Köln 300 °C - Marco Hasenkopf - E-Book

Köln 300 °C E-Book

Marco Hasenkopf

5,0

Beschreibung

So explosiv wie brisant: Ein ungleiches Ermittlerduo geht auf die Jagd. Eine Serie von Brandanschlägen hält die Domstadt in Atem. Judith Mertin und Markus Kaiser vom KK 11 stoßen an den Tatorten auf das seltene Metall Tantal, das in pulverisierter Form hochexplosiv und wichtigster Bestandteil der Telekommunikations- und Medizintechnik ist. Auf dem Weltmarkt ist der verrufene Stoff Milliarden wert, und Industriekonzerne gehen für ihn über Leichen. Die blutige Spur des kostbaren Guts führt Judith Mertin in die Kölner Innenstadt – und bis in ihr Heimatland Kongo.

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Marco Hasenkopf, geboren 1973 in Hamm/Westfalen, studierte Archäologie und Geschichte. Der Autor lebt als freischaffender Schriftsteller, Drehbuchautor und Theaterproduzent mit seiner Familie in Köln.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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©2020 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Andreas Bräuer/photocase.de Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch Lektorat: Hilla Czinczoll eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-607-4 Köln Krimi Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literaturagentur Oliver Brauer, München.

Teil 1

Donnerstag

19:48Uhr

»Wissen Sie was, Kaiser, Sie können mich mal kreuzweise«, rief Mertin.

Sie war stinksauer.

Es gab keinen plausiblen Grund, warum sich Kaiser danebenbenahm. Zumal es Wichtigeres gab, als sich zu streiten. Zum Beispiel das Autowrack vor ihnen und die damit verbundenen Fragen.

Warum war der Wagen vollständig ausgebrannt? War der Ort direkt unter der B55a, einer unübersichtlichen Brache mitten im urbanen Niemandsland, dort, wo die Bundesstraße zur Zoobrücke wurde, bewusst gewählt? Wer war der Leichnam hinter dem Steuer? Und das waren nur die dringlichsten Fragen, die sich Mertin beim Anblick des Tatorts stellten. Das war ihr Job. Ein Job, den sie gern machte. Aber was tat Kaiser? Er trieb seine unkollegialen Spielchen auf die Spitze.

Kommissarin Judith Mertin atmete durch, um sich auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Kaum hatte sie aber ihrem Kollegen den Rücken zugewandt, wusste sie, dass sie einen Fehler begangen hatte. Drehe niemals einer potenziellen Gefahrenquelle den Rücken zu. Wie konnte sie dieses Credo nur vergessen?

Als sie sich wieder zu Kaiser umdrehte, brachte sie die Wut, mit der der entfesselte Kollege auf sie zustürmte, völlig aus der Fassung. Womit hatte sie ihn so sehr gereizt, dass er komplett ausrastete? Ein spontaner Widerwille gegen eine physische Auseinandersetzung machte sich in ihr breit. Und die Sorge, verletzt zu werden. Kampf und Schmerz war sie vom Training gewohnt. Doch unterschied sich die Übungssituation von der Realität jedes Mal aufs Neue. Und eine Prügelei mit einem Kollegen gehörte eben nicht zum Polizeialltag wie die Festnahme samt Schlägerei in der Diskothek vor zwei Wochen oder die nächtliche Razzia beim Salafistenverein letzten Dienstag. Da war vonseiten der Einsatzleitung schon von vornherein einkalkuliert worden, dass Beamte angegriffen werden könnten. Passiert war dann zum Glück nichts. Einige Waffen hatten sie gefunden. Aber keinen Sprengstoff. Der Terrorverdacht hatte sich nicht bestätigt. Nun berserkerte nicht etwa ein Dschihadist auf sie zu, sondern ausgerechnet ihr Teamkollege. Wie konnte man nur so tief sinken?

Der Einsatz heute hatte von Beginn an unter einem Unstern gestanden. Nicht nur dieser Einsatz, wie Mertin sich eingestehen musste, ihre gesamte bisherige Dienstzeit war die reinste Hölle gewesen.

Keine zwanzig Minuten zuvor hatte sie in ihrem Büro auf den Kollegen wartend nach draußen geblickt. Dichter Schneefall hatte eingesetzt. Winter, das war keine Jahreszeit für sie. Zum wiederholten Mal innerhalb kurzer Zeit hatte sie auf die Uhranzeige ihres Smartphones geschaut. Sie wartete bereits seit einer halben Stunde auf Kaiser. Schon zweimal hatte sie ihn angerufen und darauf hingewiesen, dass sie zum Einsatz gerufen worden waren, aber nur die Mailbox seines Handys erreicht. Wo zum Teufel steckte er?

Als Kaiser endlich die Bürotür aufgestoßen hatte, machte er einen benommenen Eindruck. Er rauschte an ihr vorbei zu seinem Schreibtisch. Nach Alkohol roch er nicht. Ohne ein Wort der Erklärung für seine Verspätung begann er gewohnheitsmäßig seinen Schreibtisch, auf dem sich Unmengen von Papieren stapelten, abzutasten. Erst als Mertin ihm den Autoschlüssel unter die Nase hielt, unterbrach er seine Suche und forderte die Herausgabe des Schlüsselbundes. All das, ohne ein Wort an sie zu richten.

Spontan hatte sich Mertin entschieden, die Zeit des Nachgebens, des Wohlwollens einem Kollegen gegenüber, der sie ständig anpflaumte und sie niemals hinter das Steuer ließ, wie in einem schlechten Cop-Movie, in dem sich die Polizisten ständig darüber stritten, wer denn nun fahren dürfe, für beendet zu erklären. Ohne zu ahnen, was sie damit heraufbeschwor, behielt sie den Autoschlüssel in der Hand und verließ das Büro.

So hatte sie vorhin zum allerersten Mal hinter dem Steuer des neuen Passats gesessen, mit dem sie bereits seit einigen Wochen zu ihren Einsätzen fuhren, ohne dass sie die Gelegenheit hatte, sich mit dem Auto und seinen Funktionen vertraut zu machen. Privat bestand ihr Fortbewegungsmittel seit frühen Jugendtagen aus ein bisschen Kunststoff, Holz und ein paar Metallteilen– ein Board von Independent. Cooles Teil.

Während der Fahrt fiel der Schnee in dichten Tupfern unaufhörlich auf die Windschutzscheibe und beeinträchtigte ihre Sicht. Mertin suchte nach dem Schalter für die Scheibenwischanlage, während sie das Fahrzeug vom Hof des Präsidiums auf den Walter-Pauli-Ring Richtung Einsatzort lenkte. Dass der Wagen mit einer beheizbaren Frontscheibe ausgestattet war, zog sie nicht einmal in Erwägung.

Das Navigationssystem sprach von einer Fahrtstrecke von eins Komma eins Kilometern mit einer geschätzten Dauer von drei Minuten. Eine kurze Fahrt, aber es sollten die längsten drei Minuten ihrer bisherigen Dienstzeit in Köln werden.

Fortlaufend monierte Kaiser den Fahrstil seiner Kollegin.

Die Scheibenwischer wedelten hektisch hin und her.

Kaiser stöhnte.

Um früher auf die Barcelona-Allee zu kommen, bog Mertin, anders als vom Navi empfohlen, die erste und nicht die zweite Straße rechts ab.

Kaiser seufzte.

Im anschließenden Kreisverkehr klammerte er sich an den Handgriff. Mertins Blick verfinsterte sich. Auf der Barcelona-Allee gab es noch zwei weitere Kreisverkehre, die sie durchfahren mussten. Durch den ersten Kreisel fuhr sie absichtlich zu schnell. Beim Abbiegen auf der nicht geräumten Straße kamen die Reifen ins Rutschen. Das Heck brach aus.

Kaiser stöhnte erneut.

Mertin lächelte in sich hinein, empfand ihr Verhalten aber trotzdem als kindisch, weshalb sie sich entschied, es zu ändern. Beim dritten Kreisverkehr wartete auf der Abbiegung zur Istanbulstraße ein Streifenfahrzeug, das die Zufahrt für Unbefugte abriegelte. Statt Kaiser weiter zu provozieren und ganz dicht an dem Wagen vorbeizurauschen, entschloss sie sich zur vorschriftsmäßigen langsamen Vorbeifahrt.

Mertin nickte dem Beamten kurz zu. Kaiser stöhnte ein weiteres Mal. Was hatte sie jetzt wieder falsch gemacht?

Mertin legte den Leerlauf ein und ließ das Auto bei laufendem Motor ausrollen. Sie betrachtete das vom Scheinwerferlicht erhellte Schneetreiben. In der Kurve am Ende der Straße stand ein weiterer Streifenwagen mit Blaulicht. Besucher des an der Straße gelegenen Baumarkts und des McDonald’s sollten an der Weiterfahrt gehindert und zurückgeleitet werden.

Schließlich wurde Mertin die Situation zu albern. Das Schweigeduell entschied Kaiser für sich.

»Irgendwie werde ich den Eindruck nicht los«, begann sie, ohne Kaiser anzublicken, »Sie wollen unbedingt zu Fuß weitergehen. Können Sie haben.« Sie zeigte auf die Tür.

Kaiser antwortete mit einer herablassenden Handbewegung, die Mertin signalisieren sollte, weiterzufahren. Verärgert schüttelte sie den Kopf, zwang sich aber, ihre volle Konzentration auf den Einsatz zu lenken und sich nicht länger von ihrem Kollegen provozieren zu lassen.

Sie fuhr weiter.

Kaiser gab keinen Mucks von sich.

Sie näherten sich dem zweiten Streifenwagen. Ein Beamter stieg aus und kam ihnen entgegen. Mertin bremste, fuhr das Fenster herunter. Eisige Kälte strömte ins Innere. Der junge Polizist sah in den Wagen. Er schien Mertin zu erkennen. »Die Action gibt’s dahinten«, sagte er, als sie ihren Ausweis hervorholen wollte.

Auch wenn sein Spruch unangebracht war, amüsierte es Mertin. Allemal besser als der Typ neben ihr, für den die Bezeichnung Sauertopf noch ein Kompliment gewesen wäre. Sie musterte den jungen Mann. Knackig und süß. Keine Frage. Mertin war drauf und dran, ihre eiserne Regel, nicht mit Kollegen zu flirten, über den Haufen zu werfen, als sich Kaiser auf dem Beifahrersitz regte. Er beugte sich seitlich vor und erdolchte den Kollegen mit seinen Blicken. »Augen auf bei der Berufswahl«, raunte er ihm zu.

Eingeschüchtert wich der junge Kollege zurück und zeigte die Straße in östlicher Richtung hinunter.

Mertin gab wütend Gas, auch wenn sie kurz darauf wieder bremsen musste. Nur schnell ankommen und den Wagen verlassen. In ungefähr dreihundert Metern Entfernung standen unterhalb der B55a mehrere Feuerwehr-, Polizei- und Notarztwagen.

Mertin parkte und hielt bereits den Türgriff in der Hand, als Kaiser sich zu Wort meldete. »Haben Sie sich nicht mit dem Handbuch des neuen Dienstfahrzeugs beschäftigt, bevor Sie sich hinters Steuer gesetzt haben?«

»Handbuch?«, entgegnete Mertin und fühlte sich wie von der Dienstaufsicht verhört.

»Genau aus diesem Grund wird es irgendwann so weit kommen, dass man sich die Einweisung bestätigen lassen muss.«

Mertin drehte sich im Autositz und starrte Kaiser von der Seite an. Wollte er einen Streit vom Zaun brechen? »Wir sind spät dran«, ermahnte sie ihn und öffnete die Fahrertür. Aber für Kaiser war das Thema noch nicht erledigt.

»Polizisten sind wie Croupiers, Sie verstehen?«, begann er. »Unsere Aufgabe besteht darin, zwischen Spielern und Falschspielern zu unterscheiden– wertfrei, wahrheitsgemäß, unbestechlich.«

Nach drei Monaten Schikane konnte sie die aufwallende Wut über seine aus der Luft gegriffene Belehrung nicht mehr unterdrücken. »Schreiben Sie ein Lehrbuch drüber oder behalten Sie Ihre Bullenscheiße für sich«, konterte sie und stieg aus dem Wagen, bevor Kaiser etwas erwidern konnte.

Eilig überquerte sie die schneebedeckte Straße. Räumfahrzeuge waren bis in diese Nebenstraßen noch nicht vorgedrungen. Gegen Wind und Kälte zog sie die Kapuze über den Kopf. Am Straßenrand überstieg sie hoch aufgetürmten Schnee, in dem ihre Füße versanken. Als sie sich befreit hatte, schüttelte sie den Schnee ab und ging über einen schmalen, schneebedeckten Grünstreifen unter die breite Brücke.

Wie von einer Demarkationslinie getrennt, hörte die geschlossene Schneedecke auf. Zwischen Geröll und Schotter erstreckte sich nackter Erdboden. Die Stadtautobahn über ihr war an dieser Stelle achtspurig. Die Betondecke maß mindestens hundertfünfzig Meter in der Breite, ihre Ausmaße von Ost nach West betrugen grob geschätzt mehrere hundert Meter. Gewaltige Pfeiler erreichten die Höhe eines vierstöckigen Hauses. Das Terrain war weitläufig und unübersichtlich. Niemandsland, umgeben vom Kalkberg im Norden, von den Bahnlinien im Westen und dem riesigen Lagerhaus des Music Store in ihrem Rücken. Mertin drehte sich um. Von hier müsste sie am Lager und dem dahintergelegenen Baumarkt vorbei bis zum Polizeipräsidium sehen können. Und tatsächlich, das Kupfergrün des Dachs mit seinen zahlreichen Antennen war selbst im nächtlichen Schneegewirr unverkennbar.

Als Mertin weiterging, drang ein bestialischer Gestank von verbranntem Kunststoff in ihre Nase. Feuerwehrmänner begannen mit den ersten Aufräumarbeiten und rollten Schläuche zusammen. Ein Rettungswagen fuhr gerade ab. Für die Sanitäter gab es hier offenbar nichts zu tun. Der Untergrund musste sehr uneben sein, denn der Kastenwagen schwankte bei der Abfahrt stark hin und her.

Als Mertin endlich auf einen uniformierten Kollegen traf, war ihre Wut über Kaiser noch lange nicht verraucht. Der Polizist verstand ihren fragenden Blick sofort und wies zu ihrer Überraschung nach oben. Erst jetzt fiel ihr auf, dass das Bodenniveau unter der B55a, bedingt durch die Ausläufer des Kalkbergs, auf drei Ebenen aufgeteilt war. Sie stand auf der untersten. Weiter oben, etwa in der Mitte, gab es einen breiten Weg, der parallel zur Fahrbahn verlief, und schließlich versteckte sich zuoberst zwischen den Brückenträgern ein niedriges Plateau. Dort oben lag der Tatort, von mobilen Sichtschutzwänden abgeschirmt gegen Presse und Gaffer. Dahinter strahlten leistungsstarke Arbeitslampen.

Der reguläre Weg auf die dritte Etage verlief über eine mehr als hundert Meter weiter östlich gelegene steile Zufahrt. Mertin vermutete, dass sich dort auch die Zufahrt für die im Bau befindliche Rettungshubschrauberstation auf dem Kalkberg befand. Das war ein Umweg, der sie mehrere Minuten kosten würde. Mertin wählte die Querfeldein-Variante. Dazu musste sie die steilen Geröllhänge hinaufklettern. Die Kraxelei war mühseliger als angenommen, denn die Hänge bestanden aus einem weichen Kiesel-Sand-Boden, in dem ihre Füße wie in Butter versanken.

Endlich erreichte sie die obere Ebene. Fast musste sie sich bücken, um unter dem mächtigen Brückenträger hindurchzukommen. Dahinter tat sich eine kuppelartige Höhle auf. Erstaunt blickte sich Mertin um und ließ die Eigentümlichkeit des Ortes auf sich wirken. Bevor sie ganz hinter den Sichtschutzwänden verwand, sah sie zurück auf ihr Dienstfahrzeug unten auf der Straße. Kaiser war noch nicht einmal ausgestiegen. Kopfschüttelnd wandte sie sich ab.

Im hellen Schein von Ballonleuchten arbeitete eine Handvoll Gestalten in weißen Schutzanzügen hier oben an einem vollständig ausgebrannten Autowrack. Mertin blickte auf das Heck des Autos. Die Kofferraumklappe stand offen. Das Innenleben des Kofferraums existierte nicht mehr. Rückleuchten und Nummernschild waren ebenfalls nicht mehr vorhanden. Das gesamte Heck sah seltsam verbogen aus. Mertin vermutete, dass der Tank explodiert war. Beim Anblick der gewaltigen Zerstörung an diesem unwirklichen Ort fühlte sie sich an düstere Science-Fiction-Filme erinnert. Oder an Nachrichtenbilder aus der Ukraine, Syrien oder dem Irak.

Sie näherte sich dem Wrack und begann die Umrundung auf der linken Seite. Scheiben, Spiegel, Gummi, Armaturen sowie sämtliche Kunststoffe, innen wie außen, waren zersprungen, verdampft und nahezu restlos verbrannt. Der Gestank war unerträglich. Von dem Auto war nur die bloße Karosserie übrig.

Hinter der Brandstelle erhob sich die Abfahrt nach Deutz über das Wrack hinweg– in der Schräge zwischen Boden und Betondecke wirkte der Wagen wie eingeklemmt. Auf der rechten Seite des Wracks berührten die Brückenträger beinahe den Boden. Verrußt, aber noch lesbar hatte jemand »NO/FX« in Neonpink an die Wand gesprayt. Der Rest des Graffitis war nicht mehr zu lesen.

In dieser unwirtlichen Umgebung gediehen sogar vereinzelte Sträucher. Dröges Gestrüpp, unter dem allerhand Unrat wie leere Dosen, Autoreifen und Kleidungsreste vergammelten. Ein dreibeiniger Stuhl lag umgekippt auf der Seite. Es war gut möglich, dass hier ein Obdachloser kampiert hatte.

Nur in seltenen Fällen kam es dazu, dass Fahrzeuge vollständig ausbrannten. Gewöhnlich wurden die Brände vorher gelöscht. So war es auch bei der Serie von Brandstiftungen gewesen, zu denen die Polizei in den letzten Wochen gerufen worden war. Mit zwei wesentlichen Unterschieden: Es hatte ausnahmslos am Straßenrand parkende Autos in Wohngebieten getroffen. Noch war kein Mensch dabei gestorben.

Beinahe jede Nacht rückten die Einsatzkräfte aktuell zu brennenden Fahrzeugen aus. Die Hintergründe der Anschläge waren vollkommen unklar. Der oder die Täter waren noch nicht gefasst. Nach den vergangenen Wochen, in denen die Anschläge weder aufgeklärt noch verhindert werden konnten, herrschte so etwas wie Ausnahmezustand bei der Polizei, der Stadtverwaltung sowie bei der Bevölkerung. Jeder hatte Angst um sein im Freien parkendes Auto, denn es konnte jeden treffen. Der Fahrzeugtyp spielte keine erkennbare Rolle.

Im vorliegenden Fall konnte Mertin Hersteller und Modell nur noch erraten. Anhand der Ausmaße der Karosserie vermutete sie, eine Limousine der Oberklasse vor sich zu haben. Farbe, Design, Ausstattung– alles war zerstört. Mertin wusste nicht, ob die Braun-Weiß-Färbung des Wracks neben dem rußigen Schwarz vom Brand herrührte oder Rückschlüsse auf die ursprüngliche Lackfarbe des Fahrzeugs zuließ.

Sie bemerkte nur wenige Löschschaumreste. Dampf und Qualm waren bereits abzogen. Die Hitze hatte sich zurückgebildet, dennoch strahlten das Wrack sowie die Betonwände Wärme ab. In der Luft lag ein eigentümlich scharfer Gestank nach Chemikalien. Ein beißender Geruchscocktail, in den sich, je näher sie nun kam, der Geruch von verbranntem Fleisch mischte. Sie setzte die Umrundung fort und sah schließlich, warum das KK11 verständigt worden war. Sie erkannte die Überreste eines Menschen.

Der Leichnam lehnte gegen den Rahmen der Fahrertür und sah aus, als wäre er mit dem ihn umgebenden Metall sowie dem Gestell des Sitzes verschmolzen. Mertin konnte sich nicht vorstellen, dass dieses unkenntliche Gebilde mal ein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen war. Verstörend.

Sie trat näher und spähte ins Wageninnere. Im Fußraum des Fahrersitzes lag ein schwarz verkohlter Gegenstand. Was mochte das sein? Farbe und Form erinnerten an ein Brikett. Nicht ganz so groß und rundlicher, aber doch länglich kompakt wie ein Stück gepresster Heizkohle. War es tatsächlich möglich, dass irgendetwas im Auto den Brand überstanden haben konnte?

»Habt ihr das hier schon gesehen?«, wandte sie sich an die Leute der KTU.

»Nichts kontaminieren«, rief ihr jemand statt einer Antwort zu.

Mertin ignorierte den Hinweis. »Da liegt was! Kann das mal einer rausholen?«, fragte sie gereizt.

»Ist keiner scharf drauf, zwischen die Beine zu greifen.«

Eine Gestalt im weißen Overall stand neben ihr. Schutzbrille und Haube machten es Mertin schwer, ihren Gesprächspartner zu erkennen.

»Tut mir leid«, entschuldigte sich nun die weibliche Stimme. Die Frau befreite ihren Kopf von Brille und Haube. »Sollte kein blöder Witz sein.«

Mertin ging nicht darauf ein. »Das Nummernschild?«, fragte sie kurz angebunden.

Die Frau schüttelte den Kopf. »Kein Nummernschild.«

»Heißt das, an dem Fahrzeug befindet sich kein Nummernschild oder es wurde keines gefunden?«

»Es muss wohl entfernt worden sein.«

»Und die Fahrgestellnummer?«

»Der Motor ist ein einziger Klumpen. Keine Ahnung, ob die im Motorraum was entziffert bekommen.«

Mertin blickte ihr Gegenüber fragend an.

»Ach, Verzeihung«, sagte die Frau und streckte ihr die Hand entgegen, »wir kennen uns ja noch nicht. Gabriela Rust. Gerichtsmedizinisches Institut.«

Irrtümlicherweise hatte Mertin die Gerichtsmedizinerin für eine Technikerin der KTU gehalten. Sie schüttelte die ihr hingestreckte Hand. »Judith Mertin.«

Mertin ließ eine kurze Pause und erklärte dann: »Eigentlich spricht man ›Judith‹ französisch, ›Mertin‹ aber deutsch aus. Und da, wo ich herkomme, spricht man beides französisch aus, aber…« Sie zögerte.

»Aber das macht in Köln keiner, wollten Sie sagen«, beendete Rust mit einem Lächeln den Satz für Mertin, die zustimmend nickte. »Ich musste mich auch erst an die Kölner Besonderheiten gewöhnen.«

»Wo kommen Sie her?«, fragte Mertin.

»Argentinien. Ich hab hier studiert, meinen Mann kennengelernt und bin hiergeblieben. Das ist fast zwanzig Jahre her. Ich hatte also schon ein wenig Zeit, die kulturellen Unterschiede zu überwinden. Und Sie?«

»Detmold.«

Rust lachte. »Ich meinte, da, wo man beides französisch ausspricht.«

»Goma. Das liegt im Ostkongo.«

»Sehr erfreut«, wiederholte Rust ihre Begrüßung, »wir werden ja vermutlich öfters miteinander zu tun haben.«

Mertin lächelte und lenkte das Gespräch wieder zurück auf ihr ursprüngliches Anliegen. »Und wer birgt mein Brikett?«

»Sie sind sich wohl uneins, wie sie weiter vorgehen sollen«, antwortete Rust und wies auf die Techniker, die sich inzwischen versammelt hatten, um Absprachen zu treffen.

»Nichts kontaminieren«, schnaufte Mertin, nachdem sie die KTU eine Weile schweigend beobachtet hatte, »was glauben die noch zu finden? Fingerabdrücke?«

Sie ging zu ihnen hinüber. Rust folgte ihr.

Mertin hörte der Gruppe zu, ohne sich einzumischen. Man diskutierte die sichere Bergung des Leichnams. Gerade wurde der Vorschlag unterbreitet, das Dach des Fahrzeugs aufzuschneiden und die Leiche samt Sitzgestell herauszuheben. Dazu würde man allerdings einen Kran benötigen, der erst geordert werden müsste und mit dem aufgrund der Deckenhöhe schwierig zu operieren wäre. So weit herrschte Einstimmigkeit unter den Technikern. Dann verlor sich die Diskussion in wenig handfesten Aussagen– das übliche Geplänkel, wenn keiner eine schwierige Entscheidung treffen wollte, für die man später zur Verantwortung gezogen werden konnte.

Mertin wurde es zu viel. Sie schlug vor, die Leiche in situ zu belassen und alles, Fahrzeug samt für den Transport fixierter Leiche, auf ein Abschleppfahrzeug zu verladen und in einer Halle zu lagern, um dort alle notwendigen Untersuchungen vorzunehmen. »Aber zuvor«, schloss sie, »muss der Gegenstand geborgen werden.«

»Wenn ihr das nicht macht, mache ich es«, kündigte sie an, weil keine Reaktion erfolgte.

»Ich stimme der Kommissarin zu«, beeilte sich die Gerichtsmedizinerin, ihr beizupflichten.

»Ist ja gut«, äußerte sich endlich ein Techniker, »wir überlegen uns was.«

»Die können einen ziemlich auflaufen lassen. Aber Sie haben sich gut durchgesetzt«, sagte Rust.

»Danke«, entgegnete Mertin, »bin ich gewohnt.«

Rust blickte sie besorgt an, hakte aber nicht weiter nach.

»Können Sie schon irgendwas sagen?«, fragte Mertin.

»Sie meinen, ob es ein Unfall war oder Absicht?«

»Für mich ist wichtig, zu wissen, ob es einen Zusammenhang mit den Autobränden der letzten Wochen gibt. Sprich, ob die Serie ihren ersten Toten zu verzeichnen hat.«

Rust zeigte nach oben. An der Stelle, an der die Abfahrt nach Deutz von der Haupttrasse abzweigte, öffnete sich die Betondecke zu einem immer breiter werdenden Spalt.

»Die gesamte Situation, diese Höhle– oder wie Sie es nennen wollen– mit der Öffnung nach oben, ähnlich einem Kamin, hat mit Sicherheit brandbeschleunigend gewirkt. Ich vermute, es ist kurzzeitig sehr heiß geworden. Brände dieser Art können tausend Grad erreichen. Wir werden sehen, was von den Organen übrig ist. Ein Zahnabgleich wird hoffentlich ebenfalls weitere Erkenntnisse liefern. Vielleicht haben wir es mit einem Suizid zu tun. Alles andere wäre–«

»Spekulation, ich weiß«, unterbrach Mertin die Gerichtsmedizinerin. »Es ist nur so, einen derartigen Autobrand habe ich noch nie gesehen. Sie etwa?«

Rust schüttelte den Kopf und hob ein Steinchen auf, das Mertin nur schwer als Glassplitter erkennen konnte.

»Glas schmilzt bei einer Temperatur von tausendvierhundertachtzig Grad Celsius. Der Chemiker spricht bei Glas von einem Transformationsbereich, der zuvor erreicht wird und bei dem die Verformbarkeit von Glas einsetzt. Das muss hier passiert sein. Wie heiß es tatsächlich geworden ist, muss die KTU bestimmen.«

Plötzlich tastete Rust ihren Oberkörper ab. Als sie nicht augenblicklich den Eingriff des Overalls erwischte, wurden ihre Bewegungen immer hektischer, bis es ihr schließlich gelang, in ihre Jackentasche zu greifen und ein Smartphone hervorzuholen. Erst blickte sie mit unheilvoller Vorahnung auf das Display, dann fing sie lauthals zu lachen an.

»Meine Tochter Lucy«, erklärte sie, als sie Mertins irritierten Blick auffing. »Sie will heute Abend Mamas Chicorée-Salat. Mit Möhren, Nüssen und Orangen. Superlecker! Und die ideale Kost im Winter. ›Außerdem fördern die Bitterstoffe im Chicorée die Verdauung‹, schreibt sie. Das muss sie gegoogelt haben, von mir hat sie das jedenfalls nicht.«

Wenn es etwas gab, was Mertins von kongolesischem Essen geprägtem Gaumen zuwider war, dann war das Chicorée. Vor allem wegen der Bitterstoffe! Chicorée wurde nur noch von gedünstetem Blumenkohl übertroffen. Allein schon der faulige Geruch des Kohls verursachte bei ihr eine Abneigung, die bis hin zur Übelkeit reichte.

»Auch gekocht kann ich Chicorée nur empfehlen«, ergänzte Rust, die Mertins Verlegenheitslächeln falsch interpretierte.

Mertin konnte sich nicht vorstellen, dass der gegarte Zustand am bitteren Geschmack des Chicorées etwas änderte. Die Welt schied sich am Gemüse. Zu Mertins Erleichterung machte Rust ansonsten aber einen sehr passablen Eindruck.

»Was könnte das für ein Fahrzeugtyp sein?«, wechselte sie abrupt das Thema, um nicht länger über stinkendes Gemüse reden zu müssen.

»Ein Phaeton.«

Kaiser stand hinter ihnen. Unbemerkt war er näher gekommen.

»Sie ist Gerichtsmedizinerin«, belehrte er Mertin brummig, weil sie der Ärztin eine Frage gestellt hatte, die nicht in ihren Fachbereich fiel.

Rust warf Mertin einen mitleidigen Blick zu. Ihr war offenbar nicht entgangen, welches Unbehagen Kaisers Erscheinen bei Mertin auslöste. »Ich sortiere Autos nach ihrer Farbe«, entschuldigte sie sich, »aber wenn du das sagst, wird es wohl stimmen. Grüß dich, Markus!«

»Gabriela«, grüßte Kaiser zurück. Er vergrub sich in seinen Mantelkragen und stierte vor sich hin.

»Viel Stress in letzter Zeit?«, hakte sie nach.

Kaisers Schweigen dauerte viel zu lange. Rust musste ins Schwarze getroffen haben. »Das Übliche«, antwortete er knapp.

»Ein Phaeton also?«, echote Rust dann und unterdrückte ein Lachen.

Mertin blickte sie fragend an.

»Phaeton ist eine griechische Sagengestalt«, deklamierte die Gerichtsmedizinerin, und bei ihr klang es nicht belehrend, sondern eher wie vor langer Zeit auswendig gelerntes Schulwissen, das sie nun wieder hervorkramte. »Er ist ein Sohn des Sonnengottes Helios und der Klymene, einer Sterblichen. Helios will seinem Sohn ein Geschenk machen, er soll sich wünschen, was immer er möchte. Jeder Wunsch würde ihm gewährt werden. Phaeton bittet seinen Vater, ihm den Sonnenwagen auszuleihen. Helios weiß, dass sein Sohn als Halbgott nicht über die Kräfte verfügt, die Pferde des Sonnenwagens bändigen zu können. Aber er hat ja versprochen, keine Bitte abzuschlagen. Also leiht der verzweifelte Gott seinem sterblichen Sohn den Sonnenwagen. Genau wie von Helios vermutet, kann Phaeton das Gespann nicht halten. Als er der Erde zu nahe kommt, löst das eine verheerende Brandkatastrophe aus, und Phaeton stürzt ab.«

Mertin, Kaiser und Rust starrten einen Moment lang gemeinsam auf die ausgebrannte Luxuskarosse. Dann sagte Rust: »Anscheinend läuft heute alles ein wenig anders. Die Staatsanwaltschaft ist auch noch nicht vertreten. Steckt wahrscheinlich im Schnee fest. Ich kann gerade nichts weiter tun.«

Mertin entging nicht, dass Rusts Verabschiedung von ihr sehr viel freundlicher ausfiel als das zurückhaltende Nicken in Kaisers Richtung.

Noch lange nachdem die Gerichtsmedizinerin gegangen war, hatten die Kommissare geschwiegen.

»Und?«, fragte Mertin schließlich.

Kaiser wich ihrem Blick aus. »Gut, dass bald Februar ist.«

Mertin atmete durch. »Was schlagen Sie vor? Wie sollen wir vorgehen?«

»Wobei?«

»Wobei? Wie, wobei? Bei dem da vielleicht?«, erwiderte Mertin aufgebracht.

»Ich will Ihnen mal was sagen«, holte Kaiser aus, »wir lassen erst mal alle ihre Arbeit erledigen. Wir warten sämtliche Untersuchungsergebnisse ab. Und erst dann werden wir uns überlegen und anschließend auch entscheiden, was zu tun ist und wie wir wobei vorgehen.«

Kaisers strafender Blick ruhte auf ihr. »Im Moment warten wir nur auf die Staatsanwaltschaft. Das ist unser Job. Und mehr nicht.«

Mertin kochte vor Wut. Sie hatte seine schulmeisterliche Art satt. »Sie machen das noch nicht mal mit Absicht, hab ich recht?«

Kaiser zeigte keine Reaktion.

»Seit drei Monaten«, stieß Mertin hervor, »seit drei Monaten behandeln Sie mich wie Scheiße!«

Das letzte Wort brachte sie nur noch gepresst hervor. Der Ausbruch war ihr unangenehm. Sie hatte große Mühe, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Zumal sie bemerkte, dass die Anwesenden ihre Arbeit ruhen ließen und gespannt der Auseinandersetzung lauschten.

»Du meine Güte, Sie armes Kind–«

»Tatsächlich«, schnitt sie ihrem Kollegen das Wort ab, unterbrach sich dann aber selbst, als sie in Kaisers Augen blickte und darin nichts als Verzweiflung, Angst und Hilflosigkeit erblickte. Plötzlich tat er ihr leid, und sie wandte sich ab.

»Wo wollen Sie hin?«

»Einen Gegenstand bergen.«

»Was für einen Gegenstand?«

»Im Fußraum des Phaetons liegt ein verkohltes Etwas. Vielleicht hilft es uns weiter.«

»Das ist Aufgabe der Techniker.«

»Die können sich nicht einigen.«

»Dann lassen wir es da liegen. Die sind für so was ausgebildet. Wir nicht.«

»Sie sind ein verdammter Korinthenkacker.«

Schon war ihr Mitleid wieder dahin, und am liebsten hätte sie ihm den Mittelfinger gezeigt. Aber statt ihn zu beleidigen, strafte sie ihn mit einem betont herablassenden Tätscheln seines Bauchs, so als gäbe sie einem guten Freund den guten Rat: Lass es gut sein.

Kaiser lief hochrot an. »Das untersage ich Ihnen.« Er tobte jetzt. »Sie! Sie sehnen sich einen Mord herbei!«

Mertin wurde blass. Was für eine Unterstellung. »Wissen Sie was, Kaiser, Sie können mich mal kreuzweise!«

19:50Uhr

Kaiser griff an.

Er war hochgewachsen, hatte breite Schultern und war nicht unsportlich. Ein ernst zu nehmender Gegner. Zwar war seine Attacke unüberlegt, hätte aber aufgrund von Mertins Fehler durchaus zum Erfolg führen können. Nur gut, dass ihr Körper noch rechtzeitig wie auf Autopilot geschaltet reagierte. Sie riss beide Ellbogen hoch und hielt sie wie eine Ramme schützend vor ihr Gesicht. Gleichzeitig spannte sich jeder einzelne Muskel an. Nicht ausweichen.

Die spitzen Knochen ihrer Ellbogen gruben sich ins weiche Fleisch unterhalb seines Kinns. Schmerzhaft. Durch den Aufprall wurden Kaisers Nackenwirbel überstreckt. Es knirschte hörbar. Und es riss ihn von den Füßen.

Kaiser lag rücklings im Dreck und wandte sich vor Schmerzen. Mit der einen Hand rieb er sich den Hals, die andere drückte er auf den Nacken. Am liebsten hätte Mertin nachgetreten. Erst ein Tritt in die Weichteile, dann sein Gesicht in den Staub pressen und ihn anschreien, was ihm eigentlich einfiel. Lass ihn mal ordentlich Staub fressen, dachte sie. Und überhaupt, wer ist so blöd und greift eine erfahrene Kampfsportlerin an? Es war schließlich kein Geheimnis, dass die junge Kollegin viel Zeit im Dojo verbrachte. »Exzessiv«, munkelte der Flurfunk in diesem Zusammenhang. Oder war Kaiser schlicht so drüber, dass es ihm egal war?

Mertin tat nichts dergleichen. Kaiser war außer Gefecht gesetzt. Das reichte. Sie überließ ihn sich selbst und seinen Schmerzen. Genau wie die anwesenden Kollegen. Keiner unternahm etwas. Kaiser hatte sie angegriffen. Sie hatte sich gewehrt. Fertig.

Das Brikett lag im Fußraum des Autowracks, zwischen den Beinen der Brandleiche. Es war zu dick für ein Tablet, zu groß für ein Telefon oder ein Brillenetui. Vermutlich hatte der Tote dieses Brikett-Ding bis zuletzt in den Händen gehalten. Was man so lang festhält, muss folglich für die betreffende Person wichtig gewesen sein, und das würde ihnen wiederum helfen, zu klären, was hier passiert war. Das wusste Mertin einfach. Wie lange es wohl dauern würde, bis sich jemand bequemte, eine Greifzange zur Hand zu nehmen? Einer musste sich die Hände schmutzig machen.

Mertin entspannte sich und schob den Ärger beiseite. Sie zog ihre Winterjacke aus. Die Kälte war unangenehm, aber für das, was sie vorhatte, brauchte sie Bewegungsfreiheit. Sie stülpte sich einen Plastikbeutel über ihre rechte Hand. Dann umrundete sie das ausgebrannte Auto und blieb vor der Beifahrertür stehen. Wie eine Jägerin fasste sie den länglichen Gegenstand im Inneren des Fahrzeugwracks ins Auge, als wäre es ein Tier, das bei der geringsten Bewegung ihrerseits davonspringen könnte.

Sie überdachte ihr weiteres Vorgehen. Sie durfte weder das Fahrzeug noch den Toten berühren. Darüber hinaus hatte sie keine Ahnung, ob der Gegenstand noch heiß war und sie sich verbrennen würde, wenn sie ihn anfasste. Eine Greifzange wäre natürlich die einfachste Lösung gewesen, aber es widerstrebte ihr, die stoffeligen Techniker der KTU anzusprechen. Ihr Vorhaben an sich stellte sie nicht in Frage. Da konnte Kaiser, der immer noch am Boden lag, drohen, wie er wollte.

Infernalischer Gestank nistete sich in ihrer Nase ein. Hätte sie doch nur die Luft angehalten! Jetzt war es zu spät.

»Vorsicht, bitte«, rief ein Techniker.

Den Umstehenden wurde erst klar, dass die Kommissarin es ernst meinte, als sie mit dem Oberkörper ins Fahrzeugwrack abtauchte.

Sie war bereits halb darin verschwunden, konnte den von ihr als Brikett bezeichneten Gegenstand aber trotz ausgestreckter Hand von der Beifahrerseite aus nicht erreichen. Der Wagen war zu breit. Sie würde sich abstützen müssen, mit den Oberschenkeln an der Tür oder mit einer Hand auf den Überresten der Mittelkonsole, aber das wollte sie dringend vermeiden. Sie hatte sich verschätzt. »Verdammter Mist«, fluchte sie, als ihr klar wurde, was das bedeutete. Wenn schon dreckig machen, dann aber auch richtig.

Sie tauchte wieder auf und ging rasch zur Fahrerseite. Kurz überlegte sie sich eine Strategie, wie sie sich zwischen Tür, Lenkrad und Leiche vorbeischlängeln konnte. Wendig genug dafür war sie auf jeden Fall.

Achtsam beugte sie sich vor. Langsam und mit beiden Händen über dem Kopf, ähnlich wie beim Kopfsprung ins Wasser, bewegte sie sich tiefer und tiefer. Endlich eilten ihr auch die Kollegen zu Hilfe. Mertin spürte Hände an Oberkörper und Hüfte, die sie stützten, ohne sie zurückziehen zu wollen. Einen Arm streckte sie zwischen den Beinen des Toten hindurch. Dann verharrte sie einen Augenblick mit der Hand über dem Brikett, um eventuelle Hitze zu erspüren, und tütete es schließlich ein.

Als sie zur Seite sah, um sich vorsichtig wiederaufzurichten, fiel ihr Blick auf den Leichnam. Sie wollte gar nicht daran denken, was passieren würde, wenn sie jetzt den Halt verlor. Die Arme des Toten hingen neben den verkohlten Überresten des Oberkörpers herab, der Schädel war kahl und schwarz, die Augenhöhlen leer. An einer Stelle hatte das Feuer ein Loch in den Oberkörper gefressen. Mertin konnte die darunterliegenden rußgeschwärzten Rippen sehen. Ob die Organe verbrannt waren?

Über den Oberschenkelknochen spannte sich ausgedörrte, ledern wirkende Haut. Am linken Fuß erkannte die Kommissarin einen nicht vollständig verbrannten Zehennagel. Der Leichnam wirkte so zerbrechlich, eigenartig porös, als könnte er bei der geringsten Berührung zu Staub zerfallen. Eine schaurige Poesie des Todes. Und dazu dieser fürchterliche Geruch!

Unweigerlich musste Mertin an ihre Mutter denken. Tiefe Traurigkeit überfiel sie. Ob ihre Mutter genauso ausgesehen hatte, nachdem die Milizionäre das Dorf überrannt, sie aus der Hütte gezerrt, vergewaltigt und anschließend mit Benzin überschüttet und angezündet hatten?

22:27Uhr

Judith Mertin nahm den Boxsack ins Visier. Das schwarze Leder war fleckig und verblichen. Die Fäuste ballte sie dicht vor ihrem Gesicht. Dann prasselte die erste Serie Kettenfäuste auf den Sandsack nieder. Mertin begann langsam und steigerte ihre Geschwindigkeit unermüdlich. Erst nach einigen Minuten unterbrach sie ihren Rhythmus für einen winzigen Augenblick und täuschte mit der linken Faust einen Angriff vor, dem zwei kurze, harte Schläge mit der rechten folgten. Ein sattes Klatschen peitschte durch die Räume des Dojos. In der Kombination folgte ein gewaltiger Nierenschlag mit der linken, und Mertin stellte sich vor, wie ihr imaginärer Gegner zu Boden ging. Sie schloss die Schlagfolge mit einem rasend schnellen Doppelschlag beider– links, rechts– Ellbogen ab.

Hinter dem Sandsack stöhnte Mertins Sparringpartner auf. »Wer hat dir denn die Laune verdorben?«, ächzte Nico.

Ein Kieferbrecher war ihre Antwort.

»Schon gut. Geht mich ja auch wirklich nichts an.«

Mertin hüpfte ein paar Schritte zurück und schüttelte die Arme aus.

»Alles klar da vorne?« Nico lugte hinter dem Boxsack hervor. »Oder machst du schlapp?«

Augenblicklich ging Mertin wieder in die Angriffsposition, wiederholte die Kombination ein ums andere Mal, wobei sie die Schläge variierte und Bein- und Kniestöße mit einbaute. Training war die beste Erholung, die Mertin kannte. Besser als Schlafen.

Besser als Sex, dachte sie bitter.

Vor einigen Tagen hatte sie sich mit einem Typen getroffen, den sie übers Internet kennengelernt hatte. Zu ihrer großen Überraschung hatten sie einen schönen Abend verbracht; erst beim Essen in einem Restaurant mit italienisch-asiatischer Crossover-Küche, später in einer Lounge bei einigen Gläsern Kölsch und schließlich waren sie beim Verabschieden vor dem In-Lokal übereinander hergefallen. Zu mehr als einer unbeholfenen Fummelei im Hauseingang nebenan war es nicht gekommen. Mertin hätte eine Abwechslung von ihrer ernüchternden Realität durchaus willkommen geheißen, jedoch hatte ihre Verabredung plötzlich kalte Füße bekommen und sich seitdem nicht mehr gemeldet.

Ein rechter Uppercut schoss hinauf ins Leder. Der Boxsack machte einen Hüpfer, sodass die Ketten, an denen er hing, klirrten.

Hatte sie sich tatsächlich vorhin mit ihrem Kollegen geprügelt? Das Tätscheln seines Bauchs hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Das hätte sie sich sparen sollen, bereute sie nun.

Aber irgendwas stimmte mit dem Mann nicht. So viel stand fest. Oder Markus Kaiser war einfach nur ein Arschloch. Mertin nahm sich fest vor, morgen um ein Gespräch bei Dienstgruppenleiter Müller zu bitten. Sie würde sich einem anderen Teamkollegen zuteilen lassen. Das ging doch so nicht weiter.

Mertin vollzog eine Drehung und ließ ihre Ferse auf den Sack donnern.

Noch mehr als Kaiser und die Affäre, die keine geworden war, verstörten sie die lange verdrängten Gefühle und Erinnerungen, die die Brandleiche geweckt hatte. Das war die Erinnerung an ihre Kindheit im Kongo. Nicht nur die Holzkohlebriketts, mit denen ihr Vater an einem kalten Morgen den Ofen fütterte, um das Hospital, in dem er arbeitete, zu heizen; die Essensgerüchte von Hühnchen in Palmöl, Kochbananen, Fufu aus Maniokwurzeln oder »Bushmeat« mit Erdnusspaste; das endlose Grün der Hügel rund um Goma. Der See. Tief und rätselhaft. Weit mehr war es die Erinnerung an die Grausamkeit des Krieges. Diese Bestie, die aus Menschen Mörder machte. Die gleiche Mordlust, mit der Schimpansen abgeschlachtet und zu »Bushmeat« verarbeitet wurden, war auch ihrer Mutter zum Verhängnis geworden. Und der einzige Grund, wieso sie selbst das Glück gehabt hatte, diesem erbarmungslosen Gemetzel zu entkommen, lag darin, dass ihr Vater ein weißer Arzt aus Deutschland war.

Linke und rechte Faust bissen sich abwechselnd im Leder fest. Schweiß lief ihr in die Augen und zwang sie zu einer Unterbrechung.

»Du gehst ab wie ’n Kampfroboter«, sagte Nico mit anerkennendem Kopfnicken.

»Trotzdem gibt’s Idioten, die sich mit mir anlegen«, feixte Mertin.

»Nicht dein Ernst.« Nico sah besorgt aus. Er warf ihr eine Wasserflasche zu. »Judith«, sagte er und zeigte auf ihre Hände, »du musst besser auf dich aufpassen.«

Mertin blickte auf ihre blutig geschlagenen Knöchel.

»Niemand trainiert ohne Handschuhe. Nur du. Das ist schon ein bisschen… na ja… krank!«

»Man muss vorbereitet sein«, sagte Mertin ausweichend. Was sie damit ausdrücken wollte, wusste sie selbst nicht so genau.

»Das ist Quatsch«, entgegnete Nico, »wir sind in Köln, nicht in Aleppo.«

Dass Nico, ihr bulliger Trainer mit den tätowierten Oberarmen, so offen mit ihr sprach, war ihr unangenehm. Mertin hämmerte die Fäuste ins Leder.

»Ganz ruhig, Brauner«, scherzte er, als wäre sie ein Pferd kurz vor dem Durchgehen.

»Heb dir die Sprüche für die Kids am Nachmittag auf«, meinte Mertin kühl und ging wieder in Angriffsposition, wobei sie dem Sandsack einen Check versetzte.

Auch wenn Nico es nicht mal so gemeint hatte– versteckte Anspielungen auf ihre Hautfarbe konnte sie gar nicht vertragen. Kongolesen bezeichneten sie gern mit einer gewissen Herablassung als Weiße. Für Weiße hingegen war Mertin eine Schwarze, und für Südländer wie Nico, der aus Zypern stammte, war sie eben braun. Ein Mischling. Ein Bastard zweier Welten. Nirgendwo richtig zu Hause. Nirgendwo richtig akzeptiert. Und das brannte in ihr so heiß wie das Feuer, das den Toten im Autowrack aufgefressen haben musste.

»Okay, Schluss für heute«, meinte Nico. »Judith, ich bin nicht dein Daddy oder dein Psychologe, ich bin nur dein Trainer. Manchmal muss ein guter Trainer etwas von allem sein. Und dieser gute Trainer rät dir…«

Nico machte eine Pause, in der Mertin den Atem anhielt. Noch ein Kerl, der sich seine Belehrungen nicht verkneifen konnte?

»Trink endlich was, du verrückte Hardcore-Streetfighterin!«

Mertin stimmte in Nicos Lachen mit ein. Erst als sie die Wasserflasche angesetzt und mit gierigen Zügen die ersten Schlucke genommen hatte, merkte sie, wie recht Nico hatte. Nicht nur, was das Trinken betraf.

In dem Moment spürte sie den Vibrationsalarm ihres Handys in der Gesäßtasche. Ohne die Flasche abzusetzen, holte sie das Gerät hervor und schielte auf das Display. Als Nico ihre Verrenkung sah, lachte er noch mehr.

Eine SMS. Gespannt darauf, was die Dienststelle für Neuigkeiten zum Fall hatte, berührte sie mit dem Daumen den Touchscreen. Die Nachricht kam nicht vom Präsidium.

»Der Abend neulich mit dir war wunderschön«, las Mertin. »Wollen wir das wiederholen? Morgen? LG,der LOVEPROPHET«.

Ein zartes Lächeln zuckte um ihre Lippen. Mister Kalte Füße hatte es sich anders überlegt und seine Einladung mit dem Benutzernamen von der Internetplattform unterschrieben, was sie amüsierte. Sie überlegte nicht lange und drückte auf »Antworten«.

22:45Uhr

Markus Kaiser lenkte seinen Passat Kombi in die Malteserstraße. Die verschneite Buchheimer Reihenhaussiedlung strahlte selbst bei Dunkelheit etwas Idyllisches aus. Puderzucker überall. Es gab kaum einen Vorgarten, in dem nicht ein beleuchteter Tannenbaum zu finden war. Aber Kaiser fühlte sich unwohl. Ein Gefühl, das sich noch verstärkte, als er an einem am Straßenrand parkenden alten Landrover vorbeifuhr. Denn wie ein Mahnmal seines Scheiterns parkte der Jeep genau dort, wo er es gar nicht verhindern konnte, erinnert zu werden. Und zwar jedes Mal, wenn er an dem Auto vorbeifuhr. Das war mindestens zweimal am Tag der Fall, morgens, auf dem Weg zur Arbeit, und abends, wenn er zurückkam. Einen anderen Weg aus der Siedlung heraus gab es nicht. Reinste Folter.

Wie auf allen übrigen Autos, die in letzter Zeit nicht bewegt worden waren, türmte sich auch auf dem Landrover Schnee. Kaisers wehmütiger Blick schweifte über die Karosserie. Auch wenn der Defender nicht mehr ihm gehörte, sah er ihn immer noch als sein Eigentum an.

Kaiser parkte keine hundert Meter weiter auf der Einfahrt zu seinem Haus. Den Motor schaltete er ab, er selbst blieb aber sitzen und rieb sich mit einer Hand die Stirn. Dahinter brannte es wie in einem Hochofen, was ihn abwechselnd in Lethargie oder in Raserei versetzte. Er musste das irgendwie abschalten. Nur wie?

Verzweifelt kämpfte er gegen die Wut, die Frustration und das allgemeine Gefühlschaos an. Etwas gewann immer. Heute Abend also die Raserei. Seine Attacke auf Mertin würde ein Nachspiel haben. Und sein Nacken schmerzte ebenfalls. Wie konnte er nur derartig entgleisen? Frau, Kollegin, jünger. Schuldig! Und wieso konnte er sie eigentlich nicht leiden?

Zumindest auf die letzte Frage hatte er eine Antwort, auch wenn ihn die nicht zufriedenstellte. Die Kollegin war so anders! Wie er es hasste, wenn sich dieses Energiebündel voller Tatendrang, Wissbegier und Einfallsreichtum vor ihm aufbaute, während er sich selbst hundeelend fühlte, als hätte ihm ein Vampir sämtliche Vitalität aus den Adern gesogen.

Er hob den Kopf und blickte durch das Seitenfenster auf die obere Etage seines Hauses, in der Licht brannte. Die Kids waren also zu Hause. Hanna vermutlich auch. Unter dem Carport stand ihr fabrikneues A-Klasse-Modell. Hanna hatte den Wagen also auch ohne ihn vom Autohaus abgeholt.

Die untere Etage war in Dunkelheit getaucht. Wahrscheinlich hatten alle auf ihn gewartet, während er sich am Abend seines Geburtstags noch durch die Gegend getrieben hatte, um nach dem Einsatz ja nicht nach Hause und im Kreise der Familie den fröhlichen Jubilar spielen zu müssen.

Dabei wäre er gern in Feierlaune! »Ja, vielen lieben Dank für das Rasierwasser«, hätte er seiner jüngsten Tochter gesagt und sie dabei umarmt. Seit zwei Jahren bestand sie darauf, ihrem Papa ein Geschenk ohne Mamas Hilfe auszusuchen. Kaiser würde, stolz auf die Selbstständigkeit seiner Tochter, das scheußliche Wasser benutzen, auf das seine Tochter in Ramschläden auf der Frankfurter Straße stieß und das eher wie WC-Reiniger als nach Parfüm roch, mochten die anderen denken, was sie wollten.

Er schaffte es nicht. Gute Laune konnte er niemandem vorgaukeln.

Schon heute Morgen war das gründlich schiefgelaufen, als sein Chef, Dienstgruppenleiter Jörg Müller, vor versammelter Mannschaft ein dreifaches Hoch auf den Jubilar ausgerufen hatte.

»Wir wollen uns jetzt mal daran erinnern«, hatte Müllers gut trainiertes Büttenorgan über den Flur geschallt, »wer heute fünfundvierzig Jahre wird. Ups, hab ich etwa ›fünfundvierzig‹ gesagt? Hier steht er: der Kaiser. Auch wenn er kein Fußball spielt, so ist er doch eine Legende.«

Eine Legende ohne Rückhalt. Aus dem spärlichen Applaus konnte man an die Abneigung gegen den Choleriker Kaiser förmlich heraushören. Müller spielte auf einen Fall an, den Markus Kaiser vor einigen Jahren gelöst hatte. Er hatte auf spektakuläre Weise einen Kindermörder überführt und sehr viel Lob geerntet. Im Zuge der Ermittlungen hatte die Boulevardpresse seinen Nachnamen zum Spitznamen auserkoren und ihn in Anlehnung an den Fußballer Beckenbauer »der Kaiser« genannt.

»Lieber Markus«, hatte Müller wieder angesetzt und Kaiser überschwänglich die Hand auf die Schulter gepresst, weil der Anstalten machte, abzuhauen, »glaube ja nicht, dass du uns so schnell davonkommst. Die Kollegen haben zusammengeschmissen und dir ein kleines Präsent besorgt.«

Müller schüttelte mit gespieltem Entsetzen den Zeigefinger. »Nein, nicht, was ihr denkt. Hier springen keine nackten Frauen aus der Torte. Solchen Sexismus gibt’s nur beim LKA!«

Der Humor traf Kaisers Nerv höchstens in schmerzhafter Weise. Müller war Vorsitzender bei einem Traditionskorps– Karnevalist durch und durch. Eine Grundvoraussetzung, um in Köln Karriere zu machen, wie ein Kollege ihm gegenüber mal behauptet hatte.

Wie ein großer Zeremonienmeister hatte Müller nun mit den Fingern geschnippt, bis ihm jemand das Geschenk in die Hand legte. »Hab mir sagen lassen«, hob er erneut an, »dass du früher auf dem Ding ein wahres Ass gewesen sein sollst.«

Daraufhin hatte der Dienstgruppenleiter ihm ein Skateboard überreicht. Kaiser konnte es auch jetzt, da sein Blick auf das im Fußraum des Beifahrersitzes abgestellte Board fiel, immer noch nicht glauben. Was sollte ihm die Großzügigkeit dieses Präsents sagen: Brich dir den Hals, Arschloch? Und wie lange hatte er schon nicht mehr auf einem Brett gestanden, die Vibration des Asphalts unter den Füßen gespürt, den Wind der Straße im Gesicht? Die Jahre durfte er nicht zählen, ohne sich ernüchtert zu fühlen.

Judith Mertin erschien bei jedem Wetter mit dem Board unter dem Arm zum Dienst. War das etwa von ihr gekommen, um ihn zu verhöhnen? Aber woher sollte sie das wissen?

Wut stieg in ihm auf und ging mit ihm durch. Kontrollverlust, die Zweite. Er stieß die Beifahrertür auf, schnappte sich das Board und warf es nach draußen. Es landete in der Buchsbaumhecke, die seine Einfahrt vom Nachbargrundstück trennte. Durch die Anstrengung schmerzte sein Nacken noch mehr, was seinen Zorn nur noch steigerte.

Durch die geöffnete Tür drang Kälte in den Wagen und vertrieb ihn aus seinem Refugium. Missmutig schlich er zum Hauseingang, wobei er sich bemühte, den gefrorenen Schnee unter seinen Füßen nicht zum Knirschen zu bringen. Zwischen den Fingern hielt er den Schlüsselbund fest umschlossen, um die Schlüssel zu wärmen.

Endlich hatte er die wenigen Meter bis zur Haustür hinter sich gebracht. Nun nur noch die zwei Stufen hinauf und den Schlüssel im Schloss versenken. Doch das Schloss hakte. Kaiser fluchte innerlich. Seit Wochen war ihm dieses Problem bekannt. Er hätte lediglich ein wenig Feinmechanikeröl zu Hilfe zu nehmen brauchen, aber er hatte es immer wieder verschoben. Jetzt rächte sich seine Faulheit. Und das, obwohl er den Schlüssel angewärmt hatte.

Es blieb ihm keine andere Wahl, er musste den Schlüssel ganz herumdrehen. Die alte Haustür öffnete sich mit einem Knarzen. Im Haus blieb es still. Glück gehabt!

Noch bevor er über die Schwelle trat, zog er sich die Schuhe aus, stopfte sie in seine Manteltaschen, schob die Tür hinter sich mit einem leisen Schnappen ins Schloss. Er blieb einige Zeit bewegungslos im Flur stehen und lauschte in die Stille des Hauses. Aus dem oberen Stockwerk hörte er leise Musik.

Kaiser setzte seinen Schleichgang fort und trat in kaltes Wasser. Augenblicklich waren seine Socken durchnässt. Die Schuhe der Kinder lagen wild verstreut auf dem weißen Marmorfußboden herum. Um die Schuhe breitete sich geschmolzener Schneematsch aus. Kaiser wich den Hindernissen aus und verschwand im Keller.

Seit Hanna und er hier vor fünf Jahren eingezogen waren und ihre zwei zerrütteten Familien zu einer zusammengefügt hatten, war ihm das Haus fremd geblieben. Er mochte keine Reihenhäuser. Ein Reihenhaus war ein Kompromiss. Sie hatten einfach genügend Platz für zwei Erwachsene und vier Kinder gebraucht. Und allein dieser protzige weiße Marmor im Eingangsbereich. Potthässlich. Mit seinen grauen Sprenkeln sah der Boden immer dreckig aus. Außerdem war er sauglatt. Die inzwischen pubertierenden Kinder seiner zweiten Ehefrau waren ihm ebenfalls fremd geblieben, genau wie ihm seine eigenen beiden Töchter immer fremder wurden. Er verstand nicht mehr, was sie beschäftigte und umtrieb. Ob das nur am Alter lag, wusste er nicht.

Unten in der Waschküche stand in unmittelbarer Nähe von Trockner und Waschmaschine sein alter Junggesellensessel mit schwarzem Lederbezug. Diesen Sessel hatte er mit Anfang zwanzig gebraucht auf einem Flohmarkt gekauft. Schon damals war er nicht mehr in einem guten Zustand gewesen. Aber er brachte es nicht übers Herz, ihn zum Sperrmüll zu bringen. Er ließ sich in den Sessel fallen. Ein muffiger Geruch drang in seine Nase. Ich könnte ihn neu polstern lassen, dachte er, während er eine Zigarilloschachtel, die er in einer Polsterritze versteckt hielt, hervorkramte. Genüsslich inhalierte er. Obwohl er körperlich gar nicht das Bedürfnis verspürte, unbedingt zu rauchen, fiel es ihm schwer, es zu lassen.

Urplötzlich sprang er auf, eilte zur Kellertür, die in den Garten führte, und riss sie weit auf. Wie konnte er das vergessen! Hanna roch alles. Kilometerweit.

Den Zigarillostummel schnippte er in den Abwassergully. Kaiser war sich völlig im Klaren darüber, dass er sich in seinem eigenen Haus wie ein Teenager benahm, der zu spät nach Hause kam und am Zimmer der Eltern vorbeischlich. Dabei wünschte er, die Minuten hier unten würden ewig dauern, mochte es noch so ungemütlich durch die geöffnete Kellertür hereinziehen. Einfach mal allein sein. Niemandem Rechenschaft ablegen. Im Studentensessel abhängen und an früher denken. Damals– lange vor seiner ersten und noch viel länger vor der zweiten Ehe– verklärte er in Gedanken die Erinnerung an einige Abenteuer. Wieso musste er in letzter Zeit immer an Sex denken? »Damals« hatte er sich niemals auch nur eine Sekunde erschöpft gefühlt.

Jetzt ein Glas Wein oder Whiskey, dachte Kaiser, als er sich einen weiteren Zigarillo anzündete, den muss ich hier irgendwo deponieren.

Noch während er sich auf der Suche nach einem geeigneten Versteck umblickte, verfinsterte sich sein Gemüt. Was war er nur für ein erbärmlicher Idiot geworden! Was für ein lächerlicher Hanswurst! Könnte der Damals-Kaiser dem heutigen Kaiser gegenübertreten, hätte sein jüngeres Ich nur wenig Verständnis für ihn. Die Power seiner Kollegin Mertin bekämpfte er mit Dienstvorschriften, und in seinem eigenen Haus wollte er Whiskey vor der neugierigen Ehefrau verstecken. Das war aus ihm geworden, ein Maulheld. Nicht mal das. Ein müder Krieger ohne Rückgrat. Kaiser hasste sich selbst.

Auf einmal spürte er den magischen Sog der Tür zum Garten. Schwarz und kalt. Vielleicht fand er in diesem unbekannten Kosmos da draußen zurück zu der Energie seiner Jugend. Er würde in den dunklen Garten gehen, das Grundstück durchqueren, über den Zaun steigen und über das dahintergelegene Feld streifen, bis er sich irgendwo im Freien zur Ruhe begeben konnte.

»Markus!«, hörte er hinter sich.

Kaiser drehte sich um. Hanna stand mit dem Skateboard unterm Arm in der Waschküche.

»Was machst du denn da?«, fragte sie. In ihrer Stimme lag Enttäuschung.

»Ich hab dich gar nicht kommen gehört«, antwortete er.

»Was machst du denn da?«, wiederholte sie und ging zur Kellertür, um sie zu schließen. »Sitzt bei geöffneter Tür hier in der Kälte und rauchst.«

Das Board stellte Hanna zu ihren Füßen ab. Auf dem abschüssigen Boden setzte es sich augenblicklich in Bewegung und rollte mit beeindruckender Leichtigkeit zum Abflussgully, dem tiefsten Punkt in der Mitte des Raums, und darüber hinaus, direkt vor Kaisers Füße. Die Rückfahrt verhinderte er, indem er einen Fuß auf einer Rolle abstellte. Erstklassiges Kugellager, Spitzen-Rollen. Noch so ein Energiebündel! Kaiser verspürte einen irrationalen Neid auf das Skateboard. Verärgert schnippte er die Kippe in den Abfluss.

»Wir haben auf dich gewartet. Die Kinder wollten dir ihre Geschenke geben. Jetzt liegen sie im Bett.« Vor Kälte rieb sich Hanna die Oberarme mit den Händen. »Charlotte hat geweint und ständig gefragt, warum du nicht kommst.«

»Ein Einsatz«, behauptete er.

»Der vor über einer Stunde beendet war.«

Sie hatte im Präsidium angerufen und sich nach seinem Verbleib erkundigt.

»Und was soll das überhaupt? Es ist eisig kalt. Aber du lässt alle Türen offen stehen, inklusive der Beifahrertür und der Kellertür zur Wohnung. Der ganze Rauch zieht ins Haus.«

Kaiser runzelte die Stirn. Hatte er vergessen, die Autotür zu schließen?

»Glaubst du, ich höre oder rieche das nicht, wenn du dich ins Haus schleichst? Nikotin und Burn-out– das verträgt sich nicht. Du verschlimmerst es nur«, meinte Hanna.

»Ach, so ein Quatsch«, rief er aufbrausend.

Hanna schwieg, blickte ihn vielsagend an.

»Lächerlich«, entfuhr es ihm.

»Was meinst du?«, hakte Hanna nach.

»Vergiss es.« Kaiser rieb sich den schmerzenden Nacken.

»Was ist los?«

»Es war glatt, und ich bin hingefallen«, schwindelte er und war erstaunt darüber, wie leicht ihm das fiel.

»Zeig her.« Sie schob den Schal beiseite und erschrak. »Es ist ganz blau. Du musst zum Arzt!«

»Ich gehe nicht zum Arzt.«

Hannas Schweigen drückte unmissverständlich Protest aus. Als sie schließlich doch etwas erwidern wollte, kam ihr Kaiser zuvor.

»Das wäre dann ein Dienstunfall, und ich muss tausend Dinge erklären. Und so weiter. Und so weiter. Wird sich schon wieder einrenken.«

»Im wahrsten Sinne des Wortes«, diagnostizierte Hanna und kommentierte gleichzeitig seinen Starrsinn. »Das muss geröntgt werden.«

Kaiser sagte nichts, ignorierte erneut ihren fachlichen Rat.

»Und was ist mit deiner neuen Kollegin? Du wolltest sie doch mal zum Essen einladen.«

»Hat sich nicht ergeben.«

»Markus«, sagte Hanna hart, »ihr sitzt den ganzen Tag im selben Büro, und du sagst mir ernsthaft, du hättest noch keine Gelegenheit gefunden, sie einzuladen?«

Kaiser zuckte mit den Schultern. »Sie mag mich nicht.«

Hanna lachte bitter. »Und das wundert dich?«

Der Satz kam wie aus der Hüfte geschossen. Wie tödlich verwundet sank Kaiser in sich zusammen. Ach, lass mich doch in Ruhe, dachte er. Lasst mich doch alle in Ruhe!

Hanna trat unbemerkt näher. Sie wechselte den Ton und klang jetzt versöhnlicher. »Komm mit rauf, ein wenig Geburtstag feiern. Und vor allem gib Charlotte wenigstens einen Gute-Nacht-Kuss.«

»Ich komme gleich nach.« Kaiser blieb einsilbig.

»Ich hätte heute gerne ein bisschen Zeit mit dir verbracht«, sagte sie freundlich, »und mein neues Auto mit dir abgeholt.«

Die A-Klasse draußen unter dem Carport. Kaiser schüttelte den Kopf. Nicht auch noch das leidige Mercedes-Thema! Er fuhr die alte Familienkutsche, diesen Passat Kombi, während sein geliebter Jeep jetzt dem Nachbar-Idioten gehörte, der sich offensichtlich nicht um das wertvolle Stück kümmerte, und am Straßenrand verrostete. Warum hatte er sich überhaupt von dem Wagen getrennt? Weil auch ein Kriminalhauptkommissar mit Eigenheimkredit nicht über unbegrenzten Geldfluss verfügte. Und Hanna kaufte sich einen Neuwagen. Zu allem Überfluss fuhr er privat nun den gleichen Fahrzeugtyp wie während seiner Arbeitszeit, was zur Folge hatte, dass er sich ständig wie im Dienst fühlte. Und überhaupt, er fuhr Gurke und sie Granate, das war doch irgendwie ungerecht. Warum konnte Hanna das nicht verstehen?

Kaiser vergrub sein Gesicht in den Händen. Seine Finger tasteten über die Stirn. Da, direkt hinter der Stirn, dröhnte ein unvorstellbarer Schmerz. Es waren keine gewöhnlichen Kopfschmerzen. Vielmehr hatte Kaiser das Gefühl, als würde ein diabolischer Gnom ihm eine ambossgroße Stimmgabel an den Schädel pressen und mit einem Vorschlaghammer die Schwingungen durch seinen Kopf jagen. Konnte ihn nicht irgendjemand von diesem Schmerz befreien?

Er bemerkte gar nicht, dass Hanna näher gekommen war. Sie fuhr ihm durchs Haar. Kaiser erschrak. Die unerwartete Zärtlichkeit überraschte ihn. Gewaltig. Womit hatte er das verdient? Eine Welle der Gefühle übermannte ihn, alles zog sich zusammen und wurde gleichzeitig aufgesprengt. Am liebsten hätte er seinen Tränen freien Lauf gelassen, aber das konnte er nicht. Stattdessen schluchzte Kaiser laut auf. Einen derartigen Laut hatten die Gewölbe des Reihenhauses noch nie vernommen.

03:14Uhr

Nur ein schwacher Lichtschein erhellte das Zimmer. Mertin starrte auf die gläsernen Einlegeböden in ihrem ansonsten beinahe leeren Kühlschrank. Zwiebel, Maniok, Ketchup. Noch lange Zeit würde sie dort hineinstarren können, dachte sie, dieses Nichts im Inneren würde sich nicht urplötzlich verwandeln. In ein Bier zum Beispiel, das ihr helfen könnte einzuschlafen. Es wurde Zeit für einen Großeinkauf. Regale füllen, Vorrat anlegen. Sollte sie sich anziehen und zum Vierundzwanzig-Stunden-Kiosk an der Taunusstraße gehen? Zu kalt.

Mertin schloss die Kühlschranktür, und die Küche fiel wieder in Dunkelheit. Sie lenkte die nackten Füße über den kalten Fliesenboden zurück in ihr Schlafzimmer. Wenigstens lag hier ein weicher Teppich auf dem Boden. Ansonsten kühlte die Wohnung nachts stark ab. In den Rohren wie in der Heizung selbst gluckerte es laut. Aber die Heizkörper ließen sich nicht entlüften, und der Vermieter schickte keinen Handwerker. Mertin legte sich ins Bett und wickelte sich in ihre Decke, die innerhalb der paar Minuten schon ausgekühlt war. Sie bibberte. Schlafen konnte sie nicht. Wenn sie versuchte einzuschlafen, musste sie immer wieder an ihre Mutter denken, die sie schmerzhaft vermisste. Dann an die Brandleiche vom heutigen Abend. Um den Gestank, den sie immer noch in der Nase zu haben glaubte, zu vertreiben, schnaufte sie kräftig.

Im Dämmerzustand vermischten sich ihre Erinnerungsfetzen, bis das Todesopfer im Autowrack zu ihrer Mutter wurde. Dann rüttelte sie sich wieder wach, um die scheußlichen Gedanken zu vertreiben, aber es dauerte nicht lange, und sie befand sich erneut in dieser Gedankenschleife.

Wenn ich jemals die Möglichkeit erhalten sollte, versprach sie ihrer Mutter in Gedanken, dann werde ich dich rächen. Wahrscheinlich erlaubte sie sich nur deshalb derartige Überlegungen und ließ sich zu derartig blutigen Schwüren hinreißen, weil sie schon im Vorhinein wusste, dass es nahezu unmöglich war, die Täter ausfindig zu machen. Die Rebellensoldaten, die vermutlich selbst längst Opfer des Krieges geworden waren und in einem namenlosen Grab am Straßenrand, auf dem Feld oder zwischen Bäumen verrotteten, würden niemals zur Rechenschaft gezogen werden.

Mertin hatte es nicht einmal versucht, die Mörder zu finden. Ihr Vater dagegen forschte bis heute nach den näheren Todesumständen. Hartnäckig war er um Aufklärung bemüht, wohl wissend, dass es neben ihm viele Millionen Kongolesen gab, die ebenfalls vom ungeklärten Verbleib ihrer Familienangehörigen getrieben wurden und die genau wie er niemals eine Erklärung erhalten würden. Und so sorgte der Krieg, noch lange nachdem er offiziell für beendet erklärt worden war, de facto aber weiterschwelte, für Grausamkeiten an denjenigen Menschen, die in ihn hineingerissen worden waren. Lange nachdem die letzte Kugel verschossen war, starben Unschuldige an den Folgen der Kriegsgräuel.

Als Mertin erkannte, dass sie in dieser Nacht wohl kein Auge mehr zutun würde, geschah ein kleines Wunder, das genau das Gegenteil bewirkte. Die Einsicht, dass sie die Erlebnisse des Kriegs, die davongetragenen Wunden, nie ganz überwinden würde, löste so etwas wie Hoffnung in ihr aus. Niemals würde sie vergeben und vergessen können

Freitag

08:30Uhr

Auf dem Bildschirm war das Mailprogramm geöffnet. Mertin saß am Küchentisch, ein Kaffeebecher wärmte ihre Hände, und sie starrte mit wachsender Unsicherheit auf die Blanko-Mail, in der bisher nur zwei Felder ausgefüllt waren, das des Adressaten [email protected] und die Betreffzeile: Versetzungsgesuch. Doch Mertin wusste nicht, wie sie das, was sie zu schreiben gedachte, formulieren sollte. Letztendlich wusste sie nicht einmal, ob für eine Versetzung, die auf eigenes Betreiben erfolgen sollte, ein offizielles Formular auszufüllen war.

Erst seit drei Monaten verrichtete Judith Mertin ihren Dienst als Kriminalkommissarin in Köln. Noch nie, seit sie in Deutschland lebte, hatte sie so freudlose Wochen erlebt. Anfänglich hatte sie sich bemüht, ein kollegiales Verhältnis zu Kaiser aufzubauen. Doch der hatte ständig etwas an ihr auszusetzen. Im Büro sprach er kaum ein Wort mit ihr, und im Einsatz suchte er nur das Gespräch, wenn es ihm darum ging, sie vorzuführen und zurechtzuweisen. Mittlerweile fragte sie sich nicht einmal mehr, ob sie etwas falsch machte.

Nach Beendigung ihres Studiums hatte Mertin ihren ersten Posten in einem westfälischen Provinzkaff angetreten. Dort hatte sie viel Zeit mit Einbrüchen, dem ein oder anderen gewalttätigen Ehekrach oder prügelnden Jugendlichen verbracht. Nicht dass sie das nicht ernst genommen hätte, aber sie hatte sich unterfordert gefühlt. Dementsprechend hoch waren ihre Erwartungen gewesen, als ihre Versetzung nach Köln zur Kriminalinspektion1 ins Kommissariat für Tötungsdelikte bewilligt worden war. Und nun stellte sich die Zusammenarbeit mit ihrem neuen Kollegen als so unendlich schwierig heraus.

Auch privat hatte sie bisher kaum Anschluss gefunden. Die Freizeit verbrachte sie beim Sport oder zu Hause im Internet. Sie nutzte Skype, um mit ihrem Vater im Kongo in Kontakt zu bleiben, und Kontaktbörsen in der Hoffnung, dort neue Freunde kennenzulernen.

Nach gestern Abend stand für sie fest, dass sie nicht länger mit Kaiser zusammenarbeiten wollte. Doch wohin sollte sie sich versetzen lassen? Das Kommissariat für Tötungsdelikte wollte sie nicht verlassen. Und das hieß, sie musste in das Kriminalkommissariat einer anderen Stadt wechseln, um Kaiser nie wieder über den Weg zu laufen. Doch in welche? Frankfurt, Hamburg oder Hannover? Einen kurzen Moment dachte sie an die Kleinstadt, in der sie ihren ersten Dienst abgesessen hatte. Der Teutoburger Wald war klasse– wenn man wandern gehen wollte. Einen Mordfall hatte es dort buchstäblich seit Jahren nicht gegeben. Die Großstadt war ihr Revier. Und Kaiser war im Begriff, all ihre Karriereträume zu zerstören.

Sie würde erst mal ganz allgemein eine Versetzung beantragen. Das Wohin müsste sie dann später klären.

Sie riss sich zusammen, stellte den Kaffeebecher neben dem Rechner ab und begann zu tippen: »Sehr geehrter Herr Müller…« Dann stockten die Finger wieder, schwebten rastlos über der Tastatur ihres Laptops. Sollte sie Kaisers Angriff erwähnen? Musste sie einen Grund angeben, um sich versetzen zu lassen?

Der leise anschwellende Klingelton ihres Smartphones lenkte ihren Blick vom Bildschirm auf das Display des Telefons, das hinter dem Computer auf dem Küchentisch lag. Sie sah eine ellenlange Nummer, die mit der Landesvorwahl für Deutschland begann. Wer rief aus dem Ausland auf ihrem Handy an? Mit ihrem Vater hatte sie die Vereinbarung getroffen, sich per Mail zu verabreden und dann zu skypen. Wenn es ihr Vater war, rief er nicht von seinem Handy aus an, denn die Nummer hatte sie gespeichert.

Hektisch griff sie seitlich am Bildschirm vorbei und stieß dabei ihre Kaffeetasse um. Sie fluchte. Der Toast ertrank in brauner Brühe, die jetzt Richtung Laptop floss. Mertin hob flink den Laptop hoch, griff gleichzeitig nach ihrem Smartphone, um das Gespräch anzunehmen, bevor die Mailbox ansprang, und blickte sich abwechselnd nach einem Platz für den Computer und nach etwas Geeignetem um, womit sie die Überschwemmung auf dem Tisch eindämmen könnte.

»Papa?«, rief sie ins Telefon.

Doch aus den Lautsprechern des Smartphones hörte sie lediglich ein statisches Rauschen und eine verzerrt klingende männliche Stimme. Den Computer stellte sie auf dem Kühlschrank ab. Von der Spüle schnappte sie sich ein Schwammtuch und warf es auf den Küchentisch, um die weitere Ausbreitung des Kaffeesees vorläufig zu bremsen. Dann widmete sie sich ganz dem Anruf.

»Papa, c’est toi?«, fiel sie ins Französische. Es konnte ja auch jemand sein, der für ihren Vater oder im Auftrag ihres Vaters anrief.

Dann endlich wurde die Verbindung etwas besser, und sie erkannte tatsächlich die Stimme ihres Vaters. Sie war erleichtert, aber er klang nicht nur wegen der schlechten Verbindung komisch.

»Papa!«