Kom.Ba. / Kommissar Bambus - Ben B. Gun - E-Book

Kom.Ba. / Kommissar Bambus E-Book

Ben B. Gun

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Beschreibung

Am Morgen des 03.10.2014 ahnt Hauptkommissar Gabriel Landgraf noch nicht, dass der anstehende Einsatz im Zuhälter- und Drogenmilieu in Hamburg sein Dasein Knall auf Fall anhalten und in eine ganz andere Richtung lenken wird. Die Unterwelt begehrt auf, will der Obrigkeit zeigen, wie mächtig sie ist. Das Leben von Einsatzkräften spielt dabei keine Rolle. Er hat das Glück, mit dem Leben davonzukommen. Aber auch das Pech, voll-kommen aus der Bahn geworfen zu werden. Seine verfahrene Lebenssituation drängt ihn zur Veränderung, fordert seine folgenschwere Entscheidung. Er wagt einen Neustart ziemlich weit im Süden Deutschlands. Doch es geht schief. So schief, als hätten sich alle Mächte gegen ihn verschworen. Drei junge Männer aus einem fernen Land und eine völlig verzweifelte Bäuerin erden sein schlingerndes Bemühen, endlich wieder Fuß zu fassen. Mit dem ersten eigenverantwortlich zu lösenden Kriminalfall kommt seine Stärke zurück. Er besinnt sich auf die Fähigkeiten, die ihn in Hamburg ausgezeichnet haben. Im Klinikum Deggendorf werden Attentate auf Mitarbeiter der onkologischen Abteilung verübt. Zudem gilt es drei mysteriöse Morde aufzuklären, die seit zwei Jahren ungelöst sind. Wegen diesen ist sein Chef gehörig unter Druck und damit auch er. Beide müssen Erfolge vorweisen, koste es, was es wolle. Und es kostet viel. Beinahe sein Leben. Aber die Gangster ahnen nicht, dass er nicht auf sich allein gestellt ist ...

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Für meinen Vater, der mir durch seine Lebensleistung gezeigt hat, dass man auch ohne Abitur und Studium, vieles, was anderen unmöglich erscheint, erreichen kann.

Glaub an deine Träume, bedingungslos und unbeirrbar.

Inhalt

Prolog

Finsternis: Das letzte Gefecht

Nebel: Gebrochen

Gefängnis: Wurzelkraft

Steter Anfang: Zurück auf Los

Fremd: Menschenschlag

Zwei Seelen: Mädchenschwarm

Glück: Trägheit siegt?

Schadenfreu(n)de: Schadenfreude

Schicksal: Schlag des Schicksals

Gewitter: Gesundheitliches Erwachen

Mut: Frühsport mit Folgen

Kriegerin: Kollegiale Wende

Unerfüllt: Versus Tod

Lüge und Wahrheit: Onkologischer Suizid

Verzweiflung: Weißer, heimlicher Killer

Erlösung: Mächte im Hintergrund

Betrug: Wahlbetrug

Chaos: Finstere Antworten

Befleckt: Mechanische Heilung

Angst: Seelenbrüder

Nachwort

Prolog

Die Welt ist in Aufruhr. Vieles, was in der Vergangenheit als Anker diente, auch bei stürmischster See als sicherer Halt im Leben galt, ist nun dafür untauglich geworden. Wer sucht nicht nach einem verlässlichen Stück Tau, um sich festzubinden, sich zu beruhigen, um sich zu trauen zu vertrauen.

Es gilt die innere Ruhe wiederzufinden. Sich von ihr sagen zu lassen, wann, warum und wo man sie verloren hat. Um damit einem Schlüssel gleich die Tür zu öffnen zu einem ruhigeren, bewussteren, tieferen und uns mehr erfüllenden Leben.

So treibt auch er im hohen Wellengang des Lebens. Ziellos und ausgeliefert. Allmählich wird ihm klar, dass er auf einen Sturm zusteuert, der sein Leben fordern kann.

Nun gilt es aufzubegehren und alle zur Verfügung stehenden Kräfte zu bündeln, um mit aller Entschlossenheit sein Boot in eine andere Richtung zu lenken - in friedlichere, freundlichere, hoffentlich glücklichere Gestade.

Finsternis

Wenn das letzte Licht des Tages erlischt,

die Schatten verschmelzen mit ihrem Reich,

wenn das klare Sehen des Tages

einem Erahnen von Schemen

und einem Lauschen in die Finsternis weicht,

die Vertrautheit der Welt

verloren geht am Horizont,

dann begehrt die Dunkelheit die Macht

für die Hälfte der Zeit.

Das letzte Gefecht

Schockstarre … er war vollkommen bewegungsunfähig. Panische Angst hatte die Kontrolle seines Denkens und seiner Körperfunktionen übernommen. Das Dröhnen des Pulsschlages, der das Blut durch seine Adern trieb, übertönte alles und verhinderte jede Chance, einen klaren Gedanken zu fassen.

Zusammengekauert, die Knie an den Körper gepresst, seine Arme über die angewinkelten Beine geschlungen – ein aus Fleisch und Knochen bestehendes Bündel aus Angst und Panik, hingeduckt hinter Abfallbehältern im Hinterhof des Bordells Excelsior in Hamburg. Fünf Kugeln hatten ihm gegolten. Die Erste streifte ihn am linken Oberarm. Der Stoff der Dienstjacke war zerfetzt. Blut rann am Arm entlang und tropfte auf den dreckigen Boden. Er spürte keinen Schmerz.

Eine weitere Kugel hatte die linke Kniescheibe um Millimeter verfehlt. Die drei weiteren waren in den Tonnen vor ihm eingeschlagen, nachdem er sich mit einem Hechtsprung dahinter gerettet hatte. Die Landung war unsanft. Er schlitterte zwei Meter über den schmierigen Boden und stieß hart mit dem schützend über den Kopf gehobenen Unterarm an die Hausmauer. Trotz stark schmerzender Hüfte und Ellenbogen rappelte er sich auf und kauerte da, den Rücken an die Wand gelehnt.

Ein kehliger, schmerzerfüllter Schrei ließ ihn zusammenzucken. Das Schießen war so unvermittelt wie es begonnen hatte abgebrochen. Langsam und geräuschlos kroch er auf den Knien zum Spalt zwischen zwei Tonnen, um vorsichtig in den Innenhof zu spähen. Zwei Personen lagen nur wenige Meter von ihm entfernt am Boden. Fred und Martin. Sie hatten vor ihm den Innenhof betreten und waren zielstrebig auf die hintere Eingangstür zumarschiert. Fred war eindeutig an seinen Schnürstiefeln zu erkennen. Er trug sie im Einsatz immer. Aus Aberglauben. Das Paar war bestimmt schon 35 Jahre alt. Nach jedem Einsatz putzte er sie sorgsam, bevor er sie wieder verstaute. Er hatte sie seit seiner Zeit bei der Bundeswehr. Bisher hatte er jeden Einsatz damit unbeschadet überstanden. Bis heute. Dicht bei ihm hatte sich bereits eine Blutlache gebildet. War er es gewesen, der den Schmerzschrei ausgestoßen hatte? Es schien, als ob er sich weiter zusammenkrümmte, begleitet von einem tief ins Mark gehenden Stöhnen, das in einem Röcheln endete. Martin lag bewegungs- und geräuschlos, zwei Schritte vor ihm.

Sie waren zu zehnt angerückt. Wo waren die anderen Kollegen? Um in die rückwärtige Richtung blicken zu können, drehte er sich nach links und stieß dabei mit der verletzten Schulter an den ihn schützenden Behälter. Das brannte wie Feuer. Der Schockzustand hatte nachgelassen.

In der Durchfahrt zum Innenhof konnte er zwei Kollegen mit gezogenen Dienstwaffen erkennen. Sie hatten sich auf der linken und rechten Seite jeweils in einen Türrahmen in Sicherheit gebracht. Tim, einer der beiden jüngeren Kollegen, forderte mit völlig überdrehter Stimme Verstärkung an. Stoßweise und bruchstückhaft schilderte er der Einsatzzentrale ihre lebens-bedrohliche Situation.

Im Zwielicht der Durchfahrt konnte er zwei weitere am Boden liegende Personen erkennen. Die Dienstjacken mit dem Aufdruck Polizei waren trotz der schlechten Lichtverhältnisse eindeutig zu identifizieren. Wie konnten diese Kollegen getroffen worden sein, da sie sich nicht im direkten Schussfeld befanden? Schlagartig wurde ihm klar, dass der Angriff nicht nur von vorne erfolgte. Sie wurden auch von hinten, der Rückseite des Innenhofes oder von der Straße her beschossen. Panisch packte er den Griff einer der alten, metallenen Müllbehälter und zog sie vor sich hin, um sie als Deckung zur Straßenseite hin zu verwenden. Eine weitere hatte er noch nicht richtig platziert, als auch schon ein Projektil darin einschlug. Das hätte sein Ende bedeuten können.

Mit dem Knall des Schusses hatte er das kurz aufblitzende Mündungsfeuer gesehen. Noch ein Lichtblitz an gleicher Stelle in einem Fenster im ersten Stock des Innenhofes. Dieses zweite Projektil war perfekt gezielt. Exakt durch den nur wenige Zentimeter breiten Freiraum zwischen den Tonnen traf es ihn eine Handbreit unter dem linken Schlüsselbein. Die Wucht des Einschlages warf ihn hintenüber. Er blieb benommen liegen. Dann tastete er vorsichtig nach der Wunde. Kein Blut. Die Schussweste hatte gute Arbeit geleistet. Die Stelle schmerzte höllisch. Die in ihm aufsteigende Wut über die Feigheit der Attentäter, die sie aus dem Hinterhalt attackierten, ließ seine Emotionen überschäumen. Mit verbissenem Gesicht rappelte er sich auf, entsicherte seine Dienstwaffe und feuerte mit animalischem Kampfschrei wild entschlossen fünf- sechsmal in Richtung des Mündungsfeuers.

Dann Stille.

Um die Öffnung zwischen den Behältern zu schließen, verschob er sie unter großen Schmerzen seitlich zueinander.

Dann rekapitulierte er die Situation. Mit dem Einsatz, der auch an drei weiteren Orten zeitgleich erfolgte, sollte nun nach Jahren der Passivität gegenüber der Hamburger Unterwelt gegen einen der tonangebenden Hamburger Clans ein Zeichen gesetzt werden. In enger Abstimmung mit dem Bundeskriminalamt und unter strengster Geheimhaltung wurde der Einsatz in den vergangenen zwei Monaten vorbereitet. Es gab großen Druck seitens des Innenministeriums. Da im Februar 2015 Bürgerschaftswahlen stattfanden, wollte man Stärke zeigen. Der kritischen Öffentlichkeit beweisen, dass man die Herrschaft über die Hansestadt innehatte und das ausnahmslos in allen Stadtvierteln und Straßenzügen.

Und nun das. Die Aktion schien in einem Fiasko zu enden. Die Gewalt in der Stadt begehrte auf und fühlte sich scheinbar schon so stark, dass man weder staatliche Gängeleien noch Kontrollaktionen wie diese über sich ergehen lassen wollte.

Waffengewalt gegen Polizeibeamte, gegen die Obrigkeit, gegen das Gesetz. Das war nun keine Polizeiaktion mehr, auch kein Fehdehandschuh, der ihnen hingeworfen wurde. Das war eine Kriegserklärung.

Dann hörte er Wortfetzen von dem Funkgespräch, dass sein junger Kollege gerade wieder mit der Zentrale führte. Scheinbar waren auch an den anderen Einsatzorten Kollegen unter Beschuss geraten. Verstärkung konnte daher nicht für sofort zugesagt werden.

Ein Knall und ein sofort darauffolgender Aufschrei ließen ihn herumfahren. Das war Fred. Auf ihn wurde erneut geschossen. Er hatte sich ruckartig an den Oberkörper gefasst, wo er scheinbar getroffen wurde. Da sich keine anderen Ziele mehr zeigten, schossen die eiskalten Killer auf seine hilflos am Boden liegenden Kollegen.

Der Blick auf seine Freunde, die vollkommen wehrlos und für ihn unerreichbar nur wenige Meter von ihm entfernt auf dem Boden lagen, beschwor unwillkürlich seinen schlimmsten Albtraum herauf.

Schon oft war er davon schweißgebadet aufgewacht. Der Traum war immer gleich. Er befand sich mit seinem besten Freund an einem tropischen See beim Baden. Sie tauchten bis zum Grund. Sein Freund konnte deutlich länger die Luft anhalten als er. Beim Auftauchen spürte er einen großen, dunklen Schatten neben sich. Ein Alligator, mindestens fünf Meter lang, bedrängte ihn von der Seite. Er stieß ihn weg und schwamm wie der Teufel zum Ufer. Das Ungetüm folgte ihm nicht, sondern blieb als finstere und tödliche Bedrohung unter Wasser. Und er? Er war gelähmt vor Angst und panischer Sorge um seinen Freund, während Sekunde um Sekunde verrann und dessen Luftvorrat immer mehr zur Neige ging. Gefangen in der Tiefe und bedroht von einer Bestie, die darauf lauerte, um ihn in Stücke zu reißen, wenn er sich aus seinem Unterwasserversteck wagen würde. Er musste ihn retten, musste sich sofort ins Wasser stürzen. Aber er konnte sich vor panischer Angst nicht aus seiner Erstarrung befreien. Er saß wie gelähmt, feige und tatenlos da, die weit aufgerissenen, angsterfüllten Augen auf die vor ihm liegende, spiegelglatte Wasseroberfläche gerichtet. Stets platzte er dann einem Erstickenden gleich tief um Luft ringend aus dem Albtraum. Vollkommen aufgewühlt und schweißgebadet war an Schlaf nicht mehr zu denken.

Doch diesmal kam er nicht, der Moment des Aufwachens, so sehr er ihn auch herbeisehnte. Das hier war unerbittliche Realität, die seinen schlimmsten Angsttraum noch übertraf. Seine Freunde waren in Lebensgefahr und er, einem jämmerlichen Haufen Elend gleich, ließ sich von seiner Feigheit zum Zuschauen zwingen.

Seine Wut wurde nun übermächtig, ließ ihn für einen Moment vergessen, wie groß die Gefahr für sein eigenes Leben war.

Mit all seiner noch zur Verfügung stehenden Kraft stieß er auf dem Rücken liegend mit beiden Beinen den vorderen Behälter in Richtung seiner Kollegen. Mit viel Glück rollte der Müllwagen vor den beiden Verletzten aus und diente somit als Schutzwall vor weiterem frontalen Beschuss. Dann riss er die zweite Tonne herum und stieß auch gegen sie mit kräftigem Beintritt. Der Behälter rollte einen halben Meter vor den Verletzten aus. Seiner eigenen Deckung beraubt sprang er wild entschlossen hinterher. Er packte den Griff erneut, um den Container so in Position zu schieben, dass sie nun auch von der Straßenseite her geschützt waren. Geschafft. Nun kauerte er sich zu seinen Kollegen auf den Boden. Fred reagierte unmittelbar auf seine Ansprache. Er war bei vollem Bewusstsein. Mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte er sich zu Gabriel umzudrehen. Dabei sah er deutlich die Wunde am linken Oberschenkel knapp über dem Knie. Sie blutete stark. Instinktiv griff er zu seinem Gürtel, riss ihn sich aus der Hose und band damit den Oberschenkel des Kollegen ab, was die Blutung sofort deutlich verringerte. Die letzte Kugel war in seine Schussweste eingeschlagen. Gott sei Dank.

„Was ist mit Martin?“, keuchte Fred. Dieser lag noch immer bewegungslos vor ihm am Boden. Da sie ihn nicht untersuchen konnten, ohne sich aus der Deckung zu begeben, zogen sie ihn gemeinsam Zentimeter für Zentimeter zu sich heran. Dann drehten sie den leblosen Körper vorsichtig um. An der eingedrückten Weste war klar zu erkennen, dass ihn ein Projektil am Solarplexus getroffen hatte, was ihm das Bewusstsein nahm. Der Schussweste sei Dank, aber nicht das Leben. Sein Pulsschlag war an der Halsschlagader schwach zu spüren. Es quoll Blut unter der Weste hervor. Sie schoben diese vorsichtig hoch und sahen, dass ihn eine weitere Kugel getroffen hatte. Diese hatte ihn rechts neben dem Bauchnabel erwischt. Diese Verletzung konnte aufgrund des hohen Blutverlustes tödlich sein. Das wussten beide. Irgendwie mussten sie die Blutung zum Stillstand bringen. Fred trug auch einen Gürtel. Den schoben sie vorsichtig unter Martins Hüfte durch, legten Martins Geldbörse auf die Wunde und schnürten ihn straff darüber. Mehr konnten sie im Moment nicht für ihn tun.

Wo um Gottes Willen blieb die Verstärkung? Wenn der Feind eine Möglichkeit fand, in ihre offenen Flanken zu feuern, war das ihr Ende. So kauerten sie beide mit gezogenen Waffen da, die gegenüberliegenden Fenster fest im Blick.

Quälend langsam verstrichen die Sekunden, dehnten sich zu Minuten. Wie ein großer bedrohlicher Fels, der jeden Moment auf sie herabstürzen konnte, schwebte das Risiko eines weiteren, dann tödlichen Angriffes über ihnen. Nie zuvor hatte er Ausweglosigkeit und Ausgeliefertsein mit solcher Brutalität erlebt.

Plötzlich wurde seine angstvolle Erstarrung durchdrungen vom herannahenden Dröhnen von Hubschrauberrotoren. Und dann sah er ihn hoch über dem Innenhof schweben, scheinbar um die Lage zu sondieren.

Verstärkung war da. Endlich.

Wenige Momente später waren aus Richtung Hofeinfahrt mehrere Polizeisirenen, gebrüllte Kommandos und das Bersten von Türen zu hören. Der Sturm auf das Gebäude hatte begonnen.

Nun hielt ihn nichts mehr in der Deckung. Endlich konnte er sich um die medizinische Versorgung seines verblutenden Kollegen kümmern. Er quälte sich auf die Beine, humpelte dem funkenden Beamten entgegen und schrie aus Leibeskräften:

„Notarzt, wir brauchen sofort einen Notarzt".

Zeitgleich mit dem Knall des Schusses schlug die Kugel von hinten in seinen rechten Oberschenkel ein. Er taumelte, verlor das Gleichgewicht und stürzte rückwärts zu Boden. Keine fünf Schritte weit war er gekommen. Sein Kopf schlug hart auf das Betonpflaster.

Dunkelheit.

Dass wenige Sekunden später mehrere Rauchbomben in geringer Entfernung detonierten, hatte er nicht mehr mitbekommen. Auch nicht, dass schwer bewaffnete Polizeikräfte mit Schutzschilden in den Hof einrückten, um ihn und seine Kollegen durch Rauch und Metall geschützt aus dem Innenhof zu bergen. Die Einsatzkräfte drangen systematisch von der Straßenseite her in das Gebäude. Es galt mindestens einen der Attentäter lebend zu fassen, um jeden Preis.

Deren Flucht war jedoch genauso gut vorbereitet wie der Angriff. Das Gebäude war leer. Nicht einer der Verbrecher konnte gefasst werden. Spuren der Tat, die Rückschlüsse auf die Täter liefern konnten, waren nicht zu finden.

Nebel

Du kalter Hauch einer bedrohlichen Zeit,

füllst den Raum weit und breit mit Unsicherheit,

Legst dich auf Vertrautes, Bewusstes und Gewusstes.

Was schert dich der längst erbrachte Beweis,

wenn du alles umhüllst in einem Gefängnis aus Weiß,

in dem bei manchem verwundeten Geist

die Energie zum Leben versiegt

und er einem irrenden Kompass gleich

vermeint sich im Kreis zu dreh´n

bis ans Ende der Zeit.

Gebrochen

Nach zwei Wochen hatte sein Lebenswille die Schwäche besiegt. Diese hatte von seinem Geist Besitz ergriffen und ihm vorgegaukelt, wie einfach es wäre loszulassen, sein verkorkstes Leben zu beenden. Die Nacht um ihn wurde allmählich durchzogen von hellen Nebelschwaden, in denen schemenhaft Bilder auftauchten von schrecklichen Erinnerungen, vor denen er sich fürchtete.

Grellrote Blutlachen auf verschmutztem Boden. Reglos liegende Körper in Uniformen. Von seinem Handgelenk tropfendes Blut, ganz nah vor seinen weit aufgerissenen Augen. Dunkel drohende Fensteröffnungen, graues Blech von Metalltonnen ringsum, finster vorbeischwebende Schatten unter spiegelglattem Wasser.

Angst, die sich zu Panik steigerte und ihm den Schweiß aus allen Poren trieb. Hin und her wälzte er sich auf dem Bettlaken, das schon wieder völlig durchnässt war. Und immer dieses Rauschen, das zu einem dumpfen Dröhnen anschwoll.

Undeutlich und noch weit entfernt vernahm er eine ihm unbekannte Stimme: „Das ist jetzt schon sein dritter Versuch aufzuwachen. Irgendwas hält ihn zurück.“

Diese vertrauenerweckende Stimme war es, die ihn zurückführte ins Leben. Sie war einer Richtschnur gleich hinterlegt von seinem Schicksal, dass für ihn einen anderen Weg vorsah, als sich dem dunklen Tunnel zuzuwenden, an dessen Ende helles Licht Erlösung versprach.

Es war, als spürte er die Fasern der Schnur zwischen seinen Fingern, erahnte seine leuchtend rote Farbe, spürte das leichte Ziehen, das damit verbundene Vorgeben der Richtung hin zum Ziel seiner nun schon zwei Wochen dauernden Reise durch die Dunkelheit der Zwischenwelt.

Nun rief eine warme, angenehme Stimme seinen Namen. Von weit her und anfangs sehr leise – kaum vernehmbar hörte er ihren vertrauten Klang. Das Rauschen ebbte allmählich ab und so konnte er sie immer deutlicher vernehmen:

„Gabriel, Gabriel, Gabriel…“

Nun war sie ganz nah, er spürte die Wärme des Atems an seiner Wange. Einen Moment, bevor er sie am Klang erkannte, dämmerte er wieder weg in das Grau der Bewusstlosigkeit.

Fünf weitere Anläufe brauchte er, um nach weiteren zwei Tagen die Augen etwas zu öffnen und den ihn ständig bedrohenden Trugbildern und seelischen Schmerzen für einen Moment zu entkommen. Es war eine Flucht, die ihm sein erstarkter Geist heraus aus der wirren Welt der ihn quälenden Albträume ermöglichte.

Mildes weißes Licht strahlte durch den Spalt seiner Augenlider. Eine Wohltat nach Tagen des Ausgeliefertseins im dunklen Gefängnis der Abgründe seiner schwer verletzten Seele.

Oktobersonnenstrahlen, die freundlich durch das Fenster schienen, ließen den weißen Kittel des direkt vor seinem Bett stehenden Arztes wie das Federkleid eines Engels erstrahlen. Oh Gott, nein, noch nicht, schoss es durch das sich allmählich entwirrende Knäuel seiner Gedanken.

Zwei Tage später war er wieder voll ansprechbar. Dr. Bornholm erzählte ihm, dass er bereits mehrfach Besuch gehabt hatte. Auch von seiner Frau und einem seiner Kinder. Seiner Ex-Frau korrigierte er ihn mit noch sehr matter Stimme. Bei der Bezeichnung Kind musste er lächeln, da alle drei schon über zwanzig Jahre alt waren. Die Frage, welches der Kinder ihn besucht hatte, konnte er sich sparen. Mit Sicherheit war es Marie. Sie hatte aufgrund ihrer ausgeprägten sozialen Ader und ihrem fürsorglichen Wesen den Beruf der Krankenschwester gewählt.

Seine erste, mühsam hervorgebrachte Frage galt seinen Kollegen. Da sowohl der Arzt als auch später die Pflegerinnen nicht darauf eingingen und stets ausweichend antworteten, befürchtete er Schlimmes.

Am Samstag bekam er Besuch von Sarah und Marie. Die beiden anderen Kinder ließen Grüße ausrichten, konnten jedoch nicht selbst vorbeikommen. Frank war im Urlaub im Ausland, Barbara hinderten berufliche Verpflichtungen.

Als er, noch leicht von Schlaf- und Schmerzmitteln betäubt, Sarah auf sein Krankenbett zukommen sah, wähnte er sich als Sultan auf einem Diwan liegend in einem Märchen aus „Tausend und einer Nacht“. Die schönste Frau des persischen Königreichs zum Greifen nah. Wie attraktiv sie doch war. Mit ihren dunklen Haaren, großen Augen, wunderschön geformten Wangenknochen und der guten Figur entsprach sie genau seinem Ideal von weiblicher Schönheit.

Ihr sorgenvoller Blick machte ihm bewusst, wie mitgenommen er aussehen musste. Marie drängte sich an ihr vorbei und beugte sich zu ihm runter, um ihn vorsichtig zu umarmen.

„Hi Dad, du machst ja Sachen.“

Das tiefe Mitgefühl und die echte Besorgnis der beiden freute ihn sehr. Es war das erste positive Gefühl seit seinem Erwachen aus der Bewusstlosigkeit.

Drei Jahre lebten sie nun getrennt Sarah und er. Neunundzwanzig Jahre hatten sie sich gemeinsam durchs Leben gekämpft. Trotz seiner unregelmäßigen Arbeitszeiten und den vielen sich daraus ergebenden Problemen, insbesondere bei der Erziehung der Kinder, aber auch dem extrem eingeschränkten privaten und intimen Miteinander. Dann, als die Kinder groß und bis auf Marie aus dem Haus waren, passierte das, was er niemals erwartet hätte.

Der elterlichen Pflichten nahezu entledigt, konnte und wollte Sarah sich nicht weiter wertvolle Jahre der restlichen Lebenszeit vom Dienstplan und der Dienstauffassung ihres Mannes diktieren lassen. Ihr jahrelang immer wieder hinausgeschobener Wunsch, eine geordnete Freizeit nach eigenen Wünschen gestalten zu können, war für sie nun unaufschiebbar. Sie wollte die sehnlichst erwartete Lebensspanne zwischen noch „fit und aktiv“ und später „krank und zu alt“ bewusst und intensiv erleben. Spontane Unternehmungen von jetzt auf gleich frei nach ihrer jeweiligen Gemütslage in ihr Leben streuen können.

Ihm war zu dem Zeitpunkt der Ernst der Lage nicht bewusst gewesen. Zumindest nicht in der eigentlich gebotenen Deutlichkeit. Was sollte er denn machen? Für die Rente war er mit seinen damals 53 Jahren zu jung. Ein Schreibtischjob mit geregelten Arbeitszeiten zu eintönig. Er brauchte die Abwechslung, die Herausforderung, die Unvorhersehbarkeit. Dass Sarah lange aufgeschobene Ansprüche an die gemeinsam zu verbringende Zeit haben könnte, kam ihm auch nicht ansatzweise in den Sinn. Der beiderseitige Stolz erledigte den Rest. Keiner wollte zugunsten des anderen von seiner Position abrücken. Das hatte Sarah schon viel zu oft getan. Er hätte ihren Auszug vorhersehen müssen. Erkennen müssen, wie ernst es ihr war. Zumal er wusste, wie konsequent sie sein konnte.

Einige seiner Kollegen hatten ihn gestern an seinem Krankenbett besucht. Er verspürte echte Freude, als die Zimmertür nach lautem gemeinschaftlichen Klopfen aufsprang und ganz vorne sein Lieblingskollege Fred im Rollstuhl mit breitem Lachen auf ihn zugerollt kam. Mit gehörigem Rumpeln krachte das für ihn noch ungewohnte Gefährt an das Krankenbett. Ihm folgten fünf Kollegen, die ihn mit guten Wünschen und Fragen bestürmten. Als er sich bei einer kurzen Gesprächspause nach dem Befinden der noch am Einsatz beteiligten Kollegen erkundigte, war jedem von ihnen die Betroffenheit deutlich anzumerken.

Theresa war dann diejenige, die anfangs stockend und zögerlich das ganze Ausmaß des in einer Katastrophe geendeten Einsatzes schilderte.

Birgit, eine junge, noch relativ unerfahrene Kollegin, hat den heimtückischen Hinterhalt nicht überlebt. Die Schussverletzungen am Hals und am Kopf wären auch bei sofortiger Versorgung tödlich gewesen. Eine zweite Polizistin wurde knapp neben der Schutzweste so unglücklich an der Schulter getroffen, dass sie ihren rechten Arm nurmehr sehr eingeschränkt würde bewegen können. Damit wird sie den aktiven Polizeidienst, für den sie sich mit großem Enthusiasmus beworben hatte, nicht mehr ausüben können. Die beiden waren wegen ihrer noch geringen Erfahrung am Ende ihres Trupps eingeteilt gewesen. Gegen die tückischen Schüsse aus dem Hinterhalt hatten sie keine Chance.

Ganz schlimm hatte es auch Martin erwischt. Er wurde frontal von mehreren Projektilen getroffen. Eines traf die Schussweste genau über dem Herzen. Die Ärzte vermuten, dass der harte und unvermittelte Schlag einen Herzstillstand verursacht hatte. Scheinbar ist das Organ dann wieder von selbst angesprungen. Der Zeitpunkt ließ sich nicht exakt rekonstruieren. Spätestens passierte es, als er ihn gemeinsam mit Fritz in die Deckung gezogen hatte. Der Atemstillstand und die damit einhergehende Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff hatten bewirkt, dass er im Krankenhaus auch nach mehrstündiger Behandlung nicht aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht ist. Um ihn zu stabilisieren, wurde er in ein künstliches Koma versetzt, das immer noch aufrechterhalten werden musste.

Die Kollegen verschonten ihn mit Informationen zu den Verlusten an den anderen Einsatzorten.

Fred versuchte zum Schluss noch mit ein paar lustigen und aufmunternd gemeinten Sprüchen die Stimmung zu verbessern. Gelungen war es ihm nicht. So verabschiedete man sich in gedrückter Stimmung mit dem Versprechen auf eine baldige Wiederholung des Besuches.

Dies tat jedoch als einziger sein Freund und Zimmernachbar. Er war auf der gleichen Station nur zwei Räume weiter untergebracht.

Gleich am nächsten Tag rollte er wieder zur Tür rein. Gabriel war jedoch bei einem Röntgentermin. Auch anderntags hatte er ihn nicht angetroffen.

Erst drei Tage später konnten sie sich wiedersehen. Bei dem Gespräch ging es in sehr pessimistischer Stimmung um die verstorbene junge Kollegin und Martin, dessen schlechter Zustand unverändert anhielt. Dann sprachen beide beinahe zeitgleich die Phase der Einsatzvorbereitung an. Scheinbar kreisten auch bei Fred die Gedanken unablässig um dieses Thema. Fragen, die sicher ebenso alle anderen Kollegen beschäftigten, obwohl keiner bei dem Krankenbesuch davon gesprochen hatte. Es musste ein Leck in der Abteilung geben, da detaillierte Informationen aus der Einsatzplanung an den Clan gelangten.

Wer war das? Und warum wurde mit dieser brutalen Gewalt zugeschlagen, auf Polizisten geschossen und wohlweislich in Kauf genommen, dass Beamte ihr Leben verlieren?

Die gescheiterten Einsätze hatten ein enormes Echo in der Öffentlichkeit ausgelöst. Die Titelseiten nicht nur der Lokalblätter waren damit gefüllt. Nach dem ersten von der medialen Berichterstattung verstärkten Aufschrei wurde nun immer massiver gefordert, mit kompromissloser Härte gegen die organisierte Kriminalität vorzugehen. Der öffentliche Druck auf den Hamburger Innenminister, die Polizeiführung, das Bundeskriminalamt bis hoch zur Bundesregierung verstärkte sich. Die konzertierte Polizeiaktion, die die Öffentlichkeit hätte beruhigen sollen, hatte das genaue Gegenteil bewirkt.

Allmählich verheilten seine körperlichen Wunden, die schwere Verletzung der Psyche jedoch blieb nicht nur. Nein. Es schien, als ob sich seine mentale Verfassung von Tag zu Tag verschlimmern würde.

Immer mehr zog er sich bei Freds täglichen Besuchen in sich zurück. Starr vor sich hinblickend, hörte er ihm nur noch zu, brachte sich aber selber in die Unterhaltung nicht mehr mit ein. Auf Anraten der Ärzte blieb der Kollege fortan seinem Zimmer fern.

In der fünften Woche seines Krankenhausaufenthaltes hatte sich sein körperlicher Zustand so weit verbessert, dass er entlassen werden konnte. Die äußeren Wunden waren vernarbt, die Fäden gezogen.

Um seinen seelischen Zustand war es ganz anders bestellt. Da er nachts weiterhin von Albträumen geplagt wurde und weder Ruhe noch Schlaf fand, verschlechterte sich seine mentale Verfassung immer mehr. Die verordneten Schlaf- und Beruhigungsmittel machten ihn apathisch und ließen weder Kraft noch Willen aufkommen, gegen die Dämonen in seinem Kopf anzukämpfen. Auch der von den Ärzten hinzugezogene Polizeipsychologe konnte die Wende ins Positive nicht bewirken.

Gabriels Selbstsicherheit, sein Stolz, seine Zuversicht und positive Einstellung zum Leben lagen schwer getroffen, tief verunsichert und zu keinerlei Regung fähig am Boden.

Immer wieder stellte er sich die gleichen Fragen, die insbesondere mit seiner Berufswahl zu tun hatten.

Wieso dieser Job? Warum dieser Berufsweg? Warum nicht in irgendeinem Büro sitzen und gelangweilt zum Fenster rausschauen oder an irgendeiner Werkbank stehen und routiniert verschlissene Bauteile tauschen?

Warum ein Job mit „Lebensgefahr inklusive“? Der monatliche Verdienst war beileibe keine ausreichende Gegenleistung für die Gefahr, der sie immer wieder ausgesetzt waren. Auch das gestörte, manchmal zerstörte Privatleben gehörte zum Beruf, wie auch die Tatsache, dass es hierfür keinen Ausgleich und keine Entschädigung gab. Und dann diese Jahr für Jahr stärker spürbare Ablehnung gegenüber der Uniform in immer weiter anwachsenden Teilen der Bevölkerung, die auch vor tätlichen Angriffen auf die Beamten nicht Halt machte. Der Respekt vor der Ordnungskraft war einem Gefühl von Beschneidung der persönlichen Freiheit gewichen. Im herrschenden Zeitgeist wollte heutzutage niemand mehr von einer übergeordneten Instanz gesagt bekommen, was er zu tun oder zu lassen hatte.

Dabei waren sie die Garanten für ein sicheres Leben und mussten dafür mit Ihrer Uniform einstehen. Und wenn es gefährlich wurde auch mit ihrem Leben. Ist denn niemandem mehr bewusst, dass es einer funktionierenden Kontrollinstanz bedarf, die mit misstrauischem Auge über sich breitmachende Fehlentwicklungen in der Gesellschaft wacht? Krebsgeschwüren gleich, die es um größeren Schaden zu vermeiden, rechtzeitig zu erkennen und zu beseitigen galt?

Bestand die Gefahr von Anarchie in Deutschland? Sicher nicht. Noch ist diese weit entfernt, aber die Zellteilung hat schon begonnen.

Würde er seine Motivation wiederfinden, um trotz alledem weiter in seinem Beruf arbeiten zu können? Er stellte alles in Frage.

Da nicht zu erwarten war, dass eine weitere Verlängerung der stationären Unterbringung zu einer Verbesserung seiner seelischen Verfassung führen würde, entließ man ihn mit Beginn der sechsten Woche aus dem Krankenhaus. Die Einweisung in eine psychotherapeutische Klinik wurde nachdrücklich angeraten.

Hiermit war Gabriel keinesfalls einverstanden. Bisher hatte er alle Schwierigkeiten selbst ohne fremde Hilfe bewältigt. Trotz seines völlig desolaten Zustandes wollte er keine Schwäche zeigen. Er fürchtete die Blamage des Scheiterns. Sein Stolz konnte und wollte nicht akzeptieren, vor den Augen der Kollegen, Freunde und der Öffentlichkeit eingestehen zu müssen, nicht ohne fremde Hilfe ins normale Leben zurückfinden zu können.

Die sporadischen Besuche der Kinder und seiner Ex-Frau bei ihm zu Hause taten ihm gut. Leider konnte er ihnen dies nicht zeigen. Wortkarg vor sich hinstarrend, saß er mit ihnen die Zeit ab, ohne ihnen das Gefühl des Willkommenseins geben zu können. Alles, was sonst im Leben wichtig war, hatte schon längst keinerlei Bedeutung mehr für ihn. Nun musste er auch erkennen, dass seine Familie sein letzter, sein einziger Halt war. Sein Strohhalm in der aufgewühlten See seines Lebens. Die Familie wusste von Ärzten und Psychologen, dass es nicht gut um ihn stand. Dass sie Geduld haben müssten und es in dieser Phase das Wichtigste war, Zeit mit dem Patienten zu verbringen. Die beste Medizin für ihn war Gesellschaft. Mit jeder Stunde „für ihn da sein“ konnte man ihm mit liebevoller und geduldiger Zuwendung helfen, seine verkrampfte, in sich selbst gefangene Seele ein kleines bisschen mehr zu befreien.

Nach drei Wochen war es dann so weit. Er musste sich eingestehen, dass er seinen Weg im stetig dichter werdenden Nebel verloren hatte, er orientierungslos umherstolperte und die Gefahr abzustürzen lebensbedrohlich war.

Es kostete ihn große Überwindung, zum Einkaufen vor die Tür zu gehen. Die Furcht vor dem draußen ließ ihn sich immer länger einigeln in den schützenden Wänden seiner Wohnung.

Zudem war er unfähig, sie zu sehen, die positiven Momente, die jeder Tag für ihn auch jetzt noch bereithielt. Sie drangen nicht mehr in sein Bewusstsein. Der graue, schwere Vorhang vor seinen Augen filterte alles Erfreuende aus seinem Leben. Schlussendlich hatte er es nur seinem sich aufbäumenden Selbsterhaltungstrieb zu verdanken, dass er erkannte, wie und wo dieser Weg enden würde.

Er musste raus aus seinem Gefängnis. Er wusste, dass er dafür alle ihm noch zur Verfügung stehende Kraft brauchen würde. Es ging um nichts anderes als um sein Leben, sein Überleben. Hier in seinem Zimmer würde er elendiglich zugrunde gehen.

Sein Weg musste daher zu Menschen führen. Auf die Straße, in die Geschäfte und auch wieder zu seinen Kollegen an den Arbeitsplatz.

So griff er nach stundenlangem Grübeln und Hin- und Hergerissensein mit dem Mut der Verzweiflung zum Telefon, um sich bei seinem Chef für den nächsten Morgen an den Arbeitsplatz zurückzumelden.

Rücksichtslos riss ihn der Wecker mit dröhnender Lautstärke aus einem Albtraum. Er lag kraftlos in seinem zerwühlten Bett. Es dauerte eine Weile, bis ihm mit Schrecken bewusst wurde, dass er vor wenigen Stunden seine Rückkehr an den Arbeitsplatz angekündigt hatte. Die Angst vor der übermächtig erscheinenden Aufgabe lähmte ihn. Er fühlte sich unwohl und schwach. Ohne Frühstück quälte er sich in Hemd und Hose. Bei der Fahrt zur Dienststelle steigerte sich seine Übelkeit mit jedem Kilometer.

Schon das Betreten des Gebäudes kostete ihn mehr Kraft, als er zu besitzen schien. In den auf ihn gerichteten Blicken glaubte er Mitleid für ihn und seine gescheiterte Existenz zu erkennen.

Die aufmunternden Worte aus dem Kreis seiner engsten Kollegen taten ihm gut, zeigten jedoch auch, wie sehr sie glaubten, dass er diese Motivation brauchte.

Er riss sich zusammen. Benötigte seine volle Konzentration, um den weinerlichen Gesichtsausdruck der letzten Wochen durch eine möglichst regungslose Mimik zu überdecken.

Am Schreibtisch angelangt, ließ er sich völlig erschöpft auf seinen Bürostuhl fallen. Wie betäubt und zu keinem klaren Gedanken fähig, starrte er vor sich hin.

Wie sollte er das nur schaffen?

Sein Kollege Manfred war beim Zahnarzt. Mit ihm teilte er sich das Büro. So hatte er zumindest die ersten zwei Stunden eine Schutzzone für sich allein.

Bei jedem Telefonanruf schreckte er hoch. Er nahm mit ungutem Gefühl den Hörer ab und meldete sich mit einer Stimme, die den Anrufer nachfragen ließ, wer denn am Telefon sei.

Einfachste Themen türmten sich zu Problemen auf, die unlösbar schienen. Aus Unsicherheit und Angst ließ er das Telefon stets länger läuten. Und einer selbsterfüllenden Prophezeiung gleich erschienen ihm die an ihn herangetragenen Themen fortwährend schlimmer, immer unlösbarer. Er sah sich völlig außerstande, auch nur den unbedeutendsten der notierten Punkte zu bearbeiten. Wie sollte das auch funktionieren, wenn er zu keiner Kontaktaufnahme fähig war?

Als Manfred gegen 11:00 Uhr kam und ihn freudig begrüßte, besserte sich allmählich sein Zustand. Dessen Beschreibung der sehr schmerzhaften Zahnbehandlung brachte ihn auf andere Gedanken.

Um 15:00 Uhr war er zur Lagebesprechung der Sonderkommission „Backfire“ eingeladen. Manfred musste schon vorher in den Besprechungsraum im Untergeschoß, um noch einen Punkt in der Präsentation des Chefs zu ergänzen.

Wieder allein im Büro fühlte er die Wände immer näher an sich heranrücken. Der Druck in seiner Brust verstärkte sich. Etwas schnürte ihm den Hals zu. Der Weg zum Besprechungszimmer glich einem Spießrutenlauf, auf dem seine Ängste gnadenlos auf ihn einschlugen.

Zehn Minuten verspätet betrat er von hinten kommend und möglichst leise und unauffällig den Raum. Der Leiter stand vorne und hatte bereits mit seinem Vortrag begonnen. Scheinbar erörterte er für die jüngeren Beamten die ersten Auswüchse der organisierten Kriminalität in Hamburg:

„ … im Oktober 1982 eskalierte der Streit der Ehefrau eines Bandenführers mit einer Prostituierten auf dem Kontakthof des Eroscenters derart, dass sie sich nicht nur in die Haare kriegten, sondern sich sogar mit den Fäusten bearbeiteten.

Dies brachte die beiden bis dahin weitgehend einvernehmlich nebeneinander arbeitenden Zuhältergruppen, die „GMBH“ und den sogenannten „Nutella-Clan“ ziemlich in Rage.

Bis dahin war es üblich, solche Auseinandersetzungen auf prügelnde Weise auszutragen. Für diese Zwecke hatten die Nutella-Jungs den ehemaligen Kampfsportler und Boxer Thomas B., genannt Karate-Tommy, als „Stressmanager“ von der GmbH abgeworben.

Mit dem Ziel, hier ein Exempel zu statuieren, ist der mit zwei weiteren Bandenmitgliedern, dem SS-Klaus und „Angie-Jürgen“ B. in den Nachtklub Bel Ami marschiert.

Doch die drei wurden bereits erwartet. Das Empfangskomitee war gut vorbereitet und hatte sich Schusswaffen organisiert. Tödlich getroffen brachen seine beiden Begleiter zusammen. Thomas B. konnte sich verletzt über ein Toilettenfenster in Sicherheit bringen und damit sein Leben retten.

Das rief die Polizei auf den Plan. Es kam zu einer Großrazzia in den Bordellen der Nutella-Bande, in deren Folge fünf Mitglieder wegen „Förderung der Prostitution“ verhaftet wurden.

Die Aktivitäten der damals neu gegründeten Ermittlungsgruppe gegen die Organisierte Kriminalität (OK) des Landeskriminalamtes Hamburg leiteten das Ende dieser Bande ein.

Das Rotlichtmilieu in Hamburg war im Umbruch. Aufgrund der zunehmenden Angst vor Aids gingen immer weniger Männer zu Prostituierten. Man brauchte eine andere Einnahmequelle. Das war genau der Zeitpunkt, an dem sie die Bühne betrat, die „weiße Lady“. Kokain avancierte nun zur neuen Haupteinnahmequelle der Unterwelt.

Die Kämpfe auf dem Kiez wurden nun nicht mehr mit Fäusten, sondern mit Schusswaffen ausgetragen.

Geführt von Männern ohne Skrupel. Jemanden wie Werner P., der für seinen Auftraggeber, den Österreicher Peter N. Auftragsmorde in Serie durchführte.

Auf der anderen Seite des Gesetzes kämpfte der 40-jährige Staatsanwalt Wolfgang Bistry für Recht und Ordnung.

Mutig, zupackend und risikobereit stellte er sich der immer besser organisierten Kriminalität entgegen. Sein oberstes Ziel war, den „Kiez-Killer“ zu erwischen. Aufgrund der an den Tatorten gefundenen Munition aus seiner sehr speziellen Tatwaffe konnten ihm eine Vielzahl von Gewaltverbrechen zugeordnet werden.

Mitte April 1986 war es so weit. Sie hatten einen Milieu-Insider zum Auspacken gebracht. Nun hatten sie die Beweise, um den Kiez-Killer dingfest zu machen. Sie holten ihn mit einem Trick aus seiner Wohnung und nahmen in fest.

Dann, am 29. Juli 1986, passierte das Unfassbare. Schüsse peitschten durch den 4. Stock des Hamburger Polizeipräsidiums. Bei der Vernehmung durch Staatsanwalt Bistry, in der Werner P. eigentlich „auspacken“ und Auftraggeber und Hintermänner nennen wollte, geschah das Unfassbare. Der Anwalt sah zu spät, dass dieser plötzlich einen Revolver in der Hand hielt und auf ihn anlegte.

Von einem Kopfschuss lebensgefährlich getroffen brach er zusammen. Zwei anwesende Polizisten konnten sich gerade noch rechtzeitig außerhalb des Vernehmungszimmers in Sicherheit bringen und damit ihr Leben retten. Werner P. hatte seinen Abgang minutiös geplant. Unterstützt von Verteidigerin und Ehefrau, die er beide mit in den Tod nahm, nutzte er die Vernehmung für seinen letzten großen und gewalttätigen Auftritt …

Diese Tat zog damals weite Kreise. So mussten die ohnehin schon angeschlagenen SPD- Senatoren für Inneres und Justiz ihren Hut nehmen und zurücktreten. Die anschließenden Wahlen gingen für die regierende SPD verloren. Obwohl sie vor den Taten des Werner P. noch als klarer Favorit galt.

Damit schließt sich der Kreis. In einer ähnlichen Situation befinden wir uns heute. Wir brauchen dringend einen Fahndungserfolg, betonte der Leiter mit Nachdruck. Wie ihr wisst, stehen im Februar nächsten Jahres Bürgerschaftswahlen an. Unsere Ermittlungen sind bisher ins Leere gelaufen. Wir konnten zwar einen serbischen Gewaltverbrecher festnehmen, der durch Zufall von einem mitfahrenden Zivilfahnder im Zug erkannt wurde. Nur gibt es bis heute keinen Beweis, dass dieser bei den Angriffen beteiligt war.

Alle anderen Clan-Mitglieder, die für die Tat infrage kommen, haben wasserdichte Alibis …“

Ab hier konnte er dem Vortrag nicht mehr folgen. Seine Konzentration und Aufnahmefähigkeit wurde von wirren und angsterfüllten Gedanken blockiert. Seine Hoffnung auf baldige Besserung war eng geknüpft an die Erwartung des schnellen Fahndungserfolges. Die Täter zu kennen und deren Verurteilung miterleben zu können, würde ihn wieder stark machen. Sein tief verletztes Selbstwertgefühl aufbauen. Diese Hoffnung war nun dahin. Und in seinem Zustand konnte er nichts dazu beitragen, das zu ändern.

Die bösen Geister des Selbstzweifels nahmen nun vollkommen von ihm Besitz. Angstschweiß bildete sich auf Stirn und Rücken. Er glaubte, die Situation nicht länger ertragen zu können.

Die Besprechung dauerte bis 17:30 Uhr. Er verließ sie als erster.

Bis in den frühen Abend blieb er an seinem Schreibtisch sitzen. Er wollte ein Zusammentreffen mit anderen vermeiden.

Erst als sich das Gebäude geleert hatte, sah er sich in der Lage, seine Sachen zusammenzupacken, um nach Hause zu fahren.

Dort saß er mit vollkommen leerem Kopf zwei Stunden bewegungslos auf der Couch und starrte die gegenüberliegende Wand an. Bei dem Gedanken, morgen wieder zum Dienst fahren zu müssen, stieg blanke Panik in ihm auf.

Um 23:00 Uhr war er dann so weit. Er gestand sich ein, dass er sich auf keinen Fall selbst aus dieser für ihn ausweglosen Situation befreien konnte.

Er hatte verstanden und nun auch akzeptiert. Den wohl wichtigsten Kampf in seinem Leben konnte er ohne fremde Hilfe nicht bestehen. Die Erleichterung über die getroffene Entscheidung ließ ihn einschlafen. Er erwachte, bevor der Wecker lostönte und konnte sich an keinen Albtraum erinnern. Gegen halb acht griff er zum Telefon und rief seinen Chef an. Er schilderte offen seinen Zustand und kündigte seine längere Abwesenheit an, in der er sich in psychotherapeutische Behandlung begeben wollte.

Anschließend informierte er seine Familie.

Gefängnis

Wenn kalte Mauern

ganz nah an dich rücken

und du dich nackt und schutzlos fühlst

und ausgeliefert zugleich,

dann haben die Gedanken jegliche Klarheit verloren,

die Phantasie ist betäubt von Hoffnungslosigkeit.

Wer soll bemerken den Schlitz an der Decke,

wo warmes Sonnenlicht einströmt

schon die ganze Zeit?

Das dich sucht, um dir Hoffnung zu schenken,

um deine Augen zu lenken

heraus aus dem schier endlosen Kreis.

Wurzelkraft

„Und … haben Sie den Zustand, in dem Sie sich befinden, schon einmal erlebt?“

Da sein Gegenüber nicht antwortete, sondern reaktionslos vor sich ins Leere blickte, sprach er weiter.

“Oder hatten Sie noch nie seelische Erschöpfungszustände, eine Depression, Burnout oder wie auch immer wir diese psychischen Krisen benennen wollen, die uns völlig aus der Bahn werfen können?“

Keine Antwort.

„Die uns zweifeln lassen, oftmals auch verzweifeln. Uns schonungslos vor Augen führen, dass wir an einem Punkt angelangt sind, an dem es nicht mehr weitergeht.“

Stille.

Die sich unangenehm in die Länge ziehende Gesprächspause unterbrach Dr. Unrecht nun nicht mehr. Er wartete in der Hoffnung, dass von seinem Gegenüber doch noch eine Antwort kommt. Dieser wirkte auf ihn wie eine seelenlose Hülle, wie ein leerer Kokon, den der prächtige Schmetterling schon lange verlassen hatte. Er schaute seinem Patienten aufmerksam ins Gesicht. Erkannte, dass dieser dem Weinen nahe war. Dass sich sein Denken festgefahren hatte und er daher zu keiner Erwiderung fähig war. Er suchte Kontakt zu seinen Augen, deren Blick sich irgendwo in der Mitte des Raumes verlor.

Dieser erste Gesprächsversuch war der Auftakt der vorerst auf zwei Monate angesetzten psychotherapeutischen Behandlung in der Göttinger Spezialklinik. Hier widmete man sich intensiv der Heilung von psychischen Erkrankungen in Zusammenhang mit Angst. Sowohl der Polizeipsychologe als auch sein Chef hatten ihm geraten, hierher zu gehen.

Eile war geboten. Bereits am Montag, den 15.12.2014, wurde er erwartet. Anderntags um neun Uhr war er zu diesem Eröffnungsgespräch bei Dr. Unrecht, dem stellvertretenden Leiter der psychologischen Abteilung eingeladen.

Da er weiterhin nichts erwidern konnte, nahm der Arzt das Gespräch wieder auf.

„Nach dem mir vorliegenden Befund begründet sich Ihre psychische Erkrankung auf ein schockartiges Erlebnis, das extreme Geisteszustände ausgelöst hat. Angst zu empfinden ist eine überlebensnotwendige Fähigkeit unserer Psyche. Sicherlich hat sie auch Ihnen, insbesondere in Ihrem Beruf als Kriminalbeamter schon einige Male dabei geholfen, vor Verletzungen oder Schlimmerem verschont zu bleiben.

Ohne sie wären wir Menschen schon zu Zeiten des Neandertalers ausgestorben. Dieses gewisse, dieses gesunde Maß an Furcht lässt uns Gefahren rechtzeitig erkennen und vermeiden. Nimmt sie jedoch überhand, ist sie nicht mehr hilfreich, sondern schädigend. Sie gewinnt Einfluss auf Alltag und Beruf, indem sie normale Situationen durch Attacken stört oder wie aus dem Nichts albtraumhafte Bilder erzeugt, die das Denken überfallartig in Besitz nehmen.

Übertriebene Angst ist eine der häufigsten seelischen Erkrankungen. Rund 15 % der Deutschen leiden darunter.

Diese krankhaften Veränderungen werden jedoch nur bei jedem zweiten Betroffenen erkannt und behandelt“.

Hier machte Dr. Unrecht eine Pause, um dann auf Gabriels ganz spezielle Erkrankung einzugehen.

„In Ihrem Fall war der Auslöser das traumatische Erlebnis in diesem Nachtklub. Die lebensbedrohliche Situation hat Ihre Psyche vollständig aus der Bahn geworfen. Akute Todesgefahr ist ein derart aufwühlendes Erlebnis, dass manche Jahre brauchen, um sich daraus so weit zu befreien, wieder ein einigermaßen normales Leben führen zu können.

Wir behandeln hier viele Bundeswehrkräfte, die aus Krisengebieten mit ähnlichem Trauma heimkehren.

Ich denke, bei Ihnen ist die erlebte Hilflosigkeit insbesondere das „nicht helfen können“ hauptverantwortlich für die Schwere der Erkrankung. Kollegen in ihrem Blut liegen zu sehen und nichts für deren Rettung tun zu können, würde die stärkste Psyche aus dem Gleichgewicht bringen. Diese Machtlosigkeit nagt am Zutrauen auf die eigene Stärke, zerstört Selbstbewusstsein und das aus der Kindheit mitgenommene Vertrauen zum Leben.

Wir haben das damals in den Medien hautnah mitbekommen. Die Kriegserklärung der Unterwelt an unsere Ordnungsmacht. Wir alle waren und sind schwer erschüttert und voller Wut auf diese sich immer mehr breitmachenden verbrecherischen Organisationen. Auch auf die zu lasche Gesetzgebung unserer Regierung, die diesem Treiben schon viel zu lange zuschaut.

Die Opfer des Einsatzes haben uns deutlich vor Augen geführt, was es in der heutigen Zeit bedeutet, Polizist zu sein. Wir haben großen Respekt vor Ihrer Arbeit.

Gut, dass Sie sich entschieden haben, dieses traumatische Erlebnis unter ärztlicher Beobachtung und Betreuung aufzuarbeiten. Eine schwere psychische Störung wie die Ihre muss zwingend von Spezialisten behandelt werden.

Aber nun noch einmal zu meiner Frage.

Um Ihr Krankheitsbild möglichst genau beurteilen zu können, müssen wir wissen, ob Sie in der Vergangenheit schon mal mit psychischen Problemen zu kämpfen hatten. Bitte überlegen Sie. Wir haben morgen ja unser zweites Gespräch. Am besten

nutzen Sie den Tag heute noch zum Kennenlernen unseres Hauses und vielleicht für einen Spaziergang, der Ihnen sicher guttun wird. Nicht weit von hier ist ein kleiner Wald. Ideal zum Walken und Joggen. So schwer es Ihnen fallen mag. Sperren Sie sich nicht im Zimmer ein. Und wenn Sie nur eine Stunde auf der Parkbank sitzen und den Krähen zuschauen. Das ist besser, als im Zimmer die Wände anzustarren. Wir sehen uns morgen um neun Uhr.“

Mit einem gequälten Lächeln verabschiedete er sich von Dr. Unrecht.

Das Gespräch hatte ihn Kraft gekostet. Immer wieder war sein fahriger Geist abgeschweift und hatte die Konzentration verloren.

Nun, auf dem Krankenhausgang musste er sich zwingen, dem inneren Drängen in sein Zimmer zu flüchten, zu widerstehen und nach draußen zu gehen.

Es war ein ungewöhnlich warmer Dezembertag. Der Schnee ließ wie jedes Jahr auf sich warten. Der Himmel war von grauen Wolken abgedeckt, was gut zu seiner trüben Stimmung passte. Seine Jacke offen schlurfte er mit gesenktem Blick an einem Parkplatz entlang in südlicher Richtung. Er vernahm Kinderstimmen. Unweit von ihm war hinter Bäumen ein Spielplatz zu erkennen. Er setzte er sich auf eine Parkbank, um dem spielerischen Treiben eine Weile zuzusehen.

Es tat gut, die munter durcheinanderrufenden Stimmen zu hören und ihre Energie und Lebensfreude zu spüren. Unwillkürlich kam ihm ein alter Song aus den 60igern in den Sinn. Es war das erste eigene Lied, das Richards und Jagger geschrieben hatten. Dafür wurden sie von ihrem Manager über Nacht in ihrer Küche eingesperrt. „As tears goes by“ passte zu diesem Moment und brachte ziemlich genau die Stimmung zum Ausdruck, die ihn seit nunmehr zwei Monaten hinderte, zu sich selbst und in sein altes Leben zurückzufinden. Es war damals eines seiner Lieblingslieder. Viele Male hatte er es auf der Gitarre begleitet und mit seinem besten Freund im Bekanntenkreis zum Besten gegeben.

Als das Lied in seinem Kopf zu spielen begann, konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten. Er wischte sie aus den Augenwinkeln, stand auf, ging weiter und traf bald auf das von Dr. Unrecht beschriebene Waldstück.

Der Weg verlor sich zwischen Bäumen. Der Lärm der Straße nahm ab, das Eckige der Häuser wich den harmonischen Formen der großen Eichen und Sträucher. Mit jedem Schritt wurde sein Geist klarer. Seine Gedanken begannen zaghaft zu fließen.

Schon erschienen erste Bilder vor seinem geistigen Auge.

Er sah sich im Behandlungszimmer bei Dr. Unrecht sitzen – hörte seine Frage nach psychischen Problemen in der Vergangenheit.

Ja, die gab es. Vor zehn oder zwölf Jahren. Jedoch mit deutlich geringeren Auswirkungen.

Sein jüngerer Bruder hatte ihm damals angeraten, umgehend einen Nervenarzt aufzusuchen. Benjamin litt schon einige Jahre an einer manisch-depressiven Erkrankung, die es ihm nicht mehr ermöglichte, seinen Beruf auszuüben. Mit noch nicht mal vierzig Lebensjahren.

Ausgerechnet er, der in der Schule immer der Beste war und auch im Beruf mit Top-Leistungen glänzte. Der sein berufsbegleitendes Studium mit einem hervorragenden Ergebnis abschloss.

Nach Gabriels Einschätzung lag dies an seinem zu perfektionistischen Wesen, das ihn zwar zu besten Noten und Zeugnissen führte, aber beruflich scheitern ließ. Stets von sich die beste, alle anderen überragende Leistung zu fordern, kostet enorm viel Kraft, die man irgendwann nicht mehr zu leisten im Stande ist. Den endgültigen Knacks gab ihm dann wohl die Erkenntnis, dass das fortwährende Bessersein einsam macht und sich das kurzzeitige Erfolgsgefühl damit nicht als dauerhaftes Glück festhalten ließ.

Gabriel hatte damals denselben Nervenarzt konsultiert wie Benjamin. Die Diagnose zeigte einen Überlastungszustand seiner Psyche.

Diese berufliche Überforderung wurde verursacht durch eine groß angelegte und äußerst wichtige Softwareumstellung im Präsidium. Man hatte ihn als Key-User ausgewählt. Seine Aufgabe war, die anwendungsbezogenen Einstellungen und teilweise auch den Prozessablauf mitzugestalten. Anschließend galt es, seine Kollegen/innen mit der Funktionalität vertraut zu machen.

Zuerst fühlte er sich geschmeichelt, weil sie ausgerechnet ihn für diese verantwortungsvolle Aufgabe ausgewählt hatten. Schon bald jedoch war er überfordert von den vielfältigen und verantwortungs-vollen Zusatzaufgaben, die damit einhergingen. Er blieb wichtigen Besprechungen fern. Verlor das Zutrauen zu sich und seinen Fähigkeiten. Sein Konzentrationsvermögen verschlechterte sich rapide. Er kam morgens deutlich früher und blieb abends ein, zwei Stunden länger. Nur in diesen ungestörten Bürozeiten sah er sich in der Lage, die unerledigten Themen des Tages abzuarbeiten. Das ging so über Wochen. Bis sich sein Zustand soweit verschlechterte, dass er die Kraft nicht mehr aufbringen konnte, seine Leere im Kopf zu überspielen und durch Mehrarbeit zu kompensieren.

Wie ein Akku, der den letzten Rest an Energie seiner Bereitschaft zu funktionieren geopfert hatte. Er wusste zu gut, dass eine restentleerte Batterie nicht mehr zu gebrauchen war und nur noch entsorgt werden konnte.

An dem Punkt musste er sich eingestehen, dass er nun ebenso am Ende war und keine Sekunde mehr weiter funktionieren würde.

Er griff zum Telefon und rief seinen Hausarzt an, um ihm mit kraftlosen Worten seinen völlig desolaten Zustand zu schildern.

Im Nachhinein hatte er diesen Moment als den Wendepunkt der Abwärtsspirale erkannt.

Der Arzt ließ ihn sofort in die Praxis kommen. Nach einem nur kurzen Gespräch schrieb er ihn für die nächsten Wochen krank. Ein paar Tage später saß er dem Nervenarzt seines Bruders gegenüber.

Mit dem richtigen Medikament und viel Bewegung an der frischen Luft war er nach nur zwei Wochen wieder so weit hergestellt, sich seine Arbeit wieder zuzutrauen. Der Spezialist hatte bei ihm akuten Serotoninmangel festgestellt.

Auch damals schon musste er auf sein Gewicht aufpassen. Mehrgewicht konzentrierte sich bei ihm immer auf den Hüften. Bei seiner sonst schlanken Figur ähnelte sein Äußeres der Silhouette einer Storchendame kurz vor der Niederkunft. Dünne Beine, schmale Schultern und um die Leibesmitte eine Wölbung, die an einen verschluckten Fußball denken ließ. Im Kampf gegen dieses unästhetische Körpermerkmal hatte er konsequent auf Schokolade verzichtet. Was ein Fehler war, da ein für die Kommunikation der Gehirnzellen wichtiger Botenstoff im Kakaogehalt dieser Leckerei enthalten ist. Und der fehlte ihm.

Ab der ersten Tablette Antidepressiva spürte er, dass wieder Energie in seinen Körper strömte.

Das morgendliche Joggen erlöste ihn aus seiner Verkrampfung. Die Zeit von sechs bis halb acht widmete er nun nicht mehr der Mehrarbeit, sondern seiner Gesundheit. Er ließ sich bewusst Zeit für diese morgendlichen Sporteinheiten.

Es war die reinste Freude, nach der relativ kurzen, an einem Bachlauf entlangführenden Laufstrecke durch eine Wiese mit hohem Gras zum Haus zurück zu schlendern. Bei jedem Schritt berührten die überreifen Samenstände sein verschwitztes Trikot, deren feiner Staub in Brusthöhe in kleinen Wölkchen zerstieb. Die aufgehende Sonne schien ihm ins Gesicht. Das muntere Vogelgezwitscher ringsum ließ ihn die Lebensfreude der Natur bis tief in sein Innerstes spüren. Jedes Mal war er wie berauscht von dem morgendlichen Erlebnis.

Damals hatte er dieses heimelige Gefühl zum ersten Mal gespürt. So als ob man nach jahrelanger Abwesenheit ins Elternhaus, dem vertrauten Ort seiner Kindheit, zurückkehrt. Er spürte die Kraft der Natur, das Energiefeld von Mutter Erde. Es veränderte ihn und leistete einen wertvollen Beitrag für seine schnelle Erholung.

Der Spruch, der ihm zufällig in diesen Tagen zu Ohren kam, war scheinbar der Schlüssel zur Lösung seiner Probleme:

„Wie der Morgen, so der Tag.“

Er kam entspannter und gelassener zur Arbeit. Der Bürotag war ruhiger, die auf ihn wartenden Aufgaben und Probleme kleiner und schon im Ansatz lösbar. Es ging aufwärts.

Mit der Zeit ging er dazu über, sich auch mit anderen Übungen wie Krafttraining und Rückengymnastik zu stärken. Verbunden mit Dehnübungen nach den Einheiten spürte er bald, wie sein Körper nicht nur kräftiger, sondern auch geschmeidiger und belastbarer wurde.

Die wohl wichtigste Rolle hatte seine Frau übernommen. Damals, als die Kinder klein waren, war ihre Liebe noch groß gewesen. Geduldig ertrug sie seinen desolaten Zustand und fand immer die richtigen Worte der Aufmunterung. Jeden Morgen lag ein Zettel neben der Brotzeitbox. Beschrieben mit liebevollen Botschaften, die ihm Motivation und Kraft für den Arbeitstag geben sollten. Er hat sie alle sorgsam aufbewahrt. Sie waren wie ein Schatz für ihn, der ihm zeigte, worauf es ankam im Leben. Liebevolle Zuwendung, vollstes Vertrauen, absolute Verlässlichkeit und insbesondere das zu schenken, wovon der moderne Mensch in all seiner Hektik viel zu wenig hat: Zeit.

Zeit, um füreinander da zu sein, und sei es nur, um still beieinander zu sitzen.

Das Medikament nahm er damals noch weitere sechs Monate. Dann war er beinahe wieder der Alte.

Der Forstweg kreuzte sich immer wieder mit anderen Fahrspuren. Während er tief in Gedanken dahinschritt, gelangte er an eine kleine Lichtung.

Was war das?

Ein schwarzer Schatten huschte durch das Geäst der großen Eiche links neben ihm.

Er blieb wie erstarrt stehen.

Dunkle Erinnerungen waren schlagartig wieder da, nahmen ihm innerhalb eines Augenblickes die vollständige Kontrolle über seinen Körper. Angstschweiß auf der Stirn. Der Nacken verkrampfte. Das Knacken eines Astes ließ ihn zusammenzucken. Sein Puls schwoll an. Ein Rauschen in seinen Ohren wurde immer lauter.

Aus dem Augenwinkel sah er ein schwarzes Etwas mit rasender Geschwindigkeit spiralförmig um den dicken Baumstamm nach unten sausen und in den am Waldboden angehäuften Laubhaufen springen, dessen Blätter nach allen Seiten durch die Luft stieben.

In wenigen, weiten Sätzen stürmte das schwarze Etwas auf ihn zu, um dann abrupt abzustoppen und ihn frech und herausfordernd anzublicken.

War seine Außenwirkung nun soweit am Boden, dass er nicht mal mehr auf ein Eichhörnchen gefährlich und Angst einflößend wirkte?

Schon wieselte das freche Tier weiter auf ihn zu, sprang auf sein rechtes Hosenbein, kletterte daran in Windeseile hoch und stoppte abrupt auf Höhe der Hüfte, um ihm wieder unvermittelt und fordernd in die Augen zu schauen.

Die kleinen Krallen waren deutlich durch den Stoff zu spüren.

Fassungslos stand er da und wusste nicht, wie ihm geschah. So klein das Wesen auch war, so selbstbewusst blitzten die Augen, so munter vibrierten die lang auslaufenden Haare an den spitzen Ohren.

Als das schwarze etwas merkte, dass es kein Futter gab, sprang der Frechdachs zu Boden und verschwand mit wehendem Schwanz im Unterholz. Das Tier hinterließ in fassungslos. Erst als sich Puls und Aufregung senkten, löste er sich aus seiner Erstarrung.

Den Rest des Tages verbrachte er im Bett. Die kleinen Kratzer an Unter- und Oberschenkel bewiesen ihm, nicht geträumt zu haben.

Anderntags um neun Uhr stand er pünktlich vor der Tür des Herrn Dr. Unrecht. Er versuchte angestrengt, sich an all das zu erinnern, was ihm gestern beim Spaziergang zu dessen Frage vom Vortag eingefallen war.

Die Sekretärin war etwas erstaunt und fragte, ob er denn ihre SMS nicht erhalten habe? Ihr Chef hatte sich für den Rest der Woche krankgemeldet. Er war am Morgen mit starken grippalen Symptomen aufgewacht und wollte vermeiden, seine Patienten anzustecken.

Das zweite Gespräch übernahm daher die Leiterin der Psychologischen Abteilung, Frau Dr. Claudia Dreyer.

Selten zuvor war er einem Menschen mit derart positiver Ausstrahlung begegnet. Sofort sprang die Ärztin vom Stuhl auf und stürmte ihm mit schulterlang wehenden blonden Haaren entgegen.

Die durch ihre Brille strahlenden Augen trafen ihn mitten in sein noch träge-schläfriges Gesicht. Überwältigt von so viel Energie brachte er nur ein gewürgtes „Guten Morgen“ hervor.

Anhand der Notizen Ihres Kollegen kam sie schnell auf die offene Frage.

Anfangs noch zögerlich und abgehakt, dann immer flüssiger, mit fester werdender Stimme, erzählte er ihr von seiner damaligen Erkrankung.

Die Ärztin machte Notizen. Nach mehreren ergänzenden Fragen stand für sie fest, dass ein konkreter Zusammenhang mit der früheren Depression nicht bestand. Das Gespräch endete nach einer Stunde.

Sie verabschiedete ihn mit dem Hinweis, dass er um dreizehn Uhr ins Behandlungszimmer eins kommen solle. Er hatte bei ihren Mitarbeitern noch ergänzende Fragen zu beantworten. Zudem standen Untersuchungen seiner körperlichen Verfassung an.

Aus den bereits vorliegenden und den neu gewonnenen Erkenntnissen würde sie und ihr Team im Laufe des morgigen Tages den Behandlungsplan erstellen. Und den würde sie mit ihm übermorgen um halb elf Uhr besprechen.

Auf dem Zimmer fiel er in seine Lethargie zurück. Kurz vor ein Uhr quälte er sich aus dem Bett und ließ, so gut er konnte die Befragungen und Untersuchungen über sich ergehen.

Der andere Morgen war schlimm. Er verbrachte den ganzen Tag im Bett. Nur kurz unterbrochen von seinen schlurfenden Besorgungsgängen zum Automaten. Der Weg in den Speisesaal war ihm versperrt. Menschenansammlungen waren ein unüberwindbares Hindernis für ihn.

Auch am Morgen darauf tat er sich schwer mit dem Aufstehen. Es war schon nach zehn Uhr, als er das Zimmer verließ. Er schaffte es nicht mehr pünktlich zu Frau Dr. Dreyer. Zehn Minuten verspätet klopfte er an ihre Tür. Sie telefonierte. Er trat erst ein, nachdem sie das Gespräch beendet hatte.

Wieder traf ihn ihre Energie mit voller Wucht. Von einem Moment auf den anderen war er wie wachgerüttelt. Ihr kräftiger Händedruck fühlte sich an wie der Stromstoß von Starthilfekabeln. Wenn, dann konnte nur sie seinen desolaten Motor wieder zum Laufen bringen.

Zuerst erklärte sie ihm die Untersuchungsergebnisse.

„Lieber Herr Landgraf, bildlich gesprochen war Ihre damalige Erkrankung ein leichter Schnupfen im Vergleich zur jetzigen lebensbedrohlichen Virusgrippe.

Genauer gesagt handelt es sich um eine posttraumatische Belastungsstörung, abgekürzt PTBS. Diese kann durch Erleiden von körperlicher Gewalt einhergehend mit einem Kontrollverlust ausgelöst werden. Solche Erlebnisse sind, je nach Intensität für das menschliche Gehirn nur schwer zu verarbeiten. Sie können auch noch Jahre nach dem Ereignis zu psychischen Erkrankungen wie Depression und Angstzuständen führen. In ungünstigen Fällen können sich daraus sogar Suchterkrankungen entwickeln.

Als Folge des ständigen Anspannungszustandes ist der Alltag belastet mit Schlafstörungen, Reizbarkeit oder Schreckhaftigkeit.

Ziel unserer Behandlung ist, die Symptome der Erkrankung weitgehend abzuschwächen, sodass Sie bei einem erfolgreichen Abschluss der Therapie vielleicht sogar wieder in Ihrem Beruf arbeiten können.

Wir werden bereits morgen mit der Behandlung beginnen. Gemeinsam mit Ihnen werden wir Lösungs- und Veränderungsstrategien im Umgang mit dem Trauma suchen. Die fehlverarbeiteten, traumatischen Erfahrungen werden wir dabei korrigieren, um damit die emotionalen Spannungszustände zu lösen.

In der anschließenden Stabilisierungsphase vermitteln wir Ihnen Fähigkeiten und Techniken, die den Umgang mit den Symptomen erleichtern und Ihnen die Kontrolle über Ihr Leben zurückgeben.

Dies alles passiert in Einzelgesprächen und, Ihr Einverständnis vorausgesetzt, in einer Gruppenpsychotherapie.

Wir werden die Behandlung zudem mit Antidepressiva unterstützen. Diese werden exakt auf Sie eingestellt.

Bedenken Sie bitte, unbehandelte Depressionen können zu tiefgreifenden Veränderungen im Gehirn und anderen Regionen des Körpers führen. Sie können ein chemisches Ungleichgewicht im Nerven-, Hormon- und Immunsystem mit massiven Auswirkungen verursachen. So kann die Lern- und Gedächtnisleistung deutlich abnehmen. Schlafstörungen kennen Sie bereits. Aber auch die Anfälligkeit für Infekte erhöht sich. Zudem können sie das Herz-Kreislauf-System beeinträchtigen. Auch das Risiko für Herzinfarkt, koronare Herzkrankheit und Schlaganfall kann sich deutlich erhöhen. Aktuelle, noch nicht veröffentlichte Forschungsergebnisse geben Grund zur Vermutung, dass sogar ein Zusammenhang zwischen Depressionen und Krebserkrankungen besteht. Das zeigt, wie wichtig es war, dass Sie sich zu dieser Behandlung entschlossen haben.

Ich gehe fest davon aus, dass sich auch bei Ihnen der Erfolg einstellen wird.

Alleine schon der Ortswechsel, die aktuell ruhige Jahreszeit und auch der gedankliche Austausch zwischen Ihnen und Ihren Mitpatienten wird viel zur Genesung Ihrer Psyche beitragen.“

Sie blickte ihm dabei intensiv in die Augen, die noch wenig Zuversicht erkennen ließen.

Sein Blick war zu Boden gerichtet, als er sagte:

„Das macht hier alles einen sehr professionellen Eindruck. Wenn ich nur ein bisschen was von Ihrer Energie abhaben könnte, um damit meine Antriebs- und Mutlosigkeit zu bekämpfen. Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Kraft es mich alleine kostet, morgens aus dem Bett zu kommen.“

„Das wird bald besser, ich verspreche es Ihnen.“

Mit diesen Worten stand sie auf, ging um den Schreibtisch herum und streckte ihm mit ihrem strahlenden Lächeln die Hand zum Verabschieden entgegen. Er quälte sich vom Stuhl hoch, ergriff ihre Hand und wollte sich zum Gehen wenden, als sie noch bemerkte.

„Ich wünsche mir, dass Ihr Händedruck beim Verabschieden aus der Therapie so stark ist, dass ich laut aufschreie, weil Sie mir vor Kraft und Energie beinahe alle Finger gebrochen haben. Denn dann … mein lieber Herr Landgraf … dann haben wir alles richtig gemacht.“

Er versuchte zu lächeln und wandte sich zur Tür. Beim Weggehen registrierte er, wie klein sie war, da sie ihm nur knapp bis zur Schulter reichte.

Anderntags ging es los mit den Therapiegesprächen und Behandlungen.

Tag für Tag musste er sich beim Aufstehen quälen. Gerade morgens war das Gefühl des Scheiterns übermächtig. Er war noch nicht überzeugt davon, dass ihm diese Klinik trotz ihres hervorragenden Rufes würde helfen können.

In diesen ersten Wochen war es ihm nicht möglich, Kontakte mit anderen Patienten zu knüpfen. Zum einen brachte er dafür die Energie nicht auf, zum anderen hatte er in seinem leeren Kopf keinerlei Themen parat, mit denen er ein Gespräch beginnen konnte. Er war davon überzeugt, dass eine gescheiterte Existenz, wie er für keinen der Mitpatienten auch nur eine Gesprächsminute wert sein konnte.

Ab der dritten Woche zeigte sich ein positiver Stimmungsumschwung. Nun traute er sich auch in den Speisesaal. Am Tisch war es meist still. Es war deutlich zu merken, dass auch die seiner Essensgruppe zugeteilten Patienten intensiv mit den eigenen Problemen zu kämpfen hatten.

Die Situation änderte sich erst, als er sich in der dritten Woche nach langem Hin und Her dazu durchrang, an einer Selbsthilfe-Gruppe für Opfer von Gewaltverbrechen teilzunehmen.

Als er den Raum betrat, erkannte er seinen Tischnachbarn, der im Stuhlkreis soeben von seinen Erlebnissen berichtete:

„… zwölf Jahre lang ging alles gut. Ich war an den verschiedensten Orten der Welt im Einsatz. Man konnte auf diese Weise sehr viel Geld verdienen. Dann, beim letzten Einsatz in Afghanistan, passierte es. Wir waren mit gepanzerten Fahrzeugen auf Patrouille unterwegs. Es war gegen 15:00 Uhr. Ich prüfte gerade das Funkgerät. Mit einer ohrenbetäubenden Detonation wurde das vor uns fahrende Fahrzeug in die Luft geschleudert. Es zerbrach in zwei Teile, die direkt vor uns runterkrachten. Grelles Licht blendete meine Augen. Die Kraft der Explosion reichte aus, um auch unseren Jeep umstürzen zu lassen. Ich hing in der Luft, vom Sicherheitsgurt gehalten. Unter mir der schwer verletzte, bewusstlose Fahrer. Überall Blut. Splitter der zerborstenen Frontscheibe hatten sowohl ihn als auch mich im Gesicht verletzt. Im gleichen Moment hörte ich ganz nah das Rattern von Maschinengewehrsalven und spürte die Einschläge am Fahrzeug. Es waren zwei Attentäter. Beide jedoch so positioniert, dass ihre Salven im Motorblock einschlugen, der uns schützte, aber auch umgehend Feuer fing.

Qualm drang ins Innere. Mir war klar, dass ich nurmehr wenige Minuten zu leben hatte. Das letzte, an das ich mich noch erinnern konnte, war mein Husten und Schnappen nach Luft, dann wurde mir schwarz vor Augen.

Im Lazarett erzählten sie mir, dass die beiden nachfolgenden Fahrzeuge das Feuer erwiderten und einen der Angreifer ausschalten konnten. Daraufhin hatte der zweite die Flucht ergriffen. Zwei Kameraden sind zu unserem brennenden Fahrzeug gestürmt, haben meinen Gurt durchtrennt und mich bewusstlos aus dem Jeep gezogen. Auch der Fahrer konnte noch geborgen werden, bevor die Fahrgastzelle in Flammen aufging.“

Gabriel hatte in diesem Moment den soeben eingenommenen Platz wieder verlassen, war zur Tür gegangen, um schwer atmend sein Zimmer aufzusuchen. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Die intensive Schilderung war zu viel für ihn. Die in seinem Kopf entstandenen Bilder ließen Panik in ihm aufsteigen, sein Herz pochen bis zum Hals. Die hochkochenden eigenen