordringen. »Auf russischen Panzern steht ›nach Berlin‹«, so die Warnung der deutschen Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann am 17. März 2023 in der Neuen Zürcher Zeitung.5
Auch Russland verbreitet eine einfache Rahmenerzählung: Es gehe gar nicht um einen Krieg Russland gegen die Ukraine. Der Konflikt finde in Wahrheit zwischen Russland und den USA, der NATO sowie Europa statt und sei – ähnlich wie der Zweite Weltkrieg – ein großer, patriotischer (Verteidigungs-)Krieg:
»Wir haben alles uns Mögliche getan, um dieses Problem friedlich zu lösen. […] Die USA und die NATO haben beschleunigt an den Grenzen unseres Landes ihre Militärbasen aufgebaut, heimliche Biolabore. Sie haben wirklich erschlossen, wie sie spätere Kriegshandlungen führen. […] Im Dezember 2021 haben wir offiziell an die USA und die NATO die Vertragsentwürfe geschickt über die Sicherheitsgarantien, aber in allen Schlüsselfragen […] haben wir als Antwort eine Absage erhalten. […] Das möchte ich wiederholen: sie, sie haben diesen Krieg angefangen, wir haben nur versucht, unsere Kraft benutzt, um diesen Krieg zu stoppen […] Wir führen keinen Krieg mit dem Volk der Ukraine«,
so Putin in seiner Rede zur Lage der Nation am 21. Februar 2023, in welcher er den eigenen Krieg nicht als solchen, sondern als »(militärische) Spezialoperation« bezeichnet.6
Beide Narrative sind kritisch zu hinterfragen, denn sie sind die Basis dafür, dass die Kriegshandlungen überhaupt stattfinden können: Wie Markus Reisner vom Österreichischen Bundesheer erklärt, ist der Krieg in der Ukraine ein Abnutzungskrieg, der nicht auf dem Schlachtfeld, sondern an der »Heimatfront« entschieden wird, also in den Köpfen und Herzen der Menschen.7
Im Zuge der zunehmenden Zuspitzung des militärischen Konflikts lässt sich gleichzeitig eine besorgniserregende Zuspitzung dieses Kampfes um die Deutungshoheit feststellen: Von russischer Seite wird immer wieder eine Drohkulisse durch die eigenen Atomwaffen aufgebaut und darauf hingewiesen, dass Russland diese einsetzen könnte, wenn es sich selbst bedroht fühlt.8 So erklärte der russische Präsident Vladimir Putin am 22. September 2022:
»Wenn die territoriale Integrität einer unserer Länder bedroht wird, werden wir sicherlich alle uns zur Verfügung stehenden Mittel nutzen, um Russland und unsere Leute zu verteidigen.[…] Das ist kein Bluff.«9
Während Putin seinerseits betont, nur auf westliche Drohungen eines Angriffes auf Russland zu reagieren, werden seine Aussagen von westlicher Seite als die offene Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen verstanden. Der amerikanische Präsident Joe Biden warnte beispielsweise am 7. Oktober 2022 vor einer »nuklearen Götterdämmerung«10 und betonte immer wieder, man müsse Putins Warnungen ernst nehmen.11 Teilweise wird in internationalen Medienberichten eingeräumt, dass die Folgen eines Atomkrieges für die Ukraine verheerend sein könnten, selbst beim Einsatz sogenannter »taktischer Atomwaffen«, die eine geringere Zerstörungskraft besitzen als »strategische Atomwaffen.12
Aus der Perspektive der Kognitiven Kriegsführung der NATO jedoch sind solche Einschätzungen wenig wünschenswert, geben sie doch Russland ein wirksames Druckmittel an die Hand und die Möglichkeit, bei der westlichen Bevölkerung Angst auszulösen.
»Zu Beginn des Kriegs habe Kanzler Scholz noch vor einem Atomschlag gewarnt. Jetzt sei man dazu übergegangen, das nicht mehr so offen zu sagen, um die Bevölkerung nicht zu verunsichern«,13
so der Münchner Merkur im September 2022.
Während Russland seinerseits »mit fortlaufenden […] Drohungen betreffend einen Einsatz von Mitteln des eigenen Nuklearpotenzials« versucht, das Vordringen seiner Truppen in der Ukraine militärisch abzusichern14 und westliche Ängste vor einer nuklearen Eskalation zu schüren, wird sowohl von ukrainischer Seite als auch vonseiten westlicher Medien immer wieder versucht, das russische »Säbelrasseln«15 durch eigene Botschaften zu neutralisieren. Dabei verweist man gerne darauf, Putin würde nur »bluffen«16 oder aber man spielt die Folgen einer direkten Konfrontation herunter. So spottete der Militärökonom Marcus Keupp am 21. Juni 2024 in einem ZDF-Interview, er warte »immer noch auf das Atomknallbumms«, womit er »die übliche russische Drohung« meine, »wenn ihr XY macht […], dann drücken wir auf den großen roten Knopf, und dann ist es vorbei«.17 Keupp ist somit bemüht, die russischen Drohungen als unglaubwürdig darzustellen. Man müsse wieder lernen, mit russischer Propaganda umzugehen, und dürfe sich nicht einschüchtern lassen, so der Militärökonom.
Eine ähnliche Strategie besteht darin, einen möglichen Atomkrieg als gewinnbar darzustellen und dabei die Folgen für Europa und den Rest der Welt auszublenden. Unter dem Titel »Reaktion auf Putin-Atomschlag: […] Diese 3 russischen Ziele würde die Nato als erstes bombardieren«18 vom Juni 2024 erklären die anonymen Autor*innen unter Verweis auf den ehemaligen sowjetischen Oberstleutnant Sergey Gulyaev, wie die NATO-Länder im Falle eines russischen Atomangriffs reagieren würden. Die Botschaft dabei wird deutlich: Die NATO würde entsprechend antworten und Russland mindestens ebenso großen Schaden zufügen wie Russland den NATO-Ländern.
Dieses Prinzip der »gegenseitig zugesicherten Zerstörung« bzw. des »Gleichgewichts des Schreckens« ist bereits aus dem Kalten Krieg bekannt.19 Das englische Original (»mutually assured destruction«) wird treffenderweise mit »MAD« abgekürzt – zu deutsch »verrückt«. Denn dieser sorglose Umgang mit der Gefahr eines drohenden Atomkrieges ist überraschend. Bereits 1966 erkannte der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers die Gefahr, welche im Herunterspielen der zerstörerischen Auswirkungen einer atomaren Auseinandersetzung liegt. Man dürfe die Gefahren im gesellschaftlichen Diskursraum nicht kleinreden, da sonst der öffentliche Widerstand gegen Krieg abgeschwächt werden könne, so Jaspers in seiner Warnung, die erstaunliche Parallelen zur heutigen Situation aufweist:
»Ein Schutz der Bevölkerung gegen den Atomkrieg ist nicht möglich. Ihn zu behaupten, erzeugt eine falsche Beruhigung, die gefährlich ist, weil sie die mögliche Abwehr des Kriegs überhaupt schwächt. Möglich ist die Rettung einer kleinen Minderheit durch unterirdische, höchst kostspielige, mit den Steuergeldern des Gesamtvolkes zu errichtende Bauten«,20
so Jaspers, der richtig erkannte, dass von Kriegen stets nur eine kleine Minderheit profitiert, auf Kosten der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung.
An dieser Stelle ist es daher wichtig zu betonen, dass jeder Versuch, die Folgen eines möglichen Atomkrieges kleinzureden, als ein möglicher Teil der »Kognitiven Kriegsführung« verstanden werden sollte, der dazu dient, die gegnerische Drohkulisse zu neutralisieren.
Die Propaganda und Gegenpropaganda um die Möglichkeiten eines russischen Atomkrieges und die dadurch hervorgerufene Angst vernebeln darüber hinaus den klaren Blick darauf, dass es auch einen konventionellen Krieg geben könnte, der von russischer Seite aus ohne Atomwaffen geführt wird. Ebenso geht der Blick darauf verloren, dass auch die USA Atomwaffen in verschiedenen europäischen Ländern, unter anderem mutmaßlich in Deutschland, stationiert haben, deren Einsatz immer wieder simuliert und geübt wurde.
Während sich somit einerseits die militärische Lage in der Ukraine immer weiter zuspitzt, stellt sich andererseits durch eine erbittert geführte Kognitive Kriegsführung und einen Kampf um die Deutungshoheit ein zunehmend sorgloser Umgang mit einer möglichen Eskalation ein. Dieser scheint weitgehend losgelöst von der Realität, die bereits in zahlreichen militärischen Planspielen und Übungen simuliert wurde. Dies, verbunden mit der Tatsache, dass das Bewusstsein für die katastrophalen Folgen einer solchen Eskalation in der Bevölkerung weitgehend fehlt, verstärkt die Gefahr noch weiter.
Mit eindrücklichen Worten warnte der serbische Präsident Aleksandar Vučić im Juni 2024 vor eben jener Ausweitung des Ukraine-Krieges:
»Ich glaube, dass wir uns den letzten Tagen möglichen Überdenkens all dessen nähern, was in der Ukraine geschieht, wenn die Großmächte nichts tun. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir bald eine echte Katastrophe erleben werden. […] Niemand spricht über Frieden.«21
Es ist daher wichtig, ein Bewusstsein für die Konsequenzen einer militärischen Eskalation zu schaffen und einen Einblick zu gewinnen in Planungen militärischer Übungen und Kriegsszenarien zu einem Konflikt des Westens mit Russland. Diese Kriegsspiele wurden und werden bis heute von Militärs der NATO, der USA sowie von Großbritannien und Russland seit Ende des Zweiten Weltkrieges geplant und geprobt. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Frage, welches Schicksal Europa in diesen Übungen zuteil wird.
Die in diesem Buch dargestellten Übungen und Planspiele sind chronologisch geordnet. Sie reichen von der britischen »Operation Undenkbar« (Operation Unthinkable) sowie dem »Plan Totalität« (Plan Totality) aus dem Jahr 1945 bis hin zur NATO-Übung »Standhafter Verteidiger« (Steadfast Defender) im Jahr 2024. Der Blick zurück ist dabei aktueller, als man dies mit Blick auf die Jahreszahlen der Planspiele vermuten könnte. Es zeigt sich, dass die Szenarien der vergangenen Jahrzehnte »durchaus die Kriegsschauplätze zukünftiger Kriege sein könnten.«22
Der Inhalt sowie der »rote Faden«, der sich durch diese Kriegssimulationen zieht, ist erschreckend und lässt nur einen Schluss zu: Krieg kann niemals und von keiner Seite ein Mittel zur Lösung von Konflikten sein. Es ist erstaunlich, mit welcher Unkenntnis und Sorglosigkeit auch in Europa mit einer möglichen Eskalation des Ukraine-Krieges umgegangen wird. In den folgenden Kapiteln soll daher zunächst die »Herzlandtheorie« erläutert werden, die einen wichtigen Rahmen zum Verständnis der Planspiele bereitstellt. Im Anschluss daran soll anhand militärischer Planspiele ein Blick auf eine solche Eskalation geworfen und aufgezeigt werden, dass gerade jetzt ein entschlossener Einsatz für einen Waffenstillstand und eine Beendigung des Konfliktes nötig ist, um zu verhindern, dass die bereits seit Langem geübten militärischen Überlegungen Wirklichkeit werden.
Die sogenannte »Herzlandtheorie« geht in ihrer ursprünglichen Form auf einen Vortrag des Geografen Sir Halford John Mackinder im Jahr 1904 vor der britischen Königlichen Geografischen Gesellschaft zurück.1 Damit ist sie eine für geostrategische Verhältnisse sehr alte Theorie. Dennoch ist sie auch im 21. Jahrhundert noch hochaktuell und wird beispielsweise in der Offiziersausbildung der Streitkräfte der Vereinigten Staaten bis heute gelehrt.2
In seiner Theorie rückt Mackinder den europäischen Kontinent ins Zentrum seiner Betrachtungen. Er erklärt, dass die über viele Jahrhunderte stattfindenden Überfälle, die vom Gebiet des heutigen Russlands ausgingen, beispielsweise unter Attila dem Hunnen, Europa maßgeblich prägten. Ein »Großteil der modernen Geschichte [bis 1904]« ließe sich durch die mit diesen Überfällen einhergehenden Veränderungen im Herzen Europas beschreiben.3 Er beschreibt, wie sich Europa für viele Jahrhunderte zwischen den Reitervölkern Asiens sowie den Wikingern, die als Seemacht von Skandinavien aus landeinwärts nach Süden drängten, in der Zange befunden habe. Diesem Druck von zwei Seiten habe es standgehalten und sei gleichzeitig dadurch geprägt worden: »Ihrem Wesen nach war weder die eine noch die andere Bedrohung überwältigend, sodass sie in Kombination die weitere Entwicklung der Europäer stimulierten, anstatt sie zu behindern«, erklärt Mackinder.4
In seinen ausführlichen Erläuterungen möchte der Geograf vor allem verdeutlichen, wie groß das Machtpotenzial des riesigen eurasischen Kontinents ist, der zur Zeit seiner Analysen gerade dabei war, von Eisenbahnen erschlossen zu werden, und dessen Landmächte auf diese Weise zu Konkurrenten des hauptsächlich auf seiner Seemacht basierenden Britischen Imperiums wurden.
Für Mackinder ist Eurasien damit, zugespitzt formuliert, der Schlüssel zur Weltherrschaft:
»Ist dieser unermessliche Raum Eurasiens, geprägt von seiner Unpassierbarkeit zu Wasser und seinen einst nomadischen Bewohnern, der heute im Begriff ist mit einem Netzwerk von Eisenbahnschienen überzogen zu werden, nicht die Drehpunktregion [oder auch: das Herzland] der Weltpolitik? Ich meine diese Frage bejahen zu müssen, denn bestehen und bestanden dort nicht bereits in der Vergangenheit die Bedingungen für eine Mobilität militärischer und ökonomischer Macht, die in einzigartiger Weise sowohl weitreichend als auch eingeschränkt ist? […] In der Welt nimmt es die gleiche zentrale strategische Position ein, die Deutschland in Europa besitzt.«5
Er stellt klar, dass selbst ein Niedergang Russlands keineswegs die geografische Bedeutung des Herzlandes schmälern würde, und warnt in diesem Zusammenhang vor einer chinesischen Kontrolle über das »Herzland«. Dann, so Mackinder, würden die »Ressourcen des großen Kontinents« sich »mit einer ozeanischen Wasserfront« vereinen, wodurch sich das daraus entstehende »Imperium zu einer gelben Gefahr für die Freiheit der ganzen Welt« entwickeln würde.6
Nach der Definition der Geografen gehört Deutschland strenggenommen nicht zum »Herzland«. Dennoch ist es in Europa so zentral gelegen, dass ihm bei der Frage nach der Kontrolle über das »Herzland« eine große Bedeutung zukommt:
»Die Neuordnung des Gleichgewichts der Kräfte zugunsten des Drehpunktstaates [oder Herzlandes], die seine Expansion über die am Rande gelegenen Staaten Eurasiens zur Folge hätte, würde den Einsatz seiner ungeheuren kontinentalen Ressourcen zum Flottenbau ermöglichen und ein Weltimperium hervorbringen. Dazu könnte es beispielsweise kommen, sollte Deutschland ein Bündnis mit Russland eingehen.«7
Deutschland rückt somit bereits bei Mackinder in den Fokus der geostrategischen Überlegungen, wobei ihm vor allem ein mögliches Bündnis zwischen Russland und Deutschland ein Dorn im Auge ist.
Mackinders Ausführungen als ein historisches Dokument zu den Akten zu legen wäre ein großer Fehler, denn bis heute gelten seine Analysen als eine maßgebliche Orientierung für die amerikanische Außenpolitik, die sich als das Imperium der Gegenwart an den Analysen des vergangenen Britischen Imperiums orientiert: »England ist kein Imperium mehr, die USA sind es«, so Willy Wimmer in seinem Kommentar zur deutschen Ausgabe der Herzlandtheorie.9
Abb. 1: Das »Herzland« (Pivot Area) von Halford Mackinders Vortag von 19048
Quelle: »The Geographical Pivot of History«, Geographical Journal 23, no. 4 (April 1904): 435.
In einem inzwischen oft zitierten Vortrag im Jahr 2015 erläuterte der bekannte amerikanische Geostratege und Gründer der Denkfabrik Stratfor, George Friedman,unter erkennbarem Bezug zu Mackinders Herzlandtheorie die Leitlinien amerikanischer Geostrategie:
»Das Hauptinteresse der USA, für das wir seit Jahrhunderten Kriege geführt haben, im Ersten und Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg, waren die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland, weil sie gemeinsam die einzige Macht sind, die uns bedrohen könnte, und um sicherzustellen, dass das nicht passiert. […] Wir sind ein sehr junges Imperium. Wir möchten nicht einmal über uns selbst als Imperium nachdenken. […] Die USA haben ein grundlegendes Interesse. Sie kontrollieren alle Ozeane der Welt – keine Macht hat das jemals getan. Aus diesem Grund können wir [in andere Länder] einmarschieren, sie können jedoch nicht bei uns einmarschieren. Das ist eine sehr schöne Sache. […] Die Politik, die ich empfehlen würde, ist die, die Ronald Reagan bezüglich des Iran und Irak verfolgte: Er finanzierte beide Seiten, damit sie sich untereinander bekämpften, und nicht gegen uns. Das war zynisch, es war sicher nicht moralisch, [aber] es hat funktioniert. Das ist der Punkt: die USA können Eurasien [das Herzland] nicht besetzen. […] Was wir jedoch tun können, ist zunächst unterschiedliche, miteinander konkurrierende Mächte zu unterstützen, so dass sie mit sich selbst beschäftigt sind.«10
Friedman geht so weit, vorzuschlagen, kleine Kriege anzuzetteln, um die einzelnen Parteien aus dem Gleichgewicht zu bringen. Man müsse daher wohlüberlegt und immer wieder in kleinen Schritten im Herzland Eurasien intervenieren, so Friedman. Seine Aussagen sollen an dieser Stelle für sich selbst stehen, obschon es wichtig wäre, sich im breiten gesellschaftlichen Diskurs ausgiebig mit ihnen zu befassen.
An dieser Stelle soll festgehalten werden, dass die Herzlandtheorie immer noch eine maßgebliche Richtlinie amerikanischer Außenpolitik darstellt und die Destabilisierung Eurasiens und die Verhinderung fruchtbarer Beziehungen zwischen Deutschland und Russland laut Friedman – deckungsgleich mit den Aussagen Mackinders – eines der Hauptinteressen amerikanischer Politik darstellt.
Es gibt jedoch auch Kritik an Friedmans Thesen. Als der amerikanische Politikwissenschaftler John Mearsheimer 2022 in einem Interview auf die Äußerungen des Stratfor-Gründers angesprochen wurde, erklärte er, dass Deutschland ein ganz grundlegendes Bedürfnis habe, gute Beziehungen zu Russland zu unterhalten. Es dürfe die USA daher nicht kümmern, wenn es zu guten Beziehungen zwischen den beiden Ländern käme: »Die Sonne geht unter über Deutschland. Wen kümmert es, wenn Deutschland und Russland gute Beziehungen haben – ich halte die Theorie für deplatziert«, so Mearsheimer, und fügte hinzu: »Wieso sollten Deutschland und Russland denn nicht zusammenarbeiten?« Mearsheimer musste jedoch zugeben, dass er mit seiner kritischen Haltung zur Herzlandtheorie eine Minderheitenmeinung vertritt.11
Im Gegensatz zu Mearsheimer vertritt der bekannte amerikanische Geostratege Zbigniew Brzezinski ebenfalls die These Mackinders, dass das Herzland der Schlüssel zur Weltherrschaft (für die USA) ist. Er formulierte die amerikanische Strategie zur globalen Vorherrschaft in seinem 1997 erschienenen Buch The Grand Chessboard (deutscher Titel: Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft):
»Amerikas geopolitischer Hauptgewinn ist Eurasien. Ein halbes Jahrtausend lang haben europäische und asiatische Mächte und Völker im Ringen um die regionale Vorherrschaft und dem Streben nach Weltmacht die Weltgeschichte bestimmt. Nun gibt dort eine nicht eurasische Macht den Ton an – und der Fortbestand der globalen Vormachtstellung Amerikas hängt unmittelbar davon ab, wie lange und wie effektiv es sich in Eurasien behaupten kann.«12
Damit dies gelingt, sollten die USA vor allem den wirtschaftlichen Zugang zu den heute teilweise hart umkämpften Staaten südlich von Russland, beispielsweise der Ukraine, Usbekistan, Turkmenistan oder Georgien, die ebenfalls zum Herzland gehören, sicherstellen:
»Amerikas primäres Interesse muss folglich sein, mit dafür zu sorgen, dass keine einzelne Macht die Kontrolle über dieses Gebiet erlangt und dass die Weltgemeinschaft ungehinderten finanziellen und wirtschaftlichen Zugang zu ihr hat. Geopolitischer Pluralismus wird nur dann zu einer dauerhaften Realität werden, wenn ein Netz von Pipeline- und Transportrouten die Region direkt mit den großen Wirtschaftsknotenpunkten der Welt verbindet, über das Mittelmeer und das Arabische Meer ebenso wie auf dem Landweg.«13
Diese Ziele lassen sich umso leichter erreichen, je stärker das Bündnis zwischen Europa und den USA ist. In diesem Zusammenhang spielt die NATO als amerikanisch-europäisches Militärbündnis eine zentrale Rolle. Der Brite Lord Ismay, der 1952 zum ersten Generalsekretär der NATO ernannt wurde, prägte in diesem Zusammenhang den bekannten Spruch, die Aufgabe der NATO sei es, »die Sowjetunion draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten zu halten«.14
Auch heute noch ist die NATO als »transatlantische Brücke«15 besonders dafür geeignet, die Verbindung zwischen Europa und den USA zu stärken und einen Gegenpol zu einer möglichen Achse Moskau-Berlin sicherzustellen. So erklärte der ehemalige NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg im Jahr 2021:
»Unsere Allianz ist der einzige Ort, der Nordamerika und Europa jeden Tag zusammenbringt, um die gemeinsamen Sicherheitsherausforderungen zu diskutieren, und um den Frieden zu wahren sowie Krieg zu verhindern.«16
Stoltenbergs Aussage, die NATO würde der Wahrung des Friedens und der Verhinderung von Krieg dienen, steht dabei in einem auffallenden Gegensatz zu der von George Friedman, der betont, man müsse Konflikte und Spaltung in Europa fördern.
Ein besonders sensibles Land, das vor allem für Russland aufgrund seiner geostrategischen Bedeutung wichtig ist, ist die Ukraine. Deren zentrale Rolle für das Herzland war Brzezinski bereits 1997 bewusst. »Die Rolle Kiews bestätigt fraglos die These, dass die Ukraine der kritische Punkt ist, wenn es um Russlands eigene künftige Entwicklung geht«17, schrieb er damals in weiser Voraussicht. Brzezinski sprach sich daher bereits im Jahr 2015 entschieden dafür aus, eine friedliche Lösung für den Krieg in der Ukraine zu finden, da sonst die Gefahr einer Eskalation drohe: