Königin des Südens - Arturo Pérez-Reverte - E-Book

Königin des Südens E-Book

Arturo Pérez-Reverte

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Beschreibung

Pérez-Revertes Welterfolg über den mexikanischen Drogenkrieg Als das Telefon klingelt, ist ihr klar, dass man sie töten will. Bis zu dem Moment lebte Teresa Mendoza das leichte Leben in der Sonne von Culiacán, immer an der Seite ihres Freundes, der fürs Juárez-Kartell Koks über die Grenze fliegt. Doch der ist jetzt tot, und Teresa muss mit dem, was sie von ihrem alten Leben in eine Tasche stopfen kann, verschwinden. Sonst liegt sie schon morgen neben anderen Leichen in der mexikanischen Wüste. Eine jahrelange Flucht beginnt, und Teresa verwandelt sich von der unschuldigen Schönheit aus der Provinz in eine Frau, die jeder fürchtet … Königin des Südens ist ein temporeicher Thriller über den Aufstieg einer kompromisslosen Frau. Auf überwältigende Weise lässt Arturo Pérez-Reverte die dunkle Wirklichkeit Mexikos lebendig werden. Und am Ende steht ein Pageturner über Gewalt, Sehnsucht und Verrat am gefährlichsten Ort der Welt.

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Seitenzahl: 782

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Das Telefon klingelt, und eins hat er ihr immer eingebläut: Wenn es klingelt, bin ich tot, und du musst verschwinden, sonst liegst du morgen neben anderen Leichen in der mexikanischen Wüste … Teresa Mendoza stopft ein Bündel Scheine und ihre Knarre in die Handtasche und begibt sich auf die Flucht, an deren Ende nur eines stehen kann: Rache.

Königin des Südens ist ein temporeicher Thriller über den Aufstieg einer kompromisslosen Frau. Auf überwältigende Weise lässt Arturo Pérez-Reverte die dunkle Wirklichkeit Mexikos lebendig werden und erzählt von Gewalt, Sehnsucht und Verrat im gefährlichsten Geschäft der Welt.

Arturo Pérez-Reverte, geboren 1951 im spanischen Cartagena, ist einer der erfolgreichsten Autoren Spaniens. Sein Werk wurde in 41 Sprachen übersetzt, sein Roman Der Club Dumas ist ein Weltbestseller und wurde von Roman Polanski mit Johnny Depp in der Hauptrolle unter dem Titel Die neun Pforten

Arturo Pérez-Reverte

Königin des Südens

Thriller

Die Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel La reina del sur bei Círculo de Lectores, Barcelona.

Die vorliegende Übersetzung erschien erstmals 2003 im List Verlag.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4658

Deutsche Erstausgabe

© Suhrkamp Verlag Berlin 2016

© 2002 by Arturo Pérez-Reverte

Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Umschlagabbildung: Uygar Ozel / Getty Images

Für Élmer Mendoza, Julio Bernal und César Batman Güemes.

Als das Telefon klingelte, war ihr klar, dass sie in tödlicher Gefahr schwebte. Es war so eindeutig, dass sie mit der Rasierklinge in der Hand erstarrte; die Haare klebten ihr am Gesicht, im Dampf des heißen Wassers, das an den Fliesen heruntertropfte. Biep-biep. Sie blieb ganz ruhig und hielt den Atem an, als könnten ihre Regungslosigkeit oder ihr Stillsein den Lauf des bereits Geschehenen noch ändern. Biep-biep. Bis zur Taille saß sie im schaumigen Wasser der Badewanne, war gerade dabei, sich den rechten Unterschenkel zu rasieren; ihre freiliegenden Körperpartien bekamen eine Gänsehaut, als hätte sie den Kaltwasserhahn aufgedreht. Biep-biep. Aus der Stereoanlage im Schlafzimmer erklangen die Tigres del Norte mit ihren Geschichten von Camelia der Texanerin. Verrat und Schmuggelei, hieß es dort gerade, vertragen sich nicht. Sie hatte immer befürchtet, dass diese Lieder schlechte Vorzeichen waren, und plötzlich verwandelten sie sich in finstere, bedrohliche Wirklichkeit. Der Güero hatte sich darüber lustig gemacht; aber diese Melodie gab ihr recht und bereitete der Überlegenheit vom Güero ein Ende. Seiner Überlegenheit und noch einigem mehr. Biep-biep. Sie ließ den Rasierer fallen, stieg langsam aus der Badewanne und ging noch tropfend ins Schlafzimmer. Das Telefon lag auf dem Bett, klein, schwarz und unheilvoll. Sie blickte darauf, ohne es anzurühren. Biep-biep. Voller Entsetzen. Biep-biep. Biep-biep. Sein Klingeln vermischte sich mit dem Liedtext, als gehörte es dazu. Denn Schmuggler, sangen die Tigres, kennen kein Pardon. Der Güero hatte dieselben Worte benutzt, lachend, wie es seine Art war, während er ihr den Nacken kraulte und mit dem Telefon über ihren Rock strich. Wenn es irgendwann einmal klingelt, heißt das, ich bin tot. Dann lauf los. So schnell du kannst, mein Kätzchen. Lauf, und bleib nicht stehen, denn ich werde nicht mehr da sein, um dir zu helfen. Und wenn du irgendwo lebendig ankommst, dann trink einen Tequila auf mich. Auf die guten alten Zeiten, meine Schöne. So verantwortungslos und so draufgängerisch war der Güero Dávila. Der Meister der Cessna. König der kurzen Pisten nannten ihn seine Freunde und auch Don Epifanio Vargas. Er konnte Kleinflugzeuge in dreihundert Metern in die Luft kriegen, mit Paketen voller Koks und Gras hinten drin, und in stockdunklen Nächten knapp über dem Wasser fliegen, hin und her über die Grenze, unbemerkt von den Radaren der Militärpolizei und den Geiern der amerikanischen Drogenbehörde. Und er konnte auf Messers Schneide leben, hinter dem Rücken der Bosse seine eigenen Trümpfe ausspielen. Aber er konnte auch verlieren.

Das Wasser rann an ihr herunter und bildete eine Pfütze zu ihren Füßen. Das Telefon klingelte immer noch. Sie wusste, es war nicht nötig, abzuheben und sich bestätigen zu lassen, dass den Güero sein Glück verlassen hatte. Das Klingeln allein musste genügen, um seine Anweisungen zu befolgen und wegzulaufen; aber man akzeptiert nicht so leicht, dass ein einfaches Klingeln das Leben so vollständig verändern können soll. Also griff sie schließlich nach dem Telefon, drückte auf die Taste und horchte.

»Den Güero hat es erwischt, Teresa.«

Sie erkannte die Stimme nicht. Der Güero hatte Freunde, einige davon auch treu, dem Ehrenkodex jener Zeit verpflichtet, in der sie Marihuana und Päckchen mit Schnee in Reifenfelgen über El Paso in die Vereinigten Staaten transportiert hatten. Es konnte jeder von ihnen sein, vielleicht Neto Rosas oder Ramiro Vázquez. Sie erkannte den Anrufer nicht, aber das war völlig egal, denn die Botschaft war eindeutig. Den Güero hat es erwischt, wiederholte die Stimme. Sie haben ihn erledigt, zusammen mit seinem Vetter. Jetzt ist die Familie von seinem Vetter dran und dann du. Also lauf, so schnell du kannst. Lauf und bleib nicht stehen. Dann wurde das Gespräch unterbrochen, sie starrte auf ihre nassen Füße und merkte, dass sie vor Angst und Kälte zitterte; sie dachte, dass, wer auch immer der Übermittler gewesen sein mochte, er die Worte vom Güero wiederholt hatte. Sie sah den Typen vor sich, wie er in einer verqualmten Cantina über die Gläser hinweg aufmerksam nickte, ihm gegenüber der Güero, einen Joint rauchend, die Beine unterm Tisch über Kreuz, wie er immer dasaß, mit seinen spitzen Cowboystiefeln aus Schlangenleder, dem Tuch um den Hemdkragen, der Fliegerjacke über der Stuhllehne, den raspelkurzen blonden Haaren und dem schmalen, selbstsicheren Lächeln. Wenn sie mir das Genick brechen, wirst du das für mich tun, Kumpel. Du musst ihr sagen, sie soll laufen und bloß nicht stehen bleiben, weil sie ihr sonst auch den Hals umdrehen werden.

1Ich fiel aus den Wolken, auf denen ich schwebte

Ich dachte immer, dass die mexikanischen Narcocorridos nur Lieder wären und der Graf von Monte Christo nur ein Roman. Das sagte ich zu Teresa Mendoza, als sie endlich zugestimmt hatte, mich umringt von Leibwächtern und Polizisten in dem Haus zu empfangen, das sie in der Colonia Chapultepec in Culiacán, Bundesstaat Sinaloa, bewohnte. Ich erwähnte Edmond Dantes und fragte sie, ob sie das Buch gelesen habe, woraufhin sie mich so lange schweigend ansah, dass ich fürchtete, unser Gespräch wäre damit beendet. Dann wandte sie sich dem Regen zu, der gegen die Fensterscheiben trommelte, und ich weiß nicht, ob es ein Schatten des grauen Lichts draußen oder ein versonnenes Lächeln war, das ihrem Mund einen eigenartig grausamen Zug verlieh.

»Ich lese nicht«, sagte sie.

Ich wusste, dass sie log, wie sie es in den vergangenen zwölf Jahren zweifellos unzählige Male getan hatte. Aber ich wollte nichts Unpassendes sagen, also wechselte ich das Thema. Ihr langer Irrweg wies Episoden auf, die mich wesentlich mehr interessierten als der Lesestoff der Frau, die ich endlich vor mir hatte, nachdem ich ihren Spuren acht Monate lang durch drei Kontinente gefolgt war. Die Wirklichkeit bleibt gewöhnlich hinter der Legende zurück; aber in meinem Beruf ist das Wort Enttäuschung immer relativ, da sowohl Wirklichkeit als auch Legende reines Arbeitsmaterial darstellen. Das Problem besteht darin, dass man unmöglich Wochen und Monate systematisch von jemandem besessen sein kann, ohne sich selbst ein Bild der betreffenden Person zu machen, das natürlich so nicht stimmt. Ein Bild, das sich derart tief und eindringlich im Kopf einnistet, dass es später schwierig wird, oder vielleicht sogar unnötig, seine Grundzüge zu ändern. Außerdem sind wir Schriftsteller im Vorteil, unsere Leser übernehmen mit überraschender Leichtigkeit unseren Standpunkt. Deswegen wusste ich an jenem regnerischen Morgen in Culiacán, dass diese Frau für mich niemals die echte Teresa Mendoza sein würde, weil eine andere, die ich zum Teil selbst erschaffen hatte, sie längst überdeckte. Jene Teresa, deren unvollständige und widersprüchliche Geschichte ich rekonstruiert hatte, nachdem ich sie Stück für Stück denen entlockt hatte, die sie gekannt, gehasst oder geliebt hatten.

»Warum sind Sie hier?«, fragte sie.

»Mir fehlt eine Episode aus Ihrem Leben. Die wichtigste.«

»Na so was. Eine Episode also.«

»Genau.«

Sie hatte eine Schachtel Faros vom Tisch genommen und zündete sich mit einem billigen Plastikfeuerzeug eine Zigarette an, nach einer abwehrenden Geste zu dem Mann, der am anderen Ende des Zimmers saß und sich mit einer Hand in der linken Jackentasche beflissen erhob. Ein schon etwas älterer Typ, breit, dicklich, tiefschwarzes Haar und dichter mexikanischer Schnurrbart.

»Die wichtigste?«

Sie legte die Zigaretten und das Feuerzeug auf den Tisch zurück, in perfekter Symmetrie, ohne mir eine anzubieten. Was mir egal war, ich rauche nicht. Neben einem Aschenbecher lagen dort noch zwei weitere Schachteln und eine Pistole.

»Das muss sie auch sein«, fügte sie hinzu, »wenn Sie sich trauen, heute hierher zu kommen.«

Ich sah die Pistole an. Eine Schweizer Sig Sauer. Kaliber 9 mm Para, sechzehn Schuss. Und drei volle Magazine. Die goldenen Geschossspitzen waren dick wie Eicheln.

»Ja«, antwortete ich sanft. »Vor zwölf Jahren. Sinaloa.«

Wieder ein beredter Blick. Sie war über mich informiert, denn in ihrer Welt konnte man für Geld alles bekommen. Außerdem hatte ich ihr drei Wochen zuvor eine Kopie meines fast fertigen Manuskriptes geschickt. Das war der Köder. Das Empfehlungsschreiben, um es vervollständigen zu können.

»Warum sollte ich Ihnen das erzählen?«

»Weil ich viel Arbeit in Sie gesteckt habe.«

Sie betrachtete mich durch den Zigarettenrauch, mit gesenkten Lidern wie die indianischen Masken des Templo Mayor. Dann stand sie auf, ging zum Barmöbel und kam mit einer Flasche Herradura Reposado und zwei kleinen schmalen Gläsern, die die Mexikaner Caballitos nennen, zurück. Sie hatte eine dunkle bequeme Leinenhose an, eine schwarze Bluse und Sandaletten, und mir fiel auf, dass sie tatsächlich keinen Schmuck trug, weder Halskette noch Uhr, einzig ein paar schmale silberne Armreifen am rechten Handgelenk. Zwei Jahre zuvor – die Zeitungsausschnitte lagen in meinem Hotelzimmer – hatte die Zeitschrift ¡Hola! sie in ihre Liste der zwanzig elegantesten Frauen Spaniens aufgenommen, während El Mundo fast zeitgleich über die letzten gerichtlichen Untersuchungen ihrer Geschäfte an der Costa del Sol und über ihre Verbindungen zum Drogenhandel berichtete. Auf dem Titelfoto konnte man sie hinter einem Autofenster erahnen, geschützt vor den Journalisten durch mehrere Leibwächter mit dunklen Sonnenbrillen. Einer von ihnen war der schnurrbärtige Dicke, der jetzt am anderen Ende des Raums saß und von weitem durch mich hindurchsah.

»Viel Arbeit«, wiederholte sie nachdenklich, während sie Tequila in die Gläser schenkte.

»So ist es.«

Sie trank stehend einen kleinen Schluck, ohne mich aus den Augen zu lassen. Sie war kleiner, als sie auf den Fotos oder im Fernsehen wirkte, aber ihre Bewegungen strahlten Ruhe und Sicherheit aus. Als würde jede Geste ganz selbstverständlich an die nächste anknüpfen und jede Improvisation, jedes Zweifeln ausschließen. Vielleicht kannte sie schon gar keine Zweifel mehr, kam mir plötzlich in den Sinn. Ich musste zugeben, dass sie für ihre fünfunddreißig Jahre recht attraktiv war. Vielleicht nicht mehr so sehr wie auf den jüngsten Fotos und auf denen, die ich hie und da bei Leuten gesehen hatte, die sie auf der anderen Atlantikseite gekannt hatten. Darunter war auch ihr Profil in Schwarz-Weiß auf einer alten Polizeiakte des Kommissariats von Algeciras gewesen. Und Videobänder, unscharfe Bilder, deren letzte Einstellungen stets brutale Gorillas zeigten, die gewaltsam die Kamera wegdrehten. Überall erschien sie so elegant wie jetzt, fast immer dunkel gekleidet und mit schwarzer Sonnenbrille, vor teuren Autos, in die sie ein- oder ausstieg, vom grobkörnigen Teleobjektiv verschwommen auf einer Terrasse in Marbella oder beim Sonnenbaden auf dem Deck einer großen schneeweißen Jacht aufgenommen – die Königin des Südens und ihre Legende. Gleichzeitig im Gesellschaftsteil und in den Nachrichten. Doch es gab noch ein anderes Foto, von dessen Existenz ich nichts wusste; erst als ich zwei Stunden später das Haus verlassen wollte, entschloss sich Teresa überraschend, es mir zu zeigen; ein verblasstes, hinten mit Tesafilm zusammengeklebtes Foto, das sie auf den Tisch legte, zwischen den vollen Aschenbecher, die Tequilaflasche, die sie alleine zu zwei Dritteln geleert hatte, und die Sig Sauer mit ihren drei Magazinen, die dort wie ein Vorzeichen – oder eher wie ein schicksalshafter Hinweis – auf das vorausdeutete, was in ebenjener Nacht geschehen sollte. Was dieses letzte, tatsächlich aber älteste Foto anging, so handelte es sich im Grunde nur um ein halbes Foto, da die ganze linke Hälfte fehlte; an sie erinnerte nur ein Männerarm in einer Fliegerjacke, der auf den Schultern eines schlanken Mädchens mit dichtem schwarzem Haar und großen Augen lag. Das Mädchen war ungefähr Anfang zwanzig; sie trug knallenge Hosen und eine hässliche Jeansjacke mit Lammfellkragen und sah mit einem unentschlossenen Ausdruck in die Kamera, als wüsste sie nicht so recht, ob sie lächeln sollte oder nicht. Mir fiel auf, dass trotz der ordinären, übertriebenen Schminke der Blick der dunklen Pupillen unschuldig oder verletzlich war; das unterstrich die Jugendlichkeit des ovalen Gesichts, die Augen leicht mandelförmig, der Mund klar gezeichnet, die Nase von Spuren alten Indiobluts geprägt, der Teint matt und das Kinn hochmütig nach oben gereckt. Dieses Mädchen war nicht schön, aber ungewöhnlich, dachte ich. Ihre Schönheit war unvollendet, fern, als sei sie über Generationen verwässert worden, bis nur noch vereinzelte Spuren eines früheren Glanzes übrig waren. Und dann diese gelassene oder vielleicht vertrauensselige Verletzlichkeit. Wäre mir die Person nicht so gut bekannt gewesen, hätte mich diese Verletzlichkeit gerührt. Nehme ich an.

»Ich erkenne Sie kaum wieder.«

Das stimmte, und so sagte ich es ihr. Die Bemerkung schien sie nicht zu verstimmen. Ohne eine Antwort betrachtete sie das auf dem Tisch liegende Foto, und so vergingen einige Minuten.

»Ich auch nicht«, sagte sie schließlich.

Dann steckte sie es wieder in ein ledernes Portemonnaie mit ihren Initialen, das sie in ihrer Tasche auf dem Sofa verstaute, und machte eine Geste in Richtung Tür.

»Ich glaube, das genügt jetzt«, sagte sie.

Sie sah sehr müde aus. Die lange Unterhaltung, die Zigaretten, die Flasche Tequila. Unter den Augen, die nur noch wenig mit denen des alten Fotos gemein hatten, lagen dunkle Schatten. Ich erhob mich, knöpfte mein Jackett zu, gab ihr die Hand – sie berührte sie kaum – und sah noch einmal auf die Pistole. Der Dicke vom anderen Ende des Zimmers stand plötzlich neben mir, gleichgültig, bereit, mich hinauszuführen. Ich betrachtete gebannt seine herrlichen Stiefel aus Leguanleder, seinen über den breiten, mit gestickten Motiven verzierten Ledergürtel quellenden Bauch, die bedrohliche Wölbung unter seinem Sakko. Als er die Tür öffnete, stellte ich fest, dass seine Korpulenz trügerisch war und er nur die linke Hand benutzte. Es war unübersehbar, dass er sich die rechte als Arbeitswerkzeug aufhob.

»Ich hoffe, es geht gut aus«, sagte ich zu ihr.

Sie folgte meinem Blick auf die Pistole und nickte langsam, hatte aber nicht richtig zugehört. Sie war von ihren eigenen Gedanken eingenommen.

»Natürlich«, murmelte sie.

Dann ging ich hinaus. Das mit kugelsicheren Westen und Sturmgewehren ausgerüstete Sonderkommando, von dem ich bei meiner Ankunft eingehend durchsucht worden war, bewachte weiterhin Eingangshalle und Garten, neben dem runden Brunnen in der Einfahrt standen ein Militärwagen und zwei Harley Davidson der Polizei. Fünf oder sechs Journalisten und eine Fernsehkamera harrten unter Regenschirmen jenseits der hohen Mauern auf der Straße aus, von den um das Grundstück postierten Soldaten in Kampfuniform auf Abstand gehalten. Ich bog nach rechts und marschierte durch den Regen zu dem Taxi, das einen Block weiter an der Ecke zur Calle General Anaya auf mich wartete. Nun wusste ich alles, was ich wissen wollte, die letzten dunklen Winkel waren erhellt, und jedes Puzzleteil der Geschichte von Teresa Mendoza, ob wahr oder erfunden, war an seinem Platz; von jenem ersten Foto, oder halben Foto, bis hin zu der Frau, die mich mit einer Automatikpistole auf dem Tisch empfangen hatte. Fehlte nur noch die Auflösung; doch auch diese sollte ich in den nächsten Stunden erfahren. Ich musste mich nur hinsetzen und abwarten, genau wie sie.

Zwölf Jahre waren seit jenem Nachmittag in der Stadt Culiacán vergangen, an dem Teresa Mendoza weggerannt war. An jenem Tag, dem Beginn einer langen Reise, die sie schließlich wieder an den Ausgangspunkt zurückführen sollte, stürzte die überschaubare Welt, die sie im Schatten vom Güero Dávila errichtet glaubte, um sie herum ein – sie konnte das Krachen der herabfallenden Trümmer förmlich hören –, und plötzlich war sie verloren, in höchster Gefahr. Sie ließ vom Telefon ab und hetzte hin und her, öffnete ziellos Schubladen, blind vor Panik, suchte nach irgendeiner Tasche, in die sie das Notwendigste packen konnte, um die Flucht zu ergreifen. Sie wollte um ihren Kerl weinen, schreien, bis es ihr die Kehle zerbarst; aber das Entsetzen, das in Wellen in ihr hochschlug, lähmte ihr Denken und ihr Fühlen. Es war, als hätte sie einen Pilz aus Huautla gegessen oder starkes, Schmerzen verursachendes Gras geraucht und fände sich in einem fernen Körper wieder, über den sie keine Gewalt hatte. Und so stolperte sie, nachdem sie sich hastig und unbeholfen eine Jeans, ein T-Shirt und Schuhe angezogen hatte, die Treppe hinunter, immer noch feucht unter der Kleidung und mit nassen Haaren, in der Hand eine kleine Reisetasche mit den wenigen Dingen, die sie gerade noch irgendwie hineingestopft hatte: T-Shirts, eine Jeansjacke, Slips, Socken, einen Geldbeutel mit zweihundert Pesos und ihren Ausweis. Als Erstes werden sie zu unserem Haus kommen, hatte der Güero sie gewarnt. Sie werden kommen und schauen, was sich so finden lässt. Und es ist besser, sie finden nicht dich.

Auf der Straße angekommen, hielt sie inne, unentschlossen, mit der instinktiven Vorsicht eines gehetzten Tiers, das den Jäger und die Hunde wittert. Vor ihr erstreckte sich der komplexe urbane Lageplan eines feindlichen Gebietes. Colonia Las Quintas: breite Straßen, hübsche Einfamilienhäuser mit Bougainvilleen, vor denen große Autos parkten. Ein langer Weg von dem Elendsviertel Las Siete Gotas bis hierher, dachte sie. Und plötzlich sah sie selbst in der Apothekerin von gegenüber eine Gefahr, in dem Angestellten des kleinen Supermarktes an der Ecke, wo sie die letzten zwei Jahre ihre Einkäufe gemacht hatte, in dem Wachmann vor der Bank mit seiner blauen Uniform und dem umgehängten Repetiergewehr Kaliber 12 – demselben, der sie jedes Mal, wenn sie vorbeiging, mit einem Lächeln bezirzte –, alle schienen ihr plötzlich aufzulauern. Du wirst keine Freunde mehr haben, hatte der Güero gesagt, mit diesem unverschämten Lächeln, das sie manchmal liebte und dann wieder aus tiefster Seele hasste. Ab dem Tag, an dem das Telefon klingelt und du losläufst, wirst du alleine sein, mein Kätzchen. Und ich werde dir nicht mehr helfen können.

Sie presste die Tasche Schutz suchend gegen ihren Bauch und marschierte mit gesenktem Kopf den Gehsteig entlang, sah niemanden mehr an und zwang sich, nicht unwillkürlich ihre Schritte zu beschleunigen. Am Horizont ging die Sonne langsam unter, über dem Pazifik, der vierzig Kilometer westlich lag, bei Altata, und die Palmen, Pingüicas und Mangobäume zeichneten sich gegen den Himmel ab, der bald in das für den Sonnenuntergang in Culiacán charakteristische Orange getaucht sein würde. In ihren Ohren pochte es; ein dumpfes, monotones Klopfen, das die Verkehrsgeräusche und das Klappern ihrer Absätze übertönte. Wenn jemand sie in diesem Augenblick gerufen hätte, wäre sie nicht imstande gewesen, ihren Namen zu hören; vielleicht hätte sie nicht einmal das Knallen eines Schusses gehört. Des für sie bestimmten Schusses. Sie war so auf ihn gefasst, dass ihr von der Anspannung und dem Bemühen, den Kopf gesenkt zu halten, Rücken und Nieren schmerzten. Die Situation. Unzählige Male hatte sie die Theorie der Katastrophe gehört, im Spaß und im Ernst, bei Drinks und Zigarettenrauch, sie war ihr eingeprägt wie einem Rind das Brandzeichen. In diesem Geschäft, hatte der Güero gesagt, muss man Die Situation erkennen können. Es kann jemand sein, der auf dich zukommt und dich begrüßt. Vielleicht kennst du ihn, und er lächelt dich an. Freundlich. Zuckersüß. Aber irgendwas kommt dir komisch vor, du hast so ein unbestimmtes Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Und einen Augenblick später bist du ein toter Mann – dabei sah der Güero zu Teresa, zielte mit dem Zeigefinger auf sie wie mit einer Pistole, unter dem Gelächter der Freunde. Oder eine tote Frau. Obwohl das immer noch besser ist, als lebendig in die Wüste mitgenommen zu werden, wo sie dir mit einem Schweißbrenner und viel Geduld Fragen stellen. Denn das Schlimme an den Fragen ist nicht, dass du die Antworten kennst – dann wäre die Erlösung nah –, sondern dass du sie eben nicht kennst. Das ist der Punkt, wie schon Cantinflas sagte. Das Problem. Keine leichte Sache, den Typen am Schweißbrenner davon zu überzeugen, dass du nicht weißt, was du seiner Meinung nach sehr wohl weißt und was er auch gerne wissen würde.

Verflucht. Sie hoffte, dass der Güero schnell gestorben war. Dass sie ihn mit der Cessna und allem Drum und Dran abgeschossen hatten, als Haifischfutter, statt ihn mit in die Wüste zu nehmen und ihm Fragen zu stellen. Die Fragen der Bundespolizei und der DEA brachten einen normalerweise ins Gefängnis von Almoloya oder Tucson. Bei denen konnte man verhandeln, sich einigen. Zeuge unter Polizeischutz werden oder mildere Haftbedingungen bekommen, wenn man seine Trümpfe gut einsetzte. Aber so weit gingen die Spielchen vom Güero nie. Er war weder ein Denunziant noch ein Spitzel. Er hatte die anderen nur ein bisschen hintergangen, weniger um des Geldes als um des Nervenkitzels willen. Wir aus San Antonio, brüstete er sich, spielen gerne mit dem Feuer. Diesen Typen eins auszuwischen war für ihn ein Spaß; und er lachte sich heimlich ins Fäustchen, wenn sie ihm ihre Anweisungen gaben, flieg von da nach da, Freundchen, halt dich nicht zu lange auf, und ihn für einen billigen Handlanger hielten, herablassend raschelnde Dollarbündel auf den Tisch warfen, wenn er von seinen Flügen zurückkam, mit denen die Bosse jedes Mal einen Haufen Kohle verdienten, während er Kopf und Kragen riskierte. Das Problem war nur, dass es dem Güero nicht genügte, gewisse Dinge zu tun, er musste sie auch erzählen. Er war ein Großmaul. Was bringt es, die heißeste Braut aufzureißen, wenn du es den Jungs nicht erzählen kannst. Und wenn etwas schiefläuft, kriegst du eben deinen eigenen Narcocorrido von den Tigres oder den Tucanes de Tijuana, den singen sie dann in den Cantinas und Autoradios. Bah. Dann bist du Legende, Kumpel. Oft war es ihr kalt den Rücken heruntergelaufen, wenn sie in einer Bar, auf einem Fest, zwischen zwei Tänzen im Salón Morocco mit weiß bestäubter Nase an seiner Schulter kauerte und hörte, wie er mit einem Pacífico-Bier in der Hand seinen Freunden Dinge anvertraute, die jeder vernünftige Mensch schön für sich behalten hätte. Teresa hatte keine Ausbildung gehabt, sie hatte überhaupt nie etwas außer dem Güero gehabt; aber sie wusste, dass man wahre Freunde daran erkennt, dass sie dich im Krankenhaus, im Gefängnis oder auf dem Friedhof besuchen. Was bedeutete, dass Freunde so lange Freunde waren, bis sie aufhörten, es zu sein.

Sie legte drei Blöcke zurück, ohne sich umzuschauen. Bloß nicht. Ihre Absätze waren zu hoch, sie würde umknicksen, sollte sie plötzlich losrennen müssen. Sie zog die Schuhe aus, steckte sie in die Tasche, bog barfuß an der nächsten Ecke nach rechts und ging weiter, bis sie auf die Calle Juárez stieß. Dort blieb sie vor einer Cafeteria stehen, um zu sehen, ob man ihr folgte. Ihr fiel nichts auf, das auf eine Gefahr hingedeutet hätte; also drückte sie, um kurz nachzudenken und ihr rasendes Herz zu beruhigen, die Tür auf und setzte sich an einen der hinteren Tische, mit dem Rücken zur Wand und dem Blick zur Straße. Um Die Situation zu situieren, wie der Güero mit seiner ewigen Wortspielerei es ausgedrückt hätte. Oder um es zumindest zu versuchen. Das nasse Haar fiel ihr ins Gesicht; sie strich es nur einmal weg, dann sagte sie sich, dass es besser sei, wenn es sie etwas verdeckte. Man servierte ihr einen Kaktussaft, und sie blieb eine Weile reglos sitzen, zu keinem zusammenhängenden Gedanken fähig, bis sie den Drang verspürte zu rauchen und merkte, dass sie bei ihrem überstürzten Aufbruch vergessen hatte, die Zigaretten einzustecken. Sie bat die Kellnerin um eine, ließ sie sich auch von ihr anzünden, ohne den irritierten Blick auf ihre nackten Füße zu beachten; dann rauchte sie still vor sich hin und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. So ging es schon besser. Der Rauch in ihren Lungen ließ sie etwas ruhiger werden; zumindest ruhig genug, um Die Situation unter praktischen Gesichtspunkten zu analysieren. Sie musste zu der anderen Wohnung gelangen, der sicheren, bevor die Hyänen sie fänden und sie ungewollt zu einer Nebenfigur in einem dieser Narcocorridos werden würde, als deren Held sich der Güero so gerne gesehen hätte, von den Tigres oder den Tucanes für ihn geschrieben. Dort waren das Geld und die Papiere, und ohne das würde sie nirgends hinkommen, da könnte sie noch so sehr laufen. Dort war auch das Notizbuch vom Güero, mit Telefonnummern, Adressen, Notizen, Kontakten, Connections in Niederkalifornien, Chihuahua und Cohahuila, Freunde und Feinde – es war nicht immer leicht, die einen von den anderen zu unterscheiden – in Kolumbien, Guatemala, Honduras und zu beiden Seiten des Rio Bravo: El Paso, Juárez, San Antonio. Das verbrennst du oder versteckst es, hatte er zu ihr gesagt. Beachte es gar nicht, mein Kätzchen, zu deinem eigenen Besten. Wirf nicht mal einen Blick hinein. Nur wenn du richtig in der Patsche steckst, tausch es bei Don Epifanio Vargas gegen deinen Kopf ein. Kapiert? Schwör mir, dass du um nichts auf der Welt dieses Notizbuch aufschlägst. Schwör es bei Gott und der Jungfrau. Komm her. Schwör es bei dem, was du da in der Hand hast.

Ihr blieb nicht viel Zeit. Auch ihre Uhr hatte sie vergessen, aber sie konnte sehen, dass der Nachmittag sich dem Ende zuneigte. Die Straße schien ruhig: normaler Verkehr, Passanten, niemand, der in der Nähe herumstand. Sie zog die Schuhe an, legte zehn Pesos auf den Tisch und stand langsam auf, ihre Tasche in der Hand. Sie wagte nicht, ihr Gesicht beim Hinausgehen im Spiegel anzusehen. An der Straßenecke verkaufte ein Junge Erfrischungsgetränke, Zigaretten und Zeitungen auf einem Karton mit der Aufschrift Samsung. Sie erstand eine Packung Faros und eine Schachtel Streichhölzer, sah sich dabei aus den Augenwinkeln um und ging dann betont langsam weiter. Die Situation. Ein geparktes Auto, ein Polizist, ein Straßenfeger ließen sie zusammenzucken. Ihr Rücken war verspannt und schmerzte, sie hatte einen schalen Geschmack im Mund. Erneut behinderten sie ihre Absätze. Der Güero hätte sich schiefgelacht, dachte sie, wenn er sie so gesehen hätte. Und in ihrem Innersten verfluchte sie ihn dafür. Na, was ist jetzt aus deinem Lachen geworden, wo es dir die Suppe verhagelt hat? Und aus deiner Arroganz, du Supertyp, du fandest dich doch immer so toll? Vor einem Tacorestaurant stieg ihr Fleischgeruch in die Nase, und der schale Geschmack in ihrem Mund wurde plötzlich so übermächtig, dass sie stehen bleiben musste und hastig in einen Hauseingang trat, wo sie einen Schwall Kaktussaft erbrach.

Ich kannte Culiacán. Ich war dort bereits vor dem Interview mit Teresa Mendoza gewesen, ganz am Anfang, als ich mit den Recherchen zu ihrer Geschichte gerade begonnen hatte und sie noch nicht mehr als eine schwach umrissene Herausforderung in Gestalt von ein paar Fotos und Zeitungsausschnitten war. Später, am Ende, kehrte ich noch einmal zurück und kam endlich in den Besitz der Informationen, die ich noch brauchte: Fakten, Namen, Orte. So kann ich jetzt alles ordnen, und die einzigen Lücken werden die unvermeidlichen oder vielleicht angebrachten sein. Ich sollte nicht verschweigen, dass alles vor einiger Zeit bei einem Mittagessen mit René Delgado, dem Direktor der Zeitung Reforma, in Mexiko Stadt seinen Anfang nahm. Mit René verbindet mich eine alte Freundschaft, wir kennen uns, seit wir als junge Journalisten in Managua ein Zimmer im Hotel Intercontinental geteilt haben, während des Kriegs gegen Somoza. Immer wenn ich nach Mexiko komme, treffen wir uns und sprechen über Erinnerungen, Falten und weiße Haare. Und bei jener bewussten Gelegenheit im San Angel Inn schlug er mir das Thema vor, während wir Escamoles und Hühnertacos aßen.

»Du bist Spanier, du hast dort gute Kontakte. Schreib für uns eine große Reportage über sie.«

Ich schüttelte den Kopf und versuchte gleichzeitig, den Inhalt des Tacos nicht über mein ganzes Kinn zu verteilen.

»Ich bin kein Journalist mehr. Inzwischen erfinde ich alles selbst, und mein unterstes Limit sind vierhundert Seiten.«

»Dann mach es auf deine Art«, beharrte René. »Meinetwegen eine verfluchte literarische Reportage.«

Ich beendete meinen Kampf mit dem Taco, und wir diskutierten Pro und Contra. Ich zögerte, bis der Kaffee und zwei Don Julian N° 1 kamen, René wollte gerade schon damit drohen, eine Gruppe Mariachis zu rufen. Aber der Schuss ging nach hinten los: Die Reportage für Reforma verwandelte sich schließlich in ein eigenes literarisches Unterfangen, doch das nahm mein Freund mir nicht übel. Im Gegenteil, am nächsten Tag stellte er mir seine wertvollsten Kontakte an der Pazifikküste und bei der Bundespolizei für meine Nachforschungen über die im Dunkeln liegenden Jahre zur Verfügung. Die Etappe im Leben von Teresa Mendoza, von der man in Spanien nichts wusste und die selbst in Mexiko kaum bekannt war.

»Dann bringen wir eben eine Rezension von dem Buch«, sagte er, »du Penner.«

Bis dahin war nur bekannt, dass sie in Las Siete Gotas gewohnt hatte, einem äußerst einfachen Viertel in Culiacán, und Tochter eines Spaniers und einer Mexikanerin war. Des Weiteren, dass sie die Schule früh verlassen hatte und erst in einem Hutladen am Buelna-Markt, dann als Dollarwechslerin in der Calle Juárez gearbeitet hatte, wo das Schicksal ihr – mit der ihm eigenen Ironie – just am Tag der Toten Raimundo Dávila Parra über den Weg schickte, Pilot im Dienste des Juárez-Kartells, im Milieu wegen seiner blonden Haare, blauen Augen und amerikanischen Gringo-Allüren als der Güero Dávila, also der blonde Dávila, bekannt. All das entsprang mehr der Legende, die sich um Teresa Mendoza rankte, als konkreten Fakten; mit dem Ziel, diesen Teil ihrer Biographie zu erhellen, fuhr ich deshalb in die Hauptstadt des an der mexikanischen Westküste – längs der Mündung des Golfs von Kalifornien – gelegenen Bundesstaates Sinaloa und zog dort durch Straßen und Lokale. Ich ging sogar fast genau den Weg ab, den sie an jenem letzten – oder ersten, je nachdem, wie man es betrachtet – Nachmittag genommen hatte, als sie nach dem Anruf das Haus verlassen hatte, in dem sie mit dem Güero Dávila wohnte. Ich stand vor dem Haus, das zwei Jahre lang ihr Nest gewesen war: ein schlichtes, komfortables, einstöckiges Wohnhaus mit einem Patio auf der Rückseite, Myrte und Bougainvilleabüschen vor der Tür, im südwestlichen Teil von Las Quintas gelegen, einem Viertel, in dem sich die Drogenhändler der Mittelklasse niederließen; die, denen es gut ging, aber noch nicht so gut, dass sie sich eine Luxusvilla in der exklusiven Colonia Chapultepec leisten könnten. Dann schlenderte ich unter den Palmen und Mangobäumen die Calle Juárez entlang und blieb vor dem kleinen Markt stehen, um eine Weile die jungen Mädchen zu beobachten, die, in der einen Hand das Handy, in der anderen den Taschenrechner, mitten auf der Straße Geld wechseln; oder, anders ausgedrückt, die den neben ihnen anhaltenden Autofahrern Dollarbündel, die nach bestem Haschisch aus den Bergen oder feinstem Schnee riechen, mit mexikanischen Pesos waschen. In dieser Stadt, wo die Illegalität oft eine konventionelle, allgemein anerkannte Lebensform ist – es ist Familientradition, heißt es in einem berühmten Corrido, gegen das Gesetz zu arbeiten –, war Teresa Mendoza eine Zeit lang eines dieser jungen Mädchen gewesen, bis irgendwann ein schwarzer Jeep Bronco neben ihr hielt, Raimundo Dávila Parra die getönte Scheibe herunterließ und sie vom Fahrersitz aus ansah. Das war der Augenblick, in dem sich ihr Leben für immer veränderte.

Ebenjenen Gehsteig, sie kannte jeden Pflasterstein, ging sie jetzt entlang, mit trockenem Mund und angsterfüllten Augen. Sie machte einen Bogen um die Mädchen, die in Gruppen zusammenstanden oder vor der Obsthandlung El Canario auf Kunden warteten; dabei sah sie misstrauisch zum Umschlagplatz der Lastwagen und Züge aus den Bergen und den Tacoständen des Marktes hinüber, wo sich Frauen mit Körben und schnurrbärtige Männer mit Baseballkappen und Stetsons drängten. Aus dem auf Grupera-Musik spezialisierten Laden neben dem Juwelier an der Ecke tönte die Melodie von Pakete kiloweise, es sangen die Dinámicos oder vielleicht die Tigres. Sie war zu weit weg, um es mit Bestimmtheit sagen zu können, aber sie kannte das Lied. Und wie sie es kannte, zum Teufel, in- und auswendig kannte sie es, es war das Lieblingslied vom Güero; beim Rasieren sang er es vor sich hin, bei offenem Fenster, um die Nachbarn zu schockieren, oder er wisperte es ihr ins Ohr, wenn er sich damit amüsierte, sie wütend zu machen:

Die Freunde meines Vaters

zollen mir Bewunderung und Respekt,

in zwei- oder dreihundert Metern

ist mein Flugzeugstart perfekt.

Kein Kaliber ist mir zu schwer

ich beherrsche jedes Maschinengewehr …

Güero, du verfluchter Scheißkerl, dachte sie, und fast sagte sie es laut, um das Schluchzen zu unterdrücken, das ihr in der Kehle hochstieg. Dann sah sie sich nach rechts und links um. Sie war weiter auf der Hut, vor einem Gesicht, einer Gegenwart, die Gefahr bedeuten könnte. Zweifellos würden sie jemanden schicken, der sie kannte, dachte sie. Der sie identifizieren könnte. Deswegen setzte sie all ihre Hoffnung darauf, denjenigen als Erste zu erkennen. Oder diejenigen. Denn normalerweise waren sie zu zweit unterwegs, um sich gegenseitig den Rücken zu decken. Und um sich gegenseitig zu überwachen, denn in diesem Geschäft traute keiner auch nur seinem eigenen Schatten. Ihn rechtzeitig erkennen und die Gefahr in seinem Blick erahnen. Oder in seinem Lächeln. Irgendjemand lächelt dich an, erinnerte sie sich. Und einen Augenblick später bist du tot. Wenn du Glück hast, fügte sie innerlich hinzu. Mit viel Glück bin ich dann tot. In Sinaloa, dachte sie, die Wüste und den Schweißbrenner aus Güeros Schilderung vor Augen, ist Glück oder Unglück einzig eine Frage der Schnelligkeit, eine Rechenaufgabe mit plus und minus. Je länger du brauchst, um zu sterben, desto weniger Glück hast du.

In der Calle Juárez ging sie in Fahrtrichtung zum Verkehr. Sie merkte es, als sie den Friedhof San Juan hinter sich gelassen hatte, also bog sie nach links ab in Richtung Calle General Escobedo. Der Güero hatte ihr erklärt, dass sie, sollte man sie irgendwann einmal verfolgen, immer darauf achten müsse, Straßen zu wählen, in denen ihr der Verkehr entgegenkäme, damit sie die Autos rechtzeitig auf sich zukommen sähe. Sie marschierte die Straße entlang, schaute sich dabei von Zeit zu Zeit um und kam schließlich ins Stadtzentrum, ging an dem weißen Rathausgebäude vorbei und mischte sich unter die Menschen, die an den Bushaltestellen und beim Garmendia-Markt herumstanden. Dort erst fühlte sie sich etwas sicherer. Die Sonne ging gerade unter, im Osten hing der Himmel tieforange über den Gebäuden, und die ersten Schaufenster erleuchteten die Gehsteige. An Orten wie diesen bringen sie normalerweise niemanden um, dachte sie. Hier würden sie einen auch nicht entführen. An einer Ecke standen zwei Verkehrspolizisten in ihren braunen Uniformen. Das Gesicht des einen kam ihr vage bekannt vor, so dass sie schnell wegsah und die Richtung änderte. Viele städtische Polizisten standen auf der Gehaltsliste der Drogenkartelle, genau wie Gerichts- und Bundespolizisten und so viele andere, ein Kokain-Briefchen in der Geldbörse, Gratisdrinks in den Bars; manche ließen sich als Leibwächter von den wichtigsten Mafiabossen anheuern, andere verfuhren einfach nach der gesunden Devise, leben, Schmiergeld kassieren und leben lassen, wenn man selbst am Leben bleiben wollte. Vor drei Monaten hatte ein frisch von auswärts eingetroffener Polizeichef die Spielregeln ändern wollen. Siebzig gut platzierte Kugeln aus einem Ziegenhorn – die gängige Bezeichnung für die Kalaschnikow AK-47 – haben sie ihm verpasst, in seinem Auto direkt vor der Haustür. Ratatatatata. In den Läden konnte man schon CDs mit den entsprechenden Liedern kaufen. Siebzig Kugeln zu siebt war der bekannteste Titel. Um sechs Uhr früh – wurde im Text präzisiert – legten sie den Polizeichef Ordoñez um. Viele Kugeln waren's für eine so frühe Stund. Typisch Sinaloa. Beliebte Sänger wie As de la Sierra ließen sich für ihre Werbeplakate vor einem Kleinflugzeug mit einer Pistole Kaliber 45 in der Hand ablichten, und Chalino Sánchez, Held des lokalen Liedguts, der ein Killer der Mafia gewesen war, bevor er mit dem Komponieren und Singen anfing, wurde wegen einer Frau oder weshalb auch immer kaltgemacht. Wenn es etwas gab, worauf die Narcocorridos wirklich nicht zurückgreifen mussten, war es die Phantasie.

An der Ecke mit der Eisdiele La Michoacana ließ Teresa den Markt, die Schuhläden und Kleiderboutiquen hinter sich und ging weiter die Straße hinunter. Die Fluchtwohnung vom Güero, sein Unterschlupf für den Notfall, war nur noch wenige Meter entfernt, im zweiten Stock eines unauffälligen Mietshauses, gegenüber dessen Eingang an einem Stand tagsüber Meeresfrüchte und abends Tacos mit gegrilltem Fleisch verkauft wurden. Im Prinzip wusste niemand außer ihnen beiden von der Existenz dieses Ortes; Teresa war ein einziges Mal dort gewesen, und selbst der Güero kam nur selten vorbei, um die Wohnung nicht zu verraten. Sie stieg so leise wie möglich die Treppen hoch, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn vorsichtig herum. Nein, niemand konnte dort sein; dennoch inspizierte sie voller Unruhe die ganze Wohnung, achtete auf jeden möglichen Hinweis, dass etwas nicht in Ordnung wäre. Nicht einmal diese vier Wände sind hundert Prozent sicher, hatte der Güero gesagt.  Vielleicht hat mich schon mal jemand hier gesehen oder weiß etwas oder wie auch immer, in Culiacán kennt sich doch Gott und die Welt. Und selbst wenn dem nicht so ist, schnappen sie mich vielleicht lebendig, und dann werde ich nicht lange den Mund halten können, alles werden sie aus mir herausquetschen, und ich ihnen so viele Rancheras vorsingen, wie sie wollen. Also schau zu, dass du nicht einschläfst wie ein Huhn auf seiner Leiter, meine Süße. Ich hoffe, lange genug auszuhalten, damit du die Knete holen und verschwinden kannst, bevor sie dort einfallen. Aber versprechen kann ich dir nichts, mein Kätzchen – dabei lächelte er immer noch, dieser Mistkerl. Versprechen kann ich dir nichts.

Die Wände der kleinen Wohnung waren nackt, die einzigen Möbelstücke waren ein Tisch, vier Stühle und ein Sofa, im Schlafzimmer ein großes Bett und ein Nachttisch mit einem Telefon darauf. Das Fenster des Schlafzimmers ging nach hinten hinaus, auf ein Grundstück mit Bäumen und Büschen, das als Parkplatz genutzt wurde und an dessen gegenüberliegendem Ende die gelben Kuppeln der Santuario-Kirche emporragten. Ein Einbauschrank hatte einen doppelten Boden, und als Teresa ihn heraushob, fand sie darunter zwei dicke Pakete mit Bündeln aus Hundert-Dollar-Scheinen. Zirka zwanzigtausend, schätzte sie aufgrund ihrer Erfahrung als Wechslerin in der Calle Juárez. Dort lag auch das Notizbuch vom Güero, ein großes Heft mit braunem Ledereinband – schlag es nicht einmal auf, hörte sie ihn wieder sagen –, ein Päckchen Koks, ungefähr dreihundert Gramm, und eine riesige verchromte Águila Pistole mit perlmuttbesetztem Griff. Der Güero mochte keine Waffen und hatte nie eine Pistole oder einen Revolver bei sich – das hilft gar nichts; wenn sie es auf dich abgesehen haben, kriegen sie dich doch –, aber die Águila hob er als Vorsichtsmaßnahme für den Notfall auf. Warum sollte ich dich anlügen, wenn's doch so ist. Teresa mochte auch keine Waffen; aber wie fast alle Männer, Frauen oder Kinder in Sinaloa konnte sie mit ihnen umgehen. Und das hier war jetzt wirklich ein Notfall. Also vergewisserte sie sich, dass das Magazin der Pistole voll war, und zog den Schlitten zurück, der beim Vorschnellen eine Patrone Kaliber 45 mit tiefem, düsterem Klacken ins Lager repetierte. Ihre Hände zitterten vor Angst, als sie alles in die Tasche packte, die sie mitgebracht hatte. Plötzlich ließ das Knallen eines Auspuffs unten auf der Straße sie zusammenschrecken. Sie hielt einen Moment inne und lauschte, bevor sie weitermachte. Neben den Dollarscheinen lagen zwei Pässe, ihrer und der vom Güero. Beide mit gültigen amerikanischen Visa. Sie betrachtete das Foto vom Güero: kurz rasiertes Haar, seine hellen Augen, die gelassen ins Objektiv blickten, die Andeutung seines ewigen Lächelns in den Mundwinkeln. Nach einem kurzen Zögern steckte sie nur ihren in die Tasche; während sie sich nach unten beugte, tropften ihr Tränen übers Kinn auf die Hand, und sie merkte, dass sie schon eine ganze Weile weinte.

Mit verschleiertem Blick sah sie sich um und versuchte sich darauf zu konzentrieren, ob sie irgendetwas vergessen hatte. Ihr Herz pochte so heftig, als würde es zerspringen. Sie ging zum Fenster, betrachtete die Straße, wo sich die Schatten der Dämmerung langsam vertieften, den Tacostand, der von einer Glühbirne und dem Grill mit den glühenden Kohlen erleuchtet wurde. Dann zündete sie sich eine Faro an und machte ein paar unentschlossene Schritte durch die Wohnung, während sie nervös an der Zigarette zog. Sie musste weg, aber sie wusste nicht, wohin. Sie wusste nur, dass sie hier nicht bleiben konnte. Sie stand in der Tür zum Schlafzimmer, als ihr Blick aufs Telefon fiel und sie auf eine Idee brachte: Don Epifanio Vargas. Don Epifanio war ein feiner Mensch. Er hatte mit Amado Carillo gearbeitet, in den goldenen Zeiten der Luftbrücken zwischen Kolumbien, Sinaloa und den Vereinigten Staaten, und er war dem Güero immer ein guter Pate gewesen, anständig und seinen Abmachungen treu, bis er sich auf andere Geschäfte verlegte und in die Politik ging, keine Flugzeuge mehr brauchte und der Pilot den Arbeitgeber wechselte. Er hatte ihm angeboten, bei ihm zu bleiben, aber dem Güero gefiel das Fliegen, auch wenn es für andere war. Dort oben ist man jemand, sagte er, hier unten bleibst du doch immer nur eine kleine Nummer. Don Epifanio nahm es ihm nicht übel und lieh ihm sogar das Geld für eine neue Cessna, als er die alte bei einer brutalen Landung auf einer Piste in den Bergen zu Schrott geflogen hatte, mit dreihundert Kilo der weißen Lady hinten drinnen, gut mit Klebeband verstaut; über ihm zwei kreisende Flugzeuge der Bundespolizei, die Landstraßen grün vor Soldaten, und zwischen Sirenengeheul und Megaphonen ratterten die R-15', ein Höllenradau. Der Güero kam mit einem gebrochenen Arm gerade noch davon, erst waren die Gesetzeshüter hinter ihm her, dann die Besitzer der Ware, denen er anhand von Zeitungsausschnitten beweisen musste, dass sie vollständig von der Regierung beschlagnahmt worden war, dass drei der acht Männer der Empfangstruppe umgekommen waren, während sie die Piste verteidigten, und dass einer aus Badiraguato sie verpfiffen hatte, der für die Bundespolizei als Spitzel unterwegs war. Den Denunzianten erstickten sie – die Hände auf dem Rücken gefesselt – mit einer Plastiktüte, wie auch seinen Vater, seine Mutter und seine Schwester – die Mafia machte keine Ausnahmen –, und der Güero, von jedem Verdacht befreit, konnte sich dank des von Don Epifanio geliehenen Geldes eine neue Cessna kaufen.

Sie drückte die Zigarette aus, stellte die offene Tasche neben dem oberen Bettende auf den Boden und holte das Notizbuch heraus, legte es auf die Matratze und starrte eine Weile darauf. Beachte es gar nicht, klang es ihr in den Ohren. Dort lag das verfluchte Notizbuch dieses überheblichen Dreckskerls, der jetzt schon mit dem Sensenmann tanzte, und folgsam, wie sie war, traute sie sich nicht, es in die Hand zu nehmen; wie kann man nur so dämlich sein. Lass es, sagte eine innere Stimme. Jetzt nimm schon, drängte eine andere. Um sich Mut zu machen, holte sie das Päckchen mit dem Schnee heraus, tauchte einen Nagel hinein, hielt ihn unter die Nase und zog das Zeug schnell hoch. Einen Augenblick später sah sie mit neuer Klarheit und geschärften Sinnen wieder auf das Notizbuch und öffnete es schließlich. Da war Don Epifanios Name, unter anderen, die ihr allein beim Durchblättern einen Schauer über den Rücken jagten: Chapo Guzmán, César Batman Güemes, Héctor Palma … Mit Telefonnummern, Connections, Mittelsmännern, Ziffern und Codes, deren Bedeutung sie nicht kannte. Sie las weiter, mit immer langsamer werdendem Puls, bis sie wie erstarrt dasaß. Beachte es gar nicht, klang es ihr in den Ohren, und sie erschauderte. Verdammt. Jetzt wusste sie, warum. Alles war noch viel schlimmer, als sie gedacht hatte.

Da hörte sie, wie die Wohnungstür aufging.

Na schau mal, wen wir da haben, Pote. Na, das nenn ich Glück.«

Gato Fierros Lächeln glitzerte wie die Schneide eines nassen Messers, denn es war ein feuchtes und gefährliches Lächeln, wie es die Killer in amerikanischen Filmen haben, in denen Drogenhändler für gewöhnlich schmierige Latinoschurken sind, à la Pedro Navaja oder Juanito Alimaña. Und Gato Fierros war ein schmieriger Latinoschurke, schien einem Lied von Rubén Blades oder Willy Colon entstiegen; die Frage war nur, ob er das Klischee bewusst pflegte oder ob Rubén Blades, Willy Colon und die amerikanischen Filme durch Typen wie ihn inspiriert wurden.

»Die Kleine vom Güero.«

Der Killer lehnte am Türrahmen, die Hände in den Hosentaschen. Seine Katzenaugen, denen er seinen Spitznamen Gato Fierros zu verdanken hatte, wichen nicht von Teresa, während er mit seinem Begleiter sprach, den Mund in bösartiger Lässigkeit seitlich verzogen.

»Ich weiß gar nichts«, sagte Teresa.

Sie war so in Panik, dass sie ihre eigene Stimme kaum erkannte. Gato Fierros nickte verständnisvoll, zweimal hintereinander.

»Klar«, sagte er.

Sein Lächeln wurde breiter. Er hatte aufgehört zu zählen, wie viele Männer und Frauen ihm schon versichert hatten, dass sie nichts wussten, bevor er sie kaltgemacht hatte, mal schnell, mal langsam, den Umständen entsprechend, in einem Land, in dem ein gewaltsamer Tod ein natürlicher Tod war – zwanzigtausend Pesos für einen gewöhnlichen Toten, hunderttausend für einen Polizisten oder Richter, alles gratis, wenn man einem Kumpel einen Gefallen tat. Und Teresa war auf dem Laufenden: Sie kannte Gato Fierros und auch seinen Begleiter Potemkin Gálvez, Pote Gálvez oder Pinto genannt. Beide trugen Leinensakkos, seidene Versace-Hemden, Jeans und fast identische Stiefel aus Leguanleder, als würden sie sich im selben Laden einkleiden. Sie arbeiteten als Auftragsmörder für César Batman Güemes und waren viel mit dem Güero Dávila zusammen gewesen: als Arbeitskollegen, als Eskorte für die Luftfracht in die Berge und bei Drinks und auf Partys, die sie nachmittags im Don Quijote starteten, mit frischem Geld, das roch, wonach es eben roch; danach zogen sie bis in die Puppen weiter, in die Animierclubs der Stadt, ins Lord Black oder ins Osiris, wo die Mädchen für hundert Pesos fünf Minuten nackt tanzten, für zweihundertdreißig Pesos, wenn das Ganze in einem Séparée stattfand; im Morgengrauen dann Buchanan's Whisky und Schnee gegen den Rausch, während die Huracanes, die Pumas, die Broncos oder eine von den anderen nordmexikanischen Gruppen Hundert-Dollar-Scheine zugesteckt bekamen, um ihnen zur Begleitung Corridos zu singen – Schnüffelnasen, Eine Hand voll Schnee, Der Tod eines Bundespolizisten –, Corridos über Männer, die schon tot waren oder es bald sein würden.

»Wo ist er?«, fragte Teresa.

Gato Fierros stieß ein heimtückisches, schmutziges Lachen aus.

»Hast du gehört, Pote? … Sie fragt nach dem Güero. Die hat Nerven.«

Er lehnte immer noch am Türrahmen. Sein Partner schüttelte den Kopf. Er war dick und stämmig, sah solide aus, hatte einen dichten schwarzen Schnurrbart und dunkle Flecken auf der Haut, ähnlich den Pinto-Pferden. Er machte keinen so lockeren Eindruck und sah mit einer Geste, die Ungeduld, vielleicht auch Unbehagen ausdrückte, auf die Uhr. Die Armbewegung entblößte den Griff eines Revolvers an seinem Gürtel unter dem Leinensakko.

»Der Güero«, wiederholte Gato Fierros versonnen.

Er hatte die Hände aus den Taschen genommen und ging langsam auf Teresa zu, die regungslos am Kopfende des Bettes stand. Er blieb vor ihr stehen und sah sie an.

»Tja, meine Süße«, sagte er schließlich. »Dein Alter hat es zu weit getrieben.«

Teresa spürte die Angst sich in ihren Eingeweiden winden wie eine Klapperschlange. Die Situation. Eine Angst, weiß und kalt, wie die Oberfläche eines Grabsteins.

»Wo ist er?«, fragte sie.

Es war nicht sie, die da sprach, sondern eine Fremde, deren unerwartete Worte sie erschreckten. Eine Fremde, der es egal war, dass sie besser schweigen sollte. Gato Fierros schien das nicht zu entgehen, in seinem Blick war das Erstaunen darüber zu lesen, wie sie noch Fragen stellen konnte, anstatt zu erstarren oder vor Angst loszuschreien.

»Den gibt's nicht mehr. Der ist mausetot.«

Die Fremde in ihr machte weiterhin, was sie wollte, und Teresa zuckte zusammen, als sie sich sagen hörte: ihr Hurensöhne. Genau das sagte sie, oder das hörte sie sich zumindest sagen: ihr Hurensöhne, und sie bereute es, noch bevor die letzte Silbe über ihre Lippen gekommen war. Gato Fierros betrachtete sie neugierig und aufmerksam. »Schau mal einer an, da haben wir ja eine kleine Kratzbürste«, sagte er langsam. »Sogar die Beretta beschimpft sie uns.«

»Mit ihrem kleinen Schnäuzchen«, ergänzte er, ganz sanft.

Dann verpasste er ihr eine Ohrfeige, die sie rücklings übers Bett warf, und beobachtete sie weiter, als betrachte er eine reizvolle Landschaft. Teresa pochte das Blut in den Schläfen, und mit brennender Wange, benommen von dem Schlag, sah sie, wie er das Päckchen Schnee entdeckte, das auf dem Nachttisch lag, eine Fingerspitze herausnahm und unter die Nase hielt. »Sieh mal einer an«, sagte er. »Gestreckt, aber ganz akzeptabel.« Dann rieb er Zeigefinger und Daumen gegeneinander und bot das Päckchen seinem Partner an; der aber schüttelte den Kopf und sah wieder auf die Uhr. »Kein Grund zur Eile, Mann«, sagte Gato Fierros. »Ist mir doch scheißegal, wie viel Uhr es ist.« Er schaute wieder zu Teresa.

»Was für eine Prachtschlampe«, fuhr er fort. »Und außerdem Witwe.«

Von der Tür aus appellierte Pote Gálvez an seinen Gefährten. »Gato«, sagte er sehr ernst. »Lass es uns zu Ende bringen.« Der Angesprochene brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen und setzte sich auf die Bettkante. »Hör auf mit dem Scheiß«, insistierte der andere. »Die Anordnungen sind klar. Wir sollen sie umlegen, nicht flachlegen. Also los, Compadre, sei kein Idiot.« Aber Gato Fierros bewegte den Kopf langsam hin und her, als hörte er gar nicht zu.

»So ein Glückstreffer«, sagte er. »Ich hatte schon immer Lust, die Kleine zu knallen.«

Teresa war zweimal vergewaltigt worden, bevor sie mit dem Güero Dávila zusammenkam: mit fünfzehn von einer Gruppe Halbwüchsiger in Las Siete Gotas und dann von dem Mann, der sie als Wechslerin auf die Calle Juárez schickte. Sie wusste also, was sie erwartete, als das hauchdünne Lächeln des Killers noch feuchter wurde und er den Knopf ihrer Levis löste. Plötzlich hatte sie keine Angst mehr. Weil das hier gar nicht passiert, dachte sie wie betäubt. Ich schlafe, und das Ganze ist nur ein Alptraum wie so viele andere, wie der, den ich schon einmal erlebt habe; etwas, das einer anderen Frau geschieht, die ich im Traum vor mir sehe, die mir ähnelt, die ich aber nicht bin. Ich kann aufwachen, wann immer ich will, den Atem vom Güero auf dem Kopfkissen neben mir spüren, ihn umarmen, mein Gesicht an seine Brust drücken, und nichts von all dem hier ist passiert. Ich könnte in dem Traum auch sterben, an einem Infarkt, einem Herzstillstand, woran auch immer. Ich könnte plötzlich sterben, und weder der Traum noch das Leben hätten irgendeine Bedeutung. Nur noch schlafen, ohne Bilder und ohne Alpträume. Sich für immer von dem ausruhen, was nie geschehen ist.

»Gato«, ermahnte ihn der andere.

Er hatte sich endlich von der Stelle gerührt und war ein paar Schritte ins Schlafzimmer getreten. »Jetzt komm schon«, sagte er. »Der Güero war einer von uns. Er hatte Klasse. Denk an die Sierra, El Paso, die Grenze am Bravo. Die Bars. Und das war sein Mädchen.« Dabei zog er seinen Python Revolver aus dem Gürtel und zielte auf Teresas Stirn. »Verzieh dich, Kumpel, damit ich dich nicht vollspritze, bringen wir es hinter uns.« Aber Gato Fierros hatte sich etwas anderes in den Kopf gesetzt und bot ihm die Stirn, gefährlich und unberechenbar behielt er sowohl Teresa als auch seinen Partner im Auge.

»Sterben wird sie so oder so«, sagte er, »wäre doch eine Verschwendung.«

Er schob den Revolver mit einer Hand weg und Pote Gálvez sah zwischen Teresa und ihm hin und her, unentschlossen, dick, in den dunklen Augen indianisches Misstrauen und der natürliche Argwohn des Ganoven aus dem Norden, zwischen den Haaren seines dichten Schnurrbarts perlten Schweißtropfen; er hatte den Finger vom Abzug genommen und hielt den Revolver mit dem Schaft nach oben, als wollte er sich damit am Kopf kratzen. Da zog Gato Fierros seine Pistole, eine große silberne Beretta, zielte auf das Gesicht seines Partners und sagte lachend, er solle die Schnecke entweder auch vernaschen, damit sie gleichzögen, oder – vielleicht sei er ja eher vom anderen Ufer – er solle sich lieber verziehen, wenn er schon so ein Idiot sei, sonst könnten sie gleich anfangen, sich gegenseitig voll Blei zu pumpen wie zwei verdammte Kampfhähne. Pote Gálvez sah Teresa resigniert und beschämt an; er blieb noch einen Augenblick stehen und machte den Mund auf, um etwas zu sagen; aber er sagte nichts, steckte stattdessen langsam seinen Python in den Gürtel zurück und entfernte sich langsam vom Bett, ging langsam rückwärts zur Tür, ohne sich umzudrehen, während der andere weiter auf ihn zielte und witzelte, nachher lade ich dich auf einen Buchanan's ein, Kumpel, als Trost, weil du schwul geworden bist. Als er im anderen Zimmer verschwunden war, hörte Teresa einen krachenden Schlag, unter dem etwas zersplitterte, vielleicht die Schranktür, von Pote Gálvez mit einem ebenso mächtigen wie ohnmächtigen Faustschlag zertrümmert, und aus irgendeinem seltsamen Grund dankte sie ihm innerlich dafür. Aber sie hatte keine Zeit mehr, weiter darüber nachzudenken, denn schon zog Gato Fierros ihr die Levis aus, oder besser gesagt riss sie ihr vom Leib, und hielt den Pistolenschaft zwischen ihre Schenkel, als wollte er sie damit hochgehen lassen, und sie ließ es über sich ergehen, ohne zu schreien oder auch nur zu stöhnen, mit weit offenen Augen sah sie zur weißen Zimmerdecke hoch und betete zu Gott, dass es schnell gehen möge und dass Gato Fierros sie danach gleich töten würde, bevor sie aus diesem Alptraum aufwachen und merken würde, dass er Wirklichkeit war, dass sie sich in der nackten Hölle des verfluchten Lebens befand.

Es war die alte Geschichte, zur Genüge bekannt. Das Ende. Das musste es bedeuten, obwohl Teresa sich nie gedacht hätte, dass Die Situation nach Schweiß riechen würde, nach brünstigem Kerl, nach dem Bier, das Gato Fierros getrunken hatte, bevor er sich auf die Suche nach seinem Opfer gemacht hatte. Hoffentlich ist es bald vorbei, dachte sie in klaren Momenten. Hoffentlich ist es bald ein für alle Mal vorbei, und ich kann endlich ausruhen, dachte sie kurz und fiel wieder in eine Leere, in der es weder Gefühle noch Angst gab. Es war ohnehin zu spät für Angst, denn die hat man, bevor Dinge eintreten, und der einzige Trost ist, wenn sie tatsächlich eintreten, dass alles irgendwann ein Ende hat. Die einzig wirkliche Angst ist die, dass das Ende zu lange auf sich warten lässt. Aber bei Gato Fierros würde das nicht der Fall sein. Brutal stieß er zu, in dem Drang, sich zu entleeren. Stumm. Hart. Er nahm sie grausam her, ohne Rücksicht, und schob sie dabei nach und nach bis zur Bettkante. Resigniert, die Augen fest auf die weiße Zimmerdecke gerichtet, ertrug sie seine Stöße, bis auf kurze Momente wie geistesabwesend, ließ einen Arm nach unten fallen und berührte die offene Tasche, die auf dem Boden hinter dem Bett stand.

Die Situation kann zwei Richtungen nehmen, entdeckte sie plötzlich. In Deinem Sinn oder in dem Der Anderen. Ihre Überraschung war so groß, als sie das herausfand, dass sie sich, wäre da nicht der Mann über ihr gewesen, am liebsten aufgerichtet und ernst den Zeigefinger erhoben hätte, um besser nachdenken zu können. Mal sehen. Ziehen wir diese Variante des Geschehens in Betracht. Aber sie konnte sich nicht aufrichten, weil sie nur ihren Arm frei bewegen konnte und ihre Hand, die in die Tasche gefallen war und jetzt zufällig über das kalte Metall der Águila Pistole strich, die dort zwischen den Geldscheinen und Kleidungsstücken lag.

Das geschieht nicht wirklich mir, dachte sie. Oder vielleicht dachte sie auch gar nichts mehr und beschränkte sich darauf, diese andere Teresa Mendoza zu beobachten, die an ihrer Stelle dachte. Tatsache war, dass sie oder jene andere Frau, der sie wie aus weiter Ferne zusah, bereits die Finger um den Pistolengriff geschlossen hatte, bevor sie sich dessen gewahr wurde. Die Sicherung war links neben dem Abzug und der Magazinverriegelung. Sie berührte sie mit dem Daumen und spürte, wie sie nach unten in die Vertikale glitt und den Schlagbolzen freigab. Eine Patrone ist im Lager, meinte sie sich zu entsinnen, ich habe sie geladen – sie erinnerte sich an ein metallisches Klicken –, oder vielleicht ist mir nur, als hätte ich es getan, und ich habe es gar nicht getan, und die Patrone ist nicht dort. Kühl führte sie diese Überlegungen aus: Hahn, Abzug, Schlagbolzen, Patrone. Das war die richtige Reihenfolge, wenn jenes Klicken kein Produkt ihrer eigenen Phantasie, sondern Wirklichkeit gewesen war. Andernfalls würde der Bolzen ins Leere schlagen, und Gato Fierros hätte genügend Zeit, seine Wut an ihr auszulassen. Aber das würde auch nicht viel ändern. Vielleicht bedeutete es etwas mehr Gewalt oder Zorn in den letzten Augenblicken. Nichts, das nicht eine halbe Stunde später zu Ende wäre, für sie, für diese Frau, die sie beobachtete, für sie alle beide. Nichts, das nach kurzer Zeit nicht mehr wehtun würde. Das dachte sie, als sie ihren Blick von der weißen Zimmerdecke löste und merkte, dass Gato Fierros sich nicht mehr bewegte und sie ansah. Da hob Teresa die Pistole und schoss ihm ins Gesicht.

Es roch beißend nach Pulver und Rauch, der Knall hallte noch an den Wänden des Schlafzimmers nach, als Teresa den Abzug ein zweites Mal drückte; aber der Rückstoß hatte die Águila nach