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Konversation und Geselligkeit E-Book

Karin Schulz

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Beschreibung

Bis heute hält die Forschung an der negativen Perspektivierung höfischer Moralistik fest, an einer pessimistischen Anthropologie im Zeichen des amour-propre. Mit ihrer literaturwissenschaftlichen Untersuchung zur Konversation und Geselligkeit im französischen Salon zeigt Karin Schulz eine optimistische Lesart, welche die sozial-reflexive Produktivität moralistischen Denkens stärkt. Auf der methodischen Grundlage der Erfahrungsdifferenz von Idealität und Realität hinterfragt sie das Selbstverständnis idealer Verhaltensnormen und zeichnet für den französischen Salon, ausgehend vom 17. Jahrhundert, eine Geschichte der konversationellen Programmatik mit Ausblick auf die Lehren kommunikativer Gegenwart.

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Seitenzahl: 280

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Karin Schulz (Dr. phil.), geb. 1985, ist akademische Mitarbeiterin am Fachbereich Literaturwissenschaft/Romanische Literaturen der Universität Konstanz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die französische Literatur des 17. bis 19. Jahrhunderts sowie die italienische Literatur des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit stehen Fragen zu Geselligkeits- und Konversationskultur, zu moralistischer Theorie, menschlicher Identität und Prozessen individueller Selbstbestimmung sowie Selbsterfahrung.

KARIN SCHULZ

Konversation und Geselligkeit

Praxis französischer Salonkultur im Spannungsfeld von Idealität und Realität

Dieses Buch wurde gefördert mit Mitteln des im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder eingerichteten Exzellenzclusters der Universität Konstanz »Kulturelle Grundlagen von Integration«.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial- NoDerivs 4.0 Lizenz (BY-NC-ND). Diese Lizenz erlaubt die private Nutzung, gestattet aber keine Bearbeitung und keine kommerzielle Nutzung. Weitere Informationen finden Sie unterhttps://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de. Um Genehmigungen für Adaptionen, Übersetzungen, Derivate oder Wiederverwendung zu kommerziellen Zwecken einzuholen, wenden Sie sich bitte an [email protected]

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar

Covergestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Coverabbildung: © Ekarin Apirakthanakorn/123rf.com Print-ISBN 978-3-8376-4429-6 PDF-ISBN 978-3-8394-4429-0 EPUB-ISBN 978-3-7328-4429-6

Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort
1.Einleitung
2.Konversationspraxis im 17. Jahrhundert. Herausforderung zwischen individuellem Pragmatismus und gemeinschaftlichem Idealismus
2.1Realität des geselligen Umgangs
2.1.1ACTIO – Individuelle Distanzierung und Überhöhung
2.1.2REACTIO – La complaisance
2.1.3INTERACTIO – Rationaler Pragmatismus
2.2Idealität des geselligen Umgangs
2.2.1„[L]a liberté de se faire entendre“
2.2.2Rationaler Idealismus
3.Eine Frage der Angemessenheit. Die Praxis der französischen Salonkultur im 17. Jahrhundert
3.1Gesellschaftliche Räume der Angemessenheit zwischen Konvergenz und Divergenz
3.2(Un-)Sichtbarkeit von Angemessenheit
3.3Der Diskurs der Angemessenheit
4.Die Konversationspraxis der französischen Salonkultur im langen 18. Jahrhundert zwischen Wandel und Beständigkeit
4.1Introspektionen – die gemeinschaftliche Konversationspraxis zwischen individueller Erwartung und Enttäuschung
4.1.1Das ideale Maß der Verhältnismäßigkeit. Angemessenheit von Handlung und Handelnden
4.1.2Verlust eines idealen Maßes? Die Unverhältnismäßigkeit von Handlung und Handelnden
4.2Retrospektionen – die Konversationspraxis zwischen Gegenwart und Vergangenheit
4.2.1„Que ces conversations sont insipides!“ – Realität der Traditionsentfremdung
4.2.2„De l’esprit de conversation“ – Ideale der Traditionsbewahrung
4.3Zusammenschau
5.Herausforderung der Innovation – Konversationspraxis der französischen Salonkultur im 19. Jahrhundert
5.1Der Versuch einer Innovation durch Restauration
5.1.1„[L]’esprit français d’autrefois“
5.1.2„Échantillon de causerie française“?
5.2Die Chance auf Innovation durch Dekonstruktion
5.2.1Negative Diagnose: Erfahrungen der Handlungsrealität
5.2.2Zuversichtliche Prognose: Selbstversuch einer Innovation
6.Ein gedanklicher Ausblick. Virtuelle Geselligkeiten im Spiegel traditioneller, französischer Salonkultur
7.Schluss
8.Literaturverzeichnis

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich Literaturwissenschaft / Romanische Literaturen der Universität Konstanz als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie angenommen. Die mündliche Prüfung fand am 27. Oktober 2016 statt. Referentinnen und Referent der Arbeit waren Prof. Dr. Ulrike Sprenger, Prof. Dr. Juliane Vogel und Prof. Dr. Michael Schwarze.

Die literaturwissenschaftliche Studie entstand in institutionellem Rahmen durch die Förderung des Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“ der Universität Konstanz.

Mein Dank gilt Prof. Dr. Ulrike Sprenger für ihre Unterstützung, ihre immer hilfreichen Anregungen und inhaltlichen Anmerkungen, sowie Prof. Dr. Juliane Vogel für die Betreuung meiner Arbeit.

Besonders bedanke ich mich bei Jan. Seine unermüdlichen Ermunterungen, seine inspirierenden Gedanken und sein Blick für die sprachliche Form trugen wesentlich zur Entstehung des Buchs bei.

1.Einleitung

„Comme la Conversation est le lien de la societé de tous les hommes, le plus grand plaisir des honnestes gens, & le moyen le plus ordinaire d’introduire, non seulement la politesse dans le monde, mais encore la morale la plus pure & l’amour de la gloire & de la vertu: il me paroît que la Compagnie ne peut s’entretenir plus agreablement, ny plus utilement, dit Cilenie, que d’examiner ce que c’est qu’on appelle Conversation.“ (Scudéry 1686, 1)

Es gibt kein nützlicheres Unterfangen des menschlichen geselligen Beisammenseins als dessen zugrunde liegende Handlungspraxis zu beleuchten, so die Feststellung der Protagonistin Cilenie im Austausch mit einem dutzend anderer Interessierter. Sie sind sich einig: Die Konversation, „le lien de la societé“ (ebd.) garantiert das Zustandekommen sowie den Bestand menschlicher Geselligkeit – und zwar uneingeschränkt „de la societé de tous les hommes“ (ebd.). Die dabei geltenden Verhaltensregeln haben aufgrund ihrer Idealität einen vorbildhaften Charakter, der auf die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit positiv, das heißt tugendhaft anleitend ausstrahlt.1 Dies wiederum unterstreicht, ihrer Auffassung nach, die herausragende Bedeutung der Konversation für das menschliche Zusammenwirken und begründet die Auseinandersetzung mit der idealen Ausgestaltung und gesellschaftlichen Funktion.

Mademoiselle de Scudéry spiegelt und reflektiert in dem Kurztext De la conversation in beispielhafter Weise die gesellige Handlungspraxis ihrer Zeit.2 Sie skizziert einen wechselseitigen Austausch, bei dem die Teilnehmer ihre Erfahrungen kommunikativer Gesellschaftspraxis zusammentragen. Die Konversation wird dabei als eine selbstreferentielle Praxis eingeführt, die sich über einen ausgeprägten reflexiven Eigendiskurs begründet und definiert. Einvernehmliche Zielsetzung des geschilderten geselligen Austauschs ist es durch die Darlegung negativer, individueller Erlebnisse von Konversation den angeführten besonderen Wert der Handlungspraxis zu erläutern und herauszustellen. So fügt die Protagonistin Cilenie unter Zustimmung der anderen Beteiligten den oben angeführten, einleitenden Worten ergänzend hinzu:

„[I]l me semble qu’avant que de bien definir en quoy consiste principalement le charme & la beauté de la Conversation, il faudroit que toutes les Personnes, qui composent la Compagnie, se souvinssent des Conversations ennuyeuses qui les ont le plus importunées.“ (Ebd., 2)

Der gemeinschaftliche Konsens idealer Konversationspraxis begründet sich in einer aktiven kommunikativen Arbeit am diesbezüglichen Dissens: „Car en remarquant tout ce qui ennuye, on pourra mieux connoître ce qui divertit“ (ebd.).

Die Schilderungen der als negativ erfahrenen, kommunikativen Handlungsweisen zielen nicht nur auf eine allgemeine theoretische Formulierung und Herleitung idealer Verhaltensmaßstäbe, sondern der dabei angestoßene Prozess der Konsensfindung und die angestrebte Fundierung des Wissens über einen idealen geselligen Umgang spiegeln sich in der angepassten Interaktions- und Handlungsweise der Teilnehmer wider. Die von Mademoiselle de Scudéry geschilderte Konversation erweist sich als ein für alle Beteiligten gelungenes und belehrendes Erlebnis, als ein – wie von Cilenie benannt – gemeinschaftlich bindendes Vergnügen.

Die Wiedergabe der unterschiedlichen, individuellen Erfahrungen geschieht in einem inhaltlich fließenden Gespräch, bei dem die Teilnehmer ihre einzelnen Redebeiträge zueinander in Bezug setzen. Das jeweils Gesagte wird aufgegriffen und durch den Bericht eigener Erlebnisse ergänzt und fortgeführt.3 Es herrscht ein wechselseitiges Anregen und Belehren, niemand wird angegriffen oder abgewertet. Die ungezwungene Offenheit und Ehrlichkeit der Äußerungen4 bekundet ein gegenseitiges Vertrauen in Akzeptanz und Toleranz des gemeinschaftlichen Umgangs. Nicht der Einzelne, sondern die Sache selbst – die Konversation, der einvernehmliche Austausch und dessen kontinuierlicher Vorantrieb – stehen im Mittelpunkt eines kollektiven Handlungsinteresses. So kumulieren die inhaltlichen Einzelbeiträge zur Unangemessenheit kommunikativer Interaktion in einem gemeinschaftlichen Versuch, die eingangs gestellte Frage nach der Besonderheit der Konversation abschließend zu beantworten. „[D]equoy fautil que la Conversation soit formee, pour estre belle & raisonnable? Il faut que ce soit de tout ce que nous avons repris, repliqua agreablement Valerie, en soûriant.“ (ebd., 16). Die Teilnehmer erheben die von ihnen praktizierte kommunikative Umgangsweise in Abgrenzung von den individuell erfahrenen und gemeinschaftlich diskutierten, negativen Verhaltensweisen zu einer allgemeinen Bemessungsgrundlage idealer Konversation. Die Selbstreferentialität der Konversation findet ihren beispielhaften Höhepunkt in einem gemeinschaftlichen Handlungskonsens.

Die Praxis französischer Geselligkeits- und Konversationskultur des 17. Jahrhunderts begründet sich im Spannungsverhältnis von Idealität und Realität. Eine normorientierte und normsetzende, kommunikative Verhaltenspraxis ist keine Selbstverständlichkeit, sondern unterliegt einem aktiven Reflexionsprozess der alltäglich erfahrenen Differenzen.

Die einschlägigen Forschungsarbeiten zur französischen Konversationskultur lassen dies bisher außer Acht.5 In einer analytisch einseitigen, wenn auch berechtigten Tendenz wird die Entwicklung und Bedeutung der französischen Konversation ausgehend von ihrer als ideal gezeichneten, zum Teil überzeichneten Vergangenheit geschildert.6 An dieser Stelle soll ein neuer Zugang zum Idealitätsverständnis der kulturellen und gesellschaftlichen Praxis von Konversation geschaffen werden, der das normative Verhalten nicht mehr als gegeben voraussetzt oder nachzeichnet, sondern als Ergebnis eines handlungsgebundenen Entwicklungsprozesses begreift und aufarbeitet. Die Idealität des kommunikativen Umgangs ist, so die grundlegende These, an die negative Verhaltensrealität des Alltags rückgebunden und durch diese divergent angeleitet.

Vor diesem Hintergrund verzichte ich auf eine erneute Ausführung und Zusammenstellung der in ihrer zeitlichen Entwicklung heterogenen Ausprägungsformen geselliger Verhaltensideale.7

Im Mittelpunkt meiner Arbeit steht die Analyse der Konversationspraxis in den französischen Salons, die als Erfolgsorte der einleitend beschriebenen kommunikativen Umgangsweise gelten.8 Das konsensbasierte Zusammenwirken einer zwanglosen und freien Interaktion, wie es Mademoiselle de Scudéry beispielhaft skizziert, bildet die formale Handlungsgrundlage von Salongeselligkeit: Unter Anleitung und Aufsicht einer Salonnière9 pflegten die Gäste in ihren regelmäßigen Zusammenkünften einen wechselseitigen, ausschließlich dem Zweck der Konversation dienenden Austausch.10 In einer Vielzahl von Studien ist der französische Salon untersucht11 und dabei, ausgehend vom Ideal der dort geführten kommunikativen Interaktionen, vor allem die besondere soziokulturelle Bedeutung dieser Geselligkeitsform herausgearbeitet worden.12 Die ideale, gemeinschaftliche Handlungspraxis birgt ein analytisches Potential zur Erklärung gesellschaftlicher und kultureller Wandlungs- und Entwicklungsprozesse, das erkannt, jedoch nur unzureichend hinterfragt worden ist. Wie die Forschung zur allgemeinen Konversationskultur vermeiden auch die Arbeiten zur Salonkultur die kritische Frage nach den Entstehungsfaktoren und Bedingungen einer gemeinschaftlichen Handlungsnorm.

Die analytische Zurückhaltung begründet sich vor allem durch eine allgemein schwierige Quellenlage. Der Salon kennzeichnet sich als ein Raum ohne festgeschriebene Ordnungssätze oder dokumentierte Konversationsprotokolle.13 Die Idealität der geselligen Umgangsweise als Ergebnis eines mündlichen Handlungsprozesses erschwert eine zeitlich nachgeordnete, analytische Erfassung. Dies untermauert jedoch zugleich die aufklärende Notwendigkeit der vorliegenden These. Die Analyse der Konversationspraxis kann nur über eine fragende Annäherung an das Idealitätsverständnis des geselligen Umgangs der jeweiligen Zeit gelingen.

Ein Zugang zur Praxis der französischen Salonkonversation, der es erlaubt den Prozess der kritischen Auseinandersetzung mit der Handlungsrealität aufzuarbeiten, eröffnet sich durch die Texte der französischen Moralisten. In Rückgriff auf die Tradition antiker Moralphilosophen gründet ihr literarisches Werk auf eine skeptisch angeleitete Neugierde bezüglich des Charakters und Handelns des Menschen.14 Ihre ideengeschichtlich geformten Theorien und anthropologischen Verständnisse15 geben sich im Kontext des Handlungsfelds des Salons in ihrer unmittelbaren gesellschaftlichen Rückbindung zu erkennen.16 Der Salon gilt als maßgeblicher sozialer Interaktionsraum, den die Autoren für ihre anthropologischen Erkenntnisse nutzen. Ihre Texte gehen nicht nur aus einer gemeinschaftlichen Praxis hervor, sondern wirken wiederum handlungsanleitend auf diese zurück:17 Als Ausdruck und Produkt geselliger Konversation spiegeln sie das kommunikative Handlungsverständnis der Zeit.18

Unter der Prämisse der Aufarbeitung des reflexiven Eigendiskurses der Konversation stärkt die vorliegende Arbeit eine soziale Lesart moralistischer Texte19 und ermöglicht einen neuen Zugang zur Handlungsdiagnostik, der die innere Eigendynamik des Phänomens in den Vordergrund rückt.20 Den äußeren soziokulturellen Rahmenbedingungen, die bisher die Erklärung der Verhaltenspraxis im Salon dominiert haben,21 wird ein nachgeordneter, betont sekundärer Stellenwert eingeräumt.22 Der Fokus der Arbeit liegt auf einer textnahen Detailanalyse, die einen kritischen Blick auf den sich in der moralistischen Literatur wiederspiegelnden, zeitlich wandelnden Diskurs des Konversationsideals eröffnet.

Die literarischen Kurzformen, wie Essays, Maximen und Reflexionen, in denen die Moralisten ihre Erkenntnisse dokumentieren, sind Anschauungsbeispiel und belegendes Zeugnis des Prozesses negativ abgrenzender Verhaltensfindung mit dem Ziel idealer kommunikativer Praxis. Ausgehend von einem negativen anthropologischen Grundverständnis erklären die Moralisten des 17. Jahrhunderts die menschliche Verhaltensnorm als Kompromiss im Umgang mit der natürlichen Triebkraft des amour-propre,23 welche den Menschen unweigerlich zu einem egoistischen Handeln veranlasst.

Die Verhaltensnorm unterliegt im zwischenmenschlichen Umgang dem Kalkül der Eigenliebe und dem egoistischen Bestreben des Individuums nach sozialer Anerkennung. In besonderer Weise diagnostizieren die Moralisten dies für die Gesellschaft des französischen Hofs.24 Die Handlung der Konversation ist im höfischen Geschehen Vermittler sozialer Prestigewerte zur Befriedigung einseitiger Bedürfnisse des Einzelnen,25 wohingegen der Wert der Sache – die Konversation – nebensächlich und unbedeutend bleibt.

Der gesellschaftliche Raum, in dem dieses Handlungsverständnis eine bewusste Umkehrung erfährt, ist der städtische Salon im Paris des 17. Jahrhunderts.26 Hof und Salon stehen als soziale Handlungsräume in einer für die Konversationspraxis des 17. Jahrhunderts prägenden antagonistischen Wechselbeziehung der Abgrenzung, welche die Moralisten erkennen und für die Interaktion im Salon textuell zu funktionalisieren wissen.27

Das Erkennen und Verstehen des natürlichen Handlungstriebs des amour-propre und seiner Wirkungsweise in der Gesellschaft des Hofs ermöglicht in der Gemeinschaft des Salons einen idealen, nicht zweck-, sondern handlungsorientierten Umgang. Die Eigenliebe wird nicht durch Befriedigung der individuellen Bedürfnisse kontrolliert, sondern ihr Drang wird durch das Wissen um das unumgängliche Bestreben gezielt ausbalanciert und reduziert. Die Konversationspraxis im Spannungsfeld von Idealität und Realität unterliegt einer nachweislich geistigen Auseinandersetzung mit den individuell einseitigen Bedürfnissen. Die Handlungsnorm erweist sich dabei als ein inhaltlich maßgeblich über den jeweiligen räumlichen Kontext bestimmtes Konzept,28 die sich darüber hinaus in einem Sozialkonsens der Zeit festigt: dem Diskurs der honnêteté.29 Es handelt sich dabei nicht, wie an mancher Stelle formuliert, um ein „Persönlichkeits- oder Kulturideal“ (Roth 1981, 16). Der Begriff der honnêteté bezeichnet vielmehr das Verständnis der französischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts von einem angemessenen Verhalten.30

Um diesen räumlich, wie sozial gefestigten Verhaltensdiskurs näher zu verstehen, gilt es jedoch zunächst allgemein das, von den Moralisten in ihren Texten beispielhaft funktionalisierte, Wechselspiel der menschlichen Triebkräfte von Eigenliebe und Vernunft in ihrer Bedeutung für die gemeinschaftliche, kommunikative Handlungsweise nachzuvollziehen. Diese auf die soziale Praxis fokussierte Analyse eröffnet aus literaturwissenschaftlicher Perspektive einen weiterführenden Zugang zur negativen Anthropologie des 17. Jahrhunderts. Die romanistische Forschung hat sich bisher vor allem auf die Semantik des amour-propre, sowie die diesbezüglich formale und sprachliche Ästhetik der Texte konzentriert.31 Diese Erkenntnisse werden keinesfalls in Frage gestellt, vielmehr soll mit der Vernunft als Gegenpol der Eigenliebe auf ein, insbesondere hinsichtlich der vorliegenden Thematik geselliger Konversation, übersehenes Erklärungspotential hingewiesen werden, das die Texte als handlungsorientiertes Zeugnis sozialer Interaktion aufwertet.32

Die analytische Forschungstradition zur Moralistik hebt erst zeitlich später, für das 18. Jahrhundert, das besondere Zusammenwirken von amour-propre und raison hervor. Die negative anthropologische Resignation wandelt sich in eine positive Zuversicht die menschliche Existenz betreffend. Die Bindung des Menschen an den amour-propre wird nicht mehr als belastendes Schicksal verstanden, sondern als Herausforderung auf dem Weg zur eigenen Tugendhaftigkeit erkannt und genutzt.33

Meine Annahme, dass sich bereits für das 17. Jahrhundert in den Texten der Moralisten das Zusammenspiel von vernunftgeleitetem Geist und egoistisch intendiertem Gefühl zum normativen Handeln angelegt findet, beweist die Erklärungstradition französischer Moralistik in der unter anderem von Karlheinz Stierle formulierten, zeitübergreifenden Geschlossenheit.34 Im Gegensatz zu der geläufigen Forschungstradition wird die eigenständige Funktionalität der negativen Anthropologie jedoch nicht mehr ausschließlich in der analytischen Aufarbeitung des sprachlichen Stils der Texte, sondern vielmehr direkt in Bezug auf das textuell reflektierte Handeln und Verhalten des Menschen hinterfragt. Die moralistischen Texte des 17. Jahrhunderts beweisen sich in der analytischen Instrumentalisierung, sowie der diagnostischen Anregung menschlicher Vernunft. Die Anthropologie des 18. Jahrhunderts setzt hieran an.

Um den zeitlichen Veränderungen des Zusammenwirkens von amour-propre und raison erklärend gerecht zu werden, wird der Analyse ein weiter Rahmen vom 17. bis ins ausgehende 19. Jahrhundert zugrunde gelegt. Die Entwicklungsdynamik der moralistischen Erklärungskonzepte ermöglicht eine Bewertung der zeitlichen Wandlungsprozesse der Praxis französischer Salonkonversation unabhängig von den jeweiligen soziokulturellen Umbrüchen der Zeit.35

Das Spannungsfeld von Idealität und Realität, das die Salonkonversation kennzeichnet und herausfordert, verändert sich angesichts der sich wandelnden (zwischen-)menschlichen Verhaltensgrundsätze und -auffassungen. Die positive Aufwertung der Anthropologie beeinflusst den mit Negativen operierenden Eigendiskurs der Handlung und damit die Konversation nachhaltig. Die Zusammenhänge werden näher beleuchtet und hinterfragt, um eine zeitliche Entwicklungslinie zu entwerfen. Mit zunehmender zeitlicher Distanz zu den prägenden Ursprüngen des 17. Jahrhunderts zeigt sich, dass die Selbstreferenz in der Normativität der Handlung nicht nur durch die jeweilige anthropologische Eigendynamik der Zeit, sondern zusätzlich durch die Tradition der kommunikativen Praxis herausgefordert wird. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Salonkonversation zu Beginn des 20. Jahrhunderts keine Anknüpfungspunkte mehr zu ihrer ursprünglichen Form und Ausprägung findet,36 stellt sich die Frage, inwieweit die eigene Vergangenheit im Laufe der Entwicklung zu einer Überforderung für die tragende Selbstreferentialität wird.

Die nachfolgende, einführende Argumentationsskizze stellt den auf die These der Arbeit zugeschnittenen Textkorpus vor. Mein Vorgehen konzentriert sich darauf die fachspezifische Stärke einer bewusst mikroanalytischen Literaturanalyse für das Verständnis der genannten inhärenten Eigendynamiken von Salonkonversation aufzudecken.37 Ergänzend zu den bisher vorrangig soziokulturellen Forschungsarbeiten zur französischen Salon- und Konversationskultur gelingt so die eigenständige Skizze einer Diskursgeschichte des Phänomens aus literaturanalytischer Perspektive.

Im Mittelpunkt der literarischen Analyse der Salonkonversation des 17. Jahrhunderts stehen die einschlägigen Texte des französischen Moralisten François de La Rochefoucauld.38 Neben den Maximen zur Konversation39 bildet die Reflexion IV. De la conversation des Autors die hier ergänzende Textgrundlage.40 Gerade die Réflexions diverses bieten, wie auch Vivien Thweatt betont41, einen wertvollen Zugang zum Verständnis gesellschaftlichen Umgangs bei La Rochefoucauld. So wird laut Thweatt erst in den Réflexions deutlich, was in den – durch die negative Anthropologie bestimmten – Maximen,42 scheinbar unberücksichtigt bleibt: die menschliche Sozialkompetenz. Auch wenn Thweatt die grundsätzliche, inhaltliche Verwandtschaft von Maximen und Reflexionen betont,43 übersieht sie die Nähe der beiden Texte für das erklärende Verständnis sozialer Umgangsformen. Es offenbart sich in der Zusammenschau von Reflexionen und Maximen eine funktionale Spannung, die es zu Gunsten La Rochefoucaulds Auffassung vom individuellen Gesellschaftsverhalten in der Konversation aufzulösen gilt.

Ausgehend von der anthropologischen Einzeldiagnostik menschlicher Handlungstriebe wird die Norm gemeinschaftlicher Interaktion im sich abgleichenden Kontext von Idealität und Realität der Konversationspraxis nachvollzogen, um diese in einem nachfolgenden analytischen Schritt erklärend in den gesellschaftlichen Handlungsdiskurs der Angemessenheit des 17. Jahrhunderts einzuordnen. Neben der theoretisch grundlegenden Arbeit La Rochefoucaulds wird dabei auf Texte von Jean de La Bruyère und Antoine Gombaud Chevalier de Méré zurückgegriffen.44 Einvernehmlich beweisen sie die individuelle Vernunft als Schlüssel einer normativen Konversationspraxis. Dabei spielen sie mit der Unsichtbarkeit der zugrunde liegenden Wirkungsdynamiken, um sie bewusst zu einer erkenntnisanregenden Sichtbarkeit zu führen. In Inhalt und Form ihrer Texte sprechen sie spielerisch die Wahrnehmungsfähigkeit als Grundlage des menschlichen Erkennens, mit dem textrezeptiven Effekt eines positiven Handlungsoutputs an. Die Visualität erweist sich als zentraler analytischer Spielstein der moralistischen Erklärungsdiagnostik, dessen besonderes Erklärungspotential für die Texte des 17. Jahrhunderts angedeutet wird, jedoch vertiefend erst in der Zusammenschau mit zeitlich späteren Texten bei Marcel Proust ganzheitlich in seiner analytisch tragenden Funktionalität aufgezeigt werden kann.

Die Darstellung der Konversationspraxis im 18. Jahrhundert verschiebt sich in einen zunehmend narrativen Bereich.45 Ausgehend von der vorbildhaften Handlungspraxis des 17. Jahrhunderts stellt sich die Frage nach der Beständigkeit der daran ansetzenden zeitlichen Entwicklung.

Dabei fällt die verstärkt als selbstverständlich vorausgesetzte Annahme des kollektiv bindenden Konsenses kommunikativer Verhaltensrealität auf. Die veränderte textuelle Darstellungsform einer nunmehr ausschließlich individuellen Reflexion des Geschehens spiegelt den Entzug des selbstreferentiellen Diskurses der Konversation von einer aktiven, gemeinschaftlichen Arbeit. In der textuellen Darstellung steht den positiven Erfahrungswerten der Protagonistin Marianne im gleichnamigen Roman Marivaux’ analytisch der negative Eindruck des Protagonisten Saint-Preux im Roman Julie,ou La Nouvelle Héloïse gegenüber. Jean-Jacques Rousseau wirft im Gegensatz zu Marivaux, angesichts einer zu beobachtenden, individuellen Alleinverantwortung, einen skeptischen und mahnenden Blick auf die Praxis französischer Salonkultur des 18. Jahrhunderts. Dies setzt sich fort: Ende des Jahrhunderts diagnostizieren die moralistischen Autoren in Bezug auf die Konversationspraxis keinen erfolgreichen Entwicklungsverlauf, sondern sind, konfrontiert mit einer unbefriedigenden Realität, bemüht die Tradition der Handlungspraxis des 17. Jahrhunderts wachzurufen. Die französische Konversationskultur zeigt sich geschwächt und in einer Selbstfindungskrise zwischen der eigenen idealen Vergangenheit und einer gegenläufigen Gegenwart. Die zeitspezifischen Herausforderungen einer zunehmenden Retrospektive werden bei Madame de Staël und Stendhal diskutiert, wobei die kommunikative Handlungspraxis im Spannungsfeld zwischen Traditionsverhaftung und Traditionsentfremdung einzuordnen ist.

Vor diesem Entwicklungshintergrund verlagert sich die Schwierigkeit einer Innovation der Konversationspraxis in das 19. Jahrhundert, was anhand ausgewählter Texte aus dem Werk Honoré de Balzacs sowie im Romanwerk Marcel Prousts À la recherche du temps perdu in den Möglichkeiten einer erfolgreichen Bewältigung hinterfragt wird.

Balzac hat die Konversationspraxis seiner Zeit nicht nur in seinem Hauptwerk La Comédie humaine, sondern vor allem auch in einem zunächst unabhängig erschienenen narrativen Text dargestellt und verarbeitet.46 Aus der Perspektive eines Ich-Erzählers skizziert er den Verlauf einer Konversationsgeselligkeit, wobei er den zeitgenössischen Versuch einer nunmehr aktiven Restauration gemeinschaftlicher Handlungstradition veranschaulicht.

Es ist jedoch erst Proust, der angesichts einer anerkennenden, negativen Diagnose kommunikativer Verhaltensrealität eine innovative Neubeschreibung des für die Konversation tragenden Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft aufzeigen kann. Er instrumentalisiert den, der Moralistik inhärenten, visuellen Erklärungsansatz in einer bis zu jenem Zeitpunkt bei den anderen hier angeführten Autoren fehlenden inhaltlichen Prägnanz.47 Indem Proust das Stereoskop, ein in seiner Zeit populäres Instrument perspektivischen Sehens zur figurativen Veranschaulichung der Erfahrungsprozesse heranzieht, offenbart und erörtert er den Nutzwert der Konversation.

Das bei Proust diagnostizierte zeitgenössische Bewusstsein für den gesellschaftlichen Raum des Salons sowie dessen Selbstverständnis Ende des 19. Jahrhunderts wird in einer abschließenden Analyse raumtheoretisch aufgearbeitet48 und in einen aktuellen Bezug zu Formen virtueller Geselligkeiten gesetzt. So schließt die Arbeit mit einem gedanklichen Ausblick, in dem die Herausforderungen der gegenwärtigen Kommunikationskultur vor dem Hintergrund der Tradition französischer Salonkultur zur Diskussion gestellt werden.49

Die zeitlich entwicklungsorientierte Zusammenschau der einschlägigen moralistischen Texte aus drei Jahrhunderten folgt somit insgesamt einer analytischen Dreiteilung: Kapitel zwei und drei bilden die theoretische Grund- und Ausgangslage, von welcher aus in einer bewusst sehr textnahen Analyse das Konversationsverständnis des 17. Jahrhunderts als eine Interaktion von Individuum und Gemeinschaft in den zentralen Begrifflichkeiten individueller Norm und gemeinschaftlicher Angemessenheit aufgearbeitet wird. Kapitel vier verfolgt für das 18. Jahrhundert eine praxisorientierte Betrachtung dieser Geltungsmaßstäbe und hinterfragt den Wandel und die Entwicklung der Konversation vor dem Hintergrund einer verstärkt zu beobachtenden individuellen Handlungsperspektivik. Die Textanalyse zeigt so die literarische Darstellung der Konversation im 18. Jahrhundert in der Aufarbeitung und im Spannungsfeld zwischen einer individuellen Introspektion und einer zeitlichen Retrospektion. In einem dritten Teil werden in Kapitel fünf, mit dem Fokus auf das 19. Jahrhundert, der Innovationswert der kommunikativen Handlungspraxis im Salon und die damit einhergehenden Herausforderungen erörtert, was abschließend, im sechsten Kapitel, die Möglichkeit bietet diese Problematik, in Bezug zur Gegenwart zu setzen.

1„[L]a Conversation est [...] le moyen le plus ordinaire d’introduire, non seulement la politesse dans le monde, mais encore la morale la plus pure & l’amour de la gloire & de la vertu“ (Scudéry 1686, 1). Die Tugend wird in der Aufzählung Cilenies zuletzt angeführt und damit zusammenfassend als sozialer Wirkungseffekt der Konversation herausgestellt.

2Der Text ist der erste aus dem Band Les conversations sur divers sujets, der 15 inhaltlich verschiedene, gesellige Gesprächssituationen enthält. Die Forschung hat Mademoiselle de Scudéry als eine bedeutende Salonnière und Autorin Frankreichs des 17. Jahrhunderts gewürdigt und dabei ihr Werk, bestehend aus Kurztexten, aber auch Romanen, bereits hinsichtlich des fiktionalen Gehalts hinterfragt beziehungsweise die verschlüsselte Abbildung der zeitgenössischen Realität bestätigend aufgearbeitet (vgl. u.a. Baader 1986, 73). Im vorliegenden Text De la conversation spiegelt die semantische Intention der Protagonisten in bezeichnender Weise die schriftliche Auseinandersetzung der Autorin mit der Handlungspraxis ihrer Zeit.

3„Vous avez raison, dit Cerinte.“ (Scudéry 1686, 2). „Je demeure d’accord de ce que vous dites, reprit Athis“ (ebd., 6). Der Austausch geschieht in einem handlungsorientierten Bewusstsein der inhaltlichen und formalen Wechselseitigkeit.

4Die Möglichkeit eines offenen und ungezwungenen Meinungsaustauschs spiegelt sich im Text unter anderem in den zahlreichen Empfindungsäußerungen und Erfahrungsberichten. Auffallend ist die bewusst häufige Referenz der einzelnen Teilnehmer auf die eigene Person durch Verben des Denkens oder Fühlens, sowie durch das Personalpronomen je. Beispielhaft hierfür: „Pour moy je n’en doute point du tout, reprit Celinie“ (ebd., 2); „[J]e fis hier une visite de famille, dont je fus si accablée, que j’en pensay mourir d’ennuy.“ (Ebd.); „En mon particulier, reprit la belle Athys, je me suis trouvée depuis quinze jours avec des Dames, qui, quoy qu’elles ayent de l’esprit, m’importunerent étrangement.“ (Ebd., 3).

5Zu den grundlegenden Untersuchungen der Konversationskultur in der französischen Literatur zählen vor allem die Arbeiten von Marc Fumaroli (vgl. u.a. Fumaroli 1992). Eine wichtige, historisch auf einen weiten Untersuchungszeitraum angelegte Darstellung der französischen Konversationskultur ist die Monographie von Emmanuel Godo (Godo 2003), die 2015 in einer überarbeiteten Fassung erschienen ist und nun einen Überblick über die Geschichte der Konversation vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert bietet (Godo 2015). Als einschlägige Anthologien französischer Konversationskultur sind die Arbeiten von Claudia Schmölders (Schmölders (Hg.) 1986) und Jacqueline Hellegouarc’h (Hellegouarc’h (Hg.) 1997) anzuführen.

6Die einschlägige, international rezipierte Monographie L’âge de la conversation von Benedetta Craveri kann beispielhaft für diese Forschungstendenz genannt werden (Craveri 2002). Die allgemeine thematische Neigung, die französische Konversationskultur in ihrer Idealität zu schildern, folgt deren enger Verzahnung und definitorischer Nähe zur Geselligkeitskultur. Geselligkeit als grundlegende kommunikative Interaktionsform kennzeichnet sich durch die Besonderheit ihrer auf zwanglose Wechselseitigkeit ausgerichteten Verhaltensmaßregeln. Die Beschreibungen der Traditionsgeschichte von Geselligkeit gründen vornehmlich auf die sich zeitlich verändernden, und im sozialen Kontext jeweils unterschiedlich weiter entwickelnden Normverständnisse kommunikativen Umgangs. Rezeptiv wird dadurch eine Lesart verstärkt, die vorrangig das Ideal französischer Konversationspraxis wiedergibt. Diesbezüglich können beispielhaft die soziokulturellen Arbeiten zur Geselligkeitskultur im Rahmen germanistischer Literaturwissenschaft angeführt werden. In Rückgriff auf die entwicklungsorientierte Studie zur Konversationstheorie von Karl-Heinz Göttert zeichnet beispielsweise Detlef Gaus in seiner Monographie zur Geselligkeit einen historischen Überblick der wesentlichen zeitlichen Ausprägungsformen kommunikativer Verhaltensideale für die Zeit bis ins ausgehende 18. Jahrhundert nach. Vgl. Gaus 1998, 55-61. Als einschlägige germanistische Forschung zur Geselligkeit ist zudem auf die Arbeit von Emanuel Peter zu verweisen (Peter 1999).

7Diese Darstellungen, wie in der vorhergegangenen Fußnote mit den Arbeiten von Göttert und Gaus beispielhaft benannt, schließen nicht nur verschiedene soziale Konzeptionen eines idealen Verhaltensmaßes ein, sondern verweisen insbesondere auch auf rhetorische Gesprächsideale und Regelformate, wie sie bis in die Antike zurückverfolgt werden können. Dadurch ergibt sich ein ausgesprochen weites Feld an Verhaltensidealen, auf das ich hinweisen möchte, das ich jedoch angesichts der Prämisse eines neuen Ansatzes und einer davon unabhängigen Problem- und Fragestellung nicht rekonstruieren möchte. Es ist anzumerken, dass sich die für die Analyse ausgewählten literarischen Texte aufgrund ihres Gegenstandes zwangsläufig auch in die genannte historische Linie der Konversations- und Gesprächsideale einordnen lassen, was an dieser Stelle jedoch nicht Ziel und Zweck der Arbeit sein soll und entsprechend ausgelassen wird. Die Analyse der Texte erfolgt unter der nachfolgend näher ausgeführten Zielsetzung.

8Aufgrund der Idealität ihrer Ausgestaltung besitzt die französische Salonkultur nicht nur auf nationaler Ebene einen besonderen soziokulturellen Stellenwert, sondern gilt auch auf internationaler Ebene als vorbildhaft. Die französische Geselligkeitsform erlebte ab dem 18. Jahrhundert in ganz Europa eine Welle der Nachahmung. Vgl. u.a. die Darstellungen bei Verena von der Heyden-Rynsch (Heyden-Rynsch 1992). Ausgehend von den bedeutsamen französischen Salonnièren skizziert sie die wichtigsten Salongeselligkeiten im europäischen Raum, wobei sie ein besonderes Augenmerk auf die Gestaltung des deutschen Salons richtet. Sie beruft sich vor allem auf Petra Wilhelmy, die mit ihrer Arbeit zum Berliner Salon des 19. Jahrhunderts einen wichtigen und grundlegenden Beitrag zur Entwicklung der Salonkultur außerhalb Frankreichs, für den deutschsprachigen Raum geleistet hat (Wilhelmy 1989). Zur transnationalen Entwicklung des Salons sind in den letzten Jahren unter anderem Sammelbände erschienen: So der aktuell von Rita Unfer Lukoschik herausgegebene Band zum italienischen Salon (Unfer Lukoschik (Hg.) 2008) oder allgemein der 1999 unter anderem unter der Herausgeberschaft von Robert Simanowski erschienene Forschungsband zur Internationalität des literarischen Salons.

9Die Salonnière begründet und initiiert die Geselligkeit eines Salons; sie stellt ihre privaten Räumlichkeiten für das Zusammentreffen zur Verfügung und lenkt die Konversation der Teilnehmer im Hinblick auf eine gleichberechtigte, wechselseitige Interaktion, ohne sich dabei aufgrund ihrer handlungsleitenden Funktion über die anderen Teilnehmer zu erheben. In Bezug auf die Idealität des gemeinschaftlichen Handelns kommt ihr eine Schlüsselrolle zu, die sich jedoch in der konsensuellen Übereinkunft aller Beteiligten verliert. Vgl. diesbezüglich auch die einschlägigen Definitionen von Salon u.a. bei Unfer Lukoschik (Hg.) (2008), Wilhelmy (1989) oder auch Seibert (1993). Als Anschauungsbeispiel wäre bezüglich der funktionalen Stellung der Salonnière auch auf die einleitend angeführte Textstelle zu verweisen: Die Protagonistin Cilenie könnte als Salonnière bezeichnet werden. Sie fällt aufgrund ihrer den Austausch inhaltlich anleitenden Fragestellungen und Kommentare auf, gleichzeitig gliedert sie sich in die Konversation ein, wobei ihre Rede anteilig keinesfalls die der Anderen übertrifft oder inhaltlich deren Beiträge schmälert. Vgl. Scudéry 1686. Bezüglich der gleichberechtigten Interaktion aller Teilnehmer einer Salongeselligkeit vgl. auch die Ausführung zur Salonnière an späterer Stelle in Kapitel 3.1, Fußnote 18.

10Diese erste Definition des französischen Salons dient einer einführenden, allgemeinen Beschreibung und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Abgesehen von Frühformen kommunikativer Geselligkeit gilt der Salon – Le Chambre bleu – der Madame de Rambouillet (1588-1665) als vorbildhafter Prototyp der Funktionsweise französischer Salongeselligkeit. Zur Salongeselligkeit der Madame de Rambouillet vgl. u.a. Picard 1943, 26-41.

11Rita Unfer Lukoschik fasst in dem von ihr herausgegebenen, aktuellen Sammelband zum italienischen Salon in übersichtlicher Prägnanz die wichtigsten bisherigen Forschungsarbeiten und Ansätze der allgemeinen Forschung zur Salonkultur zusammen (vgl. Unfer Lukoschik (Hg.) 2008, 9-12). Als ein älterer, jedoch grundlegender Beitrag zur französischen Salonkultur ist die Arbeit von Pierre Picard zu nennen. In seinem Werk gibt er mit besonderem Augenmerk auf die gesellschaftliche Bedeutung der Geselligkeitsform einen detaillierten Einblick in das Geschehen der angesehensten Pariser Salons für den Zeitraum von 1610 bis 1789 (Picard 1943). Als eine weitere einschlägige Arbeit gilt darüber hinaus die Monographie von Marguerite Glotz und Madeleine Maire zum Pariser Salon des 18. Jahrhunderts (Glotz u.a. 1949). Als zentrale, aktuelle Arbeit, die allgemein den französischen Salon in den Blick nimmt, ist insbesondere der Band L’âge de la conversation von Benedetta Craveri anzuführen (Craveri 2002).

12In der neueren Forschung wurde vor allem die Salonkultur des 18. Jahrhunderts vor dem Hintergrund der Wandlungsprozesse in Kultur und Gesellschaft Frankreichs dieser Zeit betrachtet. Der Anteil des Salons an den im Zuge der Aufklärung angestoßenen sozialen und bildungsgeschichtlichen Veränderungen ist in zahlreichen Studien transdisziplinär analysiert worden. Als zentrale kulturwissenschaftliche Untersuchungen sind insbesondere die Beiträge der Autoren Dena Goodman, die den Salon im geschlechterspezifischen Diskurs der Weiblichkeit untersucht (Goodmann 1989 und 1994), sowie Daniel Gordon oder auch Jürgen Habermas zu nennen. Letztere betrachten den Salon im Zuge ihrer Untersuchungen von Formen der Soziabilität und Gesellschaftsbildung (Habermas 1994 und Gordon 1990). Weitere einschlägige soziokulturelle Arbeiten zum französischen Salon des 18. Jahrhunderts stammen von Benedetta Craveri (Craveri 1999), Jacqueline Hellegouarc’h (Hellegouarc’h 2000), Steven Kale (Kale 2004) sowie Antoine Lilti (Lilti 2005). Aktuelle Einzelstudien zum französischen Salon des 19. Jahrhunderts fehlen bisher. Vielmehr stoßen die Ursprünge der Geselligkeitsform des 17. Jahrhunderts vermehrt auf ein wachsendes soziokulturelles Forschungsinteresse (Beasley 2006 und Bung 2013).

13Auf diese Problematik verweist unter anderem auch Peter Seibert, der seiner Arbeit zum Literarischen Salon einen einschlägigen Forschungs- und Quellenüberblick vorangestellt hat (vgl. Seibert 1993, 161).

14Michel de Montaigne (1533-1592) gilt als nachweislicher Ideengeber jener neuzeitlichen Moralistik, welche den „gewöhnlichen Mensch“ (Friedrich 21967, 137) in den Mittelpunkt der literarischen Beschreibungen stellt. Montaigne legt seinen Beobachtungen eine vorbildhafte Skepsis zugrunde, die sich der „Selbstgewißheit der Vernunft in jeglicher Form“ (ebd., 94) entgegenstellt und sich durch eine Offenheit mit dem Ziel kritischer Prüfung und Erschließung der natürlich gegebenen Tatsachen kennzeichnet. In moralphilosophischer Anlehnung und Anwendung des antiken Skeptizismus dringt er auf eine neugierig ergründende Sachlichkeit, wobei er die Abgründe des Menschen nicht zur Zielscheibe von Belehrungen macht, sondern in seinen Essais den Möglichkeitsraum zu einer erforschenden Anerkennung eröffnet.

15Mit der Arbeit Montaignes gibt sich die allgemein renaissance-humanistische Tradition französischer Moralistik zu erkennen. Darüber hinaus muss für die Autoren in der Nachfolge Montaignes auch ein christlich-religiöser Einfluss bei der Formulierung und Vermittlung sittlicher Menschenkunde angemerkt werden, der auf die theologische Lehre der Erbsünde gründet, welche im 17. Jahrhundert im Jansenismus eine ideengeschichtliche Erneuerung findet.

16Das Menschenbild der Moralisten gründet neben den theoretischen Konzeptionen antiker Moralphilosophie und religiöser Tradition vor allem auch auf den zeitgenössischen gesellschaftlichen Erfahrungshorizont der Autoren.

17So deutet Karlheinz Stierle diese Dialektik im Verweis auf das literarische Werk La Rochefoucaulds an. „La Rochefoucaulds Maximen und Reflexionen haben als ihren Boden die Gesprächskultur des Salons. Aber diese Gesprächskultur ist schon eine Kultur der Reflexion: der prüfenden, urteilenden Rückwendung der Sprache auf die Sprache selbst. Die Kunstform erfasst diese Tendenz und stellt sie rein dar, indem sie ihren Gegenstand rein darstellt“ (Stierle 1985a, 96). Während Stierle vor allem den besonderen sprachlichen Aspekt für das Zusammenwirken von literarischem Text und sozialer Handlungspraxis des Salons hervorhebt, erörtert Louis van Delft beispielhaft den allgemeinen Bedeutungswert und die sozialen Dimensionen des literarischen Schaffens La Rochefoucaulds (Vgl. Van Delft 1982, 150ff.).

18Es ist anzumerken, dass sowohl das Erklärungspotential der Salonkonversation für die Arbeit der Moralisten, als auch die besondere Bedeutung ihrer Texte für das Verständnis der dortigen Handlung noch unzureichend aufgearbeitet worden ist. Studien, die allgemein den literarischen Salon untersuchen, erwähnen zwar die Teilnahme moralistischer Autoren und verweisen allgemein auf den Anteil, den deren Arbeit an der inhaltlichen Ausgestaltung der Salonkonversationen hat. So verkehrte beispielsweise La Rochefoucauld nachweislich im Salon der Madame de Rambouillet. Bezüglich der Präsenz und der Teilhabe literarischer Autoren im Salon der Madame de Rambouillet vgl. Picard 1943, 32-38. Die Forschung zur Moralistik hat diesbezüglich, wie in Fußnote 17 dieses Kapitels bereits angedeutet, zumindest erste Annäherung unternommen; von einer tiefergehenden sachlichen Aufarbeitung dieser Bezüge, wie es die vorliegende Analyse anstrebt, kann jedoch bisher nicht gesprochen werden.

19Der analytische Gegenstand des Salons unterstreicht den hier gewählten methodischen Zugang, die Moralistik des 17. Jahrhunderts ausdrücklich in ihrer weltzugewandten Textintention herauszugreifen. Während die durch den Jansenismus beeinflusste Anthropologie, aufbauend auf die augustinische Lehre, eine Errettung des Menschen von seinen Sünden nur durch ein göttliches Eingreifen als möglich, folglich als aussichtslos und vergeblich ansieht, lässt sich bei Autoren, wie La Rochefoucauld neben dem religiösen Einfluss vor allem auch eine säkulare Vermittlungsstrategie nachweisen, wonach dem Menschen die Gründe seiner Moralunfähigkeit aufgezeigt und entsprechend nutzbar gemacht werden. So bestärkt meine Herangehensweise, gerade im Bewusstsein der Texttradition der Moralistik, die nachweisbare Entwicklungstendenz einer inhaltlich problemorientierten Zuwendung der Autoren zur Welt und zum Menschen.

20An dieser Stelle ist abschließend nochmals zu betonen, dass mit diesen Dynamiken nicht auf konkrete inhaltliche oder sprachliche Aspekte verwiesen, sondern das Verhaltensideal hinsichtlich seines Diskurses kritisch hinterfragt wird. Analytischer Ausgangspunkt ist dabei allein der moralistische Text. Da die negative Anthropologie kaum positive Handlungsnormen formuliert, neigt sie dazu, Kataloge von Fallbeispielen falschen Verhaltens aufzustellen und zu typisieren, wie zum Beispiel in den bekannten Caractères