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Charly Engel versucht verzweifelt, seinem kranken Sohn Ron mit einer gesunden Niere das Leben zu retten. Da die Zeit drängt, sucht er Hilfe auf dem internationalen Organ-Markt. Doch dafür benötigt er sehr viel Geld, das er nicht hat. Schauplatz der verhängnisvollen Geschichte ist Alt-Osdorf, ein friedlicher Stadtteil im Westen von Hamburg. Bis eines Morgen ein Geldtransporter von seiner sonst üblichen Route abbiegt, am Ende einer schmalen Sackgasse stoppt und von zwei maskierten Männern ausgeraubt wird.
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Seitenzahl: 260
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Charly Engel versucht verzweifelt, seinem kranken Sohn Ron mit einer gesunden Niere das Leben zu retten. Da die Zeit drängt, sucht er Hilfe auf dem internationalen Organ-Markt. Doch dafür benötigt er sehr viel Geld, das er nicht hat.
Schauplatz der verhängnisvollen Geschichte ist Alt-Osdorf, ein friedlicher Stadtteil im Westen von Hamburg. Bis eines Morgen ein Geldtransporter von seiner sonst üblichen Route abbiegt, am Ende einer schmalen Sackgasse stoppt und von zwei maskierten Männern ausgeraubt wird.
Reinhard Jalowczarz wurde 1947 in Hamburg geboren. Als Junge wäre er gern Seemann geworden, was seine Eltern aber nicht erlaubten. Stattdessen absolvierte er eine Lehre als Elektriker, verdiente sich sein Geld auf dem Bau und war Beleuchter am Schauspielhaus in Hamburg. Später studierte er Elektrotechnik, arbeitete nebenher als Elektriker, fuhr einen Kies-Laster oder schob Schichten im Hamburger Hafen. Nach dem Studium schlossen sich längere berufsbedingte Auslandsaufenthalte – unter anderem mehrere Jahre im Iran – an. Mitte der Achtzigerjahre wurde er Mitarbeiter in einer Hamburger Firma, deren Geschäftsgebaren ihn schon damals auf die Idee brachte, einen Roman zu schreiben.
Reinhard Jalowczarz lebt heute mit seiner Frau in Hamburg. Bisher sind von ihm erschienen:
„KORRUPT auf Gedeih und Verderb“, 2011 und
„Wo ist Uwe? Geschichten (nicht nur) aus Altona“, 2013.
Meinen Eltern
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Charly Engel war dreiundsechzig Jahre alt und ausgebrannt. Er saß am Schreibtisch und dennoch wirkte der kleine Raum verwaist. Auspuffgase strömten durch die offenen Fenster herein und vermischten sich mit Zigarettenrauch.
„Verdammte Sucht!“ fluchte er und drückte die angerauchte Zigarette zu den anderen Kippen in den Aschenbecher. Ein Hustenanfall schüttelte ihn, seine Raucherlunge machte ihm wieder mal zu schaffen.
Nachdem sich die Bronchien beruhigt hatten, richtete er sich auf und streckte die Brust raus. Seine Hände, auf denen sich erste Alterssprenkel zeigten, lagen auf der Schreibunterlage. Notizenzettel und Kunden-Visitenkarten waren verschwunden. Sein Blick wanderte vom Ehering über den Besuchertisch, auf dem weder Ordner noch Bauzeichnungen lagen, und verweilte auf dem hellen Fleck an der Wand, wo bis gestern Abend ein abstrakter Druck hinter Glas hing, der den Titel „Die Reise ins Universum“ trug.
Charly war von stattlicher Statur, einen Meter achtzig groß, mit den Schultern eines Schwergewichtlers. Seine rotblonden Haare waren nach hinten gekämmt, was ihn seriöser, aber um einige Jahre älter aussehen ließ. Er hatte sich in den letzten Monaten verändert, war nicht mehr das Energiebündel, das vor Kraft strotzte und die vielschichtigen Aufgaben im Vertrieb beherzt anging. Das vergrämte Gesicht, der müde Zug um die Augen, der traurige Blick, all das war nicht mehr der Charly, wie ihn die Kollegen kannten.
Seine Gedanken waren bei Amelie, seiner ersten Frau, die vor Jahren ohne Vorwarnung einem Hirnbluten erlegen war. Von da an zog er ihre gemeinsame Tochter Nora alleine auf. Nora war ein typischer Teenager: Sie traf sich mit Freundinnen, schlich sich mit ihnen in Diskotheken ein, stand auf Hip-Hop und Rap und begeisterte sich für Bands wie die Beastie Boys.
Mit fünfzig Jahren unverhofft zum Witwer geworden, lernte Charly allmählich mit der neuen Situation umzugehen. Er war ein nachsichtiger Vater, aber ein einsamer und vielleicht etwas verschrobener Mann, der für eine andere Frau noch keinen Platz in seinem Leben hatte.
Eines Sonntagmorgen – Nora ging mittlerweile in die neunte Klasse – las er im Wochenend-Journal des Abendblatts, dass der Buena Vista Social Club aus Havanna in der Laeisz-Halle gastierte. Er hatte im Fernsehen einen Dokumentarfilm über die in die Jahre gekommenen Musiker gesehen und mochte die lateinamerikanische Musik. Daher raffte er sich auf, fuhr mit dem HVV-Bus zum Johannes-Brahms-Platz und erwarb an der Abendkasse eine Eintrittskarte.
Der Zufall wollte es, dass er in der Konzertpause im Foyer der um sechzehn Jahre jüngeren Christina begegnete. Vom ersten Augenblick an hatte es ihm die fremdländisch anmutende Frau angetan, deren glänzenden, schwarzbraunen Augen ihn amüsiert von Kopf bis Fuß musterten.
Charly hatte sich in die junge Frau, deren kastanienbraune Haare in Wellen bis auf ihre Schultern fielen, verliebt und sie erwiderte seine Gefühle. Von dem Abend an trafen sie sich regelmäßig, was nicht ohne Folgen blieb. Sie heirateten und Christina brachte einen Jungen zur Welt: Ronaldo, der meist Ron gerufen wurde.
Seine Tochter Nora hatte kein Problem damit, dass er wieder verheiratet war. Im Gegenteil, sie konnte ihren Stiefbruder gut leiden und mit Christina verstand sie sich allemal, was vor allem ihren Vater glücklich machte.
Charly griff nach Zigaretten und Feuerzeug. Doch bevor er sich eine anzünden konnte – die meisten Kollegen tolerierten sein Raucherzimmer – klopfte jemand an die Bürotür, die im selben Moment aufgestoßen wurde. Durch den Luftzug löste sich ein Blatt vom Ficus, der nah am Fenster stand, und segelte zu Boden.
Der weißblonde Mann, der ins Zimmer trat, war Anfang fünfzig, sah teuer gekleidet aus und war alleiniger Gesellschafter des in Europa bekannten Bauunternehmens MBB. Seine braunen Augen blickten durch eine randlose Brille mit Goldbügeln. Ihm gehörten eine Villa an der Elbchaussee mit Swimmingpool, Sauna, Fitnessraum und Kellerbar, vier oder fünf Autos, eine Segelyacht, die im Hamburger Yachthafen lag, und Pferde im Forst Falkenstein. Max Buhr jr. hatte zwei Töchter und eine umtriebige Frau, die ihre Vormittage gern auf dem Tennisplatz verbrachte. Buhr jr., fast einen Kopf kleiner als Charly, stellte sich neben den Schreibtisch und wippte beim Sprechen auf und ab.
„Komm, wir warten auf dich!“
Charly wies auf die kahle Wand und sagte:
„Den Druck habe ich mit nach Hause genommen. Ist doch in Ordnung so?“
„Er gehört dir, war ein Geschenk meines Vaters an dich!“, antwortete Buhr.
Charly stemmte sich aus dem Bürostuhl, hielt das Hüsteln zurück und sagte: „Es muss wohl sein!“
Seite an Seite gingen sie über den Flur. Die beiden kannten sich seit über zehn Jahren, hatten zusammen manch dicken Fisch an Land gezogen. Über die Zeit betrachtet, war Charly der erfolgreichste Vertriebsmann im Unternehmen gewesen. Je näher sie dem Besprechungszimmer kamen, desto lauter wurde das Stimmengewirr, das durch die offene Tür in das Entree drang.
„Bitte kommen Sie!“, forderte Max Buhr die beiden Frauen hinter dem Empfangstresen auf. Woraufhin Blondie, die für Rod Stewart schwärmte, nach dem schnurlosen Telefon griff, während die Brünette, deren Bluse gut gefüllt war, einen Blumenstrauß packte und hinter ihrem Rücken versteckte.
Normalerweise erfüllte der Besprechungsraum voll und ganz seinen Zweck, heute jedoch platzte er aus den Nähten. Die Besuchertische waren zu einem Block zusammengestellt. Drumherum ein Dutzend Stühle, ein Wasserspender, eine Spüle, ein Sideboard mit Geschirr und Kaffemaschine, ein Kühlschrank mit Softdrinks und ein Whiteboard an der Stirnwand des Raums. Kalkulatoren, Planer, der Bote Hans, die Bräute aus der Personalabteilung und den Sekretariaten, ja sogar einige Bauleiter waren reingekommen, um sich von Charly zu verabschieden. Sie belagerten die Stühle, hockten auf den Tischkanten, standen einfach da oder hatten sich mit den Rücken an die Wände gelehnt.
„Komm!“, sagte Buhr jr. und zog Charly am Ärmel. Sie drängten sich bis zum Whiteboard vor. Sektkorken knallten und Blondie kicherte, als der Schampus beim Einschenken überschäumte.
In seiner Laudatio lobte Buhr Charly über den grünen Klee. Er unterstrich, dass er es nie bereut hätte, Charly in den Vertrieb geholt zu haben. (Auf Charlys Wunsch hin, der den Junior nach Amelies Tod gebeten hatte, in den Innendienst wechseln zu dürfen). Er hob hervor, was Charly für das Unternehmen bewirkt hatte, zählte die Aufträge auf, die Charly im Laufe der Jahre akquiriert und hereingeholt hatte. Dann überreichte er Charly die obligatorische vergoldete Armbanduhr mit dem Firmenlogo MBB auf dem Zifferblatt. Charly steckte seine Automatik in die Hosentasche, legte das Abschiedsgeschenk an, schob Hemdmanschette samt Jackenärmel bis unter den Ellenbogen und streckte den Arm in die Runde. Die Kollegen applaudierten und stießen auf Charly an, schüttelten ihm die Hände, bis er Mühe hatte, den Husten zurückzuhalten. Sie freuten sich auf den feuchtfröhlichen Abend im „Ristorante Mamma Mia“ in Altona, zu dem Buhr jr. samt Ehefrauen oder Lebenspartner eingeladen hatte.
Charly war heilfroh, als der Spuk im Besprechungszimmer allmählich zu Ende ging. Die guten Wünsche der Kollegen zum neuen – er dachte ‚zum letzten‘ – Lebensabschnitt und ihre Sticheleien, ob er sich langweilen oder was er mit seiner Freizeit anfangen würde, zerrten an seinen Nerven. Er war dünnhäutig geworden, was sollte er ihnen auf ihre Fragen antworten? Er wusste ja selbst nicht genau, wo die Reise hingehen sollte und blickte seinem vorgezogenen Ruhestand mit gemischten Gefühlen entgegen. Einerseits war er von nun an frei, brauchte seine Haut nicht mehr zu Markte tragen, um an die Aufträge heranzukommen. Er war sichtlich erleichtert, als er die Verantwortung dafür seinem Nachfolger Jan-Uwe Kruse übertragen hatte. Andererseits gab er, um zwei Jahre früher in den Ruhestand gehen zu können, einen gut dotierten Job auf, der mit Privilegien wie einem Dienstwagen, den er privat nutzen konnte, und einem Spesenkonto ausgestattet war, welches auch mal eine persönliche Restaurantrechnung verkraftete.
Wie dem auch sei, ein Zurück war für Charly ausgeschlossen!
Mittlerweile hatte die Brünette vom Empfang damit begonnen, die leeren Flaschen und Gläser von den Tischen zu räumen. Charly bedankte sich für ihre Mühe, schlürfte den Rest Sekt aus seinem Glas, stellte es zu den anderen in die Spüle, griff nach dem Blumenstraß und verabschiedete sich.
„Ich freu mich auf den Abend mit euch!“
Er zog los. Die Sucht trieb ihn in sein Büro, wo er noch eine rauchte, bevor er die Treppen hinunterstieg und das Bürogebäude durch die Hintertür verließ. Er hielt Ausschau nach seinem A4 und drückte im Gehen auf die Fernbedienung. Klack! Am Auto angekommen, öffnete er den Kofferraum. Er legte den Blumenstrauß und die schwarze Collegemappe hinein, schälte sich aus seinem Jackett und warf es darüber.
„Bis heute Abend!“
Charly drehte sich auf dem Absatz um. Es war Blondie, die ihn durch die heruntergelassene Seitenscheibe ihres VW-Polo anlachte, während sie an ihm vorbeirollte.
„Ja sicher, bis heute Abend, – und danke nochmal!“
Gedankenversunken blickte Charly dem silbergrauen Wagen hinterher. Dann stieg er in seinen Audi. Die Fahrertür fiel satt ins Schloss. Er mochte diesen dumpfen Schlag, der einiges über die hohe Qualität der sportlich-eleganten Limousine aussagte.
Am Montag, seinem letzten Arbeitstag, würde er „seinen“ Audi samt Laptop und Mobiltelefon an Jan-Uwe Kruse übergeben.
Sich all diese Dinge neu anzuschaffen, würde eine Schneise in seine Ersparnisse brennen; ein fabrikneuer VW Golf stand bereits in seiner Tiefgarage.
Fast geräuschlos glitten hundertfünfundzwanzig Pferdestärken vom Parkplatz über die Gehwegüberfahrt auf die Kieler Straße. Er fädelte sich in den Feierabendverkehr ein. Hunderte Male war er die Strecke vom Büro nach Alt-Osdorf gefahren, wo Christina und er eine Dreizimmerwohnung gemietet hatten.
Es gab bei MBB Tage, an denen er euphorisiert nach Hause fuhr, Tage, an denen nach Monaten mühsamster Arbeit ein millionenschwerer Auftrag unterschrieben vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Dann verfiel sogar der Junior in Sektlaune und der Schampus floss in Strömen. Charlys Stern leuchtete an so einem Tag hell, weil er es gewesen war, der dafür gesorgt hatte, dass MBB mit ausreichend Arbeit versorgt und die Arbeitsplätze gesichert waren. Das machte ihn stolz.
In letzter Zeit war Charly jedoch oft deprimiert und fühlte sich abgewirtschaftet. Die erwarteten Aufträge blieben aus und bei ihm zu Hause lief es auch nicht so, wie es laufen sollte: Rons Gesundheitszustand überschattete das Familienleben.
Zwanzig Minuten später war er zu Hause angekommen. Er stieg aus, schlüpfte in das Jackett, nahm den Blumenstrauß aus dem Kofferraum, klemmte die Collegemappe unter den Arm und stiefelte in den ersten Stock des Mehrfamilienhauses. Dort angelangt, mühte er sich, das Schlüsselbund aus dem Jackett zu fummeln. Er öffnete die Wohnungstür und trat in den Korridor.
„Jemand zu Hause?“
Er ging in die Küche und legte die Blumen auf den Küchentisch. Dort lag eine Nachricht für ihn:
„Hallo Papa, bin bei Nici!“, las er.
Nicole war ein Mädchen aus der Nachbarschaft, das mit Ron am Gymnasium Knabeweg in dieselbe Klasse ging.
‚Dann geht’s ihm gut‘, dachte Charly, ging ins Schlafzimmer und warf Jackett und Collegemappe aufs Bett. Er wechselte ins Wohnzimmer, hebelte die Balkontür auf und trat ins Freie.
Christina würde jeden Augenblick nach Hause kommen. Sie war Friseurin und arbeitete bei „Hair & Beauty“, gleich um die Ecke am Rugenbarg.
Charly zog eine Zigarette aus der Schachtel, steckte sie an und inhalierte den Rauch in die Lungen. ‚Das war's also mit dem Berufsleben!‘, dachte er.
Etwas später stand Christina im Flur.
„Wie ist das so“, sie musterte ihn und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen, „der letzte Arbeitstag?“
Charly rang sich ein müdes Lächeln ab, nahm ihre Jeansjacke und hängte sie an die Garderobe.
„Wir müssen um acht im „Mamma Mia“ sein!“
„Das schaff ich leicht“, strahlte Christina. Sie freute sich auf den Abend, der Abwechslung versprach. Charly kannte sie gut. Er wusste, was nun kam: Sie würde sich mehrere Male umziehen und ihn ständig fragen, wie sie denn aussehe. Er mochte es, wie sie sich kleidete, und nahm sich vor, cool zu bleiben.
„Ich hab mit Ron gesimst! Er ist um acht zu Hause!“, sagte Christina, kam in den Flur und betrachtete sich im Spiegel. „Wie sieht das aus?“, fragte sie, wartete seine Antwort nicht ab und verschwand wieder im Schlafzimmer.
„Wir kommen zu spät!“, mahnte Charly nach weiteren fünf Minuten.
„Ich bin soweit“, rief Christina: Schließlich hatte sie es geschafft.
„Du siehst perfekt aus“, schmeichelte Charly, „wie immer! Und jetzt mach bitte, sonst sind wir wirklich die Letzten!“
Aus der Vogelperspektive gesehen glitzerte das Gebäude im Sonnenlicht wie ein großer Polizeistern. Einige Fußgänger stiegen die Freitreppe zum Haupteingang hoch. Andere hatten das Gebäude wieder verlassen und kamen ihnen entgegen.
Oberhalb der Eingangstür in der breiten Glasfront prangte wasserblau auf schwarzem Grund die Bestimmung des Gebäudes: Polizeipräsidium. Rechts vom Schriftzug trieb ein rotes Hamburger Tor auf einer Welle dahin.
Auf dem Besucherparkplatz unten an der Freitreppe wurde ein Motor angelassen. Breitwandreifen knirschten über den Asphalt. Gleichzeitig schoss ein Streifenwagen mit Blaulicht aus der Tiefgarage hervor. Das Auf und Ab der Polizeisirene malträtierte die Ohren.
Im Gebäude herrschte Geschäftigkeit, Schritte hasteten über die Flure, Stimmen quollen aus offenen Türen, Mobiltelefone stießen aberwitzige Klingeltöne aus.
Das Polizeipräsidium Hamburg blies seinen ureigenen Blues und seit einigen Tagen gehörte Nora Engel dazu.
Nora wollte seit ihrem zwölften Lebensjahr Polizistin werden, woran ihre Mutter Amelie, die damals im „Bücherwurm“, einer Buchhandlung im Speckgürtel von Hamburg, arbeitete, nicht ganz unschuldig war. Amelie hatte Nora zum Geburtstag den ersten Band der Jugendbuchreihe „TKKG“ mit dem Titel Die Jagd nach den Millionendieben geschenkt. Nora verschlang die Geschichten um Tim, Karl, Klößchen und Gaby Glockner. Besonders Gaby hatte es ihr angetan. Gaby war sehr tierlieb – wie Nora – und ließ sich von jedem Hund die Pfote geben. Außerdem war Gaby mit ihren goldblonden Haaren und den blauen Augen nicht nur hübsch anzusehen, sondern auch mutig und gerecht. In ihren Träumen tauchte Nora tief in die Abenteuer ihrer vier Helden ein, suchte an Gabys Seite nach Spuren und jagte mit den Jungs den Dieben hinterher.
Nach dem Abitur bewarb Nora sich bei der Schutzpolizei. Reden und sich auf Leute und Situationen einstellen, das konnte sie. Täglich hatte sie mit Einbrüchen und Verkehrsdelikten zu tun gehabt und erfahren, für wie viele Menschen Gewalt zum Alltag gehörte. Sie versuchte offen und optimistisch zu bleiben, blieb trotz all der beruflichen Erfahrungen motiviert. Polizistin zu sein war mehr als ein Job für sie, es war ihre Lebensaufgabe.
Gerade fünfundzwanzig Jahre alt geworden, strebte Nora eine Karriere bei der Kriminalpolizei an. Sie schrieb sich an der Polizei-Akademie in Hamburg ein und schloss drei Jahre später den Studienlehrgang für den gehobenen Dienst mit dem Grad Bachelor of Arts ab. Gleich darauf landete sie als Kriminalkommissarin bei der Mordkommission.
Nora war selbstbewusst, ohne arrogant zu sein. Sie sprühte vor Charme, hatte etwas Warmherziges, konnte aber auch garstig werden, wenn eine Angelegenheit ihrem Verständnis von Ordnung und Gerechtigkeit widersprach. Ihre gewellten, rotblonden Haare reichten bis auf die Schultern. Sie hatte ein glattes Gesicht mit ebenmäßigen Zügen. Die blauen, hellwachen Augen hatte sie von Charly geerbt, die Grübchen an Wangen und Kinn von Amelie, ihrer verstorbenen Mutter. Ihr hübscher Mund wirkte schwungvoll und weich, konnte aber auch energisch und hart aussehen, wenn sie mit Macht ihren Standpunkt durchsetzen wollte. Zur Bluejeans trug sie ein hellblaues Shirt mit langen Ärmeln und Schuhe mit Blockabsätzen. Eine beige, hüftlange Strickweste rundete ihr Outfit ab. Sie war sportlich und ließ weder die Jiu-Jitsu-Stunden noch das Schießtraining aus.
Noras Büro lag im zweiten Obergeschoss. Der große Raum war neu eingerichtet worden. Hellgraue Schreibtische, Regale und Aktenschränke rochen nach Leim und PVC. Sie waren zu fünft im Büro. Um an ihren Arbeitsplatz zu gelangen, musste sie an Rosa, der vierzig Jahre alten Teamsekretärin, vorbei.
Rosa, eine Mischung aus Miss Marple und Marilyn Monroe, hackte auf die Tasten ihres PCs ein. Ohne das Stakkato zu unterbrechen, schaute sie über den Rand ihrer Brille hinweg, lächelte Nora zu und griff zum Telefon, das in dieser Sekunde klingelte.
Im hinteren Teil des Büros waren jeweils zwei Schreibtische und ein Ablagetisch zu einem Block zusammengestellt. Das Ermittler-Duo, Paddy und Claus, wegen ihres immer gleichen Aussehens – weißes Hemd, Jeans und marineblauer Blazer – auch die „Zwillinge“ genannt, versuchte sich zwischen Stapeln von Papier zurechtzufinden. Die Wand hinter ihnen war von Tatort-Fotos und Verdächtigen gepflastert. LED-Bildschirme leuchteten matt, Claus' Telefon klingelte, Paddy klappte einen Aktenordner zu. Frische Luft war Mangelware.
Hauptkommissar Oskar Lemmer leitete das Team. Er saß in einem Kabuff, das durch zwei Trennwände aus Holz und Glas vom Großraumbüro abgetrennt war. Lemmer war Witwer, vierundsechzig Jahre alt, und sah der näherrückenden Pensionierung mit geteilten Gefühlen entgegen. Seine Haare waren weiß, militärisch kurz geschnitten und an der Stirn zurückgewichen. Eine Falte in Verlängerung des Nasenrückens teilte seine Denkerstirn. Sein Gesicht war aschgrau, was durch den Dreitagebart noch unterstrichen wurde. Lemmer war klein, gerade einen Meter siebzig, und sehnig, ein in sich gekehrter Typ, dem das Schicksal einen herben Schlag verpasst hatte.
Seit dem Verkehrsunfall, in den er verwickelt worden war und bei dem seine Frau ums Leben kam, war das Polizeipräsidium vollends sein Zuhause geworden. Oskar fühlte sich schuldig am Tod seiner Frau, da er in der Konzertpause im Foyer der Hamburger Staatsoper eine Flasche Bier getrunken hatte. Sie waren Vertraute gewesen. Wenn er dem Druck, den seine Arbeit mit sich brachte, nicht mehr standhielt und den Laden hinschmeißen wollte, hatte sie ihm immer wieder Mut gemacht. Nun war er einsam. Die Biere spätabends vorm Fernseher halfen ihm auch nicht weiter. Das Zwischenmenschliche lag auf Eis. Er hatte Sehnsüchte, aber ins Hanseviertel an den Weinstand zu gehen, um zu schauen, ob sich da was für einen Kerl wie ihn tat, das konnte und wollte er nicht, dazu fehlte ihm einfach die Courage. Eine Asiatin vielleicht? War das eine Option für ihn? Einer seiner Freunde war mit einer Philippinerin verheiratet und glücklich. Oskar wollte das nicht! Womöglich müsste er bei einer Partner-Vermittlungs-Agentur Kataloge durchblättern oder sich Videos ansehen. Nein, das war nicht sein Ding! – Er hatte nur noch sechs Monate zu arbeiten und es passte ihm gar nicht, dass Kriminalrat Rudolf Olberding, sein Chef und Leiter der Mordkommission, ihm Nora zugeteilt hatte. Oskar ließ sich nur ungern in die Karten gucken, war in den letzten Jahren immer introvertierter geworden und wollte einfach nur, dass man ihn in Ruhe ließ.
Aber ihm blieb keine Wahl. Olberding bestand darauf, dass er aus der Neuen, dem „Küken“, wie er sie insgeheim nannte, eine brauchbare Ermittlerin machte, und das, bevor er sich in den Ruhestand verdrückte.
Es war Usus, dass Neulinge einen ausgaben. Einige Wochen, nachdem sie bei der Mordkommission angefangen hatte und das Team an einem Morgen komplett anwesend war, schlug Nora ihren Kollegen vor, sich um neunzehn Uhr zum Einstand auf ein Bier im „Big Easy“ am Heubergredder zu treffen. Sogar Oskar sagte zu; warum, dass wusste er wohl selber nicht. Eigentlich war ihm überhaupt nicht nach Geselligkeit. Er erhob sich damals aus dem Schreibtischstuhl, wollte wieder allein sein und schob Nora vor sich her aus dem Büro. Ihn quälte Durst, Nachdurst! Seine Zunge klebte am Gaumen. Oskar ließ Nora stehen und wandte sich dem Wasserspender zu, der im Flur in einer Ecke stand, zog einen Plastikbecher aus dem Halter, füllte ihn bis zum Rand mit Wasser und stürzte es in einem Zug runter.
Warum ausgerechnet das „Big Easy“ – auf flinken Sohlen fünf Minuten vom Polizeipräsidium entfernt – zur Stammkneipe des Teams um Oskar Lemmer geworden war, lag auf der Hand: Es waren die langen Öffnungszeiten! Von montags bis sonntags, ab acht in der Früh bis vier Uhr in die Nacht hinein, servierte das Restaurant neben Soft- und Harddrinks das volle Programm an warmen und kalten Speisen. Außerdem bot das „Big Easy“ neben Fingerfood, Frühstück, Pizza und Pasta einen wöchentlich wechselnden Mittagstisch mit fünf verschiedenen Gerichten zur Auswahl an, der auf die Geldbörsen der Kriminalbeamten zugeschnitten war.
Die Abendbrise griff bereits nach dem lauen Sommertag, als Nora in Begleitung von Rosa am „Big Easy“ ankam. Sie zwängten sich an Blumenkübeln, Gartenstühlen und -tischen vorbei und enterten das Restaurant durch die weit offen stehenden Glastüren. Dem Typen im weißen Anzug, der neben dem Eingang auf einem Stuhl saß und döste, merkten sie erst auf den zweiten Blick an, dass er aus Kunststoff war. Stimmen und eine Mischung aus verbrauchter Luft und Essensgerüchen schlug ihnen entgegen. Obwohl das Restaurant in seinen Abmessungen einer Turnhalle in nichts nachstand, fühlten sie sich sofort wie zuhause und willkommen. Die Deckenleuchten hätten aus einem Südstaaten-Restaurant der fünfziger Jahre stammen können. Ihr goldgelb scheinendes Licht wurde von Decken und Wänden gedämpft, die ocker und rotbraun gestrichen waren, was den großen Raum in eine behagliche Atmosphäre tauchte. Weiße und schwarze Bodenfliesen, nach einem Schachbrettmuster verlegt, ließen das Restaurant nobel erscheinen. Schwarz gekleidete Kellnerinnen wieselten zwischen rustikalen Tischen und Stühlen hin und her, trugen Speisen und Getränke aus, räumten Teller und Gläser weg oder deckten die Tische neu ein, an denen meist Pärchen saßen, die in den Speisekarten blätterten. Ein dunkelhäutiger Barmann zapfte Bier aus dem Hahn und ließ Eiswürfel in Longdrink-Gläser klimpern. Musiker schleppten Lautsprecherboxen und Notenständer heran.
Die „Zwillinge“ hockten am Bartresen und waren bereits beim dritten Bier angekommen.
„Oskar wird sicher auch bald hier sein!“, vermutete Claus. Und Paddy machte sich wichtig, indem er auf Oskars Schwäche anspielte und zustimmte, was „der arme alte Schluckspecht“ denn ansonsten abends tun solle, seitdem er alleine sei.
„Lass sein“, fuhr Rosa ihm ins Wort, „du solltest nicht so abfällig über deinen Vorgesetzten reden!“
Und zu Nora sagte sie: „Du weißt doch, dass Oskars Frau ums Leben gekommen ist? – Nein?“
Mit einem Fragenzeichen zwischen den sichelförmig akkurat gezupften Augenbrauen schaute Nora auf Rosas Lippen, die noch hinzufügten:
„Tragisch, nicht!? Ein Verkehrsunfall!“
‚Ja, das ist tragisch‘, dachte Nora, hatte ihr Bierglas in die Hand genommen und hinein gestarrt. Ihr Blick ging nach innen, wo Amelie, ihre viel zu früh verstorbene Mutter, vor ihrem geistigen Auge erschien und sie anlächelte. Nora war damals diejenige gewesen, die nach Amelies Tod neben der Schule und Teenagerleben den Vater-Tochter-Haushalt schmiss und ihrem Vater, der bis zum Hals im Job steckte, den Rücken frei gehalten hatte. Doch das behielt sie für sich; stattdessen erzählte sie von ihrer Zeit bei der Schutzpolizei und ließ durchblicken, dass sie ihren Job als Lebensaufgabe betrachte.
Der Barmann brachte die nächste Runde. Sie sprachen über Lohngruppen, diskutierten Beförderungsmöglichkeiten und stellten fest, dass die Luft nach oben immer dünner wurde, was letztlich bedeutete, dass nicht jeder Kriminalhauptkommissar oder Dezernatsleiter werden konnte.
Die „Zwillinge“ waren inzwischen beim fünften Pils angelangt und lösten – rein theoretisch – die kompliziertesten Fälle, und Rosa kicherte in ihr Glas: „Mir wird ganz duselig!“
Weinselig legte sie die freie Hand auf Noras Schulter und meinte kurz und passend: „Willkommen im Team!“
Nora prostete Rosa zu und stieß mit ihrem Bierglas gegen Rosas Sektkelch.
Als die Jazzband gegen einundzwanzig Uhr zu spielen anfing, tauchte Oskar Lemmer im Türrahmen auf. Mit einem knappen „Hallo!“ stellte er sich neben Nora. Da sie selber Bier getrunken hatte, fiel ihr die Fahne, die er vor sich hertrug, nicht weiter auf. Sie freute sich, dass Oskar doch noch gekommen war, und spendierte die nächste Runde. Fünf Minuten später stellte der Barmann die frisch gezapften Biere vor ihnen auf den Tresen.
Oskars griff sein Glas und prostete Nora zu: „Na denn, jetzt kann ja nichts mehr schiefgehen!“
„Das wird schon!“, flüsterte Rosa Nora zu und rollte mit den Augen in Oskars Richtung, der müde am Tresen lehnte. Die Band drehte auf und Paddy, von der Jamsession mitgerissen, forderte Rosa zum Tanzen auf, die ihn mit einem „danke nein!“ zurück auf seinen Platz am Tresen schob. Nora merkte, wie der Alkohol ihre Zunge lähmte. Sie überlegte gerade, wie sie den Absprung schaffen könnte, ohne den Kollegen auf die Füße zu treten, als plötzlich Kevin Jäger neben ihr stand. Der Kevin Jäger, mit dem sie bei der Schutzpolizei lange Zeit auf Streife war und den sie wegen ihres Studiums an der Polizei-Akademie aus den Augen verloren hatte.
„Hey, Nora!“, sagte Kevin, beugte sich ihrem Gesicht zu und küsste sie auf die Wangen.
„Ich fass es nicht!“ Mit einem Schlag war Noras Müdigkeit verflogen. „Das ist Kevin, Polizeiobermeister Kevin Jäger!“, stellte sie ihn den anderen vor. „Wir kennen uns von der Schutzpolizei! – Alter Schwede!“
Kevin bestellte ein Bier. Er war Anfang dreißig, hatte braune Augen und eine breite Narbe über der linken Augenbraue, ein Souvenir von schweren Krawallen im Schanzenviertel, bei denen es um die „Rote Flora“ ging. Er stand einfach da, einen Meter achtzig groß, schlank, lächelte charmant und musterte Nora von Kopf bis Fuß.
Sie hatten sich bei der Schutzpolizei kennengelernt und des Öfteren Dienst im selben Streifenwagen geschoben. Kevin entpuppte sich als Pfundskerl, auf den in jeder brenzligen Situation Verlass war. Mit ihm auf Streife zu sein, fühlte sich gut an. An seiner Seite wähnte Nora sich sicher. Ganz gleich, ob sie am Einsatzort randalierende Jungendliche zur Räson brachten, Ladendiebe aus Supermärkten entfernten, Zeugen befragten oder Tatverdächtige vernahmen.
Es knisterte zwischen ihnen, aber sie ließen es nicht zu, auch deshalb nicht, weil Kevin verlobt und bei Inge in festen Händen war.
Kurz nach Mitternacht gönnten sich die Musiker eine Pause. Zwei Frauen im reifen Alter hatten der Jazzband eine Runde Tequila spendiert. Der Klarinettist knarzte ein: „Ein Dank den edlen Spendern!“ ins Mikrofon, woraufhin die Frauen, die am Tresen saßen, viel Bein zeigten, ihre Gläser hoben und den Musikern zuprosteten.
Die Musiker feuchteten ihre Handrücken mit Zitronenschnitzen an, die mit den Tequilas serviert worden waren, streuten Salz auf die Stellen, leckten es wieder ab, legten die Köpfe in den Nacken und kippten den Stoff hinunter. Dann bissen sie ohne eine Miene zu verziehen in die Zitronenscheiben. „Ah, das tat richtig gut!“, krächzte der Klarinettist ins Mikrofon. Gelächter, lautes Stimmengewirr; die Stimmung war auf dem Höhepunkt.
Rosa verabschiedete sich als erste. Sie müsse los, flötete sie, sonst käme sie morgen früh nicht aus den Federn. Oskar, der gern noch ein Bier getrunken hätte, schloss sich an, weil ihm Paddys Gefasel auf die Nerven ging.
Kurze Zeit später stieß Claus' Mobiltelefon zum xten Mal an diesem Abend einen Möwenschrei aus.
„Ina!“ Er zog die Augenbrauen hoch und zeigte das Display, auf dem seine Lebensgefährtin zu sehen war, in die Runde. „Wenn ich jetzt nicht nach Hause fahre, schiebt sie mir meine Koffer vor die Tür.“
„Warte doch mal, ich komm mit!“, lallte Paddy, glitt, sein Glas in der Hand, vom Hocker, kippte den Rest Bier in sich hinein und wankte Claus hinterher.
„Mensch, Kevin“, freute Nora sich, „dass wir uns im „Big Easy“ über den Weg laufen, wer hätte das gedacht!?“
Es folgte ein atemloser Wortwechsel: „Wohnst du noch…?“ – „Ja, ich auch…!“ – „Und wie geht‘s Inge?“ – „Kein Kommentar, Frau Kommissar!“ – „Du hast dich kein bisschen verändert!“ – „Du auch nicht!“… und so weiter.
Mittlerweile kramten zwei Musiker das Equipment zusammen, während der dritte lässig am Bartresen lehnte und die beiden Frauen anbaggerte. Die „Groupies“ stießen schrilles Gelächter aus, was der Klarinettist so verstand, dass sie nicht abgeneigt wären, mit ihm um die Häuser zu ziehen.
DJ Ingo hatte die Beschallung übernommen: Kuschel-Rock! Nora, die einen Schwips hatte, griff Kevins Hand und zog ihn vom Barhocker auf die Tanzfläche. Zuerst sträubte er sich: „Ich kann nicht tanzen!“, gab dann nach und sie schmiegte sich an ihn.
„Siehst verdammt gut aus!“, flüsterte er ihr ins Ohr und roch an ihren Haaren, die nach Sommerwiese dufteten.
Schmetterlinge flatterten in ihrem Bauch. Mehr en passant ließ Kevin nun doch durchblicken, dass es mit Inge aus sei. Sie hatte die Faxen von seiner andauernden dienstlichen Abwesenheit dicke und war mit ihrem Yogalehrer über alle Berge. Nora schob Kevin um eine Armeslänge von sich, ihre Blicke versanken ineinander.
„Lass uns zahlen!“, sagte sie und bugsierte ihn zurück zum Tresen. „Ich muss an die Luft!“
Nora hielt Kevins Hand zurück, die nach den Geldscheinen griff, die in seiner Hosentasche knisterten.
„Das war mein Einstand“, sagte sie, „ich zahle!“, und reichte dem Barmann ihre Kreditkarte, der den Rechnungsbetrag in ein Lesegerät eintippte. Nora bestätigte die Summe per PIN, nahm die Karte wieder an sich und drückte dem Barkeeper einen Zehner in die Hand.
„Dankeschön!“. Zwei Reihen makelloser Zähne blitzten. Der Barmann zeigte zur Tür und sagte: „Das Taxi wartet schon!“
Ob sie nun zu ihr oder zu ihm fuhren, wurde nicht diskutiert. Nora kam Kevin zuvor und nannte dem Fahrer ihre Adresse im Hamburger Westen. Kevin legte den Arm um ihre Schulter und zog sie zu sich heran. Der Mercedes 220 D brummte los. Nora konnte die Augen des Fahrers im Rückspiegel sehen, der ab und an nach hinten schaute.
‚Er beobachtet uns‘, dachte sie, ‚ein Profi, der über das, was verliebte Paare gelegentlich auf seiner Rückbank trieben, einiges zu erzählen hätte.‘
Sie brauchten bis Groß Flottbek eine halbe Stunde. Kevin bezahlte die Tour und ließ dem türkischen Fahrer ein faires Trinkgeld zukommen. Sie stiegen aus, Nora hakte sich bei ihm unter und sog hörbar die Sommernachtluft ein. Einen Moment lang stellte sie in Frage, ob es richtig gewesen war, mit Kevin im Schlepptau zu sich nach Hause zu fahren.
Ihr Apartment befand sich im Dachgeschoss eines aus rotem Backstein gemauerten Mehrfamilienhauses.