Konflikt der Generationen - Rüdiger Maas - E-Book

Konflikt der Generationen E-Book

Rüdiger Maas

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Beschreibung

Plötzlich entflammt ein hitziger Streit zwischen Opa und Enkel, Vater und Tochter, Alt und Jung. Es geht ums Gendern, um Faulheit und Handys, um die vermeintlich guten alten Zeiten und die Lasten, die jede Generation zu tragen hat. Wie Risse ziehen sich die Konfliktlinien durch die Familien und die ganze Gesellschaft. Der renommierte Generationenforscher und Spiegel-Bestseller-Autor Rüdiger Maas beleuchtet die Ursachen und Hintergründe dieser augenscheinlichen Kluft. Das Buch taucht tief in die unterschiedlichen Weltsichten und Verhaltensweisen ein, die jede Generation prägen – von den Boomern, die in einer Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs aufwuchsen, über die Generation Z, die in einer Zeit voller Unsicherheiten und technologischer Umbrüche groß wurde, bis hin zur zukünftigen Generation Beta, die in eine völlig neue, futuristisch anmutende Welt hineingeboren wird. Maas erläutert, wie historische Ereignisse und gesellschaftliche Veränderungen die Einstellungen und das Verhalten jeder Generation geformt haben und warum dies oft zu Missverständnissen und Konflikten führt. Ein bahnbrechendes Porträt aller Generationen, ihrer Einstellungen und Lebensgewohnheiten und ein unverzichtbarer Leitfaden für alle, die den Generationskonflikt überwinden und zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft beitragen möchten.

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Seitenzahl: 308

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Impressum

Originalausgabe1. Auflage 2025© 2025 by Yes Publishing – Pascale Breitenstein & Oliver Kuhn GbRTürkenstraße 89, 80799 Mü[email protected] Rechte vorbehalten.

Redaktion: Matthias TeitingUmschlaggestaltung: Marija DžafoUmschlagabbildungen: oben: stock.adobe.com/Lucky Dragon USA, Mitte: stock.adobe.com/jayzynism, unten: Shutter B Foto/Shutterstock.comLayout und Satz: Daniel Förster, BelgerneBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-96905-333-1ISBN E-Book 978-3-96905-334-8

»Generationeneinteilungenmüssen kontingent und innerhalb einergeografischen, technischen, zeitlichen und gesellschaftlichenRahmung gesehen werden.«1

1  Maas 2021a.

Inhalt

Einführung
Vor-Urteile vs . Vorurteile
Globales Generationenmärchen
Erna, die Stille
Die Erfahrungshintergründe
Von Schubladen, die nicht immer passen
Was Uroma Erna nimmer lernt
Schwarze Pädagogik
Konnte die Stille Generation überhaupt glücklich sein?
Thomas, der Boomer
Platzhirsche räumen das Feld
Transgenerationelles Trauma?
Der Vereins-Raum
Gestatten, der Herr, mein Name ist X
Wilde Zeiten: Bloß nicht falsch abbiegen!
Die wahre letzte Generation
Die digitale Armee der Alten
Ich bin, wie ich bin – und du? Es ist mir nicht erinnerlich …!
Millennial-Mandy
Der Geschlechterwandel der Generationen
Start-up get down
Generation Z wie (ohne) Zuversicht
FFF und weitere Besonderheiten der digital Eingeborenen
Veränderte Gehirne
Verantwortungsdiffusion der Generationen – wer, wofür und warum eigentlich?
Eine Generation der Einsamen?
Der größte Konflikt: der Arbeitsalltag
Die Alphas unter den Generationen
Eine unsichere Welt?
Superdiversität
Unser Handlungsauftrag – die Betaversion
Gesteuerte Leben
Wie viel Veränderung brauchen wir in Zukunft?
Noch auf ein Wort – Generation Unendlichkeit
Literaturverzeichnis
Über den Autor

Einführung

Kennen Sie Miquela Sousa, kurz: Lil Miquela, eine brasilianische Influencerin auf Instagram? Die heute 27-Jährige postet täglich Bilder und Geschichten über sich. Sie präsentiert Mode, gibt Interviews und ist seit 2017 zudem unter die Sängerinnen gegangen. Nein? Dann gehören Sie vermutlich nicht zur Generation Z oder Alpha.

Wenn Sie nicht wissen, was »posten« bedeutet oder was »Instagram« überhaupt ist, dann gehören Sie mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zur Stillen Generation. Folgen Sie hingegen einigen Influencern, entstammen Sie vermutlich der Generation Z, denn etwa 95 Prozent ihrer Angehörigen machen genau dies – freiwillig.

Natürlich gibt es Menschen der Generation Z, die noch nie etwas von Lil Miquela gehört haben, und Menschen älterer Generationen, die sich täglich auf Social Media den neuesten Shit reinziehen und Lil Miquela ihr Like dalassen. Aber theoretisch betrachtet, sind ältere Menschen mit derartigen Vorlieben eine Ausnahme. Und ja, natürlich, Ausnahmen wird und muss es immer geben.

Stellen Sie sich einmal Ihren morgigen Tag ohne Auto, ohne Schrift oder Zahlen vor. Was müssten Sie dann alles anders machen als heute? Schwer zu sagen, oder? Vermutlich wäre so vieles anders, dass sich der Tagesablauf insgesamt gar nicht mehr in Worte fassen lässt. Genau so geht es den jungen Generationen, wenn sie sich eine Welt ohne Social Media, ohne Influencer oder Smartphone vorstellen sollen. Wie soll ich dann meine Freunde treffen, wie soll ich überhaupt den Tag überleben? Das wären wohl die ersten Reaktionen der Gen-Z-ler und der Alpha-Kids.

Tatsächlich kann den digital aufgewachsenen Menschen die Fantasie fehlen, sich eine andere Welt vorzustellen. Erlebt ein Mensch etwas, das ihn an eine früher gemachte Erfahrung erinnert, werden im Gehirn bekannte neurale Muster aktiviert, was dazu führt, dass wir uns auch mit einem bisher unbekannten Szenario zurechtfinden können. Hierbei verknüpfen wir die neue Erfahrung mit den Emotionen, die das Erinnern an die bereits gemachte Erfahrung bei uns auslöst.2Wenn aber die junge Generation bisher nie erlebt hat, wie ein Tag ohne Smartphone funktioniert, kann das Gehirn entsprechend wenige bekannte neuronale Muster aktivieren, die Emotionen an einen solchen möglichen Tag auslösen würden. Vermutlich werden die jungen Menschen an eine Situation denken, in der ihr Akku leer war und sie, ohne zu daddeln, auf den Zug warten mussten. Oder sie erinnern sich an den Wanderausflug, bei dem es kein Handynetz gab. Es werden aus Sicht der Jüngeren vermutlich eher negative abgespeicherte Erfahrungen sein. Die jungen Menschen würden vielleicht zu dem Schluss kommen: Was für ein langweiliger, sinnloser Tag wird es ohne Smartphone sein, bei dem ich so viel verpasse!

Jahrtausendelang haben Großeltern, Eltern, Kinder und Enkelkinder mehr oder weniger in sich gleichenden Lebenswirklichkeiten gelebt. Technische Entwicklungen brauchten oft zu lange, um eine spürbare Änderung für die ganze Gesellschaft herbeizuführen. Die Erinnerungen der Oma waren für den Enkel nicht nur spannend, sondern auch direkt anwendbar, da die Oma die gleiche Lebenswirklichkeit, den gleichen Erlebnishorizont hatte – auch schon, als sie noch selbst im Alter ihres Enkels war. Oma und Enkel sprachen über die gleichen Dinge, über dieselbe Wahrnehmung. Wenn sich überhaupt ein Wandel vollzog, dann nur langsam. Von den Kriegserlebnissen abgesehen, kann man tatsächlich sagen, dass es früher viel geringere Erfahrungs- und Erlebnisunterschiede zwischen Menschen unterschiedlichen Alters gab. Es gab viele Tätigkeiten, die von den Großeltern bis ins hohe Alter verrichtet und von ihren Enkeln direkt übernommen wurden, alltägliche Dinge wie zum Beispiel die Gartenoder Hausarbeit, die Zubereitung des Essens oder das Lindern und Heilen von Krankheiten und Schmerzen.

Doch die technischen Entwicklungen beschleunigten sich, und die Menschen wurden stets durch neue Errungenschaften beeinflusst. Eltern machten folglich andere Erfahrungen als ihre Kinder. Die Kontinuität der Erfahrungen erhielt nun Brüche. In unserer heutigen schnelllebigen Zeit hat sich dieses Phänomen weiter beschleunigt, und seit der massenhaften Verbreitung des Internets löst das eine Phänomen das andere ab: Nach der Erfindung des World Wide Web wurde etwa sechs Jahre später Google für die breite Masse zugänglich und weitere fünf Jahre später wurde das größte Social-Media-Portal, Facebook, aus der Taufe gehoben. Seitdem werden immer wieder neue Social-Media-Seiten vom Stapel gelassen, die Millionen, sogar Milliarden Menschen weltweit in ihren Bann ziehen. Menschen nutzen die Technologien und entwickeln Verhaltensweisen, um sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Für die jungen Menschen, die mit den neuen Technologien aufwachsen, sind diese selbstverständlich. Sie kennen keine Welt ohne sie.

Je schneller jedoch eine technologische Entwicklung die nächste ablöst, desto schneller ereignen sich Brüche in den Erfahrungshintergründen der Menschen. Als Folge haben wir nicht nur völlig unterschiedliche Erlebnishorizonte zwischen Enkeln und Großeltern, sondern mittlerweile auch schon zwischen Eltern und Kindern – und wenn die technischen Entwicklungen weiterhin so schnell erfolgen, werden wir auch zwischen jungen Menschen in kürzeren Abständen bereits Unterschiede feststellen. Denn in Auseinandersetzung mit den technischen Errungenschaften entstehen bei unterschiedlichen Menschen unterschiedliche Lebenswirklichkeiten, Denkmuster und Affinitäten.

Der Mensch hat sich vor allem wegen seiner kognitiven Leistungsfähigkeit so gut entwickeln können. Genauer gesagt: Der Homo sapiens hat sich in der Welt durchsetzen können, weil er in der Lage war, sich etwas vorzustellen, was es noch gar nicht gibt. Der prototypische Sapiens hat eine viel stärkere genotypische Veranlagung für die Merkmale der Verhaltensmoderne als der Neandertaler, insbesondere aufgrund von Gensätzen im Selbstbewusstseinsnetzwerk, die mit Kreativität, prosozialem Verhalten und Langlebigkeit verbunden sind.3

Durch diese Vorstellungskraft war es möglich, große Menschenmassen dazu zu bewegen, gemeinsam etwas zu machen: gemeinsam einen Sonnengott anzubeten, der befiehlt, das Nachbardorf zu überfallen, große Pyramiden zu bauen oder riesige Felsbrocken in einem Kreis aufzustellen. Seltsamerweise ist es aus biologischer Perspektive für unser Überleben überflüssig, dass wir uns etwas vorstellen können, das es nicht gibt. Einige Forscher vermuten sogar, dass ein Gendefekt dazu geführt haben könnte, dass wir ein derartiges Imaginationsvermögen erworben haben.

Da junge Menschen heute mit hoher Wahrscheinlichkeit noch keinen Tag ohne Smartphone erlebt haben, sind ihre Vorstellungen von einem Smartphone-freien Tag vollkommen andere als die älterer Menschen, die in ihrer Kindheit Tage, Woche oder sogar Jahre ohne Smartphone verbracht haben. Und weil den jüngeren Menschen hierzu das Erfahrungswissen fehlt, imaginieren sie, wie ein Tag ohne Smartphone aussehen könnte. Je nach Alter haben sie unterschiedliche Vorstellungen von einem solchen Tag.

»Mama, wie schnell fährt das schnellste Auto der Welt?« – »Keine Ahnung« – das ist eine Antwort, die ein heutiges Kind nicht ohne Weiteres akzeptieren wird. Vielmehr wird es die Mutter oder den Vater darum bitten, die Antwort dann eben zu googeln. Völlig selbstverständlich folgen wir dieser Bitte und bieten unseren Kindern kaum noch Gelegenheiten, bei denen sie lernen können, geduldig zu warten oder sich gar zu langweilen. Ein heutiges Kind muss nicht bis 17:00 Uhr warten, bis seine Lieblingsserie im TV läuft, es kann die Folge im Hier und Jetzt siebenundzwanzigmal am Stück anschauen. Ein heutiges Kind muss sich nicht durch einen Vorspann quälen oder langweilige Szenen aushalten, nein, es kann seine Lieblingsfolge nicht nur sofort anschauen, sondern auch unangenehme, langweilige oder weniger spannende Sequenzen vor- und zurückspulen, und das mehr oder weniger immer. Wie fremd es den Jungen erscheinen muss, dass es früher fast nur saisonale Produkte im Laden gab, keine Erdbeeren im Winter, kein Kürbis im Sommer. Heute kann dank der Importe aus anderen Weltregionen selbst der Spargelsaison ein Schnippchen geschlagen werden.

Bedürfnisse zeitnah zu erfüllen, ist für ältere Menschen dagegen oft fremd. Doch was nutzt einem Vater, der in der DDR sozialisiert wurde, die Erfahrung, wie lange er für Bananen anstehen musste, wenn sein Sohn, der in der BRD aufgewachsen ist, sich das zwar vorstellen kann, es aber nicht miterlebt hat? Zu verschieden sind die Erfahrungshorizonte von Vater und Sohn. Folglich verhalten sie sich auch diesbezüglich unterschiedlich.

Während Menschen früher meist alle Stars und Sternchen kannten, schließlich waren sie regelmäßig in Fernseh- und Rundfunk sowie in den Printmedien vertreten, agieren die Stars der jungen Generationen heute unter dem Radar der Alten. Im Netz avancierten die Influencer zu den zeitgenössischen Berühmtheiten. Die zu Beginn erwähnte Influencerin Lil Miquela zum Beispiel, Influencer-Star für Mode, Musik und Lifestyle, hat 2,5 Millionen Instagram-Abonnenten.4Das Modeln auf Instagram soll ihr jährlich ca. zehn Millionen US-Dollar einbringen. Für die Älteren ist es kaum nachvollziehbar, dass Jüngere einem Influencer täglich folgen; tatsächlich bekommen die Älteren oftmals gar nicht mit, was die jeweiligen Influencer eigentlich machen. Denn die Stars der Jungen finden meist ausschließlich im Netz statt. Unverständlich ist für die Älteren zudem – sofern sie von Lil Miquela gehört haben –, dass diese, obwohl sie gar keine Kindheit hatte, ein Millionenpublikum in den Bann zieht.

Lil Miquelas Geheimnis gelüftet haben die Instagram-Accounts »Blawko« und »Bermuda«. Sie sollen den Instagram-Account der Influencerin gehackt haben, um ihre wahre Identität zu entlarven. Lil Miquela hat die Gabe, immer gleich alt und immer schlank zu bleiben, egal wie viele Gummibärchen sie isst. Ein Traum für viele, aber wie schafft sie das?

Ganz einfach, sie kam nie auf die analoge Welt, sondern wurde in der Cyberwelt direkt als junge Dame geboren, denn sie ist zu 100 Prozent KI-generiert, also durch künstliche Intelligenz erzeugt. Den jüngeren Menschen der Generationen Alpha und Z ist das offenbar egal. Die Enthüllung von Lil Miquelas wahrer Identität hatte keine Auswirkungen auf die Beliebtheit ihrer Accounts beziehungsweise auf die Zahl ihrer Follower. (Man denke nur an Milli Vanilli zurück, die waren damals weg vom Fenster.)

Aber auch hinter den Accounts von Blawko und Bermuda stehen keine realen Personen. Auch sie sind Avatare. Wie absurd, dass der Instagram-Account einer nicht existierenden Person von zwei nicht Existierenden gehackt wird.

Der Erfolg von Lil Miquela ist weiterhin ungebrochen. 2,5 Millionen Follower scheinen sich nicht daran zu stören, dass die Influencerin kein Mensch ist – sie nutzen eben ihre Imagination, unsere besondere Fähigkeit seit Urzeiten, um sich Lil Miquelas Leibhaftigkeit vorzustellen.

Für viele ältere Menschen ist es undenkbar, dem Account einer Person, geschweige denn eines Avatars bereitwillig jeden Tag zu folgen und auf dessen oft belanglose Inhalte mit einem Like zu reagieren oder sich von diesen begeistern oder inspirieren zu lassen. Für die jüngere Generation ist das hingegen Normalität.

Geht es um den Begriff »Generationen« und deren »Unterschiede«, wird schnell auf die gängigen populärwissenschaftlichen Generationeneinteilungen in Deutschland ab 1946 oder gar ab 1883 bis heute verwiesen. Auch ich habe diese hier im Vorwort verwendet, und zwar nach folgender »gängiger« Einteilung:

Verlorene Generation

geboren zwischen 1883 und 1900

Große Generation

geboren zwischen 1901 und 1927

Stille Generation

geboren zwischen 1928 und 1945

Generation Babyboomer

geboren zwischen 1946 und 1964 (bzw. 1969)

Generation X

geboren zwischen 1965 (bzw. 1970) und 1979 (bzw. 1984)

Generation Y

geboren zwischen 1980 (bzw. 1984) und 1995 (bzw. 1998)

Generation Z

geboren zwischen 1995 (bzw. 1998) und 2010

Generation Alpha

geboren ab 2010 bis heute

Generation Beta

geboren ab 2025

Gelegentlich finden sich in einer solchen Aufstellung auch andere Jahreszahlen, denn es gibt aus wissenschaftlicher Sicht bis heute kein Konzept, das wirklich belegt, dass zwingend alle 15 Jahre eine neue Generation ausgerufen werden kann mit Eigenschaften, die dann für mehrere Millionen Menschen gelten sollen. Es sei also gleich vorweg gesagt: Menschen anhand von ihren Geburtstagen in 15-Jahres-Schritten zusammenzufassen und ihnen eher willkürliche Attribute aufzuoktroyieren, ist ein Vorgehen, das mehr mit einem Sternzeichenhoroskop zu tun hat als mit seriöser Sozialwissenschaft. Den Generationenbegriff oder die Generationeneinteilungen aus dem Sprachgebrauch komplett zu verbannen oder die Unterschiede in Gänze zu leugnen, wie es gelegentlich gefordert wird, ist jedoch ebenfalls nicht hilfreich. Es bedarf eines differenzierteren Blicks.

Es gibt sie, die Generationenunterschiede, auch wenn sie sich leider nicht an die 15-Jahres-Vorgaben halten. Diese Unterschiede möglichst präzise herauszuarbeiten, ist Auftrag dieses Buchs. Beginnend bei den Menschen, die während der Kriegsjahre groß wurden; weiterfolgend mit ihren Kindern, Enkel-, Ur- und Ururenkelkindern. Es wird vom Früher über das Heute in die Zukunft gehen. Die Influencerbeziehungsweise Digitalthematik soll dabei nur ein einzelner anschaulicher Aspekt von sehr vielen sein.

Mein Ziel ist es, ein Verständnis zwischen den verschiedenen Alterskohorten und Generationen aufzubauen. Denn momentan sprechen in vielen Bereichen tatsächlich Jung und Alt aneinander vorbei. Es gibt im Grunde gar keinen wirklichen Konflikt zwischen den Generationen, sondern eher einen Konflikt, den jede Person, die die Welt nicht mehr zu verstehen glaubt, erst einmal mit sich selbst und den anderen hat.

Stellen wir uns ein riesiges Parkhaus vor mit vielen verschiedenen Ebenen. In der Ebene U1 sucht Oma mit ihrem Auto nach einem Parkplatz. Im Erdgeschoss parkt Vater seinen SUV, im ersten Stock die Tochter ihr Cabrio und im zweiten Stock die (Ur-)Enkelin ihren Laufroller.

Alle haben den Wunsch, ihr Fahrzeug abzustellen, um sich dann zu treffen. Nur gibt es im Parkhaus kein Licht. Die Uroma sieht am wenigsten, denn das Tageslicht scheint nicht ins Untergeschoss; mühevoll versucht sie ihr Auto im Stockdunkeln zu parken. Am einfachsten hat es die (Ur-)Enkelin, denn sie kann dank des Tageslichts im oberen Geschoss ihren Parkplatz gut finden.

Wenn nun alle Generationen über ihre Mühe bei der Parkplatzsuche sprechen, sind es unterschiedliche »Mühen«, da der Schweregrad aus der jeweiligen Perspektive unterschiedlich scheint. Die Cabriofahrerin weist auf ihre kurze Erfahrung hin, denn sie hat ihren Führerschein erst seit einer Woche, während Uroma schon seit über 50 Jahren mit dem Auto fährt und das Parkhaus mittlerweile kennen sollte.

Aber wie solle sie denn etwas kennen, fragt Uroma, in dieser schrecklichen Dunkelheit?

In unserem metaphorischen Parkhaus ist es wie im Leben: Nur wenn Menschen zusammentreffen, kann es Konflikte geben. Das lateinische Wort confligere steht genau hierfür. Wir treffen zusammen, es entsteht Reibung, es entstehen Konflikte. Das Wort Generationen hingegen stammt vom lateinischen generatio ab, der Zeugung(sfähigkeit). Per Definition sollten also alle mit allen verbunden sein.

Was aber, wenn genau das nicht mehr stattfindet? Wenn wir generationenübergreifend nicht mehr zusammentreffen können, nicht mehr die gleiche Sprache sprechen? Gibt es dann immer noch Konflikte? Bezogen auf unsere Parkhausmetapher: Kann es überhaupt einen Konflikt, ein Zusammenprallen geben, wenn wir alle auf unterschiedlichen Parkdecks fahren?

Jahrhunderte haben wir nur Parkplätze auf der einen Ebene erzeugt, dann fingen wir an in die Höhe und Tiefe zu er-zeugen und nun scheinen die nächsten Generationen zu allem Unglück gar keine Parkplätze oder Parkhäuser mehr nutzen zu wollen.

Um hier Brücken zwischen den Lebenswirklichkeiten zu schlagen, können die Generationenbegriffe tatsächlich dienlich sein. Ob dies die gängigen 15-Jahres-Definitionen sein müssen, darüber kann man sich streiten. Entscheiden Sie am besten selbst nach der Lektüre dieses Buchs.

Wenn wir ehrlich sind, würde sich eine Diskussion darüber, wer in der Parkhausszenerie nun recht hat, im Kreis drehen. Denn alle haben für sich genommen recht und somit hat niemand ein übergreifendes, objektives Recht. Es geht beim Generationenverständnis eben nicht um die Bewertung, was richtig oder falsch ist, sondern um ein wertneutrales Aufnehmen von Veränderungen. Jene mit einer langen Vita betrachten das Neue mit Verwunderung, während jene mit einer kurzen Vita das Neue schon immer nur als solches wahrgenommen haben. Entscheidend sind also die veränderte Umgebung und der nun (mit)veränderte Mensch.

Ein anderes Beispiel für das unterschiedliche Empfinden der Generationen wäre – anstelle von Lil Miquela – vielleicht Angela Merkel. Die heutigen Erstwähler kannten bis vor einigen Jahren nur Angela Merkel als Kanzlerin. Somit ist alles, was sie mit ihrer Kindheit und Jugend politisch assoziieren, auch mit Angela Merkel assoziiert. Vieles, was ältere Menschen bemängeln oder fühlen, kann für die Erstwähler gefühlt ganz anders sein. Und so wählten vor drei Jahren 30 Prozent der Erstwähler Grüne oder FDP, während heute etwa gleich viele AfD oder BSW wählen.5Die Frage, die in diesem Zusammenhang oft formuliert wird, lautet: »Was ist los mit den jungen Erstwählern?« Viel zielführender wäre vielleicht: »Was ist los mit der Umgebung der jungen Erstwähler?«

Es hat sich die Umgebung und mit ihr der Zeitgeist geändert und dieser prägt die Menschen, die mit ihm aufwachsen. Menschen, die diesen Zeitgeist nicht mitgehen wollen, werden dadurch sichtbarer und wirken für heutige junge Menschen möglicherweise befremdlich. Äußern diese Nichtzeitgeister noch öffentlich ihre Meinung, indem sie über die neuesten Entwicklungen und Trends schimpfen, wirkt es nur noch befremdlicher. Die Diskussion dieser Menschen in den Medien wird dann für alle »neuen Generationen« vielleicht als paradox wahrgenommen, nach dem Motto: »Lieber Boomer, du fühlst dich also eingeschränkt, weil du niemanden mehr beleidigen darfst?«

Wenn beide Parteien sich missverständlich übereinander äußern, werden die Verständnisgräben nur größer. Wir müssen also wieder zusammenfinden, analog wie digital, ein bisschen ambiguitätstoleranter werden und unsere Unterschiede aushalten. Zudem sollte stets daran gedacht werden: Wir sind alle Kinder unserer Zeit. Wir haben nun den Auftrag, jede und jeden, so gut es geht, auf der gemeinsamen und spannenden Reise der Generationenvielfalt mitzunehmen.

2  Fesce 2023.

3  Podbregar 2021.

4  Lil Miquela 2024.

5  Spiegel 2024, 26.08.2024.

Vor-Urteilevs . Vorurteile

»Ich gehöre zur Generation Golf«, sagt A, »schließlich war ich in den 1980ern stolzer Besitzer eines 1er-Golfs, liebe das Leben und habe ein Faible für teure Marken.« – »Und ich bin ein klassischer Boomer«, wirft B ein, »denn ich habe mich mit aller Kraft auf mein Studium konzentriert und mir das erarbeitet, was ich immer wollte.« – »Als Zillennial kann ich all das, was ein typischer Z-ler kann, bin aber viel offener und multitaskingfähiger«, fügt C hinzu.

In unserer Gesellschaft findet man in den Medien viele Generationeneinteilungen, deren jeweilige Generationenmitglieder aus wissenschaftlicher Perspektive allerdings wenige Gemeinsamkeiten haben. Es gibt Unterschiede, die in den jeweiligen Kapiteln dieses Buchs beleuchtet werden – medial werden den Generationen jedoch oftmals wahllos Attribute zugeschoben, die nicht selten auf einzelne Beobachtungen zurückgehen. Viel zu übertrieben sind die Pauschalisierungen, aus denen jeder Leser für sich etwas Spezifisches interpretieren kann, trotzdem halten sie sich hartnäckig. Sie bestätigen Menschen nicht nur in ihrem Urteil über sich selbst und helfen, die eigenen Handlungen zu rechtfertigen – schließlich bin ich ja ein Z-ler und kann nicht telefonieren, also musst du anrufen –, sondern sie erlauben uns, zu einer schnellen Einschätzung des anderen Menschen zu gewinnen: Boomer, das sind karriereversessene Alphamänner.

Wie Vorurteile uns beeinflussen, haben wir vom Institut für Generationenforschung 2023 untersucht. In gewisser Weise stellten wir unseren Umfrageteilnehmenden eine Falle, denn wir wussten natürlich, dass es schon immer Vorurteile gegenüber den Generationen gab. So lautet zum Beispiel die Inschrift einer babylonischen Tontafel, die etwa aus dem Jahr 1000 vor Christus stammen soll: »Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird niemals so wie die Jugend vorher und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten.« Wir wollten mit unserer Befragung jedoch herausfinden, wie sehr die Menschen immer noch an derartigen Generationenstereotypen festhalten.

Wir stellten fest: Je älter die befragten Personen sind, desto weniger sind sie der Meinung, dass sie sich bei nachhaltigen Themen die junge Generation zum Vorbild nehmen sollten. Die jüngeren Befragten dagegen sehen sich in ihrer Vorbildfunktion als Nachhaltigkeitspioniere. Kein Wunder, dass die Angehörigen jeder Generation sich selbst im besten Licht sehen möchten. Wer lässt sich schon gern als nicht nachhaltig bezeichnen? Oder wie es im Falle der Boomer ist: Wohl kaum einer lässt sich gern den Stempel »rückwärtsgewandter, karriereversessener Egomane« aufdrücken.

Globales Generationenmärchen

So verlockend es sein mag, Menschen in 15-Jahres-Schubladen zu stecken, am liebsten weltweit, es ist Unfug. Zwar machen Menschen, die zu einer ähnlichen Zeit aufwachsen, wahrscheinlich ähnliche Erfahrungen, was dazu führen könnte, dass sie ähnliche Persönlichkeitsmerkmale ausbilden, doch führt ein klar definierter Geburtszeitraum nicht zwingend zu bestimmten Merkmalen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg beispielsweise war in Deutschland nichts mehr wie zuvor. Die Überlebenden hatten mit enormen psychischen, sozialen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Während Deutschland langsam wiederaufgebaut wurde und die Menschen in der ständigen Angst lebten, die beiden Großmächte könnten jederzeit den Planeten auslöschen, kämpften Indonesier um ihre Unabhängigkeit, in Griechenland entfachte sich ein dreijähriger Bürgerkrieg, es kam zum Indisch-Pakistanischen Krieg, dem Krieg um Palästina, zum Koreakrieg und immer so weiter …

Die Erfahrungen, mit denen ein Mensch aufwächst, sind entscheidend. Menschen, die in Korea aufwuchsen, bevor sich der Norden Koreas nach dem Zweiten Weltkrieg vom Süden abspaltete, machten vollkommen andere Erfahrungen als Menschen, die nach der Abspaltung in Nordkorea groß wurden. Denn während sich in Südkorea ein demokratisches System etablierte, entwickelte sich Nordkorea zu einem der wohl totalitärsten, ärmsten und unterentwickeltsten Staaten der Welt. Heute verlaufen die unterschiedlichen Erfahrungshorizonte in Nordkorea wahrscheinlich eher nach den Lebzeiten der jeweiligen Führer. Da gibt es diejenigen, die zwischen 1948 und 1994 unter der Diktatur Kim Il-sungs aufwuchsen, diejenigen, die von 1994 bis 2011 unter Kim Jong-il groß wurden, und schließlich diejenigen, die ab etwa 2012 durch die Regentschaft von Kim Jong-un geprägt werden.

Die in den Medien häufig genannten Generationen, die Nachkriegsgeneration, die Generation Babyboomer, X, Y, Z und Alpha, wird man in Nordkorea nicht finden, ebenso wenig in vielen anderen Ländern, da die Menschen dort ganz unterschiedliche Erfahrungshintergründe haben. Denn Erfahrungshintergründe sind zentral für die Merkmale, die Menschen ausprägen. Andere Erfahrungshintergründe machen es wahrscheinlich, dass Menschen andere Probleme bewältigen müssen und mit anderen Herausforderungen konfrontiert sind. Andere Kulturen können dazu führen, dass Menschen andere Entscheidungen treffen müssen, andere Wege beschreiten oder unterschiedliche Lebensläufe ausbilden.

In Japan zum Beispiel haben sich für die Generationen andere Begriffe ausgebildet: Von der »Taisho-Generation«, deren Namensgeber der damalige Kaiser (1912–1926) ist, hin zur »Shouwahitoketa«, einer Generation, deren Namen sich von der großen wirtschaftlichen Depression nach dem Zusammenbruch der politischen Partei ableitete (1926–1934), und »Yakeatoseai«, zu Deutsch »verbrannte Generation«, die 1935 bis 1946 während des Zweiten Weltkriegs geboren wurden, bis hin zu »Shinjinrujunior« (Shinjiru heißt in etwa: »glauben«), die zwischen 1980 und 1996 das Licht der Welt erblickte und Ähnlichkeiten zur Generation Y aufweist. Während sich in Deutschland seit 1945 mit Beginn der Nachkriegsgeneration und bis heute zur Generation Alpha (Geburtenjahrgänge ab 2010) sechs verschiedene Generationen ausmachen lassen, geht man im gleichen Zeitraum in Japan von etwa 14 verschiedenen Generationen aus. Ob sich Generationen ausbilden, ist damit maßgeblich vom Kontext abhängig, in welchem Menschen leben. Kurzum: Ein anderer Kontext kann eine neue Generation hervorrufen, bleibt jedoch alles beim Alten, entsteht auch keine neue Generation.

Generationen sind also nicht statisch, sondern dynamisch. Das heißt auch: Anhand einer festgelegten Altersspanne eine neue Generation auszurufen, ist nicht sinnvoll. Wer kann schon garantieren, dass sich innerhalb von 15 Jahren die Erfahrungen von Menschen so ändern, dass eine neue Generation entsteht? Um Grenzen zwischen unterschiedlichen Erfahrungshorizonten ziehen zu können, muss man sich gedanklich von der Generationenschablone von 15 Jahren lösen.

Erna, die Stille

»Unsere Eltern räumten die Trümmer der zerstörten Häuser mit den Händen weg – wir, die nächste Generation, sind mit dem Aufräumen der seelischen Trümmer beschäftigt.«

Bettina Alberti

Frauen, Kinder und die noch verbliebenen Männer harren in den Bunkern aus und klammern sich aneinander. Detonationen künden den nahenden Bombenhagel an. Kurze Zeit später verglühen die Nachbarshäuser. Aus den Kellern hört Erna die letzten Lebensschreie versengender Menschen. Löschversuche unternimmt niemand mehr, auch wenn die übrig gebliebenen verwundeten Wehrmachtssoldaten stoisch sinnlose Anweisungen geben. Tagelang später noch brennen die Städte, ein unsäglicher Zerstörungsgeruch aus verbranntem Holz, qualmenden Gemäuern und verwesenden Leichen hängt über den Städten. Zwischen dem Geröll und den aufsteigenden Rauchschwaden sucht Erna gemeinsam mit anderen Überlebenden ihre Habseligkeiten zusammen.

Es schlägt die Stunde null. Der Zweite Weltkrieg hat große Teile Deutschlands in Schutt und Asche gelegt. Die überlebenden jungen Menschen wachsen mit den furchtbarsten Erfahrungen auf, die Menschen machen können. Während die einen auf den Schlachtfeldern unsägliche Tötungen erlebten und selbst zu Mördern wurden, versuchte Erna wie viele andere Menschen in den Dörfern und Städten verzweifelt, hungernd und in ständiger Angst um sich selbst und ihre Liebsten zu überleben. Auch in den Jahren nach dem Krieg, der den zwischen 1926 und 1934 Geborenen den Namen »Stille Generation« oder auch »Nachkriegsgeneration« einbringen wird, werfen all das erlebte Leid, die jahrelangen Entbehrungen und nicht heilbare körperliche und psychische Wunden düstere Schatten auf die Überlebenden. Zum Zeitpunkt des Kriegsendes waren die jungen Menschen der Nachkriegsgeneration zwischen 11 und 19 Jahre alt und damit genau in der Lebensphase, in der sich Erinnerungen besonders intensiv im Gedächtnis abspeichern. In ihrem noch jungen Alter hat Erna kaum etwas anderes kennengelernt als ein Leben im Krieg. Das nackte Überleben stand im Vordergrund, alles andere war Nebensache.

Durch den Zweiten Weltkrieg mussten in Deutschland 2,5 Millionen Kinder ohne Vater aufwachsen. 56 Prozent der Kriegskinder des Jahrgangs 1935 und 37 Prozent der Kriegskinder des Jahrgangs 1945 wurden kriegsbedingte Halbwaisen.6In den Trümmern des Krieges übernahmen Mütter nicht nur die Kindererziehung und den Haushalt, sondern auch die Rolle der Alleinversorgerinnen. Armut war in vielen Familien Alltag.7Eine Studie untersuchte im Jahr 2003 insgesamt 883 Angehörige der Nachkriegsgenerationen bezüglich ihres psychischen Befindens. Personen, die in ihrer Kindheit den Vater im Krieg verloren hatten, wiesen mehr psychische Probleme wie etwa depressive Symptome und soziale Phobien sowie stärkeres Misstrauen auf als Personen, die mit ihrem Vater aufwuchsen. Die Halbwaisen zeigten häufiger Angst vor dem Umgang mit anderen Menschen sowie Unbehagen und Misstrauen.8

Die Erfahrungshintergründe

Zwar machten die überlebenden jungen Menschen in Deutschland, je nachdem, wo sie aufwuchsen, unterschiedliche Erfahrungen – der eine an der Front, Erna als minderjährige Ersatzmutter für die getötete eigene Mutter, die anderen auf der Flucht oder im Exil in einem fremden Land –, doch bildet immer der Krieg den Referenzpunkt, um Situationen aus der Gegenwart zu deuten. Vielleicht erinnern Sie sich daran, dass Ihre Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern (je nach Ihrem Alter) erzählten, dass man die Möglichkeiten von heute gern im Krieg gehabt hätte, dass man das Brot schon noch essen könne, es reiche, wenn man den Schimmel wegschneide. Die Erfahrungen, die die Nachkriegsgeneration in ihren jungen Jahren machen musste, wurden existenzweisend. In der Generationenforschung spricht man von Erfahrungshintergründen, den Kontexten des Aufwachsens, die einen Menschen zu dem machen, was er ist.

Alle Angehörigen der Nachkriegsgeneration hatten also einen ähnlichen Erfahrungshintergrund: den Krieg. Doch ein ähnlicher Erfahrungshintergrund führt nicht zwangsläufig dazu, dass Menschen sich auch in ähnlicher Weise entwickeln. Während Ernas 16-jähriger Bruder zum Ende des Krieges beispielsweise noch Richtung Russland marschieren musste und dabei unsägliches Leid erfuhr, wurde ihr 12-jähriger Bruder nicht zur Wehrmacht eingezogen und konnte sich gemeinsam mit der Mutter und Erna mehrere Monate im Wald verstecken. Während sich der damals 12-Jährige bis zu seinem Tod lebhaft an die nächtlichen Detonationen der Bomben und daran erinnern konnte, wie er sich zusammen mit seiner Mutter und seinen Schwestern zusammenkauerte, sodass er schließlich eine posttraumatische Belastungsstörung entwickelte, konnte der 16-jährige Bruder seine Kriegserfahrungen in einer Weise verarbeiten, dass sie sein Leben nicht wesentlich beeinträchtigten.

Viele Männer, die ihre Kriegserfahrungen bewältigen konnten, wurden im wirtschaftlich boomenden Nachkriegsdeutschland finanziell und beruflich erfolgreich. Eine neue Wirtschaftsform, die die Industrie umfassend förderte, der »Marshallplan«, der die zerstörten europäischen Länder beim Wiederaufbau finanziell unterstützte, und die vielen Flüchtlinge, die in Deutschland Arbeit suchten, trugen zusammen mit etlichen weiteren Gründen dazu bei, dass viele Menschen in Deutschland das »Wirtschaftswunder« erlebten. Warme Mahlzeiten, eine eigene Wohnung und sogar ein eigenes Auto waren möglich. Wer männlich war und noch anpacken konnte, konnte es mit etwas Durchhaltevermögen und Glück zu viel bringen. Andere dagegen, deren Wunden zu groß waren, versanken häufig in Armut, zerbrachen an ihren Traumata oder lebten in zerrütteten Verhältnissen.

Von Schubladen, die nicht immer passen

Je nachdem, wo und mit wem Sie aufgewachsen sind, was Sie von Ihrer Umgebung mitbekommen haben und wie Ihre Persönlichkeit ausgestaltet ist, wie Sie also eine Situation wahrnehmen und verarbeiten, haben ganz unterschiedliche Situationen und Dinge aus Ihrer Zeit des Aufwachsens Einfluss auf Sie genommen. Das sind Ihre persönlichen Erfahrungen, Ihr Erfahrungshintergrund. Wuchsen Sie zum Beispiel in den 1970ern in der DDR auf, haben Sie andere Erfahrungen gemacht als Ihre Kollegen in der BRD. Sehr wahrscheinlich teilen Sie mit Ihren »Genossinnen« und »Genossen«, wie Sie Ihre Peergroup zu DDR-Zeiten noch nennen mussten, einen ähnlichen Hintergrund, doch wirkt dieser sich nicht zwangsläufig in gleicher Weise auf alle aus. Der Mensch ist individuell verschieden, was dazu führt, dass der Stempel »DDR-Bürger« eben nicht ausreicht, um zu wissen, wie ein ehemaliger DDR-Bürger tickt.

Der abfällige Kommentar des vorlauten Nachbarn, der Mitglied eines Anti-Greta-Autoclubs ist, führt bei einem stolzen E-Auto-Besitzer zu maximaler Echauffiertheit, gipfelnd in einer drohenden Faust. Bei einem anderen löst er ein gleichgültiges Schmunzeln aus, bei einem Dritten nur mitleidige Gedanken und dem Vierten fällt die Sache gar nicht auf. Ihre Persönlichkeit entscheidet mit, wie Sie in bestimmten Situationen reagieren.

Die Aufgabe der Generationenforschung ist es herauszufinden, wie Menschen mit gemeinsamen Erfahrungshintergründen diese verarbeitet haben, was also die Menschen aus den Einflüssen gemacht haben, die auf sie einwirkten. Unter Umständen können gleiche Erfahrungshintergründe ein ganzes Potpourri an Merkmalen bei den Menschen verursachen. Sag mir dein Geburtsdatum, und ich sag dir, wer du bist – so einfache Lösungen bieten bestenfalls die Horoskope an. Aus Sicht der Wissenschaft kann das nicht funktionieren.

Wir Generationenforscher schauen uns an, ob die Schubladen, in die alle Menschen eines bestimmten Geburtszeitraums hineingeschmissen werden, wirklich Sinn ergeben. Und immer wieder finden wir heraus, dass die Schubladen in Bezug auf bestimmte Merkmale für viele Menschen einer Altersgruppe sinnvoll sind, jedoch in Bezug auf andere Merkmale nicht. Beispielsweise haben wir bei unserer zweiwöchentlichen deutschlandweiten Befragungen während der Coronapandemie festgestellt, dass sich junge Menschen, meist Angehörige der Generation Z, in ihrem Verhalten stärker an den gesetzlichen Regelungen orientieren als ältere Menschen.9In Bezug auf die sogenannte Regeltreue können wir sehr wahrscheinlich von einem generationellen Merkmal sprechen, das die Generation Z auszeichnet, denn das Gros der Generation Z unterscheidet sich mit seinem regeltreuen Verhalten vom Großteil anderer Generationen. Allerdings merken wir immer wieder, dass einige Menschen wie die Faust aufs Auge in die Schubladen ihrer Altersgruppe passen, während andere sich niemals darin einordnen lassen. Natürlich gibt es auch bei der Generation Z Mitglieder, die sich nicht um die Pandemieregeln der Regierung scherten, und es gibt Babyboomer, die die Regeln streng einhielten – so wie es die kriegsgebeutelten Brüder gab, die jeder für sich den Krieg jeweils unterschiedlich verarbeiteten.

Wenn wir es schaffen, einzelne generationelle Merkmale für eine Alterskohorte herauszulösen, werden immer auch Unterschiede sichtbar. Da wir herausfinden konnten, dass die Regeltreue ein generationelles Merkmal der Generation Z ist, beobachteten wir während der Pandemie, wie sich Menschen unterschiedlichen Alters in Bezug auf Regeln verhielten. Wir stellten uns die Frage: Wie verhalten sich die verschiedenen Alterskohorten vor dem Hintergrund der Regeln?

Unterschiede werden immer dort sichtbar, wo Menschen miteinander agieren oder angehalten sind, ähnliche Dinge zu tun. Zu den Bereichen, in denen Unterschiede heute für gewöhnlich sichtbar werden, zählt die digitale Welt. Hier prallen die Angehörigen verschiedener Generation aufeinander, beispielhaft in den »Okay Boomer«-Memes, welche sich 2019 zu einer stereotypischen Phrase entwickelten, unter der junge Menschen ältere Menschen auf die Schippe nahmen.

Wenn Sie sich auf Zeitreise zu den Erfahrungshintergründen Ihrer Generation begeben, werden Sie Situationen finden, die Sie definiert oder beeinflusst haben, aber auch solche, die Sie nicht beeinflusst oder von denen Sie gar nichts mitbekommen haben.

Was Uroma Erna nimmer lernt

1, 2, 3 und 4. Moritz holt tief Luft. Doch kurz bevor er gemeinsam mit seiner Gruppe die Flöte zum Stück Morgen kommt der Weihnachtsmann ansetzen kann, durchbricht ein schriller Klingelton die andächtige Stille beim alljährlichen Weihnachtskonzert der Musikschule. Irritiert blicken die Kinder auf ihre Musiklehrerin, die ein wiederholtes Mal den Takt vorgibt. »Die Oma ändert sich nimmer«, flüstert Martin amüsiert, als seine Mutter hektisch ihr Smartphone aus der Tasche kramt und versucht, es lautlos zu stellen. »Martin, hilf doch mal, das blöde Ding hat noch nie richtig funktioniert«, raunt ihm seine Mutter angespannt zu. Marie und Paul kichern – und nicht gerade leise. Einige Zuschauer im Saal recken neugierig ihre Hälse auf der Suche nach den Ruhestörern. »Jetzt aber raus hier, ihr zwei«, zischt Claudia ihre beiden Kinder an, in weiser Voraussicht, denn die beiden würden sich garantiert wieder gegenseitig zu einem Lachanfall anstacheln. Beschämt und belustigt verschwinden die Zwillinge von ihren Plätzen. Vor der Tür des Musiksaals kringeln sich die beiden vor Lachen. »Wetten, dass Oma Erna sagt, das Smartphone sei zu klein«, scherzt Paul. »Nein«, bricht es aus Marie kichernd heraus, »die behauptet wieder, ihre Finger seien zu groß!«

Martin hat recht. Erna wird sich nicht mehr ändern. Sie wird sich immer mit Smartphones schwertun. Das liegt aber nicht am scheinbar zu kleinen Bildschirm oder ihren zu großen Fingern, wie Erna jedes Mal anmerkt, wenn sie verzweifelt nach den richtigen Funktionen ihres Smartphones sucht, sondern an ihrer mangelnden Trainingserfahrung. Alles, was wir erleben, erscheint im Licht vergangener Erfahrungen. Als Erna selbst eine Jugendliche war, hatte sie keinen Kontakt zu Smartphones und den anderen heutigen Errungenschaften der digitalen Welt. Wie sie zu bedienen sind und wo sie im Alltag helfen können, damit hat Erna nie Erfahrungen gemacht. Zwar könnte sie sich dieses Wissen auch noch im hohen Alter aneignen, allerdings wird Erna wohl die neuen Geräte nie »intuitiv« benutzen. Werden Personen während ihrer prägungsoffenen beziehungsweise sensiblen Phase mit Ereignissen konfrontiert, wirken sich diese intensiver auf ihre Entwicklung aus als bei Menschen, die schon älter sind.10Die Generationenforschung macht die Ereignisse sichtbar, die sich auf Menschen innerhalb ihrer prägungsoffenen Phase auswirken, und untersucht, wie sich die jeweiligen Altersgruppen aufgrund dieser Prägungen voneinander unterscheiden. Diese Arbeit ist der Schlüssel zum Verständnis von Generationeneffekten.

Steht Erna vor Herausforderungen, wird sie zuerst immer auf ihre Erfahrungen aus der Zeit zurückgreifen, als ihr Erinnerungshügel ausgebildet wurde. Der Erinnerungshügel, auch bekannt als Reminiscence Bump, ist die Tendenz älterer Erwachsener über vierzig, sich vor allem gut an Ereignisse erinnern zu können, die während ihrer Jugend und im frühen Erwachsenenalter stattfanden. Und diese Erfahrungen sind für Erna eben nicht digital. Wenn sie mit ihren Enkeln einen Ausflug unternimmt und sie mal wieder den Anschlusszug verpassen, schaut sie am Bahnhof auf den ausgedruckten Fahrplanaushang, während Paul und Marie die Verbindungen in der DB-App checken. Für die Zwillinge war es selbstverständlich, dass sie ihre Smartphones vor Moritz’ Flötenauftritt in den Flugmodus schalteten, Erna hatte daran überhaupt nicht gedacht. Ohnehin muss sie sich jedes Mal, wenn ihr Smartphone sie stört, erst einmal überlegen, wie sie das Ding stummgeschaltet kriegt. Das kann durchaus einige Sekunden dauern.

Um herauszufinden, ob es sich wirklich um einen Generationeneffekt handelt, müssen wir das Verhalten von Erna mit dem Verhalten von Marie und Paul vergleichen – und dabei alle drei in ungefähr dem gleichen Alter betrachten. Beispielsweise, wenn es darum geht, wie Marie, Paul und Erna Informationen recherchieren. Dann können wir nämlich herausfinden, dass die heutige Jugend sofort im Netz nachschaut und oberflächlich die ersten Google-Treffer scannt,11während frühere Jugendgenerationen kaum vergleichbare Möglichkeiten hatten. Erna hatte nur analoge Recherchegrundlagen in den Bibliotheken, Archiven, Nachschlagewerken, Karten, der Telefonauskunft oder schlicht über die rein zwischenmenschliche Kommunikation. Erna erlebte also eine streng kanonisierte Wissensvermittlung.

Die Erinnerungen des autobiografischen Gedächtnisses prägen einen Menschen ein Leben lang. Sie bestimmen damit auch, wie der Mensch auf sein eigenes Leben blickt.12Für Erna war klar, als Martin ihr vergangenes Jahr zu Weihnachten ein Smartphone schenkte, dass sie das Ding nie richtig würde bedienen können. Ihre Enkel können dagegen nicht nachvollziehen, warum Oma nicht verstehen kann, wie ein Smartphone funktioniert. Das ist doch das Einfachste der Welt!

Umgekehrt wirken die Geschichten von Oma, wie sie nach dem Krieg in der DDR lebte, für Paul und Marie weird. Stundenlang für Nahrungsmittel anzustehen, bei verpflichtenden Organisationen mitzumachen, bei der alle schrecklich hässliche Uniformen anhatten und in Zeltlager fahren mussten, ein Land, wo Leute ins Gefängnis gesteckt wurden, weil sie keine Lust hatten, zur Armee zu gehen – für die beiden undenkbar. Zwar taucht vor Maries und Pauls geistigem Auge eine fiktive Welt der Oma von damals auf, doch sie können sich nur vorstellen, wie sich Oma wohl gefühlt haben muss, richtig verstehen können sie es nicht. Zu sehr ist ihre Welt von Omas Welt verschieden.