Kontrapunkt des Lebens - Aldous Huxley - E-Book

Kontrapunkt des Lebens E-Book

Aldous Huxley

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Beschreibung

Der vierte Roman Aldous Huxleys, 1928 erschienen, ist ein Schlüsselroman seiner Epoche In Huxleys satirischen Gesellschaftsbild der Zwanzigerjahre werden nicht nur die brillanten und frivolen Intellektuellen porträtiert, sondern auch der Frage nachgegangen, wie ein glückliches, gesundes Leben aussehen kann. Bei den Partys von Lady Tantamount feiern die schillerndsten Persönlichkeiten, an denen die moralischen Dilemmas ihrer Zeit offensichtlich werden. Marjorie hat ihre Familie verlassen, um mit Walter zu leben, Walter hingegen ist verliebt in die kaltherzige, verführerische Lucy. In »Kontrapunkt des Lebens« werden D.H. Lawrence, Katherine Mansfield und Huxley selbst auf höchst vergnügliche Weise dargestellt.

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Neuauflage einer früheren Ausgabe

Übersetzt aus dem Englischen von Herberth E. Herlitschka

ISBN 978-3-492-97661-9

© Piper Verlag GmbH, München 2017

© Ms. Laura Huxley 1928

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Point Counter Point«, Chatto & Windus, London 1928

© der deutschsprachigen Ausgabe Piper Verlag GmbH, München 1951, 1989

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Welch kläglich Los ward menschlichem Geschlecht:

Siech von Geburt, geheißen zu gesunden,

Zum Herrn geschaffen, doch der Schöpfung Knecht,

Zwecklos gezeugt und nie des Zwecks entbunden.

Warum tut uns Natur solch zwiefach Walten kund,

Trieb und Vernunft, der Selbstentzweiung Grund?

Fulke Greville (1554–1628)Priesterchor aus Mustapha V, 4.

ERSTES KAPITEL

»Du wirst nicht spät heimkommen?« Etwas Angstvolles war in Marjorie Carlings Stimme, etwas Flehendes.

»Nein, nein«, sagte Walter gequält und voll schuldbewusster Gewissheit, dass er spät heimkommen werde. Ihre Stimme reizte ihn. Sie war ein wenig näselnd, sie war zu geziert – sogar im Jammer.

»Nicht später als zwölf!« Sie hätte ihn an die Zeit erinnern können, als er abends niemals ohne sie ausging. Sie hätte es können; aber sie wollte nicht. Es wäre gegen ihre Grundsätze gewesen; sie wollte seine Liebe auf keine Weise erzwingen.

»Na, sagen wir, um eins. Du weißt ja, wie es bei diesen Gesellschaften immer ist.« Aber in Wirklichkeit wusste sie es nicht; aus dem guten Grund, dass sie nicht seine Frau war und daher nicht mit eingeladen wurde. Sie hatte ihren Mann verlassen, um mit Walter Bidlake zu leben; und Carling, der christliche Skrupel hegte, leicht sadistisch veranlagt war und seine Rache haben wollte, verweigerte ihr die Scheidung. Es waren nun zwei Jahre, dass sie miteinander lebten. Nur zwei Jahre! Und schon hatte er aufgehört, sie zu lieben, hatte er begonnen, eine andere zu lieben. Die Sünde verlor ihre einzige Entschuldigung, die gesellschaftliche Unannehmlichkeit ihre einzige Linderung. Und sie erwartete ein Kind.

»Halb eins!« flehte sie, obwohl sie wusste, dass ihre Zudringlichkeit ihn bloß verstimmen und, was er an Liebe noch für sie fühlte, weiter verringern würde. Aber sie konnte sich nicht zurückhalten, es zu sagen; sie liebte ihn zu sehr, sie war zu qualvoll eifersüchtig. Die Worte brachen aus ihr hervor, trotz all ihrer Grundsätze. Es wäre besser für sie gewesen und vielleicht auch für Walter, wenn sie weniger Grundsätze gehabt und ihren Gefühlen den heftigen Ausdruck verliehen hätte, nach welchem sie verlangten. Aber sie war gut erzogen worden in den Gewohnheiten strengster Selbstbeherrschung. Bloß ungebildete Leute, das wusste sie, machten »Szenen«. Ein flehendes »Halb eins, Walter!« war alles, was ihre Grundsätze zu durchbrechen vermochte. Zu schwach, ihn zu rühren, würde der matte Ausbruch ihn bloß ärgern. Sie wusste es, und doch konnte sie nicht den Mund halten.

»Wenn ich es halbwegs möglich machen kann.« (Da! Was hatte sie wieder angestellt! Erbitterung klang aus seiner Stimme.) »Aber ich kann's nicht garantieren; erwarte mich nicht zu bestimmt!« Denn natürlich, dachte er (von Lucy Tantamounts unaustreibbarem Bild verfolgt), wird es gewiss nicht bei halb eins bleiben.

Er zupfte seine weiße Halsbinde endgültig zurecht. Aus dem Spiegel blickte ihm Marjories Gesicht, dicht neben dem seinen, entgegen. Es war ein blasses Gesicht und so mager, dass das abwärts geworfene Licht der über ihnen hängenden Lampe die Höhlungen unter den Backenknochen mit Schatten füllte. Ihre Augen waren dunkel umringt; die Nase, sogar in Marjories besten Augenblicken etwas zu lang, ragte trübselig aus dem fleischlosen Gesicht hervor. Sie sah hässlich aus, müde und krank. In sechs Monaten würde ihr Kind zur Welt kommen. Etwas, das eine einzige Zelle gewesen, ein Häufchen von Zellen, ein kleiner Gewebesack, eine Art Wurm, ein potenzieller Fisch mit Kiemen, regte sich in ihrem Leib und würde eines Tages ein Mensch – ein erwachsener Mensch, der litte und sich freute, liebte und hasste, Gedanken, Erinnerungen, Vorstellungen hätte. Und was ein Klümpchen Gallerte in ihrem Leib gewesen, würde einen Gott erschaffen und ihn anbeten; was etwas wie ein Fisch gewesen, erfände Begriffe von Gut und Böse und würde nach ihrer Erfindung ein Schlachtfeld für ihren Widerstreit; was blindlings als ein schmarotzender Wurm in ihr gelebt hatte, würde zu den Sternen emporblicken, würde Musik hören und Gedichte lesen. Ein Ding wüchse zu einer Person heran, ein winziger Klumpen Stoff würde ein Menschenleib, eine Menschenseele. Der erstaunliche Vorgang der Schöpfung nahm in ihr seinen Lauf; aber Marjorie wusste nur von Übelkeit und Ermattung; das Mysterium bedeutete für sie nichts als Plage und Verunstaltung und eine ewige Sorge um die Zukunft, ebenso viel Qual für den Geist wie Unbehagen für den Körper. Als sie zum erstenmal die Anzeichen ihrer Schwangerschaft bemerkte, hatte sie sich, trotz der sie verfolgenden Furcht vor den physischen und gesellschaftlichen Folgen, gefreut oder hatte sich wenigstens eingebildet sich zu freuen. Das Kind, so hatte sie geglaubt, werde ihr Walter näherbringen (er hatte ihr sogar damals schon zu entgleiten begonnen); es werde neue Gefühle in ihm erwecken, die das Etwas ersetzen würden, das in seiner Liebe zu ihr zu fehlen schien. Sie fürchtete die Schmerzen, sie fürchtete die unvermeidlichen Schwierigkeiten und Verlegenheiten. Aber die Schmerzen, die Schwierigkeiten würden sich lohnen, wenn sie eine Erneuerung, eine Stärkung der Zuneigung Walters erkauften. Sie hatte sich gefreut – trotz allem! Und anfangs schienen ihre Einbildungen berechtigt zu sein. Die Neuigkeit, dass sie ein Kind haben werde, hatte seine Zärtlichkeit neu belebt. Zwei oder drei Wochen waren sie glücklich gewesen, ausgesöhnt mit den Schmerzen und Unannehmlichkeiten. Dann plötzlich, von einem Tag zum anderen, war alles anders geworden; Walter hatte dieses Frauenzimmer kennengelernt. Wenn er nicht gerade hinter Lucy herlief, tat er noch immer sein Möglichstes, einen Anschein von Besorgtheit zu wahren. Aber sie spürte, dass seine Besorgtheit etwas Missgünstiges hatte, dass er nur aus Pflichtgefühl zärtlich und aufmerksam war, dass er das Kind hasste, weil es ihn zwang, so rücksichtsvoll gegen die Mutter zu sein. Und weil er es hasste, begann auch sie es zu hassen. Nicht mehr von einem Glücksgefühl überlagert, kamen ihre Befürchtungen an die Oberfläche und erfüllten ihre Gedanken. Schmerzen und Unannehmlichkeiten – das war alles, was die Zukunft für sie enthielt, und bis dahin Entstellung, Übelkeit, Erschöpfung. Wie sollte sie in diesem Zustand ihren Kampf bestehen?

»Walter, hast du mich lieb?«, fragte sie plötzlich.

Walter wandte seine braunen Augen für einen Moment von der gespiegelten Halsbinde ab und blickte in das Abbild ihrer traurigen grauen, die ihn gespannt ansahn. Er lächelte. Aber »Wenn sie mich nur in Frieden lassen wollte!«, dachte er. Er spitzte die Lippen und öffnete sie in der Andeutung eines Kusses. Doch Marjorie erwiderte sein Lächeln nicht. Ihr Gesicht blieb unbewegt traurig, erstarrt in einer gespannten Ängstlichkeit. Ihre Augen bekamen einen zitternden Glanz, und plötzlich hingen Tränen an den Wimpern.

»Könntest du nicht diesen Abend bei mir bleiben?«, bettelte sie, allen ihren heroischen Entschlüssen zuwider, keinerlei aufreizenden Zwang auf seine Liebe auszuüben, ihn tun zu lassen, was er wollte.

Beim Anblick dieser Tränen, beim Klang dieser zitterigen und vorwurfsvollen Stimme wurde Walter von einem Gefühl ergriffen, das zugleich Reue und Groll war; Zorn, Mitleid und Scham.

»Aber kannst du denn nicht verstehen«, war, was er gern, was er tatsächlich gesagt hätte, wenn er mutig genug dazu gewesen wäre, »kannst du denn nicht verstehen, dass es nicht mehr dasselbe ist wie einst, dass es nicht mehr dasselbe sein kann? Und vielleicht ist es, wenn man die Wahrheit sagen wollte, nie das gewesen, wofür du es gehalten – unsere Liebe, meine ich; sie war nie, was ich vorzugeben versuchte. Wir wollen Freunde sein, wir wollen Kameraden sein. Ich kann dich gut leiden, ich habe dich gern. Aber um Himmels willen, hülle mich nicht so in Liebe ein, zwinge mir keine Liebe auf! Wenn du wüsstest, wie entsetzlich Liebe einem Menschen erscheint, der nicht liebt – welch eine Schändung, welch ein Frevel …«

Aber sie weinte. Durch ihre geschlossenen Lider quollen die Tränen hervor, Tropfen auf Tropfen. Ihr Gesicht erbebte in einer Maske der Qual. Und er war der Quäler. Er hasste sich selbst. »Aber warum soll ich durch Tränen eine Erpressung an mir verüben lassen?«, fragte er sich, und indem er das fragte, hasste er auch sie. Ein Tropfen rann ihre lange Nase entlang. »Sie hat kein Recht, so etwas zu tun, kein Recht, so unvernünftig zu sein. Warum kann sie sich nicht vernünftig benehmen? – Weil sie mich liebt. – Aber ich will ihre Liebe nicht, ich will sie nicht!« Er fühlte Zorn in sich aufsteigen. Es kam ihr nicht zu, ihn so zu lieben; nicht jetzt jedenfalls. »Es ist eine Erpressung«, wiederholte er im Stillen, »eine Erpressung. Warum muss ich mir etwas erpressen lassen durch ihre Liebe und die Tatsache, dass auch ich einst liebte – und habe ich sie je wirklich geliebt?«

Marjorie zog ein Taschentuch hervor und begann sich die Augen zu trocknen. Er schämte sich seiner abscheulichen Gedanken. Aber sie war der Grund seiner Scham; es war ihre Schuld. Sie hätte bei ihrem Mann ausharren sollen. Sie hätten ein Verhältnis miteinander haben können. Nachmittags, in einem Atelier. Es wäre romantisch gewesen.

»Aber ich war es ja, der darauf bestand, dass sie mit mir davonlief. – Dennoch hätte sie die Vernunft haben müssen, sich zu weigern. Sie hätte wissen müssen, dass es nicht ewig währen könnte.«

Doch sie hatte getan, was er von ihr verlangt hatte; sie hatte alles aufgegeben, hatte, um seinetwillen, gesellschaftliche Ächtung hingenommen. Auch eine Erpressung! Durch Opfer beging sie Erpressungen an ihm. Er verübelte ihr, dass sie durch ihre Opfer an sein Ehrgefühl und seine Anständigkeit appellierte.

»Aber wenn sie ein wenig Ehrgefühl und Anständigkeit besäße«, dachte er, »würde sie nicht die meinen ausbeuten.«

Doch da war das Kind.

»Warum sie dem überhaupt erlaubt hat, Existenz anzunehmen?«

Er hasste es. Es vergrößerte seine Verantwortlichkeit gegenüber der Mutter, vergrößerte seine Schuld, indem es sie leiden machte. Er sah ihr zu, wie sie ihr tränennasses Gesicht abwischte. Die Schwangerschaft hatte sie so hässlich gemacht, so alt. Wie konnte eine Frau erwarten …? Aber nein, nein, nein! Walter schloss die Augen mit einem beinahe unmerklichen, schaudernden Kopfschütteln. Der unedle Gedanke musste ausgesperrt, musste zurückgewiesen werden.

»Wie kann ich bloß solche Gedanken haben?«, fragte er sich.

»Geh nicht weg!«, hörte er sie wiederholen. Wie diese kultivierte und näselnde Schrillheit an seinen Nerven zerrte! »Bitte, geh nicht, Walter!«

In ihrer Stimme war ein Schluchzen. Noch eine Erpressung. Ah, wie konnte er nur so gemein sein! Und doch, obgleich er sich schämte und in gewissem Sinn gerade deswegen, empfand er weiterhin die schamerregenden Gefühle mit einer Heftigkeit, die zu wachsen schien, statt schwächer zu werden. Seine Abneigung gegen Marjorie nahm zu, weil er sich ihrer schämte; die peinlichen Gefühle von Scham und Selbsthass, die sie ihm verursachte, bildeten für ihn einen Grund mehr zur Abneigung. Widerwille erzeugte Scham und diese dann noch größeren Widerwillen.

»Oh, warum kann sie mich nicht in Ruhe lassen?« Er wünschte es heftig, ungestüm, mit einer umso ungestümeren, weil unterdrückten Gereiztheit. (Denn es fehlte ihm der brutale Mut, ihr Ausdruck zu geben; Marjorie tat ihm leid, er hatte sie gern, trotz allem; er war unfähig, offen und ehrlich grausam zu sein – nur aus Schwäche war er grausam, war es gegen seinen Willen.)

»Warum kann sie mich nicht in Ruhe lassen?« Er könnte sie umso viel besser leiden, wenn sie ihn nur in Ruhe ließe; und sie selbst wäre um so viel glücklicher. So viel glücklicher. Es wäre zu ihrem eigenen Besten … Doch plötzlich durchschaute er seine Heuchelei. »Aber ganz gleich! Warum, zum Teufel, kann sie mich nicht tun lassen, was ich will?«

Was er wollte? Aber was er wollte, war Lucy Tantamount, und er wollte sie wider jede Vernunft, wider alle seine Ideale und Grundsätze, wahnsinnig, gegen seine eigenen Wünsche, ja sogar seine Gefühle – denn er hatte Lucy nicht gern; er hasste sie geradezu. Ein edler Zweck mochte schändliche Mittel heiligen, aber wenn der Zweck schändlich war? Es geschah um Lucys willen, dass er Marjorie leiden machte; Marjorie, die ihn liebte, die ihm Opfer gebracht hatte, die unglücklich war. Aber ihr Unglücklichsein war eine Erpressung an ihm.

»Bleib heute Abend bei mir!«, beschwor sie ihn nochmals.

Es gab einen Teil seines Gemüts, der in ihre Bitten einstimmte, der von ihm wollte, dass er die Abendgesellschaft aufgebe und zu Hause bleibe. Aber der andere Teil war stärker. Der antwortete ihr mit Lügen, mit halben Lügen, die – wegen des heuchlerischen, rechtfertigenden Körnchens Wahrheit in ihnen – ärger waren als ehrliche, ganze Lügen. Er schlang den Arm um sie. Die Gebärde selbst war eine Falschheit.

»Aber, mein Liebling«, widersprach er in dem schmeichelnden Ton eines, der ein Kind anfleht, sich vernünftig zu betragen, »ich muss wirklich hingehen. Siehst du, mein Vater wird dort sein.« Das war wahr. Der alte Bidlake fand sich immer bei den Gesellschaften der Tantamounts ein. »Und ich muss mit ihm sprechen. Geschäftlich«, fügte er unbestimmt und wichtigtuerisch hinzu, mit diesem magischen Wort eine Art Nebelwand männlicher Interessen zwischen sich und Marjorie aufsteigen lassend. Aber die Lüge, so überlegte er, musste wohl auch durch den Nebel hindurch sichtbar sein.

»Kannst du ihn nicht ein andermal treffen?«

»Es ist etwas Wichtiges«, antwortete er und schüttelte den Kopf. »Und überdies«, fügte er hinzu und vergaß, dass mehrere Entschuldigungen stets weniger überzeugend wirken als eine, »Lady Tantamount hat eigens meinetwegen einen amerikanischen Chefredakteur eingeladen. Er kann sich vielleicht als nützlich erweisen; du weißt, was für kolossale Honorare sie drüben zahlen.« Lady Tantamount hatte ihm gesagt, dass sie den Mann einladen werde, wenn er nicht schon die Rückreise nach Amerika angetreten habe – wie sie fürchte.

»Ganz kolossale«, fuhr er fort und verdichtete den Nebel unpersönlicher Belanglosigkeiten. »Es ist das einzige Land der Welt, wo es für einen Schriftsteller möglich ist, überbezahlt zu werden.« Er machte einen Versuch zu lachen. »Und ich brauche wirklich ein wenig Überbezahlung, um mich für dieses Drei-Pence-per-Zeile-Geschäft schadlos zu halten.« Er zog sie enger an sich und beugte sich hinab, um sie zu küssen. Aber Marjorie wandte ihr Gesicht weg.

»Marjorie«, bat er, »weine nicht, bitte!« Er fühlte sich schuldig und unglücklich. Aber, oh! warum konnte sie ihn nicht in Ruhe lassen, warum nicht?

»Ich weine nicht«, erwiderte sie, doch ihre Wange war naß und kalt unter seinen Lippen.

»Marjorie, ich werde nicht hingehen, wenn du es nicht willst.«

»Aber ich will, dass du gehst«, antwortete sie, noch immer mit abgewandtem Gesicht.

»Nein, du willst es nicht. Ich werde bleiben.«

»Das darfst du nicht.« Marjorie blickte ihn an und machte einen Versuch zu lächeln. »Es ist bloß meine Dummheit. Es wäre doch schade, deinen Vater und diesen Amerikaner zu versäumen.« So ihm zurückgegeben, klangen seine Ausreden besonders nichtig und unglaubwürdig. Er wand sich vor Selbstekel.

»Die können warten«, antwortete er, und ein Anflug von Ärger war in seiner Stimme. Er ärgerte sich über sich selbst, weil er solche lügnerischen Ausreden gebraucht hatte (warum hatte er ihr nicht geradeheraus die nackte, brutale Wahrheit gesagt? Sie kannte sie ja doch); und er ärgerte sich über sie, weil sie ihn an diese Ausreden erinnerte. Er hätte viel darum gegeben, wenn sie sogleich in den Schacht des Vergessens gestürzt, wenn sie gewesen wären, als hätte er sie nie ausgesprochen.

»Nein, nein. Ich bestehe darauf. Es war bloß eine Dummheit von mir. Ich sehe es ein.«

Zunächst widersprach er ihr, weigerte sich zu gehen, verlangte zu bleiben. Nun, da keine Gefahr mehr war, dass er bleiben müsste, konnte er es sich leisten, darauf zu bestehen. Denn Marjorie, das war klar, meinte es ernst mit ihrem Entschluss, dass er gehen solle. Es war eine Gelegenheit für ihn, für billiges Geld edel und aufopfernd zu sein, ja, sogar gratis. Was für eine abscheuliche Komödie! Aber er spielte sie. Zuletzt willigte er ein, als erwiese er ihr damit, dass er nicht blieb, eine besondere Gunst. Marjorie band ihm den Schal um, brachte ihm seinen Zylinder und seine Handschuhe, gab ihm einen Abschiedskuß – alles mit einer tapferen Zurschaustellung heiterer Gefasstheit. Sie hatte ihren Stolz und ihren Ehrenkodex der Liebe; und trotz ihres Elends, trotz ihrer Eifersucht, blieb sie ihren Grundsätzen treu – er musste frei sein; sie hatte kein Recht, sich in seine Angelegenheiten zu mischen. Und überdies war es die beste Taktik, sich nicht einzumischen; sie hoffte zumindest, es sei die beste.

Walter schloss die Haustür hinter sich und trat in die Nachtkühle hinaus. Ein Verbrecher, vom Schauplatz seines Verbrechens weichend, den Anblick seines Opfers fliehend, vor Mitleid und Reue flüchtend, konnte sich nicht gründlicher erlöst fühlen. Auf der Straße holte er tief Atem. Er war frei, frei von Erinnerung und Vorahnung; frei, ein paar Stunden lang zu leugnen, dass es eine Vergangenheit und eine Zukunft gab; frei, nur jetzt und hier zu leben, an dem Ort, wo sein Körper sich jeweils befand. Frei – aber die Prahlerei war eitel; er hörte nicht auf, sich zu erinnern. Flucht war keine so leichte Sache. Marjories Stimme verfolgte ihn. »Aber ich bestehe darauf, dass du gehst.« Sein Verbrechen war auch ein Betrug, nicht nur ein Mord. »Ich bestehe darauf« – wie edel hatte er sich geweigert! Wie großmütig zuletzt nachgegeben! Es war Kartenschwindel obendrein, nicht bloß Grausamkeit.

»Gott!«, er sagte es beinahe laut. »Wie konnte ich nur?« Er war über sich selbst erstaunt, nicht nur entrüstet. »Aber wenn sie mich bloß in Ruhe ließe!«, dachte er. »Warum kann sie nicht vernünftig sein?« Der schwächliche und vergebliche Zorn kam abermals zur Explosion in ihm.

Er gedachte der Zeit, wo seine Wünsche von anderer Art gewesen waren. Nicht von ihr in Ruhe gelassen zu werden, war einst sein ganzer Ehrgeiz gewesen. Er hatte sie in ihrer Ergebenheit bestärkt. Er erinnerte sich des Häuschens auf dem Land, in dem sie gewohnt hatten, allein miteinander, Monat auf Monat, inmitten der einsamen Hügel. Welch ein Ausblick über Berkshire! Aber es war fast eine halbe Stunde bis zum nächsten Dorf gewesen. Das Gewicht jenes Rucksacks voll Lebensmittel! Der Schlamm, wenn es regnete! Und der Eimer, den man aus dem Brunnen heraufwinden musste! Der Brunnen war mehr als dreißig Meter tief. Aber auch wenn er nicht gerade etwas Anstrengendes zu tun hatte, war er wirklich von jenem Leben befriedigt gewesen? War er je glücklich gewesen mit Marjorie – so glücklich zumindest, wie er sich vorgestellt hatte, dass er sein werde, wie er den Umständen nach hätte sein müssen? Es hätte alles wie im »Epipsychidion« sein sollen; aber es war nicht so – vielleicht weil er es zu bewusst gewollt, weil er absichtlich versucht hatte, seine Gefühle und sein Zusammenleben mit ihr nach dem Vorbild von Shelleys Dichtung zu gestalten.

»Man soll die Kunst nicht zu wörtlich nehmen.« Er erinnerte sich, was sein Schwager Philip Quarles eines Abends gesagt hatte, als sie über Dichtung sprachen. »Besonders dann nicht, wenn sie von Liebe handelt.«

»Nicht einmal dann, wenn sie echt ist?«, hatte Walter gefragt.

»Sie neigt dazu, allzu echt zu sein, unverfälscht wie destilliertes Wasser. Wenn die Wahrheit nichts als Wahrheit ist, ist sie unnatürlich, ist sie eine Abstraktion, der nichts in der wirklichen Welt gleicht. In der Natur sind stets so viele andere, wesensfremde Dinge mit der wesentlichen Wahrheit vermengt. Das ist der Grund, dass einen Kunst so ergreift, – eben weil sie unverfälscht ist von all den Unwesentlichkeiten des wirklichen Lebens. Wirkliche Orgien sind niemals so aufregend wie Pornografien. In einem Buch von Pierre Louys sind alle Mädchen jung und ihre Gestalten vollkommen; da gibt es keinen Schluckauf, keinen übelriechenden Atem, keine Mattigkeit, keine Langeweile, keine plötzlichen Erinnerungen an unbezahlte Rechnungen oder unbeantwortete Geschäftsbriefe, die die Ekstasen unterbrechen. Die Kunst liefert einem die Sinnesempfindungen, die Gedanken, die Gefühle ganz rein – chemisch rein, meine ich«, fügte er mit einem Lachen hinzu, »nicht moralisch.«

»Aber das ›Epipsychidion‹ ist nicht Pornografie«, hatte Walter eingewendet.

»Nein, aber vom Standpunkt des Chemikers ist es ebenso rein. Wie sagt Shakespeare in jenem Sonett?

In ihrem Aug ist nichts von Sonnenstrahl,

Korall ist röter als ihr Lippenpaar,

Wenn Schnee weiß ist, so ist ihr Busen fahl,

Sind Locken Draht, ist schwarzer Draht ihr Haar.

Ich schaute Rosen zwiefarb, weiß und rot,

Doch solche Rosen trägt nicht ihr Gesicht –

Und ich fand Duft, der mehr an Reizen bot

Als jener Hauch, der aus dem Mund ihr bricht.

Und so weiter. Er hatte die Dichter zu wörtlich genommen, und das war seine Reaktion darauf. Lass ihn dir zur Warnung dienen!«

Philip hatte natürlich recht gehabt. Die Monate in dem Häuschen auf dem Land hatten ganz und gar nicht dem »Epipsychidion« oder der »Maison du Berger« geglichen.

Der Brunnen und der Weg ins Dorf …! Aber auch ohne das alles, auch wenn er Marjorie unverfälscht gehabt hätte, wäre es dann etwa besser gewesen? Marjorie unverfälscht, das wäre vielleicht ärger gewesen als Marjorie gemildert durch Unwesentlichkeiten.

Diese ihre Kultiviertheit zum Beispiel, diese recht kalte Tugendhaftigkeit, so blutlos und vergeistigt – aus der Entfernung und theoretisch bewunderte er sie. Aber in der Praxis und aus nächster Nähe? Es war diese Tugend, diese überfeinerte, kultivierte, blutlose Vergeistigung, in die er sich verliebt hatte – in die und in ihr Unglücklichsein; denn für Carling konnte man keine Worte finden. Aus Mitleid also war er zum fahrenden Ritter geworden. Liebe, so hatte er geglaubt (denn damals war er erst einundzwanzig und von einer inbrünstigen Reinheit gewesen, der Jünglingsreinheit verworrener geschlechtlicher Begierden, und eben erst von der Universität gekommen, vollgestopft mit Poesie und den Ergüssen der Philosophen und Mystiker), Liebe sei Reden, Liebe sei Seelengemeinschaft und Kameradschaft. Das sei die wahre Liebe. Das Sexuelle sei bloß eine Belanglosigkeit, zwar unvermeidlich, weil die Menschen unglücklicherweise Körper besaßen, aber man müsse es so weit als möglich in den Hintergrund drängen. Inbrünstig rein, mit einer Inbrunst junger Begierden, denen künstlich beigebracht worden war, auf Seiten der Engel zu lodern, hatte er die verfeinerte und stille Reinheit bewundert, die bei Marjorie von einer kalten Natur, von einem angeborenen Mangel an Vitalität herrührte.

»Du bist so keusch«, hatte er gesagt. »Es scheint dir so leichtzufallen. Ich wollte, ich wäre keusch wie du.«

Es war gleichbedeutend – aber dessen war er sich damals nicht bewusst gewesen – mit dem Wunsch, halb tot zu sein. Unter seiner scheuen, misstrauischen, empfindlichen Haut war er inbrünstig lebendig gewesen. Es war ihm in der Tat sehr schwergefallen, keusch zu sein, wie Marjorie keusch war. Aber er hatte es versucht. Und mittlerweile hatte er ihre Güte und Reinheit bewundert. Und er war gerührt gewesen von ihrer Ergebenheit für ihn, geschmeichelt von ihrer Bewunderung – zumindest bis sie ihn langweilten und zur Verzweiflung brachten.

Als er nun durch das Vorstadtviertel der Untergrundbahn zuschritt, erinnerte er sich plötzlich der Anekdote, die sein Vater von dem italienischen Chauffeur zu erzählen pflegte, mit dem er sich einst über die Liebe unterhalten hatte. (Sein alter Herr besaß ein Talent dafür, Leute zum Reden zu bringen; Leute jeder Art, sogar Dienstboten, sogar Arbeiter. Walter neidete ihm diese Gabe.) Manche Frauen waren, nach Aussage des Chauffeurs, wie Kommoden. Sono come cassetoni. Wie genießerisch der Alte die Geschichte zu erzählen pflegte! Sie mögen so lieblich sein, wie du willst; aber um alles in der Welt, welchen Zweck hat es, eine liebliche Kommode in den Armen zu halten? (Und Marjorie, überlegte Walter, war nicht einmal wirklich hübsch.) »Gebt mir«, so hatte der Chauffeur gesagt, »gebt mir die andere Art, auch wenn sie hässlich ist. Mein Mädel«, hatte er anvertraut, »ist von der anderen Art. È un frullino, proprio un frullino« – ein regelrechter Eierquirl. Und der alte Herr zwinkerte dabei hinter seinem Monokel wie ein jovialer, lasterhafter alter Satyr. Stocksteife Kommoden oder springlebendige Eierquirle? Walter musste sich gestehen, dass seine Vorliebe der des Chauffeurs glich. Jedenfalls wusste er aus eigener Erfahrung, dass er (sobald die »wahre Liebe« mit den sexuellen Unwesentlichkeiten vermengt war) die Kommodenart von Frauen nicht besonders gern hatte. Aus der Ferne, theoretisch, waren Reinheit und Keuschheit und verfeinerte Seelenhaftigkeit etwas Vortreffliches, aber in der Praxis und aus der Nähe wirkten sie weniger anziehend. Und wenn jemand keine Anziehung auf einen ausübte, waren sogar seine Ergebenheit, seine schmeichelnde Bewunderung unerträglich. Durcheinander und gleichzeitig hasste er Marjorie wegen ihrer geduldigen märtyrerhaften Kälte und beschuldigte sich selbst schweinischer Sinnlichkeit. Seine Liebe zu Lucy war etwas Wahnsinniges und Schmachvolles, aber Marjorie war blutlos und halb tot.

Er war gerechtfertigt und zugleich unentschuldigt. Aber weit mehr unentschuldigt trotz allem; weit mehr unentschuldigt! Sie waren etwas Niedriges, diese sinnlichen Gefühle; sie waren unedel. Eierquirle und Kommoden – konnte etwas gemeiner und unedler sein als eine solche Einteilung? Im Geist hörte er seines Vaters saftiges, fleischiges Lachen. Schauderhaft! Walters ganzes bewusstes Leben war bestimmt gewesen durch Opposition gegen den Vater; durch Opposition gegen des alten Mannes fröhliche, sorglose Sinnlichkeit. Bewusst hatte er stets auf Seiten seiner Mutter gestanden, auf Seiten der Reinheit, Verfeinerung, Seelenhaftigkeit. Aber sein Blut war mindestens zur Hälfte das seines Vaters, und nun hatten zwei Jahre Marjorie ihm eine bewusste Abneigung gegen kalte Tugend eingeflößt. Er konnte sie bewusst nicht leiden, obwohl er sich gleichzeitig noch immer seiner Abneigung schämte, sich dessen, was er als seine tierischen Begierden betrachtete, und seiner Liebe zu Lucy schämte. Aber, oh, wenn Marjorie ihn doch nur in Ruhe ließe! Wenn sie nur aufhören wollte, um eine Rückkehr zu dieser unwillkommenen Liebe zu betteln, die sie ihm so beharrlich aufdrängte. Wenn sie nur aufhören wollte, so entsetzlich ergeben zu sein! Er konnte ihr Freundschaft schenken – denn er hatte sie gern, aufrichtig gern; sie war so edel und gütig, so loyal und ergeben – und er würde sich freuen, dafür ihre Freundschaft zu erhalten. Aber Liebe, das war erstickend. Und wenn sie sich gar einbildete, die andere Frau mit deren eigenen Waffen zu bekämpfen, und ihrer tugendhaften Kälte Gewalt antat und ihn mit der Glut ihrer Liebkosungen zurückzugewinnen suchte – oh, das war grässlich, wirklich grässlich!

Und dabei, so überlegte er weiter, war sie wirklich eine recht langweilige Person mit ihrem schwerfälligen, dumpfen Ernst. Wirklich recht langweilig, trotz ihrer Bildung – vielleicht gerade darum. Die Bildung war freilich echt; Marjorie hatte alle diese Bücher wirklich gelesen, sie hatte sie im Gedächtnis behalten. Aber verstand sie sie? Konnte sie sie verstehen? Die Bemerkungen, mit denen sie ihr häufiges langes, langes Schweigen unterbrach, diese gebildeten, ernsten Bemerkungen – wie schwerfällig waren sie, wie humorlos und ohne Verständnis! Es war klug von ihr, so schweigsam zu sein; im Schweigen können so viele Möglichkeiten der Weisheit und des Witzes stecken, wie große Bildwerke im unbehauenen Marmorblock. Wer schweigt, legt nicht Zeugnis ab wider sich selbst. Marjorie wusste gut und mitfühlend zuzuhören. Und wenn sie ihr Schweigen brach, waren die Hälfte ihrer Äußerungen Zitate. Denn Marjorie besaß ein zähes Gedächtnis und hatte die Gewohnheit angenommen, die großen Gedanken und die Glanzstellen auswendig zu lernen. Walter hatte einige Zeit gebraucht, bis er die schwerfällige, rührend verständnislose Dummheit entdeckte, die dem Schweigen und dem Zitieren zugrunde lag. Und als er sie entdeckt hatte, war es zu spät gewesen.

Er dachte an Carling. Ein Trunkenbold und bigott dazu. Immer schwatzte er drauflos von Messgewändern und Heiligen und der unbefleckten Empfängnis, und dabei war er ein ekelhaftes, versoffenes, perverses Schwein. Wenn der Kerl nicht ganz so widerlich abstoßend gewesen wäre, wenn er Marjorie nicht gar so elend gemacht hätte – was dann? Walter hatte eine Vision seiner Freiheit. Er hätte nicht Mitleid gefühlt, er hätte nicht geliebt. Er erinnerte sich der geröteten und verschwollenen Augen Marjories nach einer solchen widerlichen Szene mit Carling. Der Schweinehund!

»Und was bin ich?«, fragte er sich plötzlich.

Er wusste, dass Marjorie im Augenblick, als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, in Tränen ausgebrochen war. Für Carling war wenigstens der Whisky eine Entschuldigung. Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Er selbst war nie anders als nüchtern. In diesem Augenblick, das wusste er, weinte sie.

»Ich sollte zurückgehen«, sagte er sich. Aber stattdessen beschleunigte er seine Schritte, bis er beinahe ins Laufen geriet. Es war ein Fliehen vor seinem Gewissen und zugleich ein Hasten zum Gegenstand seiner Begierde.

»Ich sollte zurückgehen, wirklich, das sollte ich.«

Er eilte weiter und hasste sie, weil er sie so unglücklich gemacht hatte.

Ein Mann, der ins Schaufenster eines Tabakladens blickte, trat, eben als Walter vorbeiging, einen Schritt rückwärts. Walter stieß heftig mit ihm zusammen.

»Verzeihung«, sagte er automatisch und eilte weiter, ohne sich umzublicken.

»Wat rennen Se bloß so?«, schrie ihm der Mann zornig nach. »Als wenn Se det Derby jewinnen müssten oder de Hosen voll hätten.«

Zwei herumlungernde Straßenjungen rülpsten vor wilder, johlender Wonne.

»Sie Affe mit Ihre Angströhre!« schimpfte der Mann voll Verachtung weiter, voller Hass gegen den uniformierten Gentleman.

Das Richtigste wäre wohl gewesen, sich umzudrehen und den Kerl mit gleicher Münze zu übertrumpfen. Sein Vater hätte ihn mit einem einzigen Wort durchlöchert, dass ihm die Luft ausgegangen wäre. Aber für Walter gab es nur die Flucht. Er fürchtete solche Zusammenstöße, er hatte Angst vor den unteren Klassen. Der Lärm der Beschimpfungen verklang in seinen Ohren.

Scheußlich! Er schauderte. Seine Gedanken kehrten zu Marjorie zurück.

»Warum kann sie nicht vernünftig sein?«, fragte er sich. »Einfach vernünftig. Wenn sie nur wenigstens etwas zu tun hätte, irgend etwas, das ihr Beschäftigung gäbe!«

Sie hatte zu viel Zeit zum Nachdenken, das war das Unglück mit Marjorie. Zu viel Zeit, über ihn nachzudenken. Obgleich das am Ende seine eigene Schuld war; er war es, der sie ihrer Beschäftigung beraubt und sie dazu gebracht hatte, ihr Denken ausschließlich auf ihn zu richten. Kurz bevor er sie kennenlernte, war sie Teilhaberin eines Ateliers für Innendekoration geworden, einer dieser damenhaften, kunstgewerblerischen Dilettantenwerkstätten in Kensington. Lampenschirme und die Gesellschaft der jungen Dinger, die sie bemalten, und vor allem Ergebenheit für Mrs. Cole, die ältere Inhaberin, waren Marjories Entschädigungen für eine unglückliche Ehe. Sie hatte sich eine kleine eigene Welt geschaffen, abseits von Carling; eine feminine Welt, die etwas von einer Mädchenschule hatte, wo sie über Kleider und Kaufläden reden und Klatsch mit anhören konnte und schwelgen durfte in dem, was Schulmädchen einen »Schwarm« für eine ältere Frau nennen, und wo sie sich in den Pausen vorzustellen vermochte, dass sie ihr Teil Arbeit in der Welt leiste und die gute Sache der Kunst fördere.

Walter hatte sie überredet, das alles aufzugeben. Nicht ohne Schwierigkeiten, denn das Glück, Mrs. Cole ergeben zu sein, einen sentimentalen »Schwarm« für sie zu hegen, wog beinahe das Unglück der Ehe mit Carling auf. Aber Carling war bald nicht mehr durch Mrs. Cole aufzuwiegen. Walter bot, was die gute Dame vielleicht nicht zu bieten vermochte und sicherlich nicht zu bieten wünschte: einen Zufluchtsort, Schutz, finanzielle Unterstützung. Überdies war Walter ein Mann, und es war nun einmal Sitte, einen Mann zu lieben, selbst wenn einem – zu diesem Schluss war Walter schließlich über Marjorie gelangt – an Männern nicht wirklich etwas lag und man von Natur nur auf die Gesellschaft von Frauen abgestimmt war. (Wiederum die Wirkung der Literatur! Er erinnerte sich der Bemerkungen Philip Quarles' über den vernichtenden Einfluss der Kunst auf das Leben.) Ja, er war ein Mann; aber er war »anders als andere Männer«, wie sie nie müde wurde, ihm zu versichern. Er hatte dieses »Anderssein« als eine schmeichelhafte Auszeichnung hingenommen. Aber war es eine? Er bezweifelte es. Immerhin, sie hatte gefunden, dass er anders sei, und hatte so vermocht, sich das Beste aus beiden Welten zu nehmen – einen Mann, der doch kein Mann war. Bezaubert von Walters Überredungskunst, getrieben von Carlings Brutalität, hatte sie eingewilligt, die Innendekoration aufzugeben und mit ihr auch ihre Mrs. Cole, die von Walter gehasst wurde als eine tyrannische, sklavenhälterische, blutsaugerische Verkörperung weiblichen Willens.

»Du bist zu gut dazu, eine Amateurtapeziererin zu sein«, damit hatte er ihr geschmeichelt, aus der Tiefe eines damals aufrichtigen Glaubens an ihre geistigen Fähigkeiten.

Sie hatte ihm auf eine nicht näher bestimmte Art bei seiner literarischen Arbeit helfen sollen. Sie selbst hatte schreiben sollen. Unter seinem Einfluss hatte sie begonnen, Essays und Kurzgeschichten zu verfassen. Aber es ergab sich, dass sie nichts taugten. Seine Aufmunterungen wichen einer großen Zurückhaltung; er redete nicht mehr von solchen Bestrebungen. Nach einer kleinen Weile gab Marjorie die unnatürliche und zwecklose Beschäftigung auf. Danach blieb ihr nichts als Walter. Er wurde der Inhalt ihres Daseins, das Fundament, auf das ihr ganzes Leben gegründet war. Das Fundament begann ihr unter den Füßen wegzugleiten.

»Wenn sie mich nur in Ruhe lassen wollte«, dachte Walter.

Er betrat die Station Chalk Farm der Untergrundbahn. Am Eingang verkaufte ein Mann Abendblätter. SOZIALISTISCHER RAUBPLAN. ERSTE LESUNG. Die Worte schrien ihm von den Titelseiten entgegen. Froh, einen Vorwand zur Ablenkung seiner Gedanken zu haben, kaufte Walter eine Zeitung. Die Gesetzesvorlage der liberal-sozialistischen Koalitionsregierung für die Verstaatlichung der Bergwerke war in erster Lesung mit der üblichen Majorität angenommen worden. Walter las die Nachricht mit Vergnügen. Er hatte fortschrittliche politische Ansichten. Nicht so der Eigentümer der Abendzeitung. Die Sprache des Leitartikels war von wütender Heftigkeit.

»Die Schufte!«, dachte Walter während des Lesens. Der Artikel erweckte in ihm eine befeuernde Begeisterung für alles, was darin angegriffen wurde, einen erquickenden Hass gegen Kapitalisten und Reaktionäre. Die Schranken seiner Individualität waren für den Augenblick niedergebrochen, die persönlichen Probleme abgeschafft. Besessen von der Wonne politischen Kampfs, trat er aus den Ufern seiner Persönlichkeit, er wurde, sozusagen größer als er selbst – größer und schlichter.

»Die Schufte!«, wiederholte er in Gedanken an die Bedrücker, die alles für sich behalten wollten.

In der nächsten Station setzte sich ein verschrumpelter kleiner Mann mit einem roten Halstuch auf den Platz neben ihn. Der Gestank seiner Pfeife war so erstickend, dass Walter im Wagen umherblickte, ob nicht noch ein Sitz frei sei. Zufällig war einer frei; aber nach einem Augenblick der Überlegung war Walter entschlossen, sich nicht zu rühren. Sich vor dem Gestank zurückzuziehen, wäre zu beleidigend deutlich, könnte Bemerkungen des Stinkers hervorrufen. Der beizende Rauch kratzte ihm in der Kehle; er hustete.

»Man soll seinen Geschmäckern und Instinkten treu bleiben«, pflegte Philip Quarles zu sagen. »Welchen Zweck hat eine Philosophie, aufgebaut auf einem Axiom, das nicht die Rationalisierung deiner Gefühle ist? Wenn man niemals ein religiöses Erlebnis gehabt hat, ist es Torheit, an Gott zu glauben. Man könnte ebensogut an die Vortrefflichkeit von Austern glauben, wenn man sie nicht essen kann, ohne dass einem übel wird.« Ein Rüchlein erkalteten Schweißes stieg zugleich mit den Nikotindämpfen Walter in die Nase. »Die Sozialisten nennen es Verstaatlichung«, las er in seiner Zeitung, »aber wir anderen haben ein kürzeres und schlichteres Wort für das, was sie beabsichtigen. Das Wort heißt Diebstahl.« Doch es war wenigstens Diebstahl an Dieben und zum Nutzen der Bestohlenen. Der kleine alte Mann beugte sich vor und spuckte sorgfältig und senkrecht zwischen seine Füße. Walter blickte weg; er wünschte, er könnte die Unterdrückten persönlich lieben und die reichen Unterdrücker persönlich hassen. Man soll seinen Geschmäckern und Instinkten treu bleiben! Aber die Geschmäcker und Instinkte, die man hatte, waren purer Zufall. Es gab ewige Grundsätze. Aber wie, wenn die axiomatischen Grundsätze zufällig nicht deine persönlichen Prämissen waren …?

Und plötzlich war er wieder neun Jahre alt und ging mit seiner Mutter in den Wiesen um Gattenden spazieren. Beide trugen sie Sträuße von Schlüsselblumen. Sie mussten wohl droben in Batts Corner gewesen sein; das war die einzige Stelle in der Gegend, wo Schlüsselblumen wuchsen.

»Sehen wir eine Minute zu dem armen Wetherington hinein«, sagte seine Mutter. »Er ist sehr krank.« Sie klopfte an die Tür des Häuschens.

Wetherington war Untergärtner im Herrenhaus; aber schon einen Monat arbeitete er nicht mehr. Walter erinnerte sich seiner als eines blassen, mageren Mannes, der hustete und durchaus nicht mitteilsam war; er interessierte sich nicht sehr für Wetherington. Eine Frau öffnete die Tür. »Guten Abend, Mrs. Wetherington.« Sie wurden eingelassen.

Wetherington lag mit Kissen hochgestützt im Bett. Sein Gesicht sah schrecklich aus. Ein Paar riesiger großpupilliger Augen starrte aus tief verschatteten Höhlen. Die sich über die vorstehenden Knochen spannende Haut war klebrig von Schweiß. Aber fast noch entsetzlicher als das Gesicht war der Hals, sein unglaublich dünner Hals. Und aus den Ärmeln seines Nachthemds ragten zwei knotige Stöcke hervor, seine Arme, an denen ein Paar ungeheurer Skeletthände befestigt waren wie Rechen am Ende ihrer dünnen Stiele. Und dann der Geruch in dem Krankenzimmer! Die Fenster waren dicht verschlossen, in dem kleinen Kamin brannte ein Feuer. Die Luft war heiß und schwer von einem entsetzlichen Geruch schalen, kränklichen Atems und der Ausdünstung eines kranken Leibes – ein alt eingesessener Gestank, der Übelkeit erregend süßlich geworden zu sein schien durch langes Reifen in der aufgespeicherten Wärme. Ein neuer, frischer Geruch, wenn auch noch so penetrant widerlich, wäre weniger grässlich gewesen. Es war die Eingesessenheit, die süßliche, faulige Überreife dieses Krankenzimmergeruchs, was ihn so besonders unerträglich machte. Walter schauderte sogar jetzt noch beim Gedanken an ihn. Er zündete sich eine Zigarette an, um die Erinnerung zu desinfizieren. Er war bei Bädern und offenen Fenstern aufgezogen worden. Das erste Mal, als er als Kind in die Kirche mitgenommen wurde, hatten ihm die Dumpfigkeit und der Menschengeruch Übelkeit erregt; man hatte ihn eilends hinausführen müssen. Seine Mutter hatte ihn nicht wieder in die Kirche mitgenommen. Vielleicht sind wir zu hygienisch und aseptisch erzogen, dachte er. Eine Erziehung, die zum Ergebnis hat, dass einem übel wird in Gesellschaft seiner Mitmenschen, seiner Brüder – kann die gut sein? Er hätte sie gern alle geliebt, aber Liebe gedeiht nicht in einer Atmosphäre, die dem Liebhaber übel werden lässt vor unbeherrschbarem Ekel.

In Wetheringtons Krankenzimmer fiel es sogar dem Mitleid schwer, zu gedeihen. Während seine Mutter mit dem Sterbenden und dessen Frau sprach, hatte er dagesessen und voller Widerwillen, aber bezwungen von der Faszination des Abscheus auf das greuliche Gerippe in dem Bett gestarrt und durch sein Blumensträußchen hindurch die warme, Übelkeit erregende Luft eingeatmet, hatte sogar durch den frischen, köstlichen Duft der Schlüsselblumen hindurch den unausrottbaren Geruch des Krankenzimmers verspürt. Er hatte kaum Mitleid gefühlt, sondern nur Entsetzen, Furcht und Abscheu. Und auch als Mrs. Wetherington zu weinen begann und ihr Gesicht so wandte, dass der Kranke ihre Tränen nicht sah, hatte er nicht so sehr ein mitleidiges, sondern vielmehr ein unbehagliches, verlegenes Gefühl gehabt. Das Schauspiel ihres Kummers hatte ihm nur heftigere Sehnsucht eingeflößt, zu entfliehn, aus diesem schrecklichen Zimmer in die reine, freie Luft und den Sonnenschein zu gelangen.

Er schämte sich jener Gefühle, als er sich ihrer erinnerte. Aber so hatte er nun einmal diese Dinge empfunden, so empfand er sie immer noch. »Man soll seinen Instinkten treu bleiben.« Nein, nicht allen, nicht den bösen; denen sollte man widerstehen. Aber sie ließen sich nicht leicht überwinden. Der alte Mann auf dem Nebensitz zündete seine ausgegangene Pfeife an. Walter erinnerte sich, dass er damals jeden Atemzug, solange er überhaupt konnte, zurückgehalten hatte, um die verdorbene Luft nicht zu oft einziehen und riechen zu müssen. Ein tiefer Atemzug durch die Schlüsselblumen; dann hatte er bis vierzig gezählt, ehe er die Luft ausstieß und wieder einatmete. Der alte Mann beugte sich abermals vor und spuckte. »Die Vorstellung, dass die Verstaatlichung den Wohlstand der Arbeiterklasse heben wird, ist durchaus trügerisch. Während der letzten Jahre haben die Steuerzahler die Segnungen bürokratischer Kontrolle zu ihrem Schaden kennengelernt. Wenn die Arbeiter sich einbilden …« Er schloss die Augen und sah im Geist das Krankenzimmer. Als es Zeit zum Abschiednehmen geworden war, hatte er die Skeletthand ergriffen. Sie lag unbeweglich auf der Bettdecke; er schob seine Finger unter die wie toten, knochigen, hob die Hand für einen Augenblick und ließ sie zurückfallen.

Sie fühlte sich kalt und feucht an. Er wandte sich ab und wischte sich verstohlen die Handfläche am Futter seiner Jacke. Mit einem explosiven Seufzer ließ er den lange zurückgehaltenen Atem ausströmen und zog eine neue Lungevoll der Übelkeit erregenden Luft ein. Es war die letzte, die er einziehen musste; seine Mutter schritt bereits der Tür zu. Ihr kleiner Pekinese umhüpfte sie bellend.

»Sei still, T'ang!«, sagte sie mit ihrer klaren, schönen Stimme. Sie war vielleicht der einzige Mensch in England, so überlegte er nun, der regelrecht stets den Apostroph in »T'ang« aussprach.

Sie gingen den Fußweg über die Wiesen nach Hause. Fantastisch und unwahrscheinlich wie ein kleiner chinesischer Drache, lief T'ang ihnen voraus und sprang leichtfüßig über für ihn ungeheure Hindernisse. Sein fiederiger Schwanz flatterte im Wind. Manchmal, wenn das Gras sehr hoch war, setzte er sich auf die Hinterbeine, als bäte er um Zucker, und blickte mit seinen runden, vorgewölbten Augen über die Grasbüschel, um sich zu orientieren.

Unter dem hellen, wolkengefleckten Himmel hatte Walter sich wie ein entlassener Gefangener gefühlt. Er rannte, er schrie. Seine Mutter ging langsam, ohne zu sprechen. Von Zeit zu Zeit blieb sie eine Sekunde stehen und schloss die Augen. Das war so ihre Gewohnheit, wenn sie nachdenklich oder verwirrt war. Sie war sehr oft verwirrt, überlegte Walter und lächelte zärtlich vor sich hin. Der arme Wetherington musste sie recht sehr verwirrt haben. Er erinnerte sich, wie oft sie damals auf dem Heimweg stehen geblieben war.

»Geh doch schneller, Mutter«, hatte er ungeduldig gerufen, »wir werden spät zum Tee kommen.«

Die Köchin hatte Kuchenschnecken zum Tee gebacken, und ein Plumcake von gestern war noch da und ein frisch geöffnetes Glas Kirschenmarmelade.

»Man soll seinen Geschmäckern und Instinkten treu bleiben!« Aber ein Zufall der Geburt hatte sie für ihn festgelegt. Die Gerechtigkeit war etwas Ewiges; Wohltätigkeit und brüderliche Liebe waren etwas Schönes, trotz des alten Mannes Pfeife und Wetheringtons Krankenstube, ja eben wegen ihrer. Der Zug verlangsamte die Fahrt.

Leicester Square. Er trat auf den Bahnsteig hinaus und schritt den Aufzügen zu. Aber die persönliche Prämisse, dachte er, ist schwer zu leugnen, und die Prämisse, welche nicht persönlich ist, und sei sie noch so vortrefflich, ist schwer zu glauben. Ehre, Treue – sie waren in ihrer Art vortrefflich. Aber die persönliche Prämisse seiner augenblicklichen Philosophie war die, dass Lucy Tantamount die allerschönste, die allerbegehrenswerteste …

»Alle Fahrscheine, bitte!«

Die Debatte drohte wieder zu beginnen. Entschlossen erstickte er sie, der Aufzugswärter ließ das Gitter krachend zuschlagen. Der Aufzug stieg empor. Auf der Straße rief Walter ein Taxi herbei.

»Tantamount House, Pall Mall!«

ZWEITES KAPITEL

Drei italienische Gespenster geistern unaufdringlich am östlichen Ende von Pall Mall. Der Reichtum des frisch industrialisierten England und die Begeisterung, das bauliche Genie Charles Barrys hat sie aus der Vergangenheit und ihrem heimatlichen Sonnenschein hergezaubert. Unter dem inkrustierenden Schmutz des Reformklubs erkennt das gläubige Auge etwas, das angenehm an den Palazzo Farnese gemahnt. Ein paar Schritte weiter die Straße entlang ragen Sir Charles' Erinnerungen an das Haus, das Raffael für die Pandolfini entwarf, in die dunstige Londoner Luft auf – der Travellersklub; und zwischen ihnen erhebt sich, streng klassisch, dräuend wie ein Gefängnis und schwarz von Ruß, eine verkleinerte, aber immer noch riesenhafte Fassung der Cancelleria – Tantamount House.

Barry entwarf es 1839. Einhundert Arbeiter schufteten ein oder zwei Jahre. Und der dritte Marquis bezahlte die Rechnungen. Sie waren gewaltig; aber die Vorstädte von Leeds und Sheffield hatten begonnen, sich über das Land auszubreiten, das seine Vorfahren dreihundert Jahre früher den Klöstern gestohlen hatten. »Die katholische Kirche, vom Heiligen Geist inspiriert, lehrt nach den ehrwürdigen Schriften und alten Überlieferungen der Kirchenväter, dass es ein Fegefeuer gibt und dass die darin schmachtenden Seelen Hilfe finden durch die Fürbitten der Glaubenstreuen, besonders aber durch das gottgefällige Opfer auf dem Altar.« Die Reichen mit schlechtem Gewissen hatten ihre Ländereien den Mönchen hinterlassen, damit ein unaufhörlicher Vollzug des gottgefälligen Opfers auf dem Altar ihren Seelen durchs Fegefeuer helfe. Aber Heinrich VIII. hatte es sehr nach einem jungen Weib gelüstet und nach einem Sohn verlangt; und Papst Klemens VII. wollte, weil er in der Gewalt des Vetters der Tochter von Heinrichs erster Frau war, ihm die Scheidung nicht bewilligen. Infolgedessen wurden die Klöster aufgehoben. Ein Heer von Bettlern, Armen und Siechen starb elend Hungers. Die Tantamounts aber erwarben einige Dutzend Quadratmeilen Ackerlands, Walds und Weide. Ein paar Jahre später, unter Eduard VI., stahlen sie den Landbesitz zweier aufgelöster Lateinschulen; Kinder blieben ohne Unterricht, auf dass die Tantamounts reich seien. Sie bebauten ihr Land nach allen Regeln der Wissenschaft, ihr Augenmerk auf den höchsten Nutzen gerichtet. Ihre Zeitgenossen sahen in ihnen »Menschen, die leben, als gäbe es gar keinen Gott, Menschen, die alles in ihren eigenen Händen haben wollen, Menschen, die anderen nichts lassen, Menschen, die nie zufrieden sind«. Von der Kanzel in St. Paul herab beschuldigte Lever sie, sie hätten »Gott beleidigt und das gemeine Wohl in gemeines Wehe verkehrt«. Die Tantamounts störte das nicht. Der Grund gehörte ihnen. Die Pachtgelder gingen regelmäßig ein. Das Korn wurde gesät, wuchs und wurde geerntet, wieder und wieder. Tiere wurden geboren, gemästet und zur Schlachtbank geführt. Die Ackerknechte, die Schäfer, die Kuhhirten arbeiteten vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang, jahraus, jahrein, bis sie starben. Ihre Kinder traten an ihre Stelle. Ein Tantamount folgte auf den anderen. Elisabeth verlieh ihnen die Baronie; unter Karl . wurden sie Viscounts, Earls unter Wilhelm und Maria, Marquis unter Georg . Sie heirateten Erbin nach Erbin – zehn Quadratmeilen von Nottinghamshire, fünfzigtausend Pfund, zwei Straßenzüge in Bloomsbury, eine halbe Brauerei, eine Bank, eine Plantage mit sechshundert Sklaven in Jamaika. Mittlerweile erfanden obskure Männer Maschinen, mit denen man die meisten Dinge schneller herstellen konnte als mit der Hand. Dörfer verwandelten sich in Städte, Städte in Großstädte. Auf einstigem Ackerland der Tantamounts wurden Häuser und Fabriken gebaut. Unter dem Gras ihrer Wiesen hackten halbnackte Männer auf das schwarz glänzende Kohlenflöz los. Kleine Knaben und Frauen zogen die schwerbeladenen Förderwagen durch die Stollen. Aus Peru wurden die Exkremente Zehntausender Generationen von Seevögeln in Schiffen herübergebracht, um ihre Felder ertragreicher zu machen. Das Korn wuchs dichter; die neuen Mäuler konnten gefüttert werden. Und Jahr auf Jahr wurden die Tantamounts reicher und reicher, und die Seelen der frommen Zeitgenossen des Schwarzen Prinzen zappelten zweifellos auch weiterhin – da sie der Hilfe durch irgendwelche gottgefällige Opfer auf dem Altar entbehrten – in den unauslöschlichen Flammen. Das Geld, das, entsprechend verwendet, ihre Strafzeit im Fegefeuer verkürzt hätte, diente unter anderem auch dazu, ein Modell der päpstlichen Kanzlei in Pall Mall erstehen zu lassen.

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