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An einem der letzten Sommertage im September wird Carla Gerber tot in ihrer Wohnung entdeckt. Hat sie ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt oder war es ein Verbrechen? Thomas Suber und Lena Lux ermitteln in Lichterfelde, im Südwesten Berlins. Schon bald stoßen sie auf Ungereimtheiten und Geheimnisse hinter der heilen Fassade dieses Villenviertels. Warum wurde Carla von den Nachbarinnen so wenig Sympathie entgegengebracht? Warum löst ihr Tod zwar Überraschung, aber nur wenig Trauer aus? Bei der Lösung dieses Falles tauchen die Ermittler tief ein in das Beziehungsgeflecht im Umfeld der Toten, erleben viel freundschaftliche Wärme unter den Bewohnern der Luisenstraße, erfahren aber ebenso von Trennungen, die tiefe Wunden hinterlassen haben. Am Ende müssen sie sich auch persönlich der Herausforderung stellen, von Menschen Abschied zu nehmen. Clara Winter ist Psychotherapeutin und lebt mit Kind und Katze in Berlin Lichterfelde.
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Seitenzahl: 508
Veröffentlichungsjahr: 2022
Clara Winter
Kommissar Suber ermittelt
In der Stille ruht der Tod
Copyright: © 2022 Clara Winter
Umschlag & Satz: Sabine Abels
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
Softcover
978-3-347-57746-6
Hardcover
978-3-347-57747-3
E-Book
978-3-347-57748-0
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To love makes one solitary.
Virginia Woolf (Mrs Dalloway)
Prolog
Und dann kam dieser Moment, in dem alles gut war. Szenen aus ihrer Kindheit tauchten auf: Sie, wie sie über eine grüne Wiese lief, auf der die Mutter schon auf sie wartete, die Arme weit geöffnet, um sie aufzufangen. Wie sie beide lachten, als sich ihre Körper fanden. Wie sie am liebsten in sie hineingekrochen wäre, so als sei diese Nähe noch nicht genug.
Dann sah sie sich mit den Eltern am Frühstückstisch. Sie saß in der Mitte, geborgen und sicher, und sagte etwas Witziges. Alle lachten, sie selbst am lautesten. Da war es doch, das Glück! Oder auch ein anderes Bild, Jahre später, als sie ihr eigenes Kind in den Armen hielt, dieses kleine Mädchen, das nun ihr gehören würde, ein Leben lang, das sie von nun an immer lieben würde.
Überhaupt war da doch auf einmal so viel Liebe. Wie hatte sie das nur übersehen können, nur vergessen können! Jetzt, da die Angst und die Verzweiflung nachließen, als sie keine Schmerzen mehr fühlte, schien alles so leicht. Etwas in ihr wollte tanzen. Sie sah sich selbst als strahlenden Wirbelwind. War das ein Traum? Würde sie gleich aufwachen? Oder würde dieser Film gleich zu Ende sein? Denn es fühlte sich an wie ein Film, mit ihr als Hauptdarstellerin. Großes Kino!
Wenn sie nicht so losgelöst vom realen Leben gewesen wäre, wenn sie den Verstand nicht schon längst irgendwo an einem Ort abgegeben hätte, an dem er keinen Schaden mehr anrichten konnte, wäre da vielleicht die Frage aufgetaucht, warum sie gar nicht an Friedhelm dachte. Schließlich hatte sie die meiste Zeit während der letzten Tage, der letzten Wochen an ihn gedacht. Vermutlich wären ihr auch Zweifel gekommen, ob dies alles jemals tatsächlich so geschehen war: War sie wirklich in ihrer Kindheit über diese Wiese gelaufen? Hatte die Mutter sie tatsächlich jemals so umarmt? Hatten die Eltern ihr auch nur ein einziges Mal mit solch strahlend wohlwollenden Augen zugehört?
Aber all das fragte sie sich nicht. Der Abschied von diesem Leben war versöhnlich. Am Ende spürte sie das, wonach sie sich zuvor so oft vergebens gesehnt hatte. Und obwohl sich die Konturen von Zeit und Raum immer mehr auflösten und übergingen in ein allumfassendes Nichts, spürte sie die Anwesenheit eines anderen Menschen. Auch das sah sie als Gnade an. Sie, mit ihrer doch stets so großen Angst vor dem Alleinsein, hatte nun jemanden an ihrer Seite, der sich um sie sorgte. Selbst die zunehmende Enge, die ihr den Atem nahm, die kaum mehr erträgliche Last auf ihrer Brust, war für sie nicht bedrohlich, sondern fühlte sich an wie eine immerwährende feste Umarmung, ein Zeichen dafür, wie sehr sie doch geliebt wurde.
Das war der letzte große Irrtum ihres Lebens.
Montag, 19. September
Kapitel 1
Hauptkommissar Thomas Suber bemühte sich, ein leichtes Gähnen zu verbergen. Ein neuer Montag, eine neue Woche, von der er noch nicht wusste, was sie ihm bringen würde. Er saß in der Morgenbesprechung und hörte mit nur mäßiger Aufmerksamkeit den Berichten der Kollegen über Einsätze am Wochenende zu. Es gab nicht viel, nur ein noch ungeklärter Todesfall. Frank Pohl war am Samstag in eine Wohnanlage in Steglitz gerufen worden. Vermutlich Suizid, obwohl ein Abschiedsbrief fehlte, um alle weiteren Fragen auszuschließen. Die Leiche war jetzt in der Gerichtsmedizin. Frank gab diesem Fall keine besondere Bedeutung.
„Eigentlich eine klare Sache, leere Tablettenschachteln, vermutlich aufgelöst in einem Glas Wasser, das neben dem Bett stand. Wir haben alles mitgenommen.“
Lena Lux, die Jüngste im Team, hatte aufmerksam zugehört. „Habt Ihr auch die Nachbarn und die Familie befragt? Gibt es Angaben zu möglichen Motiven?“
Frank warf Lena einen unfreundlichen Blick zu. Vielleicht deutete er ihre Nachfrage als Kritik an seiner Arbeit. In diesem Bereich war er sehr empfindlich. Seine Antwort fiel daher relativ kurz aus. „Natürlich! Sie galt als psychisch labil. Alles spricht für Suizid, Frau Kollegin.“
Lena nickte nur kurz, suchte danach den Augenkontakt zu Thomas, der ihr aufmunternd zulächelte. Sie war erst seit einem Jahr in der Mordkommission, eine attraktive junge Frau, sportlich, kurzes schwarzes Haar, sehr ambitioniert. Sie würde es weit bringen. Er kannte sie schon länger, seit ihrer Ausbildung. Gelegentlich gab er Seminare für angehende Kriminalisten an der Hochschule. Lena hatte seinen Kurs zum Thema ‚Fallanalyse‘ besucht und war eine seiner engagiertesten Studentinnen gewesen. Schon zu Beginn hatte ihn ihr Scharfsinn beeindruckt – und ihre Bereitschaft, eigene Schlussfolgerungen immer wieder zu überprüfen. Sie hielt ihre Meinung niemals hinter den Berg, konnte eine Situation schnell analysieren und ihre Beobachtungen auf den Punkt bringen.
Die meisten Kollegen mochten Lena. Sie war eine Bereicherung fürs Team. Nur Frank machte keinen Hehl aus seinen Vorbehalten ihr gegenüber, wurde nicht müde, ihr Versäumnisse vorzuhalten. Irgendetwas schien ihn zu irritieren. War es ihr Hochschulabschluss, den er nicht vorweisen konnte? Nein, damit hatte Frank nach Thomas‘ Einschätzung kein Problem. Er vermutete eher, sein Kollege fühlte sich durch andere Aspekte von Lenas Persönlichkeit bedroht: ihr Selbstbewusstsein, ihre Intelligenz, ihre geistige Wendigkeit – und ihre Jugend.
Thomas Suber beneidete niemanden um ihre oder seine Jugend, obwohl das Älterwerden natürlich viele Einschränkungen mit sich brachte. Sein 60. Geburtstag stand bevor. Er wusste noch nicht, ob und wie er das feiern sollte. Manche Kollegen planten in diesem Alter den Einstieg in den Ruhestand. Noch vor ein paar Jahren konnte er das nicht nachempfinden, zu sehr hatte er sich mit seiner Arbeit identifiziert. Inzwischen dachte er anders und konnte einem geruhsamen Leben ohne den täglichen Weg ins Büro immer mehr abgewinnen.
Als er nach der Besprechung an seinem Schreibtisch saß, beobachtete er seine Kollegen fast mitleidig: So war er auch mal gewesen, so voller Tatendrang. Das lag jetzt hinter ihm, dieses 'Voll-im-Leben-stehen', diese Suche nach neuen Herausforderungen, die es zu bestehen galt. Er brauchte sich und anderen nichts mehr zu beweisen, musste nicht mehr ständig Kämpfe ausfechten, um seine Position abzusichern, hatte sich von dem Druck befreit, stets erfolgreich sein zu müssen. Sein Leben war entspannter geworden. Kollegen kamen nun zu ihm, um ihn um Rat zu fragen. Und das tat er gern. Er gab seine Erfahrungen aus all diesen Fällen, den gelösten oder auch nicht gelösten, gern weiter. Vielleicht würde er sich in Zukunft mehr aus dem aktiven Dienst zurückziehen, stattdessen mehr unterrichten, mehr Seminare an der Hochschule anbieten. Da sah er sich in den nächsten Jahren.
Früher hatte er diese Grenze der Belastbarkeit in seiner Arbeit noch nicht gekannt, hatte sich nicht distanzieren können und am Ende mit der Gerechtigkeit gehadert. Inzwischen wusste er, wie er Abstand zu den menschlichen Schicksalen aufbauen konnte, in die er hineingezogen wurde. Aber nicht immer gelang es ihm, diese Distanz bei jedem Fall aufrecht zu erhalten. Insgeheim hoffte er, bis zu seiner Pensionierung nicht mehr in solche Abgründe blicken zu müssen, keine Fotos von bestialisch abgeschlachteten Körpern oder einem toten Kind mehr sehen zu müssen. Das war stets besonders schlimm.
Vielleicht würde all dies bald Vergangenheit sein, er könnte schon früher mit der Arbeit aufhören, nicht erst bis zu dem errechneten Eintrittsdatum warten. Da gab es Modelle, die schon einige Kollegen vor ihm in Anspruch genommen hatten. Und denen ging es nicht schlecht! Er schlürfte an seiner Tasse Kaffee und genoss die wohlige Wärme, die sich in seinem Bauch ausbreitete. Ja, es war Zeit zu gehen. Er freute sich auf dieses neue Leben, ohne morgendliche Hektik, ohne Wege zur Arbeit mit Menschen in Eile, die noch nicht einmal ansatzweise eine Entschuldigung hervorbringen konnten, wenn sie ihn anrempelten. Hatte ihm das noch vor ein paar Jahren wirklich nichts ausgemacht? War er nun, im fortgeschrittenen Alter, sensibler für solche Dinge? Brauchte er jetzt einfach mehr Ruhe?
Er sah alles schon vor sich: ein entspanntes Frühstück mit seiner Frau, viel Lesen, im Garten sitzen. In letzter Zeit hatte er darüber nachgedacht, ein Boot zu kaufen. Das wäre die Erfüllung eines Lebenstraums. Er liebte es, auf dem Wasser zu sein. Das stetige Hin und Her der Wellen hatte etwas extrem Beruhigendes. Und beim Geräusch der klappernden Wanten konnte er wunderbar abschalten. Bislang gab es das nur im Urlaub, demnächst könnte es Alltag sein.
Seine Gedankengänge wurden jäh unterbrochen, als Lena mit Neuigkeiten zu ihm kam. „Gerade hat die Gerichtsmedizin angerufen. Diese Tote vom Samstag in Lichterfelde, Frank hat ja davon berichtet. Sah alles nach Suizid aus, aber nun haben sie entdeckt, dass sie erstickt worden ist.“
Thomas blickte überrascht auf. „Ist das ganz sicher?“
Lena nickte. „Dr. Hartwig sagt, sie ist erstickt, nicht an ihrem Erbrochenen, sondern höchstwahrscheinlich durch Fremdeinwirkung. Die Menge an Schlaftabletten hätte außerdem für einen Suizid nicht ausgereicht. Da hat jemand nachgeholfen.“
Er versuchte, sich daran zu erinnern, was Frank vorhin gesagt hatte. „Die Spurensicherung war doch schon dort, oder?“
Lena hob beschwichtigend die Hände. „Es war Wochenende, alles sah nach Suizid aus. Sie waren wohl nicht besonders gründlich, haben nur die Tablettenschachtel und das Glas mitgenommen. Zumindest wurde die Tür versiegelt.“
„Na, dann werden wir mal die Kavallerie in Bewegung setzen. Du hast doch sicherlich die Adresse.“
Als Lena nickte, erhob er sich, griff zu seiner Jacke und ging in Richtung Tür. Keine Gedanken mehr über Havel-Romantik, es gab Arbeit.
Kapitel 2
Lena war eine Meisterin darin, den Wagen auch in die kleinsten Lücken hinein zu manövrieren. Diese Fähigkeit konnte sie in der Luisenstraße allerdings gar nicht demonstrieren. Es war eine nette Wohngegend, mit vielen freistehenden alten Villen und gepflegten Gärten. An diesem immer noch warmen Spätsommertag wirkte die Straße ruhig, fast verträumt. Letzte Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durchs Blätterwerk der Bäume und verströmten ein rotbraunes Licht. Eine Idylle. Nun ja, gestorben wird überall, dachte Thomas Suber, als er aus dem Auto stieg. Das Eintreffen der Polizei und der Spurensicherung müsste eigentlich aufgefallen sein, aber er entdeckte niemanden, keinen Passanten oder Nachbarn, der sie beobachtete. Vielleicht war ja tatsächlich niemand da, zu dieser Mittagszeit.
Die Nummer 32 war ein Neubau, und hob sich schon allein dadurch von der Umgebung ab. Laut Klingelschild wohnten hier vier Familien. Das Haus wirkte hell und freundlich, mit zitronengelber Fassade und weißen Vorbauten aus Holz. Es gab keine Mauern, keine hohen Hecken, um Eindringlinge fernzuhalten oder sich vor neugierigen Blicken abzuschotten.
Thomas hatte sich auf der Fahrt den Bericht von Frank durchgelesen. Die Tote hieß Carla Gerber, 48 Jahre, Physiotherapeutin, getrennt lebend. Aufgefunden wurde sie von ihrem jetzigen Lebenspartner, Friedhelm Kunze, 54 Jahre. Er war Arzt und arbeitete am Klinikum Steglitz. Sein Anruf bei der Polizei erfolgte am Samstag, um 12: 45 Uhr. Mit ihm würden sie möglichst bald sprechen müssen. Aber zunächst wollte sich Thomas einen Eindruck von dem Ort des Geschehens verschaffen. Tatorte in Wohnungen übten nach wie vor eine Faszination auf ihn aus. Dies war ein privater Raum, ein Ort, der den Bewohnern Sicherheit geben sollte, in dem dann jedoch etwas Schreckliches passierte. Auf den ersten Blick gab es meist nichts Außergewöhnliches, eine Anreihung von Normalitäten, die allerdings viel über die Bewohner aussagten: Welche Bilder und Fotos waren wo angebracht oder aufgestellt? Welcher Einrichtungsstil wurde bevorzugt? War es ein einladender Ort oder eher einer, der Fluchtinstinkte auslöste? Hätte er sich hier wohlgefühlt?
Er versuchte stets, sich ein Bild von den normalen Tagesabläufen zu machen, bevor er sich auf den Tathergang fokussierte. Manchmal war er auch peinlich berührt, wenn eine Wohnung zu viel Intimes preisgab, etwas, das eigentlich vor den Augen anderer verborgen bleiben sollte, und dann im dienstlichen Interesse fotografiert und katalogisiert wurde.
Erst nach solch atmosphärischen Sondierungen konzentrierte er sich auf die Tat selbst, versuchte dabei, mögliche Szenen zu rekonstruieren. Was hatte das Opfer zuletzt gesehen, was der Täter, als sie oder er den Tatort verließ? Manchmal bleiben Spuren einer Tat irgendwo haften, manchmal gab es Veränderungen, die darauf hinwiesen, dass etwas nicht stimmte, nicht mehr stimmte. Das hatte er schon oft gespürt, ohne es logisch erklären zu können. Er war weit davon entfernt, an übersinnliche Phänomene zu glauben, würde sich selbst eher als jemand beschreiben, der mit beiden Beinen auf dem Boden stand. Aber bei der Lösung von Fällen hatte er gelernt, sich nicht nur auf die bloßen Fakten zu verlassen, sondern auch auf sein Gefühl zu horchen.
Wie viele Tatorte hatte er schon gesehen? Er wusste es nicht. Als er die Wohnung von Carla Gerber betrat, registrierte er das bekannte Kribbeln in seinem Bauch. All seine Sinne waren auf Empfang geschaltet. Zuerst fiel ihm die Fülle auf. Jedes Zimmer wirkte vollgestellt mit irgendwelchen Dingen. Das war nicht alles geschmacklos, aber eben viel zu viel, von allem. Anscheinend eine Frau, die nichts wegwerfen konnte. Am schlimmsten war es im kleinsten der drei Zimmer, das wohl als Arbeits- oder Gästezimmer genutzt wurde, im Grunde aber Abstellplatz für alles war, was woanders nicht mehr untergebracht werden konnte. Ob es sich überhaupt lohnte, all diese Kartons nach Hinweisen zu durchsuchen?
Die Bücherwand im Wohnzimmer war voll, nicht gerade Hoch-Intellektuelles, ein paar Bestseller der letzten Jahre, Frauenromane, Familiengeschichten, und eine Menge Ratgeber-Literatur. Anscheinend hatte Carla einen Hang zur Esoterik: Mondkalender, Astrologie, Hinweise für ein sinnerfülltes Leben. Hat alles nichts genützt, dachte Thomas Suber, der von solchen Büchern gar nichts hielt. Das Leben war doch viel zu komplex, um es mit einfach gestrickten Formeln zu erklären. Ein persönliches Schicksal war nicht vorhersehbar, ebenso wenig wie das Befolgen bestimmter Regeln Glück garantieren konnte.
War die Verstorbene glücklich gewesen? Er betrachtete die Fotogalerie im Wohnzimmerregal: lauter fröhliche Gesichter. Familienfotos von Menschen, die er – noch nicht – zuordnen konnte. Waren das die Eltern – dies vielleicht die Tochter? Auffallend war das schon ältere Portrait eines jungen Mädchens, eine hübsche junge Frau, bei deren Anblick er als erstes an Schneewittchen dachte. Der Blick war sehnsuchtsvoll in die Ferne gerichtet. Eine Prinzessin, die auf ihren Prinzen wartet. Das musste sie sein, besser gesagt, so musste sie gewesen sein, denn auf dem Foto war sie höchstens Anfang zwanzig.
Er drehte sich um und wandte sich der Einrichtung des Raums zu. Die gelbe Ledercouch passte nicht zu den übrigen Möbeln, viel zu modern, anscheinend eine neuere Anschaffung. Da wollte jemand seinen Stil verändern, weg von gutbürgerlich hin zu klassisch modern. Bislang wirkte alles jedoch unharmonisch. Das gehäkelte Tischdeckchen auf dem Holztisch deutete darauf hin, dass sich die bürgerliche Idylle noch nicht geschlagen gegeben hatte.
Im Schlafzimmer war die Spurensicherung nun fertig. Hier hatte die Moderne gesiegt. Ein neues Bett, ein neuer Schrank, helle Farben, weiß und pastellfarben. Die Vorhänge aus weich fließenden Stoffen in zarten Rosé-tönen, mit kunstvoll drapierten Vollands an der Deckenseite passten zu der verträumten jungen Frau auf dem Foto: eine Romantikerin, die sich immer noch wie ein junges Mädchen fühlte. Die Kuscheltiere auf der Fensterbank und am Bett verstärkten noch diesen Eindruck.
Auch hier standen Fotos, diesmal neueren Datums. Carla an der Seite eines Mannes, der seinen Arm um sie legte. Das musste ihr Lebensgefährte sein. Dann ein Foto von ihm allein, anscheinend aus dem Urlaub: Er, auf einem Liegestuhl, gebräunt, nackter Oberkörper, wie er augenzwinkernd, etwas spöttisch aber nicht unfreundlich in die Linse schaut. Ein attraktiver Mann, etwas jünger als Thomas, durchtrainierter Körper, selbstbewusst in der Gewissheit, nun in seinen besten Jahren zu sein, alles erreicht zu haben.
Das Bettzeug hatten die Kollegen von der Spurensicherung schon mitgenommen, was dem Ort einen verwaisten Anblick verlieh. Hier war sie also gestorben, unter welchen Umständen, musste noch geklärt werden. Die Tabletten hatte sie in der Küche genommen. Darauf hatten die leeren Schachteln auf der Arbeitsplatte hingewiesen. Was war dann passiert? Sie wurde schläfrig, legte sich aufs Bett. Wollte sie wirklich sterben? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Jemand hat ihr dann die Entscheidung abgenommen. Jemand kam in die Wohnung und drängte sie in die Richtung ohne Wiederkehr. Womit könnte sie erstickt worden sein? Vielleicht hätte es schon gereicht, ihr eine Hand aufs Gesicht zu drücken. Falls es so gewesen war, müssten sie DNA Spuren an ihrem Körper entdecken. Wahrscheinlicher war aber, dass jemand ihr etwas auf das Gesicht gedrückt hat, bis sie nicht mehr atmete.
Thomas wandte sich an Frank, der etwas unschlüssig im Flur stand. „Fällt dir vielleicht noch irgendetwas ein, jetzt, wo du wieder hier bist?“
Frank schüttelte den Kopf. „Es ist alles so wie am Samstag.“
„Versuch doch mal, dich ein wenig genauer zu erinnern: Wie war das, als du hier reingekommen bist?“
„Also, dieser Arzt war ja schon da. Das heißt, zwei Ärzte waren da. Der Notarzt und der Freund, der sie gefunden hat.“
„Haben die sich gekannt?“ Thomas hielt das durchaus für möglich.
„Weiß nicht“, antwortete sein Kollege. „Auf jeden Fall waren sie sich einig, dass es Selbstmord war. Aber wenn ich mich richtig erinnere, fand ich es seltsam, wie kühl der Freund wirkte. Man muss sich das nur mal vorstellen: Ich komme nach Hause, finde meine Freundin tot im Bett, und kurze Zeit später fachsimple ich dann mit einem Kollegen darüber, wie sie sich wohl umgebracht hat.“
„Sie haben also längere Zeit miteinander geredet?“ hakte Thomas nach.
„Ja, über die Tabletten. Wie viele sie wohl genommen haben könnte und ob die Medikation überhaupt die richtige gewesen war. So wie ich es verstanden habe, hatte sie Depressionen und Schlafstörungen. Daher die Tabletten. Ich meine, wenn meine Freundin grad gestorben ist, bin ich doch erst einmal geschockt, bin vielleicht traurig, vielleicht heule ich auch. Aber der war sehr beherrscht.“
Bei einem letzten Blick ins Schlafzimmer tauchte ein inneres Bild vor Thomas Suber auf: Carla lag im Schlafzimmer, der Notarzt hatte gerade offiziell ihren Tod festgestellt, die Todesursache aber als unbekannt angegeben. Der Freund, ebenfalls Arzt, berichtet von ihren Depressionen, sagt, sie habe regelmäßig Psychopharmaka genommen. Dazwischen Frank, der Wochenenddienst hatte, viel lieber zuhause gewesen wäre, um die Bundesligaergebnisse zu verfolgen. Ein Tod, der niemanden aufregte, den alle möglichst schnell abwickeln wollten. Ein Gefühl von Traurigkeit stieg in ihm auf.
Lena unterbrach seine Gedankengänge. Sie hatte bei den Nachbarn geklingelt. In zwei Wohnungen war anscheinend niemand zuhause. Bettina Schonlau im Erdgeschoss war aber da.
„Ich habe nur kurz mit ihr gesprochen. Wir sollten beide möglichst bald zu ihr gehen“, schlug seine junge Kollegin vor. „Die Tochter ist auch da.“ Sie brauchte nicht weiter auszuführen, wessen Tochter sie meinte. Thomas Suber war das auch ohne einen zusätzlichen Hinweis klar. Er nickte. Vom Tatort hatte er genug gesehen.
Wenig später saßen sie auf der Couchgarnitur der unteren Wohnung. Alles hier strahlte Gemütlichkeit aus, die Einrichtung war funktional, zum Wohlfühlen gedacht. Das Wohnzimmer ging über in einen Essbereich, in dessen Zentrum ein großer Tisch stand. Überall entdeckte Thomas Suber Blumen, teils in Vasen, teils in Töpfen. Das wirkte nicht aufdringlich, war nicht zu viel, sondern gab der Szenerie eher etwas Naturverbundenes. Bettina Schonlau war eine kleine, etwas rundliche Frau mit mittelblonden kurzen Haaren, die sie freundlich begrüßte, sie gleich ins Wohnzimmer führte und ihnen einen Tee oder Kaffee anbot, was sie jedoch ablehnten. Bevor die Polizeibeamten eine Chance bekamen, Fragen zu stellen, schilderte sie, wie furchtbar doch alles wäre, wie betroffen sie über den Tod der Nachbarin sei. Dabei schüttelte sie ein paar Male fassungslos den Kopf. Julia Gerber saß schweigend neben ihr. Er hatte sie gleich erkannt. Die Ähnlichkeit mit der jungen Frau auf dem Foto im Wohnzimmer war nicht zu übersehen: die dunklen Haare, die Reh-Augen, die zierliche Statur. Nur die märchenhafte Ausstrahlung fehlte. Diese Frau war nicht verträumt. Sie wusste, was sie wollte. Und sie machte auch jetzt keinen Hehl daraus, wie unangenehm ihr das Gespräch mit der Polizei war. Vermutlich lag ihr viel daran, es möglichst bald zu beenden. Ist ja auch verständlich, dachte Thomas Suber, der sich in seiner Rolle als Überbringer schlechter Nachrichten ebenfalls nicht wohlfühlte. Trotzdem musste das sein, und als Bettina Schonlaus Redeschwall langsam verebbte, berichtete er vom Ergebnis der Obduktion. Beide Frauen blickten ihn überrascht, fast schon entsetzt an.
„Ist das denn wirklich sicher?“ fragte Julia Gerber nach einem Moment des Schweigens und sah ihn dabei so an, als hoffte sie, er möge all das zuvor Gesagte zurücknehmen.
„Es deutet zumindest alles darauf hin“, antwortete er ein wenig ausweichend. Nicht, dass er die Ergebnisse der Gerichtsmedizin anzweifelte, aber er fand es besser, die Wahrheit nicht so hart klingen zu lassen. Wahrscheinlich mussten sich alle erst einmal an den Gedanken gewöhnen. Außerdem waren Menschen nach seinen Erfahrungen in dieser Phase des Noch-Nicht-Glauben-Wollens weniger vorsichtig bei der Schilderung von Gefühlen und Phantasien. Später, nachdem sich die ersten Wogen des emotionalen Aufgewühltseins gelegt hatten, wurden Aussagen oft bedachter formuliert, gefiltert durch Überlegungen, was ausgesprochen werden sollte oder nicht.
In den Gesichtern von Bettina Schonlau und Julia Gerber erkannte er jetzt eine Fassungslosigkeit, die nicht gespielt wirkte. Die Frage der Tochter drückte ihre Verunsicherung aus. Sie war schockiert, wollte mehr wissen, selbst wenn ihr das, was sie hörte, nicht gefiel. Die Haltung der Nachbarin war schwieriger zu deuten.
„Nein, das kann nicht sein, nie und nimmer! Das muss ein Irrtum sein!“ rief Frau Schonlau aus. Die Vehemenz, mit der sie jeden Gedanken an einen Mord abwehrte, fand Thomas eine Spur zu heftig. Es war so, als dürfte so etwas nicht passieren in ihrer Wahrnehmung des Möglichen. Als sich die Wahrheit dann immer mehr abzeichnete, wurde sie sehr schweigsam, fast versteinert. Erst seine konkreten Nachfragen zu den Geschehnissen am Samstag schienen sie aus ihrer Erstarrung zu lösen.
„Ich war mit meinem Mann bei einem Event – ich habe einen Cateringservice“ erklärte sie. „Am Samstag hatte ich einen Geburtstagbrunch in Charlottenburg. Mein Mann hat mir beim Aufdecken und Servieren geholfen. Wir sind früh morgens weggefahren und dann am Nachmittag kurz vor zwei wieder hier gewesen. Da war die Polizei schon da.“
Während sie sprach schaute sie niemanden an, sondern blickte in die Ferne, als erwarte sie von der Wohnungsdecke Hinweise zur Auffrischung ihrer Erinnerung.
„Wie und wann haben Sie denn erfahren, was geschehen war?“ hakte der Kommissar nach.
Jetzt sah sie ihn direkt an: „Wir haben die Wagen von der Polizei und den Krankenwagen gesehen, als wir nach Hause kamen. Das war so gegen halb drei. Kurz darauf hat Friedhelm, Dr. Kunze, bei uns geklingelt und uns alles erzählt. Er hatte sie ja gefunden. Wir haben dann auch besprochen, dass ich Julia in Köln anrufe.“
Thomas nickte, wandte sich danach an die Tochter: “Das war sicherlich ein Schock für Sie, seit wann sind Sie denn hier?“
„Ich bin gestern Abend angekommen, mit dem Flieger!“ Die Antwort wirkte mechanisch, was ihn nicht verwunderte. Die Nachricht musste erst einmal verdaut werden. Sie zögerte einen kurzen Moment, bevor sie mehr über die Beziehung zu ihrer Mutter preisgab: „Wir waren nicht so eng miteinander, vor allem seit der Trennung meiner Eltern. Da war ich ganz froh, nicht mehr hier zu wohnen. Ich habe jetzt mein Leben in Köln, was sie hier macht, ist ihre Sache. Wir telefonieren aber regelmäßig, zum letzten Mal am Dienstag. Sie hat vom Urlaub erzählt, wie toll alles war, wie toll es mit Friedhelm, ihrem neuen Freund, läuft. Ich dachte, sie ist glücklich, es geht ihr gut.“
Ihr auf den Kommissar gerichteter Blick wirkte jetzt fast flehend, so als warte sie sehnsüchtig auf eine Bestätigung, nichts Falsches gemacht, nichts Wichtiges übersehen zu haben. Thomas konnte und wollte sich da kein Urteil erlauben. Noch wusste er zu wenig. Er wandte sich wieder der Nachbarin zu:
„Wann haben Sie Carla Gerber denn zum letzten Mal gesehen?“
„Am Freitagabend“, lautete die Antwort. „Ich hatte ein Paket für sie angenommen, und sie hat es abgeholt. Wir haben nur kurz gesprochen. Sie war wie immer.“
Beide Frauen beschrieben die Lebenssituation der Verstorbenen als unauffällig, als sei es ihr gut gegangen, alles völlig normal. Trotzdem hatten sie einen Suizid für möglich gehalten. Da war noch etwas, was beide verschwiegen hatten, das spürte er. Dieses Bemühen, Carlas letzte Tage als möglichst unauffällig darzustellen, konnte das schlechte Gewissen von Beiden nicht verbergen. Er hakte noch einmal nach, vielleicht fiel den beiden Frauen doch noch jemand ein, der oder die ein Motiv gehabt haben könnte, sie zu töten.
„Also, dazu fällt mir nichts ein.“ Bettina Schonlau konnte ihm da anscheinend nicht weiterhelfen. „Sie hatte Probleme, mehr mit sich als mit anderen. Sie war oft krank, körperlich und seelisch. Im Frühjahr war sie zur Kur, danach ging es besser. Erst vor ein paar Wochen war sie mit Friedhelm im Urlaub auf Korfu. Als sie zurückkam, wirkte sie total glücklich. Schwierig war es wohl mit der Arbeit. Aber sie meinte mal, sie würde dort ohnehin aufhören. Ihre Stimmungen waren immer sehr schwankend, aber in letzter Zeit ging es ihr gut. Schon als ich hörte, sie hätte sich umgebracht, konnte ich es nicht glauben. Mord klingt noch verrückter.“
Thomas musste sich zunächst mit dieser Einschätzung zufriedengeben. Als er nach den anderen Bewohnern des Hauses fragte, gab ihm die Nachbarin sichtlich erleichtert über den Themenwechsel bereitwillig Auskunft:
„Gegenüber von Carla wohnt Rosel, Rosemarie Feldkamp. Die ist schon etwas betagt und geht nicht mehr so oft aus dem Haus, hat dann natürlich mitbekommen, als am Samstag die Polizei kam, die vielen Leute im Flur…“
Thomas nickte, denn er erinnerte sich an Franks Bericht: Der hatte bereits am Samstag mit der Nachbarin direkt neben der Tatwohnung geredet, deren Aussagen seien allerdings nach seiner Einschätzung wenig ergiebig gewesen. Vielleicht würde er aber selbst noch einmal mit ihr sprechen, nun, da sich die Ausgangslage verändert hatte.
„Und wer wohnt in der anderen Wohnung im Erdgeschoss?“ fragte er als Nächstes.
„Stella Ludwig“, erklärte ihm Bettina. „Sie war aber am Wochenende nicht da, kam erst gestern Abend wieder. Sie hat einen Buchladen am Hindenburgdamm.“
In seinem Hinterkopf fügte der Kommissar die bisherigen Informationen zusammen. Außer der Nachbarin Rosemarie Feldkamp war zur Tatzeit also niemand im Haus. Nur Carla – und ihr Mörder.
Aber vielleicht hatten noch andere Personen die Möglichkeit, ins Haus zu kommen. „Wissen Sie, wer noch Schlüssel zur Wohnung von Carla Gerber hat?“
„Nur Friedhelm“, spekulierte Bettina Schonlau. „Oder hast du noch einen?“ Sie drehte sich zu Julia um, die den Kopf schüttelte.
Thomas fiel ein, dass Carla zwar von ihrem Ehemann getrennt aber noch nicht geschieden war. Möglicherweise hatte der noch einen Schlüssel zur ehemals gemeinsamen Wohnung.
„Nein, mein Vater hat keinen Schlüssel mehr, die hat er alle zurückgegeben,“ stellte Julia Gerber klar. „Da gibt es keine Probleme, beide haben sich geeinigt. Sie war dann ja mit Friedhelm zusammen. Mein Vater ist vor ein paar Monaten ausgezogen, lebt jetzt in Dresden. Ihm geht es gut dort. Er hat in die Scheidung eingewilligt. Da gibt es keine Konflikte oder so.“
Die Antwort war ausführlicher als nötig gewesen wäre. Thomas entging nicht, wie sich die Tochter bemühte, ihren Vater zu entlasten, noch bevor ein Verdacht ausgesprochen wurde. Er nahm das zunächst kommentarlos hin, machte dann aber deutlich, wie wichtig es für die weiteren Ermittlungen war, mit Daniel Gerber zu reden. Julia versprach, ihren Vater zu bitten, möglichst bald nach Berlin zu kommen.
Thomas warf Lena einen fragenden Blick zu, den sie mit einem Nicken beantwortete. Sie hatte sich einige Notizen gemacht, klappte ihren Block jetzt aber zu und steckte ihn in die Tasche. Wie gut sie sich doch inzwischen verstanden. Auch ohne viele Worte. Sie verabschiedeten sich, kündigten jedoch weitere Befragungen an. Bettina Schonlau begleitete sie noch bis zur Tür.
„Wissen Sie denn, wo wir Dr. Kunze finden?“, fragte der Kommissar im Hinausgehen.
„Er ist vermutlich jetzt im Klinikum. Er arbeitet dort, hier in der Nähe“, antwortete Frau Schonlau und schloss dann die Tür hinter sich. Thomas Suber war ihr erleichterter Blick beim Abschied nicht entgangen. Auch daran war er gewohnt: Die meisten Menschen waren froh, wenn er wieder ging.
Kapitel 3
Das Krankenhausgebäude wirkte wie ein massiver Fremdkörper in dieser doch sonst eher niedriggeschössigen Umgebung. Auf dem Hinweg hatten sie das Hochhaus am Steglitzer Kreisel passiert, so viel Glas und Chrom, was nicht zum Charakter dieses Viertels passte, aber schon aufgrund des räumlichen Ausmaßes unübersehbar war. Auch das Klinikum ragte aus der Nachbarschaft hervor mit seiner kühlen Eleganz. Zur Bauzeit galt das sicherlich als architektonisches Meisterwerk, jetzt wirkte es aufdringlich und unpassend. Lena Lux musste unwillkürlich an den mittleren Teil der ‚Herr der Ringe‘ Trilogie denken: die zwei Türme. Das war natürlich irgendwie lächerlich. Steglitz hatten nichts mit diesem Reich der Finsternis gemein. Ist aber auch nicht meine Welt, dachte sie.
Sie lebte schon so lange sie denken konnte in Treptow, auf engem Raum, ohne Garten. Die Wohnung war für sie etwas Zweckgebundes, nichts, woran ihr Herz hing. Der Kühlschrank sollte mit dem Notwendigsten gefüllt sein, ihr Zimmer war der Ort zum Schlafen. Sie machte sich keine größeren Gedanken über Möbel oder Bilder an der Wand. An ihrem Kiez hing sie allerdings – trotz aller Unkenrufe der Alteingesessenen, dass nun alles nicht mehr so sei wie früher. Sicher, dieses Haus in der Luisenstraße hatte was. Es war nett und überschaubar. Nur vier Wohnungen in einem Haus, jeder kannten jeden, der gepflegte Garten mit abgetrennten Blumenbeeten. Für manche ein Paradies. Ihr war es zu ruhig, zu 'gemütlich'. Das erzählte sie Thomas Suber allerdings nicht, als er sie auf dem Weg zu Dr. Kunze nach ihren Eindrücken fragte, sondern bezog sich zunächst auf die fallbezogenen Beobachtungen.
„Die Tochter und die Nachbarin wirkten ziemlich geschockt, ich glaube, das war schon echt. Die müssen die Nachricht wohl erst noch verdauen.“
Der Kommissar nickte. „Und dein Eindruck von der Tatwohnung?“
„Viel zu groß für eine Person“, sagte sie. „Finanziell vermutlich auch schwierig zu halten. In dieser Gegend sind die Mieten doch vermutlich nicht gerade niedrig. Aber vielleicht hatte sie Schwierigkeiten damit, sich zu trennen, Dinge loszulassen. Die Wohnung war ja ziemlich vollgestellt.“
Thomas pflichtete ihr bei, fügte dann noch andere Eindrücke hinzu. „Ich hatte da so ein Gefühl von Verlassenheit, auch Einsamkeit. Diese Wohnung ist nicht dafür gedacht, dort allein zu leben. Zu viele Erinnerungen, gemischt mit Versuchen, ein neues Leben aufzubauen. Wirkte auf mich alles unfertig.“
Sie schwiegen eine Weile, während Lena das Auto auf den Parkplatz des Klinikums lenkte. Die letzten Worte ihres Chefs klangen noch in ihr nach. Es stimmte. Wieder einmal war sie von seiner Beobachtungsgabe beeindruckt. Er nahm die Dinge nicht einfach auf, sondern hatte die Fähigkeit, atmosphärische Spannungen zu erspüren. Sie war stolz darauf, wie offen er diese Gedanken mit ihr teilte.
Im Klinikum wartete Friedhelm Kunze bereits auf sie. Lena hatte ihn zuvor angerufen und ihren Besuch angekündigt. Dieser Mann würde gut in jede Krankenhausserie passen, dachte sie, als er ihnen die Hand zur Begrüßung entgegenstreckte: Er war Mitte 50, gutaussehend, schlank, volles blondes, an den Schläfen leicht angegrautes Haar. Der weiße Kittel verstärkte den Kontrast zu seiner gebräunten Haut. Sie hatten ja von seinem letzten Strandurlaub erfahren, mit Carla Gerber. Bei der Befragung wirkte er anfangs etwas angespannt und nervös. Als sie ihm ihr Beileid zum Tod seiner Lebensgefährtin aussprachen, senkte er den Kopf, drehte sich aber gleichzeitig um und steuerte auf seinen Schreibtischstuhl zu. Wollte er die aufsteigende Traurigkeit verbergen? Oder war er wirklich so cool, wie Frank ihnen gesagt hatte. Lena war sich nicht sicher.
Dr. Kunze bestätigte zunächst das, was sie schon wussten. Er war nach seinem Dienst zu seiner Freundin gefahren, hatte sie dort tot in ihrem Bett liegend entdeckt. Mit Carla war er erst seit einem Jahr zusammen gewesen, sie kannten sich aber schon vorher. Irgendwann hatte es dann eben ‚gefunkt‘ zwischen den beiden. Sie hätte damals massive Eheprobleme gehabt. In dieser Zeit war er zunächst ein guter Freund, später sei dann mehr daraus geworden. Er hatte damals eine andere Beziehung, die er zunächst nicht aufgeben wollte. Das ging dann eine Zeitlang hin und her, bis er sich endgültig für Carla entschied. Nein, sie lebten nicht beide in der Luisenstraße. Er wohne in einer kleinen Wohnung in Wilmersdorf. Sie wollte gerne mit ihm zusammenziehen, aber für ihn war das zu früh. Zurzeit genieße er seine Unabhängigkeit.
„Das kann ja zu Konflikten führen, wenn beide andere Vorstellungen haben, oder?“, kommentierte der Kommissar. Lena kannte die Befragungstechnik ihres Chefs: Da ein Lächeln zur richtigen Zeit, dort ein zustimmendes Nicken. Er gab den verständnisvollen älteren Herrn, der auch schon so einiges erlebt hatte. Zeugen und Verdächtige unterschätzten ihn oft wegen seiner unaufgeregten Art. Sie wusste, wie sensibel er für die kleinsten Zuckungen in der Mimik und die leisesten Untertöne in den Sätzen war.
Auch Friedhelm Kunze schien sich jetzt sicherer zu fühlen und berichtete bereitwillig mehr über die Beziehung zu Carla. „Ja, sie brauchte mehr Nähe als ich. Wenn ich nicht bei ihr war, kamen ständig Nachrichten. Sie wollte wissen, was ich tue, wo ich bin. Da habe ich mich natürlich kontrolliert gefühlt, habe auf viele Nachrichten nicht geantwortet. Sie hat das eben anders empfunden, hat gesagt, immer, wenn wir nicht zusammen sind, habe sie solche Sehnsucht. Sie war dann gekränkt, weil ich diese Sehnsucht nicht so gespürt habe. Ich habe gesagt, es muss doch reichen, dass ich dich liebe. Schließlich habe ich mich für dich entschieden. Aber offenbar hat ihr das nicht gereicht.“
„Meinen Sie, das kann ein Grund für den Suizidversuch gewesen sein?“ Thomas Suber wirkte jetzt wie ein guter Freund, der den Worten des Arztes wohlwollend lauschte und offenbar selbst ähnliche Erfahrungen mit klammernden Frauen gesammelt hatte. Friedhelm Kunze stieg voll auf diese scheinbaren Gemeinsamkeiten ein, verlor dadurch den letzten Funken Unsicherheit. „Natürlich habe ich mir darüber in den letzten Stunden viele Gedanken gemacht“, gab er zu. „Ich wusste ja von den Tabletten, dachte aber, sie geht schon vorsichtig damit um. Sie hatte oft unter Schlafstörungen zu leiden. Wenn wir nicht zusammen waren, habe ich sie jeden Abend angerufen, um ihr Gute-Nacht zu wünschen. Das war wichtig für sie, um zur Ruhe zu kommen, und für mich war es auch ok.“
Anschließend berichtete er von ihren Depressionen. Im April war sie sechs Wochen zur Kur, in einer psychosomatischen Klinik in Bayern. Danach sollte eigentlich eine ambulante Psychotherapie anschließen. Das hätte sie allerdings vor sich hingeschoben, hielt es zwischenzeitlich auch nicht mehr für nötig. „Sie sagte, sie brauche das nicht mehr, weil sie jetzt ja glücklich sei – mit mir“, ergänzte er mit einem süffisanten Lächeln, das Lena unpassend fand. Er nahm inzwischen keine Notiz mehr von ihr, wandte sich ausschließlich an den Kommissar, der seinen Ausführungen mit Interesse folgte. „Und wir waren ja auch glücklich“, fuhr der Arzt fort. „Wir waren erst vor kurzem im Urlaub auf Korfu, der erste gemeinsame Urlaub. Wir waren die ganze Zeit zusammen, sind mit dem Auto herumgereist. Ja, sie war glücklich. Ich war es auch. Niemals hätte ich mit so etwas gerechnet.“
„Vielleicht hätte sie doch weiterhin eine Behandlung gebraucht?“, gab Thomas Suber zu bedenken.
„Das habe ich mir jetzt natürlich auch schon gesagt“, bestätigte Dr. Kunze. „Im Nachhinein kann man das immer leicht sagen, aber sie wirkte wirklich nicht unglücklich.“
Er gab an, Carla am Donnerstagabend zum letzten Mal gesehen zu haben, danach hätte er nur noch mit ihr telefoniert. Auch am Samstag kamen noch Lebenszeichen, Anrufe und einige Kurz-Nachrichten. Dabei ging es um Nachfragen, wann er kommen würde. Thomas sah ihn fragend an. „Ist das nicht ungewöhnlich, wenn sie sich so oft meldet? Ein Anruf hätte doch gereicht!“
„So war sie eben“, erklärte Friedhelm Kunze. „Sie ließ nicht locker. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte ich noch vor der Visite kommen sollen. Aber ich brauchte nach dem Bereitschaftsdienst noch eine Pause. Sie sagte dann, du kannst dich ja auch bei mir hinlegen. Das wollte ich nicht, weil ich schon wusste, ich würde da nicht zur Ruhe kommen. Aber das war doch alles nicht so wichtig, wegen so etwas bringt sich doch niemand um!“
Thomas nickte. „Normalerweise wohl nicht. Was können Sie uns denn sonst noch über sie erzählen? Wie war sie so?“
„Sie war ein sehr emotionaler Mensch, hat vieles allerdings zu persönlich genommen. Das hat gute und schlechte Seiten. Sie konnte ausgesprochen nett sein, sehr liebevoll. Das trifft es ganz gut. Das hat mich an ihr fasziniert. Wenn ich mit ihr zusammen war, hatte ich das Gefühl, sie öffnet sich mir gegenüber total. So etwas hatte ich zuvor in einer Beziehung noch nie erlebt. Auf der anderen Seite konnte sie aber auch sehr anstrengend sein.“
„Gab es Menschen, die mit ihr Probleme hatten – oder sie mit ihnen?“
„Ich glaube, auf der Arbeit gab es Probleme. Sie war Physiotherapeutin, arbeitete in einer Praxis. Die Kolleginnen waren nicht so gut auf sie zu sprechen, weil sie so oft krank war. Bei den Patienten war sie aber sehr beliebt. Sie konnte anstrengend sein, ja, vielleicht auch unzuverlässig, aber sie war niemals böswillig.“
Thomas nickte und machte Anstalten aufzubrechen. „Ich glaube, das reicht fürs Erste. Es wäre schön, wenn Sie noch einmal im Präsidium vorbeikämen, damit wir ihre Fingerabdrücke abnehmen können.“
„Warum denn das?“, fragte sein Gegenüber überrascht.
„Wir müssen der Todesursache noch nachgehen. Sie ist nicht an den Tabletten gestorben. Wir ermitteln jetzt wegen Mordes.“
Nun war der Arzt zum ersten Mal seit Beginn des Gesprächs sprachlos, blieb auch zunächst sitzen, als sich die beiden Polizeibeamten erhoben. Den Satz, den sie dann hörten, hatten sie heute schon oft gehört. „Das kann nicht sein – völlig unmöglich!“
Schon an der Tür fiel dem Kommissar noch eine letzte Frage ein: „Ihre vorherige Lebensgefährtin, die, mit der sie noch zusammen waren, als es mit Ihnen und Carla anfing: Wie ist ihr Name und wo können wir sie finden?“
Friedhelm Kunze blickte sichtlich verwirrt auf. Vermutlich gingen ihm jetzt tausend Gedanken durch den Kopf, die er noch nicht ordnen konnte: „Stella Ludwig. Sie hat einen Buchladen am Hindenburgdamm.“
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Lena einfiel, wo sie diesen Namen schon zuvor gehört hatte. Der Doktor war also mit zwei Frauen in der Luisenstraße 32 zusammen gewesen, teilweise sogar zur gleichen Zeit. Wenn das keinen Nährboden für Konflikte gegeben hatte! Vielleicht zeichnete sich da sogar ein Motiv für den Mord ab. Thomas Suber ging zunächst nicht auf diese neuen Informationen ein. Er schien in Gedanken versunken, als sie über die langen Flure des Klinikums liefen. Sie fand es ziemlich clever, wie er den Arzt zunächst im Glauben ließ, die Polizei gehe nach wie vor von einem Suizid aus. Dr. Kunze war gut vorbereitet, seine Antworten wirkten überlegt, fast emotionslos. Als der Kommissar dann von Mord sprach, hatte er zum ersten Mal eine spontane Regung gezeigt.
„War seine Überraschung wirklich echt?“ fragte sie ihren Vorgesetzten auf dem Weg zur Straße.
„Ich glaube schon. Aber war er darüber überrascht, dass es Mord war oder darüber, dass wir es inzwischen wissen? Schwer zu sagen. Was hältst du von ihm?“
Lebenspartner waren in Mordermittlungen immer verdächtig. Das wusste sie natürlich. Außerdem war Dr. Kunze der Erste am Tatort, hatte als Arzt Kenntnisse über die Wirkung der Tabletten. Aber war er fähig, einen Mord zu begehen? Sie fand ihn nicht sonderlich sympathisch, vielleicht, weil er so geschmeidig wirkte. Ein besseres Wort fiel ihr nicht ein.
Thomas Suber lachte. „Geschmeidig! Wie schön! Ja, das stimmt schon irgendwie. Er ist schwer zu durchschauen. Wir werden uns wohl noch intensiver mit ihm beschäftigen müssen. Ein interessanter Typ!“
„Der ist doch aalglatt, total arrogant, von sich selbst überzeugt. Trauer um den Tod seiner Freundin habe ich da nicht gespürt.“
„Nun ja, er ist nicht dumm, hat nur das gesagt, was wir schon wissen, beziehungsweise, was wir sicher bald herausbekommen werden. Ein Mann, der nicht viel preisgibt, der genau überlegt, der sich nicht von Gefühlen oder Leidenschaften treiben lässt. Keine schlechten Eigenschaften für einen Arzt. Er ist doch Chirurg!“
„Handchirurgie“, ergänzte Lena mit abschätziger Geste, so als sei dies eine minderwertige Form dieses Berufes.
„Das sind die ganz Genauen, die Handwerker. Das wird allerdings nicht so gut zu einer Prinzessin wie unserer Carla gepasst haben. Als Traumprinz ist er nicht die beste Besetzung, sicher kein Romantiker, niemand, der dir jeden Tag Blumen schenkt oder mit dir zum Candle-Light-Dinner geht. Wer weiß, wie gut es wirklich um diese Beziehung stand. Ein kluger Mann, nicht unsympathisch.“
Das fand Lena gar nicht. Er stand für sie für einen Typ Mann, den sie überhaupt nicht mochte: selbstbewusst, unantastbar, Frauen gegenüber höflich, einschmeichelnd, aber in Wirklichkeit ein verkappter Macho, der sich von einer Frau gar nichts sagen ließ. Bei der Begrüßung war er zwar freundlich, hatte sie aber mit einem taxierenden Blick gemustert. Es war, als würde er sie in eine bestimmte Kategorie einordnen wollen, die nichts mit ihrem Beruf oder dem Anlass ihres Besuchs zu tun hatte, sondern ihren körperlichen Vor- und Nachteilen. Offensichtlich hatte sie auf seiner Bewertungsskala nicht sonderlich gut abgeschnitten, denn im weiteren Verlauf des Gesprächs ignorierte er sie weitgehend. Vielleicht verlor er aber auch nur das Interesse an ihr, weil sie sein anzügliches Lächeln nicht erwidert hatte.
„Ich finde ihn ziemlich unsympathisch“, fügte sie daher an, woraufhin ihr Chef sie neugierig musterte.
„Ach ja?“ fragte er nach. „Und ich hatte gedacht, er ist ein richtiger Frauentyp!“
Lena schnaubte verächtlich. „Pah, mein Typ ist er nicht. Abgesehen davon, dass er viel zu alt ist. Seine Freundlichkeit wirkt künstlich. Er spielt eine Rolle: ein Mann in den besten Jahren. Meine Mutter wäre vermutlich von ihm begeistert.“
Sie hatte es wieder geschafft, Thomas Suber zum Lachen zu bringen. Sie mochte diese Art der Kommunikation zwischen ihnen beiden, fühlte sich wohl in seiner Gesellschaft. Er war echt, gab nichts vor, was er nicht war. Das mochte sie an ihm. Sein Lachen war niemals ein Lachen über sie, sondern bezog sich auf das, was sie sagte. Er verstand den Witz hinter ihren Worten.
„Vielleicht sollten wir als Nächstes mit Stella Ludwig reden“, schlug er vor, als sie das Klinikum verlassen hatten und auf dem Hindenburgdamm standen. Durch eine kurze Recherche im Internet fanden sie heraus, dass der Buchladen nur fünf Minuten Gehweg vom Klinikum entfernt lag.
Kapitel 4
Ein heller Glockenton begleitete ihren Eintritt, als Thomas Suber und Lena Lux die Tür öffneten. Der Laden wirkte einladend. Vor den gefüllten Wandregalen lagen in lockerer Anordnung weitere Bücher auf Tischen, zum Teil aktuelle Bestseller aber auch persönliche Leseempfehlungen. Eine Sitzecke am Fenster lud zum Verweilen und Lesen ein. Aus dem hinteren Teil des Ladens kam ihnen eine Frau entgegen, die sie freundlich anlächelte. Sie war mittelgroß, hatte kurze rote Haare, zierliche Figur. Das Grün in ihrer Kleidung reflektierte die Farbe ihrer Augen und gab ihrer Erscheinung etwas Koboldhaftes.
Als Thomas sich und Lena vorstellte, schien Stella Ludwig nicht überrascht über ihren Besuch zu sein. Vom Todesfall in ihrem Haus hatte sie schon gehört. Sie bot ihnen einen Platz in der Sitzecke an. Offenbar kannte sie auch schon die letzten Entwicklungen, denn sie machte Angaben über ihr Alibi, ohne danach gefragt worden zu sein.
„Bin ich jetzt verdächtig? Falls ja, kann ich Ihnen gleich sagen, dass ich nichts damit zu tun habe. Ich war am Wochenende in Erfurt, Herbst-Lese. Die meiste Zeit war ich dort mit meiner Freundin Hanne zusammen. Am Freitagabend hatten wir eine gemeinsame Veranstaltung. Es geht vor allem um den Samstagvormittag, nicht wahr? Da waren wir in einem Café in Erfurt, Nähe Domplatz. Wir haben gefrühstückt, lange geredet, wie das immer so ist. Danach sind wir zusammen zu Freunden in den Thüringer Wald gefahren. Die haben da eine Datsche, wo wir auch übernachtet haben. Ich war erst wieder am Sonntagabend zuhause. Sie sehen also – ich war’s nicht!“
Sie begleitete ihre Aussagen mit einer fast triumphierenden Geste, so als könne ihr nichts passieren. Und sie konnte ihre Aussagen belegen, verwies auf ihre Freundin Johanna Rosenow, mit der sie die meiste Zeit in Erfurt zusammen war, gab ihnen nicht nur deren Kontaktdaten, sondern nannte ihnen auch den Namen des Hotels, in dem sie übernachtet hatte.
Während sich Lena Notizen machte, hakte Thomas nach: „Von wem haben Sie denn erfahren, dass es kein Selbstmord war?“
Stella Ludwig biss sich leicht auf die Unterlippe. Vielleicht wurde ihr erst jetzt bewusst, dass sie mit den Angaben über ihr Alibi zu vorschnell war. Aber dann lächelte sie: „Meine Nachbarin, Bettina Schonlau, hat mich vorhin angerufen. Ein Mord im Haus geschieht ja nicht alle Tage!“
Thomas erwiderte ihr Lächeln. „Und dann auch noch ein Mord, der nicht allzu viel Trauer bei Ihnen ausgelöst hat, oder?“
Lena schaute überrascht auf. Eigentlich war es nicht die Art des Kommissars, jemanden so direkt mit einem möglichen Motiv zu konfrontieren. Offensichtlich versuchte er, Frau Ludwig etwas aus der Reserve zu locken. Die wirkte jedoch überhaupt nicht verunsichert.
„Sie haben vermutlich schon erfahren, dass sie mir den Mann weggenommen hat“, sagte sie mit einem herausfordernden Lächeln.
Als er nickte, fuhr sie fort. „Wir sind vor anderthalb Jahren in die Luisenstraße gezogen…“ Beim Wort ‚wir‘ registrierte Lena zum ersten Mal ein leichtes Zittern in Stellas Stimme, das aber schnell wieder verschwand. „Friedhelm und ich sind über 20 Jahre zusammen gewesen, ein gemeinsames Leben. Ich dachte, das bleibt immer so, habe uns zusammen alt werden sehen. Die Wohnung war so günstig. So nah an meinem Buchladen, so nah am Klinikum. Und wir hatten einen kleinen Garten, ja, ich habe mir gedacht, ich bin ein Glückspilz, als das mit dem Mietvertrag geklappt hat.“ Auf Stellas Gesicht spiegelte sich ein trauriges Lächeln. Sie schwieg einen Moment, vielleicht tauchte sie ein wenig wehmütig in schöne Erinnerungen ein.
„Na ja, zunächst fand ich alle Nachbarn sehr freundlich“, sagte sie, wobei sie das ‚zunächst‘ besonders betonte. „Die Stimmung im Haus war sehr familiär, im Sommer wurde gemeinsam im Garten gegrillt. Am Anfang fand ich auch Carla nett. Ich habe das alles nicht kommen sehen.“
Dieses leichte Lächeln hatte sich in den Grübchen neben ihren Mundwinkeln festgesetzt und verschwand auch nicht, als sie sich an diese Ereignisse erinnerte, die doch sehr schmerzlich gewesen sein mussten.
„Aber es gibt im Leben eben keine Sicherheit“, fuhr sie fort. „So etwas passiert doch jeden Tag: Menschen verlieben sich, Menschen entlieben sich. Natürlich ist das schlimm. Aber das Leben geht weiter.“
Thomas ließ solch pauschale Lebensweisheiten nicht im Raum stehen. „Das stelle ich mir in diesem konkreten Fall allerdings nicht einfach für Sie vor: Sie haben weiterhin in der Luisenstraße gelebt, ein Stockwerk unter dem neuen Paar.“
„Ja, das war nicht leicht“, erwiderte Stella, die bei dieser Frage keine Regung zu erkennen gab. „Ich habe etwas Anderes gesucht, aber das ist nicht so einfach.“
„Jetzt können Sie ja dableiben!“ wandte der Kommissar ein.
„Ja, nun kann ich bleiben!“
Ihr letzter Satz wirkte nicht triumphierend, eher erschöpft. Lena fand es bewundernswert, wie souverän diese Frau wirkte. Aber hatte sie das alles wirklich so gut verarbeitet, wie sie vorgab? Sie wollte offensichtlich den Eindruck vermitteln, keinen Groll mehr zu hegen, und damit sämtliche Verdächtigungen über ein mögliches Motiv im Keim zu ersticken. Dabei hatte sie das doch gar nicht nötig, wenn ihr Alibi tatsächlich so hieb- und stichfest war.
Lena fand sie etwas rätselhaft, aber nicht unsympathisch. Sie hatte eine angenehme Stimme, die Ruhe und Gelassenheit ausstrahlte. Auch ihr Chef war sichtlich beeindruckt.
„Sie mögen sie, ja?“ fragte sie ihn, als sie den Buchladen verlassen hatten.
Thomas lächelte ein wenig. „Ja, eine interessante Frau! Und du, was denkst du?“
Lena war eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Carla und Stella aufgefallen. Vermutlich bevorzugte Dr. Kunze zierliche Frauen mit einer feenhaften Ausstrahlung. Als sie ihren Eindruck schilderte, pflichtete Thomas Suber ihr bei.
„Ja, da ist schon was dran. Carla war allerdings eine Prinzessin, die auf ihren Prinzen wartet. Stella ist eine Waldkönigin.“
Etwas verwundert betrachtete Lena ihren Chef, der anscheinend richtig Feuer gefangen hatte. „Ja, eine starke Frau!“ Das musste sie bestätigen. Aber dann kam da noch ein anderer Gedanke: “Ich verstehe nicht, warum so hohle Männer wie Friedhelm Kunze so tolle Frauen kriegen.“
Thomas Suber schmunzelte. „Nur, weil er nicht dein Typ ist, kann er doch andere Frauen beeindrucken. Er hat schon was, ist attraktiv, gute Umgangsformen, intelligent…“
„…und eiskalt!“ Lenas Bild von Dr. Kunze war ziemlich vernichtend.
Kapitel 5
In der Luisenstraße 32 war wieder Ruhe eingekehrt, zumindest auf den ersten Blick. Auch in Bettinas Wohnung war es still, was jedoch kein Hinweis auf eine entspannte Lage war, sondern eher auf Sprachlosigkeit beruhte. Für Julia war es schon schwierig gewesen, den plötzlichen Tod der Mutter zu verarbeiten. Dass dieser Tod jetzt gewaltsam herbeigeführt worden sein sollte, war kaum zu verkraften.
„Sicher, sie war oft anstrengend, aber ermordet?“ Sie hielt es nicht mehr auf ihrem Sessel aus, lief zum Fenster und atmete tief durch. „Wie läuft das so – müssen wir uns jetzt überlegen, ob sie Feinde hatte, ob es jemand gab, der ihr den Tod wünschte?“
Bettina saß immer noch auf ihrem Platz und wirkte erstaunlich ruhig. Jetzt zuckte sie nur mit den Schultern. „Vielleicht ist alles nur ein Irrtum.“
Julia glaubte nicht daran. Der Kommissar klang jedenfalls ziemlich überzeugt. Sie kannte solche Szenen nur aus Filmen, diese Fragen nach Alibis und möglichen Motiven. Und im Moment fühlte es sich an, als wäre sie in einem Film, nicht mehr in der Realität.
War es wirklich erst zwei Tage her, als sie den Anruf von Bettina bekam? Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Die Nachricht vom Tod ihrer Mutter kam völlig unerwartet. Viel zu früh, viel zu unerklärlich. Da hatte sie dem Kommissar nicht die ganze Wahrheit gesagt. Carla war es in den letzten Monaten nicht so gut gegangen, aber im Grunde war das seit Jahren ihr Dauerzustand gewesen. Sie litt ständig unter irgendetwas. Niemals war das lebensbedrohlich.
Die Eltern hatten sich oft gestritten. Als Kind war das für Julia nichts Besonderes. Schließlich kannte sie es nicht anders, dachte damals, das müsste vielleicht so sein: Wutausbrüche, bis hin zu Handgreiflichkeiten, dann wieder tränenreiche Versöhnungen.
Ja, so war Carla, immer extrem, in allem, zu allen. Sie konnte liebevoll sein, wenn sie in guter Stimmung war, überhäufte dann alle in ihrer Umgebung mit Umarmungen und Geschenken, aber das änderte sich oft schlagartig, ohne Vorankündigung. Als Kind hatte sie noch versucht, das zu verstehen, hatte nach Gründen gesucht, die für die wechselhaften Launen der Mutter verantwortlich gewesen sein könnten. Später gab sie das auf. Carla reagierte nicht nach berechenbaren Mustern, blieb für die Tochter stets ein Rätsel.
Ihre Beziehung war schwierig, schon immer. Aber nun war sie tot. Zu spät, um noch etwas zu klären, etwas zu sagen. Julias erste Gedanken nach dem Telefonat mit Bettina am Samstag kreisten um diese verpassten Chancen, um Fragen, die nicht mehr beantwortet werden konnten. Erst später, so ganz allmählich, war da auch Traurigkeit, die immer mehr Raum einforderte, ein Gefühl von Verlassenheit, gemischt mit der Gewissheit, nun verwaist zu sein, zumindest zur Hälfte. Ihr Vater war der Erste, den sie nach dem Telefonat mit Bettina anrief. Er war genauso geschockt wie sie.
Als sie vor gar nicht so langer Zeit den beiden Kriminalbeamten gegenübersaß, hatte sie automatisch an ihren Vater gedacht. Das Paar hatte auf sie wie Vater und Tochter gewirkt. Die junge Frau war ungefähr in Julias Alter und hatte nur wenig gesagt. Den Kommissar schätzte sie auf Ende 50. Wie Daniel Gerber war er groß und stattlich, unübersehbarer Bauch, in den Bewegungen eher träge. Und wie ihr Vater strahlte er Verlässlichkeit aus. Jemand, der zuhören konnte, der sich bemühte zu verstehen, den nichts umhauen konnte. Anders als Daniel war Thomas Suber jedoch schon stark ergraut. Er war sicherlich ein paar Jahre älter.
Sie musste jetzt mit ihrem Vater reden. Ohne ein weiteres Wort mit Bettina zu wechseln, ging sie in das Gästezimmer, das sie seit gestern Abend bewohnte. Um diese Zeit war Daniel in der Regel gut erreichbar. Auch heute nahm er ihren Anruf schon nach dem ersten Klingelton entgegen. Sie erzählte ihm alles, was sie wusste: Carla hatte Tabletten genommen, dies war aber nicht die Todesursache. Die Polizei ging nun von Mord aus. Daniel sagte eine Weile nichts.
„Ich erkundige mich gleich mal nach Busverbindungen und bin morgen bei dir“, versprach er dann. „Das ist doch sicher schlimm für dich, so ganz allein. Ich würde dich jetzt so gern in den Arm nehmen.“
„Ja, komm!“ Viel mehr konnte sie nicht sagen, musste sie auch nicht sagen. Es war schön, seine Anteilnahme zu spüren. Sie fühlte sich ihm sehr nah. Und sie brauchte ihn nun. Schließlich waren jetzt nur noch sie zwei übrig. Der Rest von Familie.
War es wirklich erst einen Tag her, dass sie in der Luisenstraße angekommen war und das Haus so vertraut fand? Wie sehr hatte sie sich über das Angebot von Bettina gefreut, erst einmal bei ihr unterzukommen. Selbst, wenn die Wohnung der Mutter nicht von der Polizei versiegelt worden wäre, hätte sie nicht dort übernachten wollen, nicht so kurz danach. Sie kannte Bettina schon seit ihrer Kindheit, seit dem Einzug in die Luisenstraße. Sie war so etwas wie eine mütterliche Freundin. Wie oft hatte Julia früher bei ihr Zuflucht gesucht, wenn die Eltern stritten! Die Selbstverständlichkeit, mit der Bettina sie aufnahm, sie tröstete und einfach für sie da war, hatten sich gut angefühlt. Vielleicht war die Luisenstraße doch so etwas wie ihr Zuhause, hatte sie gestern noch gedacht. Jetzt wirkte alles eher bedrohlich.
Nach dem Telefonat mit ihrem Vater hielt sie es in der Wohnung nicht mehr aus. Bettina war inzwischen in der Küche und bereitete irgendein Essen vor. Bibo umkreiste sie aufgeregt, vielleicht in der Erwartung, etwas Leckeres könnte zu Boden fallen.
„Ich glaub, ich muss mal raus, soll ich den Hund mitnehmen?“ schlug Julia vor.
„Ist ok, er braucht etwas Bewegung!“ lautete die kurze Antwort. Normalerweise hätte sich Bettina angeschlossen, weil sie selbst gern mit Bibo unterwegs war. Sie wirkte ohnehin abwesend, war mit ihren Gedanken woanders, reagierte kaum auf das, was Julia sagte. Das entsprach alles nicht ihrer Art. Aber was war in diesen Tagen noch normal!
Die frische Luft tat Julia gut, ihr Herz klopfte nun weniger laut. Bibo war ein buntgescheckter Terrier, der aufgeregt an der Leine zog, um alles aufzuspüren, was sich an ungewohnten Gerüchen in seinem Revier angesammelt hatte. Sie und er kannten die Straße, kannten jeden Baum, den sie ansteuerten. Als Julia die aufsteigende Kälte spürte, zog sie den Kragen ihrer Jacke etwas höher. So viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf, aber sie wollte nicht denken, sträubte sich gegen Vermutungen und Verdächtigungen, die natürlich ab und zu doch auftauchten.
Bibo wedelte mit dem Schwanz. Sie mochte Tiere. Die denken nicht so viel. Eines Tages würde sie sicher auch welche haben, wenn ihr Leben sich beruhigt hätte, wenn eine Perspektive sichtbar wäre. Erst jetzt dachte sie an Lars, mit dem sie seit drei Jahren zusammen war. Mit ihm konnte sie sich eine gemeinsame Perspektive vorstellen, fraglich war jedoch, ob ihre Vorstellungen von einem gemeinsamen Leben die gleichen waren. Er war acht Jahre älter, beruflich oft unterwegs, wollte irgendwann ein kleines Häuschen, einen Garten und Kinder. Beim Garten und beim Haus war sie mit ihm einig, ja, ein Garten mit Tieren, vielleicht sogar Hühner, die sie morgens mit ihrem Gegacker weckten. Beim Thema Kinder sah es anders aus. Sie konnte sich nicht vorstellen, selbst Mutter zu sein, hatte Angst davor, an dieser Aufgabe ähnlich zu scheitern wie Carla. Schon bemerkenswert, wie sehr ihr Leben immer noch durch die Erlebnisse in der Kindheit mitbestimmt wurde. Das sollte sich ändern. Seit fast einem Jahr ging sie regelmäßig zu einer Therapeutin. Sie wollte mit diesen alten Geschichten abschließen, wollte frei dafür sein, in ihrer neuen Beziehung glücklich zu sein.
Sie liebte Lars, und er liebte sie. Aber ihre Eltern hatten sich auch mal geliebt, zu Beginn. Das schien also auf Dauer keine Vor-aussetzung für eine glückliche Beziehung zu sein. Sicher, es gab auch Momente, an die sie gern zurückdachte, Familienfeiern und Ausflüge zu dritt ins Umland. Die Stimmung war meist gut, wenn sie unterwegs waren. Da gab es selten Streit. Der Alltag in der Luisenstraße war jedoch schwierig. Carla wirkte meist überlastet, musste viel arbeiten, während der Vater tagsüber zu Hause war. Wenn sie aus der Schule kam, hatte er das Mittagessen gekocht. Später, als er anfing, Klavierstunden zu geben, war sie an den Nachmittagen häufig bei Bettina oder Anette, die gegenüber wohnte. Mit Rosel hatte sie weniger Kontakt. Zu sehr ließ die sie als Kind spüren, wie viel Unruhe ihre Familie ins Haus gebracht hatte. Julia versuchte als Kind nach Möglichkeit, ihrem kritischen Blick zu entkommen. Aber alles in allem hatte sie sich in der Nachbarschaft stets aufgehoben und gemocht gefühlt.
Bibo entdeckte nun eine Katze im Garten von Anette, wurde ganz aufgeregt und hätte sie wohl nur zu gerne gejagt. Vermutlich war es der Kater von Stella. Sie streichelte den Hund und redete beruhigend auf ihn ein, während die Katze ohne Eile ihren Weg fortsetzte. Wahrscheinlich kannten sich die beiden Tiere aus zahlreichen Begegnungen und hatten die Rangordnung unter sich geklärt, zum Nachteil des Hundes. Sie blickte dem Kater nach, wie er im Garten der Neugebauers verschwand.
Früher war sie oft in diesem Haus auf der anderen Straßenseite gewesen. Die Familie Neugebauer, vor allem Anette, gehörte irgendwie dazu, zur Nachbarschaft und zu ihrem Leben. Sie waren kurz nach ihren Eltern in die Luisenstraße gezogen. Und Anette war Julias Lehrerin im Gymnasium, in Deutsch und Kunst. Sie hatte sie gefördert, frühzeitig ihr künstlerisches Talent entdeckt, ihr Welten geöffnet. Wie oft hatte sie in diesem Haus gesessen und Bildbände gewälzt, während Anette ihr Geschichten über irgendwelche Künstler erzählte! Das hatte ihre Entscheidung, Designerin zu werden, in hohem Maße beeinflusst.
Später, als Malte Neugebauer geboren war, besserte Julia sich hier ihr Taschengeld mit Babysitting auf. Auch das hatte sie gerne getan. Denn es war nicht so, dass sie Kinder nicht mochte, im Gegenteil. Sie hatte ein gewisses Händchen im Umgang mit Kindern, konnte albern und verspielt sein, erlebte sich dann selbst oft wieder als Kind, genoss die Sorglosigkeit, die Leichtigkeit. Ja, sie mochte Kinder. Solange es nicht ihre eigenen waren.
In ihren Kindheitstagen hatte Julia sich oft gewünscht, in ihrer Familie könnte es so harmonisch sein wie bei Anette oder Bettina. Dort war alles so perfekt. Niemals wurde gestritten. Inzwischen wusste sie, dass dieser Schein trügerisch war. Anette lebte hier jetzt mit Malte allein. Martin hatte sie vor drei Jahren verlassen, wegen einer anderen Frau. Carla hatte sich damals sehr darüber aufgeregt, war voll auf der Seite der ‚armen‘ Anette, schimpfte auf den treulosen Ehemann. Damals lebte Julia schon nicht mehr hier, aber sie konnte sich an lange Telefongespräche erinnern, in denen ihre Mutter die weibliche Solidarität beschwor und die Männer verdammte, die ihren Frauen so etwas antaten. Und dann, als Stella und Friedhelm einzogen, wurde die weibliche Solidarität zusammen mit den Vorstellungen über eheliche Treue über Bord geworfen. Da war auf einmal alles entschuldbar – durch diese große Liebe. Gottseidank hatte sie das alles nicht mehr hautnah erleben müssen, weil sie zu diesem Zeitpunkt schon ausgezogen war.
Am Ende bestimmte diese neue Liebe das Leben der Mutter. In den Gesprächen mit der Tochter ging es nur noch um Friedhelm, was er gesagt oder getan hatte, wie toll er doch sei, wie glücklich er sie machte. Aber auch, wie viel Angst sie davor hatte, ihn zu verlieren. Am Ende konnte Julia den Namen Friedhelm nicht mehr hören. Dabei mochte sie ihn, sie mochte beide, ihn und Stella. Nach wie vor stellte sie sich Friedhelm eher als Partner von Stella vor, hatte kein stimmiges Bild von ihm an der Seite ihrer Mutter, obwohl sie Fotos von beiden gesehen hatte. Irgendwie passte das nicht.
Sie selbst hatte anscheinend auch keinen Platz mehr in Carlas Leben. Obwohl ihr Verhältnis schon lange nicht mehr besonders eng war, tat das weh. Die Jahre zuvor war es trotz allem ein gutes Gefühl gewesen, ein Zuhause zu haben, Teil einer Familie zu sein. Als sich Carla neu verliebte und sich die Eltern trennten, brach all das zusammen.
Julia ging zurück ins Haus. Sie brauchte nicht zu klingeln. Bettina hatte ihr einen Schlüssel überlassen. In der Wohnung hörte sie Stimmen aus der Küche.
„Ich habe ihm die Telefonnummer von Hanne gegeben, die kann ja alles bestätigen. Also Mädels, da wird schon nichts kommen. Aber irgendwie fühle ich mich trotzdem schuldig, weil ich ihr ja die schlimmsten Dinge gewünscht habe.“
Das war Stella. Julia erkannte ihre Stimme. Danach ergriff Bettina das Wort. „Für Gedanken kannst du nicht bestraft werden. Da müssten wir sonst alle verhaftet werden. Denken, Reden ist eins, Machen was ganz Anderes. Trotzdem ist das schon verrückt.“
Die Unterhaltung war vermutlich nicht für Julias Ohren bestimmt. Sie konnte aber nicht umhin, weiter zu lauschen.