KOPFLOS IM KURHOTEL - Christina Unger - E-Book

KOPFLOS IM KURHOTEL E-Book

Christina Unger

0,0

Beschreibung

Auf der steirischen Bio-und-Wellness-Alm ist die Hölle los: Im besten Kurhotel der Region geht ein Serienmörder um und köpft scheinbar beliebig Kurgäste. Nun liegt es an Chefinspektor Arcan Yilmaz und seiner jungen Kollegin Pauline Wenzel, in einem Biotop von Egozentrikern, in dem mit der Zeit jeder jeden verdächtigt, nach einem Mörder zu fischen. Nur der vierundachtzigjährige Opa Lutz scheint als einziger den Durchblick zu behalten – und seinen Kopf ...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 302

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Kopflos im Kurhotel

Regionalkrimi aus Österreich

Der Jäger war auch das gejagte Wild. Und der Gläubige war auch der Jäger.

Impressum

überarbeitete Ausgabe Copyright Gesamtausgabe © 2024 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2024) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-469-2

Folge dem LUZIFER Verlag auf Facebook

Für weitere spannende Bücher besuchen Sie bitte 

unsere Verlagsseite unter luzifer-verlag.de

Sollte es trotz sorgfältiger Erstellung bei diesem E-Book ein technisches Problem auf deinem Lesegerät geben, so freuen wir uns, wenn du uns dies per Mail an [email protected] meldest und das Problem kurz schilderst. Wir kümmern uns selbstverständlich umgehend um dein Anliegen und senden dir kostenlos einen korrigierten Titel.

Der LUZIFER Verlag verzichtet auf hartes DRM. Wir arbeiten mit einer modernen Wasserzeichen-Markierung in unseren digitalen Produkten, welche dir keine technischen Hürden aufbürdet und ein bestmögliches Leseerlebnis erlaubt. Das illegale Kopieren dieses E-Books ist nicht erlaubt. Zuwiderhandlungen werden mithilfe der digitalen Signatur strafrechtlich verfolgt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

Kopflos im Kurhotel
Impressum
Ein sonniger Vormittag im Mai …
Die Bio-und-Wellness-Alm
Walter Schneider lernt das Fürchten
Die schreckliche Wahrheit
Jeder ist ein Chefinspektor
Die Neuen
Die Wette
Margot Kitzler
Auf der Straußenfarm
Johannes
Der Chefinspektor
Die Obrigkeit
Beckenbodentraining
Im Bärenwald
Wo ist Linda Busch?
Schorsch
Pauline
Der Gärtner war‘s
In der Sauna
Der Tod rückt näher
Die Jagd beginnt
Das Verhör
Stefan Kamiscynski
Die verdeckte Ermittlerin
Daphne Thompson
Die Versuchung
Die Ermittlungen gehen weiter
Endlich Regen
Das Finale
Der Mörder
Opa
Schmerzliche Abfuhr
Ein Teufelsgeschenk
Über die Autorin

Ein sonniger Vormittag im Mai …

»Hoarschoarf danebn, den Higl aufe und zwoa Mal ums Eck.«

Der Mann im weißen Mercedes mit dem Dresdner Kennzeichen betrachtete durch das Seitenfenster stirnrunzelnd den Einheimischen mit Filzhut, der auf einem ratternden Traktor saß. Er konnte dreißig Jahre alt sein, würde aber auch als Hundertjähriger durchgehen.

»Kannst du das mal googeln, Ilse?«, raunte er seiner Frau zu.

Ilse rollte als Antwort nur mit den Augen.

Der Mann versuchte nochmals sein Glück. »Wir suchen die Bio-und-Wellness-Alm …«

»Seids derrisch? Foahrts oafoch weida den Higl aufe …«

»Fahr weiter, Hans-Jürgen«, drängte Ilse, »das hat doch keinen Sinn. Wir kehren um und fragen uns im Ort durch.«

Hans-Jürgen hob höflich den Arm zum Gruß in Richtung Traktor und fuhr an. Dabei verkuppelte er sich, der Wagen zuckelte und hoppelte den Berg hinauf, und Ilse verdrehte wieder die Augen. Die Straße wurde immer enger, dafür gab es viel Grün rundherum, sonst aber nichts.

»Wo sind wir denn hier gelandet?«, murmelte er mehr zu sich selbst, als zu seiner Frau, die bereits ziemlich gereizt neben ihm saß.

Bitte wenden Sie jetzt.

Hans-Jürgens Zorn richtete sich gegen die Stimme im Navi. »Und wie stellst du dir das vor?«, blaffte er die Unsichtbare an. »Hier könnte ich nicht wenden, selbst wenn ich auf einem Pferd säße.«

»Jetzt übertreibe nicht! Dort oben gibt es eine Umkehrmöglichkeit.« Ilse wies auf eine Ausbuchtung in der Straße.

Hans-Jürgen beschleunigte mit quietschenden Reifen, dass der Straßenschotter nur so um den Wagen herumflog. Oben knallte er den Rückwärtsgang rein und fuhr zurück. Seine Frau schrie auf: »Wir stürzen ab! Siehst du nicht den Abgrund?«

»Lass mich nur machen.« Hans-Jürgen wendete und stand wenig später in entgegengesetzter Fahrtrichtung. Vorsichtig fuhren sie den Berg ein Stück weit hinunter und Ilse seufzte erleichtert. »Im Ort wird uns sicher jemand den Weg sagen können!«

Sie haben Ihr Ziel erreicht.

Hans-Jürgen legte eine Vollbremsung hin, dass das Heck des Mercedes ausschlug und der Motor abstarb. Verdutzt blickten die Eheleute sich um. Was ihnen entgegenblickte, war eine Herde Mutterkühe auf einer saftigen Wiese. Viel Bio. Aber wo war das Hotel? Rechts von ihnen wuchs ein Mischwald, dicht und dunkelgrün, gesprenkelt mit hellgrünen Blättern. Die Sonne verbarg sich noch hinter den Baumkronen. Schon der Vormittag war sehr warm, es würde wieder ein heißer Tag werden.

In die plötzliche Grabesstille hinein fragte Ilse spöttisch: »Hast du einen Campingurlaub gebucht?«

Hans-Jürgen antwortete erst gar nicht auf diese Stichelei seiner Frau. Die Klimaanlage, die einwandfrei funktioniert hatte, bevor er den Wagen zum Service brachte, hatte ausgerechnet heute ihren Geist aufgegeben. Sein Hemd war durchgeschwitzt. Er fuhr sich über die kahle Stelle auf seinem Vorderkopf. »Und was jetzt?«

»Du weißt doch immer alles besser! Schlage was vor.«

Wenige Meter vor ihnen führte eine kleine Forststraße in den Wald. »Ob das Navi diese Straße meint?«

»Kann ich mir nicht vorstellen.«

»Der Traktor muss auch hier abgebogen sein, da wir ihm nicht mehr begegnet sind.«

»Der hatte ganz sicher nicht dasselbe Ziel. Der fuhr auf seinen Bauernhof. Wir sollten kein Experiment wagen und in den Ort zurückfahren.«

»Wir könnten es wenigstens versuchen, vielleicht liegt das Hotel ja gleich hinter dem Wäldchen.«

»Das glaube ich nicht, man hat uns schließlich eine tolle Aussicht versprochen. Aber bitte sehr, wenn du dem Navi mehr Glauben schenkst als mir …«

»Was soll schon schiefgehen?«

»Dass wir im Wald steckenbleiben, zum Beispiel?«

»Du denkst immer so negativ! Wir haben das Ziel erreicht, also kann das Hotel auch nicht mehr weit sein.«

»Ruf die dort an und sag ihnen, wo wir sind. Vielleicht können sie uns hinlotsen.«

»Und wo sind wir?«

»An einer Weggabelung.«

»Und wie beschreibt man eine Weggabelung inmitten vom Nichts? Wir finden das Hotel auch so, die denken am Ende noch, wir sind total blöd.«

»Sind wir doch!«

Hans-Jürgen ließ den Motor an, lenkte den Mercedes vorsichtig auf die schmale unbefestigte Straße und nach dreihundert Metern saß er auf einem Wurzelstock fest. Die Bodenplatte scharrte und knarrte und das Geräusch schmerzte ihn beinahe so, als hätte er sich selbst wehgetan.

Seine Frau schimpfte. »Klasse hast du das hinbekommen!«

Am liebsten hätte er jetzt geweint, aber Männer weinten nicht. Er stieg aus, um den Schaden zu begutachten und nachzudenken. Ilse blieb im Wagen sitzen, denn mit ihren High Heels wäre sie ohnehin nur im Waldboden versunken. Hans-Jürgen ließ seine Augen schweifen.

Es war still. Sehr still. Unheimlich still.

Er beschloss, sich zu Fuß auf den Weg ins Hotel zu machen. Dort würde er einen Abschleppdienst organisieren und seinen Mercedes mitsamt seiner Frau aus ihrer misslichen Lage befreien. Er ging um den Wagen herum und klopfte ans Seitenfenster. Ilse ließ die Scheibe herunter. Wenn Blicke töten könnten, wäre Hans-Jürgen jetzt ein toter Mann.

»Schatz …« Er sagte immer dann Schatz, wenn er ein schlechtes Gewissen hatte. »Ich lauf mal vor und sehe nach, wie weit es noch zum Hotel ist. Ich bin bald wieder zurück.«

»Ist dir nichts aufgefallen?«

»Was denn?«

»Dass es an der Kreuzung kein einziges Hinweisschild gab. Ein so großes Hotel hat Hinweisschilder und üblicherweise eine bequem erreichbare Zufahrtsstraße.«

»Wahrscheinlich haben wir unfreiwillig eine Abkürzung genommen oder zufällig einen Schleichweg gefunden. Alles wird gut, du wirst sehen …« Er verzog den Mund zu einem optimistischen Grinsen, das eher wie eine weinerliche Grimasse rüberkam.

»Ich habe Angst allein!«

»Ach was! Wir sind im Steirischen, mitten im schönen Österreich. Schau nur, wie freundlich die Sonnenstrahlen durch die Blätter funkeln und wie lieblich die Vögel zwitschern. Es ist doch traumhaft schön hier.«

»Mir ist unheimlich!«

»Nicht doch, Schatz, spätestens um zwölf Uhr sitzen wir am Mittagstisch und lassen es uns gut gehen. Ab jetzt beginnt unser Wohlfühlurlaub. Denk daran, während ich weg bin. Küsschen!«

»Arschloch!«

Hans-Jürgen überhörte diese unfreundliche Verabschiedung und stapfte davon. Nach wenigen Minuten degenerierte die Straße zu einem Weg und schließlich zu einem Pfad. Hier kommt nicht einmal ein Traktor durch, dachte er bange und hielt im Gehen inne. Diesen Weg weiterzuverfolgen war sinnlos, wenn nicht gar fahrlässig. Er musste zurück an den Ausgangspunkt und an der Straße auf jemanden warten, der ihn und seine Frau mitnahm. Hier gab es kein Hotel, so viel war sicher.

Auf einen Baum gepinselt erkannte er eine grünweiße Markierung und schloss daraus, dass hier ein Wanderweg durchgehen müsste, aber das half ihm in seiner Lage nicht weiter. Vor einem Bildstock mit einer weinenden Muttergottes, die ihr Jesuskind im Arm hielt, blieb er kurz stehen, denn zum Weinen war ihm gerade so richtig zumute. Von Gewissensbissen geplagt, kehrte er um.

Hinter einer Kurve sah er endlich den weißen Mercedes stehen, etwas windschief, wo er auf dem Wurzelstock aufsaß. Der größte Teil des Wagens lag im Schatten, nur auf der Motorhaube hatte sich ein einzelner Sonnenstrahl niedergelassen. Er wappnete sich für das, was nun kam: Zeter und Mordio von Ilse! Ob sie immer noch im Wagen saß oder so schlau gewesen war, ihre Freizeitschuhe aus dem Koffer zu holen und draußen die frische Waldluft einzuatmen?

Als er näherkam, sah er, dass sie den Wagen nicht verlassen hatte. Er erkannte ihre Gestalt hinter der Windschutzscheibe und stählte sich gegen den verbalen Kugelhagel seiner Frau.

Als er nähertrat, stutzte er. Ilses Kopf war seitlich nach hinten gekippt und ruhte auf der Kopfstütze. Ihr war langweilig geworden und sie machte ein Nickerchen. Auch gut. Aber jetzt musste er sie wecken und Farbe bekennen. Er öffnete die Fahrertür und stieg ein.

»Schatz, du hattest recht …« Er drehte den Kopf in ihre Richtung. Was er dann sah, ließ das Blut in seinen Adern gefrieren. Der Hals seiner Frau war von einem Ohr zum anderen aufgeschlitzt. Ihre erst kürzlich erstandene Sommerbluse war rot getränkt und eine Blutlache hatte sich unter dem Beifahrersitz gebildet. Hans-Jürgen wurde so weiß wie der Lack seines Mercedes. Ein Brechreiz überwältigte ihn und er taumelte ins Freie. Dort sank er auf die Knie und würgte solange, bis er sich endlich übergeben konnte. Noch im Knien blitzte über ihm eine silberne Schneide auf, surrte auf ihn herab und trennte mit einem glatten Schnitt den Kopf von seinen Schultern. Der Kopf rollte unter den Wagen, und noch im Rollen trug Hans-Jürgen das Grauen des Augenblicks auf seinem Gesicht.

Die Bio-und-Wellness-Alm

Die Bio-und-Wellness-Alm thronte auf einem sanften Hügel wie eine moderne Burg. Umgeben von den Obstgärten und Weinbergen der Südsteiermark erwartete den Gast ein Vier-Sterne-Hotel mit einem großen Panoramapool und einer fantastischen Aussicht. In der Ferne konnte man das Massiv des Hochwechselgebirges erkennen. Da der Winter bis in den April hinein gedauert hatte, funkelte auf einzelnen Bergkuppen noch immer Schnee. Eine Übergangszeit gab es längst keine mehr – vom Winter direkt in den Sommer.

Das Hotel warb mit Bio- und Vollwertkost sowie der Zusicherung: Wir sprechen Ihre Sprache – was immer das heißen mochte. Die zahlreichen Gäste kamen aus dem In- und Ausland, und jene, die sich die sündteuren Preise leisten konnten, quartierten sich gleich für mehrere nachhaltige Wochen ein. Das Hotel beherbergte jedoch auch solche Kurgäste, die von ihren Krankenkassen geschickt worden waren und einen lächerlich kleinen Anteil zu ihrem Aufenthalt zuschießen mussten. Das sorgte öfters für böses Blut zwischen den privaten Gästen und den anderen.

Samstag war An- und Abreisetag, und heute war wieder Samstag. Familie Schneider aus Wien rückte bereits um neun Uhr mit vier Personen an: Opa Lutz, Sohn Walter, Schwiegertochter Beate und Enkel Tommy. Opa stützte sich neuerdings auf einen Rollator, den ihm seine Schwiegertochter vor der Abreise gekauft hatte, damit er während seines Aufenthalts unabhängiger von ihrer Hilfe war. Ihre Zimmer lagen deshalb auch im Erdgeschoss und Opa teilte sich seines mit Tommy.

Sein Enkel mit dem blonden Wuschelhaar und den strahlend blauen Augen sah seinen Eltern gar nicht ähnlich, die beide braune Augen und brünette Haare hatten, wenn auch jetzt schon ein wenig angegraut. Sein Aussehen hatte Tommy eindeutig von Opa geerbt, als dieser jung gewesen war – also noch während des Dreißigjährigen Krieges, wie Tommy gern scherzte, der Geschichte studierte. Er liebte seinen Opa, denn Opa machte bei jedem Blödsinn mit. Im Gegensatz zu seinen Eltern war es Tommy nämlich komplett wurscht, ob Opa sich daneben benahm, obszöne Ausdrücke gebrauchte, sich vollkleckerte, in die Hose pinkelte oder heimlich rauchte. Opa seinerseits war es völlig wurscht, ob Tommy mit seinen fünfundzwanzig Jahren noch weitere zehn Jahre auf Kosten seiner Eltern studierte, mehr Zeit mit dem Smartphone verbrachte als im Hörsaal, sich ab und zu einen Joint genehmigte und die Freundinnen wechselte wie andere die Unterwäsche – Opa und Tommy waren ein zusammengeschweißtes Gespann.

In Wien teilte sich die Familie ein Einfamilienhaus in Döbling. »Drei Generationen unter einem Dach ist einfach nicht gut«, hatte Beate in der Vergangenheit immer wieder zu Walter gesagt. »Noch dazu mit einem Vater wie dem deinigen.«

»Ich kümmere mich wenigstens um meinen Vater!«, hatte Walter daraufhin immer geantwortet und auf Beates Vater angespielt, den sie längst an ein Seniorenheim losgeworden war. Beate hingegen empfand es als Zumutung, sich mit dem alten Herrn sogar im Urlaub zu belasten.

»Stell dir vor, ich würde auch noch meinen Vater pflegen müssen! Dann hätte ich zwei senile Witwer am Hals. Du bist damit ja nicht belastet. Du gehst am Morgen aus dem Haus und abends, wenn du heimkommst, liegt Opa gefüttert und gewindelt in seinem Bett. Zusätzlich habe ich noch deinen faulen Sohn zu versorgen …«

»Unseren Sohn! Außerdem lebt ihr von meinem Geld«, betonte Walter, der seine Brötchen in einem großen Versicherungsunternehmen verdiente. »Da kann ich auch ein wenig Engagement erwarten.«

Walter, der Ernährer! Wer das Geld heimbrachte, schaffte an. Dass sie ihre Arbeit in einer Anwaltskanzlei aufgegeben hatte, um für seinen Vater zu sorgen, sah er als selbstverständlich an, denn Walter war noch ein Überbleibsel aus einer Zeit, wo Frauen am Herd ihre Erfüllung fanden, und das, obwohl er mit seinen neunundvierzig Jahren noch gar nicht so alt war. Sie kannte weitaus ältere Männer, die moderner dachten. Die Rolle als Familienoberhaupt aber nahm in seinem Leben so viel Platz ein, dass er die Rolle als Ehemann und Liebhaber längst verdrängt hatte. Erotik und Sex kannte Beate nur noch aus den Frauenzeitschriften beim Friseur oder aus der Erinnerung. Und die verblasste mit jedem Jahr mehr. Selbst Opa hatte für Erotik und Sex mehr übrig, wenn man ihm manchmal so zuhörte. Und obwohl sein Gebrabbel für die Anwesenden meist mehr peinlich als amüsant war, merkte man deutlich, dass in diesem alten Körper noch jede Menge Leben steckte. In Walters Körper hingegen steckte außer der Frage nach dem Stand seiner Aktien nur noch die Frage, was es heute zu essen gab.

Nach dem Einchecken begann Familie Schneider damit, sich einzuquartieren. Auf einem lichtdurchfluteten Flur mit Ausblick auf die sanften Hügel des Umlands gelangten sie auf einem roten Teppichläufer zu ihren Zimmern. Beate und Walter schleppten die vier Koffer und acht Reisetaschen in mehreren Etappen, Tommy trug Opas Rollator und Opa trug sich selbst. Nachdem Opa die Größe des Zimmers bemängelt hatte, Beate erst mal eine Verschnaufpause einlegen musste und Tommy mit dem Telefonieren fertig war, versammelte sich die Familie Punkt zwölf Uhr um den Mittagstisch im ersten Stock.

Es gab noch einen Speisesaal im Erdgeschoss, aber dort saßen, wenn es sich einrichten ließ, fein getrennt von den zahlenden Gästen, die Kassenpatienten gemeinsam mit den Schnuppergästen, die nur ein bis drei Tage blieben. Vom oberen Speisesaal aber mit acht raumhohen Rundfenstern hinter zarten cremefarbenen Vorhängen, durch die eine frische Brise hereinwehte, hatte man die beste Aussicht auf die steirische Landschaft mit den saftigen Obst- und Weingärten, gesprenkelt mit einzelnen Gehöften. Ein leises Raunen der rund siebzig Gäste, die sich für das Mittagessen fein herausgeputzt hatten, erfüllte den Raum.

Da im Mai Hochbetrieb herrschte, musste Familie Schneider den Tisch mit zwei wildfremden Personen teilen, worüber sich Walter beim Restaurantmanager heimlich beschweren ging. Er hatte gedacht, die Familie würde unter sich bleiben. Der Restaurantmanager bedauerte, aber es müsse diesmal eine Ausnahme gemacht werden, außerdem wollten die beiden Damen nächste Woche abreisen, und sie seien doch sehr sympathisch.

»Das wird sich erst noch herausstellen!« Mit diesen Worten kehrte Walter an den Tisch zurück, wo bereits die Vorspeise serviert worden war. Es gab Rohkost mit Joghurtdressing, spärlich garniert mit Dinkelkörnern.

»Von Rohkost krieg ich Blähungen«, kündigte Opa an.

Beate warf ihm einen stummen, aber warnenden Blick zu. Sie wusste nur zu gut, wie es sich anhörte, wenn es in seiner Hose krachte. Zu Hause war es unangenehm genug, aber vor diesen fremden Leuten!

»Lass die Rohkost lieber stehen«, riet sie ihm daher im Befehlston und schob den Teller außerhalb seiner Reichweite.

»Wenn’s Arscherl brummt, ist‘s Herzerl g‘sund!«, krähte Opa.

»Entschuldigen Sie bitte meinen Schwiegervater«, bat Beate mit einem verlegenen Lächeln ihre beiden Tischnachbarinnen. »Übrigens – ich bin Beate Schneider.«

»Professor Dr. Gloria Rosenblatt«, stellte sich die Ältere vor.

»Margot Kitzler«, schloss sich die Jüngere an.

Tommy prustete und wurde hochrot im Gesicht. Walter, der seinem Sohn gegenübersaß, verpasste ihm unter dem Tisch einen Tritt gegen das Schienbein.

»Ich bin Walter Schneider.« Er legte seinen Arm um Opa. »Das ist mein Vater, Lutz Schneider. Und Tommy, unser Sohn.«

»Schön, dass Sie Ihren Vater mitgenommen haben«, lobte Frau Professor Rosenblatt. »Heutzutage wird unsere ältere Generation viel zu oft vernachlässigt. Abgeschoben in irgendein Heim, wo man dann auf den Tod wartet.«

»Ich bin noch lange nicht tot!«, triumphierte Opa, nahm seine Hosenträger zwischen Daumen und Zeigefinger und ließ sie schnalzen.

»Ich habe auch nicht Sie gemeint!« Frau Professor Rosenblatt lächelte milde. »Sie haben ja eine Familie, die für Sie sorgt, Sie Glückspilz!«

»Wie lange wollen Sie bleiben?«, erkundigte sich Margot Kitzler, eine Frau Anfang vierzig mit der Gestalt einer Aphrodite – üppiger Busen, gebärfreudiges Becken, schmale Taille – und einem Gesicht, so gesund und rotbäckig, wie ein frisch gepflückter Apfel. Ihre gekrausten Haare von undefinierbarer Farbe trug sie zu einem seitlichen Zopf geflochten.

»Wir bleiben drei Wochen«, antwortete Beate, »und ich hoffe, wir erholen uns gut.«

»Das werden Sie bestimmt«, zeigte sich Professor Rosenblatt optimistisch.

Walter schätzte die Frau Professor auf Mitte sechzig, aber mit der Figur einer jungen Frau. Das naturgraue Haar trug sie als schicken Kurzhaarschnitt und ihr pinkfarbenes Tankshirt zu den knallorangenen Leggings wies sie als eine jener Frauen aus, die nicht alt werden wollten. Ihr Gesicht mit der randlosen Brille glich einem etwas runzeligen Smiley, da ihre Mundwinkel stets nach oben zeigten, was ihr einen lustigen Ausdruck verlieh. Doch der Eindruck sollte täuschen.

»Sie reisen nächste Woche ab, hat mir der Restaurantmanager verraten?«, wollte Walter auf Nummer sicher gehen. »Das finde ich aber sehr schade, nun, da wir uns gerade erst kennengelernt …«

»Ich habe verlängert!«

»Was Sie nicht sagen!«

»Ich auch!«, freute sich Margot Kitzler. »Das Essen hier tut mir so gut! Und diese vielen Anwendungen, einfach ein Genuss. Wenn auch nicht ganz billig.«

Das konnte ja heiter werden. Walter sah sich nach dem Kellner um, damit dieser endlich abräumte, weil Opa sich seine Rohkost wiederholt unter den Nagel reißen wollte.

»Nicht ganz billig?« Professor Rosenblatt hob eine Augenbraue und bedachte Frau Kitzler mit einem geringschätzigen Schniefen ihrer Nase. »Ihnen kostet doch der ganze Aufenthalt fast nix! Sie sind ja von der Kasse hergeschickt worden, soviel ich weiß.«

»Nur keinen Neid, bitte!«, schnappte Frau Kitzler zurück.

»Ich bin Ihnen gar nichts neidig, ich sage bloß.«

»Die Verlängerung muss ich mir selber bezahlen, wenn Sie es genau wissen wollen. Das zahlt die Kasse nicht.«

»Vier Wochen um den Preis von einer! Kein Wunder, wenn unsere Krankenkassen aus dem letzten Loch pfeifen.«

»Ihre Beamtenversicherung kriegt vom Staat am meisten Zuschuss!«, wollte Frau Kitzler das letzte Wort behalten.

Beate, die eine harmoniebedürftige Frau war, empfand den Disput als unangenehm und auch nicht angebracht, denn schließlich kannten sie sich kaum. Aber Frau Kitzler und die Frau Professor dürften schon mehrere Scharmützel dieser Art ausgetragen haben, so wie sie miteinander umgingen.

»Welche Studienfächer unterrichten Sie denn?«, fragte Beate die Frau Professor Rosenblatt, um dem Gespräch eine Wendung zu geben.

»Ich habe in Wien Geografie und Germanistik unterrichtet«, freute sich diese über das Interesse. »Aber ich bin schon in Pension, ich bin ja weit über sechzig.«

»Das sieht man Ihnen gar nicht an«, bemerkte Beate höflich. »Ich hatte auch mal ein Studium angefangen«, erzählte sie. »Rechtswissenschaften. Aber dann habe ich meinen Mann kennengelernt, kurz darauf kam Sabine, Tommys ältere Schwester. Na ja, Sie wissen sicher auch, wie das so läuft bei uns Frauen.«

»Ich habe keine Kinder, dafür bin ich in meinem Beruf voll und ganz aufgegangen!«, trumpfte Frau Professor Rosenblatt auf.

Voll Neid im Herzen musterte Beate ihr Gegenüber. Eine selbstständige unabhängige Frau, die ihr eigenes Geld verdient hatte und heute ihre sicherlich schöne Pension mit niemandem teilen musste.

»Beneidenswert«, seufzte sie.

Da die Frauen am Tisch mit ihrer ehrlichen Meinung nicht hinterm Berg hielten, erlaubte sich Walter ebenfalls eine Bemerkung. »Gerade du brauchst dich nicht zu beschweren!«, sagte er zu seiner Gemahlin. »Seit du geheiratet hast, wird für dich gesorgt.«

Noch ehe Beate etwas entgegnen konnte, fiel ihr Opa in den Rücken: »Ein eigener Herd, ein braves Weib ist Gold und Perlen wert.«

Tommy, der dem Gespräch nur mit halbem Ohr zugehört hatte, gluckste leise. Die anderen ignorierten Opas Kommentar, bis auf Frau Kitzler, die meinte: »Im Gegensatz zu Frau Professor Rosenblatt habe ich eine eigene Familie stets vermisst.«

Walter freute diese Einstellung, die ganz seiner entsprach, musste aber mit der Antwort warten, denn der Kellner servierte die Hauptspeise. Es gab Okragemüse über Vollkornnudeln. Schockiert studierte er den weißen Porzellanteller mit den dunkelbraunen Nudeln, die er an den Fingern einer Hand hätte abzählen können. Rinderbraten oder Schweinemedaillons als Alternative zum vegetarischen Futter würde es hoffentlich dann am Abend geben.

Als der Kellner fort war, knüpfte er an das Gespräch an und wollte von Frau Kitzler wissen: »Wie war das mit der Familie, die Sie nie hatten?«

Diese seufzte. »Leider hat sich in meinem bisherigen Leben eine eigene Familie nicht ergeben. Immer nur arbeiten, kaum Zeit, auszugehen … und heute bin ich zu alt.«

»Sie sind doch nicht alt!«, widersprach Walter heftig.

»Für Kinder schon.«

»Aber nicht für einen liebenden Ehemann.«

»Und woher nehmen, wenn nicht stehlen?«

Darauf wusste Walter auch keine Antwort, denn er und Beate hatten sich in einer Disco kennengelernt und gleich darauf geheiratet, da waren sie beide gerade um die zwanzig gewesen. Wie man heutzutage jemanden kennenlernte, darüber konnte er am allerwenigsten Auskunft geben.

»Wie wäre es mit einer Anzeige bei der Singlebörse?«, schlug Tommy vor. »Das machen heute viele in Ihrem Alter.«

»Tommy!«, tadelte Beate ihren Sohn mit unterdrückter Stimme. »Verzeihen Sie bitte … die Jugend! Redet halt, wie ihr der Schnabel gewachsen ist.«

»Ich will doch nicht irgendeinen Mann!«, empörte sich Frau Kitzler. »Aber Sie, mit Ihren zwanzig Jahren, haben natürlich leicht reden!«

»Tommy ist schon fünfundzwanzig«, gab Beate zu und schämte sich ein wenig für ihren infantilen Sohn.

»Wenn Sie auf den Traumprinzen warten«, spöttelte Frau Rosenblatt, »dann friert eher die Hölle zu! Wer zu anspruchsvoll ist, bleibt über.«

»So wie Sie?«, fragte Margot Kitzler schnippisch zurück.

»Meine Beziehungslosigkeit beruht auf Freiwilligkeit, das ist ein riesengroßer Unterschied. Alleinsein ist nicht mit Einsamkeit gleichzusetzen, ich bin gern allein.«

»Selbstverliebt genug sind Sie ja.«

Walter bereute schon, mit diesem Thema überhaupt angefangen zu haben. Zum Glück wurde die Nachspeise serviert und die Aufmerksamkeit richtete sich auf das Kirschenkompott.

»Gibt es hier eigentlich auch etwas Handfestes zu essen?«, grollte er und schielte auf das Glas mit den losen Früchten, die in einem dünnen Saft schwammen.

»Wenn Sie Schokoladentorte mit Schlagsahne erwarten, dann haben Sie das falsche Hotel gewählt«, sagte Frau Professor Rosenblatt.

»Ich finde das Essen cool!«, rief Tommy. »Endlich mal kein Fleisch.«

»Und nichts, das dick macht«, freute sich Beate. »Iss, Schatz!«, feuerte sie ihren Mann an. Diesmal konnte er nicht ihr die Schuld am Essen geben, denn das Hotel hatten sie gemeinsam ausgesucht.

»Uns ist ganz kannibalisch wohl, als wie fünfhundert Säuen!«, zitierte Opa aus Goethes Lustige Gesellen und spuckte einen Kern quer über den Tisch.

Walter Schneider lernt das Fürchten

Punkt fünfzehn Uhr war Familie Schneider endlich in ihren Zimmern eingerichtet, jeder Koffer war ausgepackt und die Toilettensachen im Badezimmer ordentlich aufgereiht. Ein Telefonanruf der Rezeption bat die Familie, sich bei der Kurärztin im Untergeschoss einzufinden. Tommy und Opa wurden zuerst aufgerufen, Beate und Walter mussten warten.

Nach einer halben Stunde ging die Tür auf. Opa und Enkel traten auf den Flur.

»Und?«, wollte Walter sofort wissen, »was hat sie gesagt?«

»Dass ich so dünn bin, wie eine zerquetschte Spaghetti!«, grinste Tommy.

»Und was ist mit dir?«, wandte er sich an seinen Vater. »Wie ist dein Zustand?«

Opa hatte seinen Rollator im Zimmer gelassen und sich bei seinem Enkel eingehängt. Sein Hemd war verkehrt zugeknöpft und ein Hemdzipfel im Hosenstall eingeklemmt.

»Ich bin für mein Alter geradezu ein Ausbund an Gesundheit!«

»Das hat sie wirklich gesagt«, bestätigte Tommy, als er in die skeptischen Gesichter seiner Eltern blickte.

»Hat sie auch deinen Geisteszustand überprüft?«, fragte Beate spitz.

Opa hielt ihr grinsend ein Blatt Papier hin. »Lies, o du meine misstrauische Schwiegertochter!«

Beate nahm das Blatt zögernd in die Hand und las.

Befund: Allseits gut orientiert, gut kontaktfähig, Gedanken in Form und Inhalt geordnet, psychomotorisch ausgeglichen, Merk- und Konzentrationsfähigkeit erhalten. Stimmung: normal schwingungsfähig, keine produktive oder psychosomatische Symptomatik …

Beate ließ das Blatt sinken. »Von wem reden die da? Das bist doch nicht du! Diesen Befund hast du doch jemand anderes gestohlen!«

Ehe Opa seinen Triumph noch weiter auskosten durfte, öffnete sich die Tür zur Ordination und Walter und Beate wurden von der Frau Doktor freundlich hereingebeten. Sie war eine hübsche junge Frau mit blonden Haaren und einem schneeweißen Kittel.

»Bitte nehmen Sie Platz. Wie geht es Ihnen?«

»Gut«, antworteten Walter und Beate aus einem Munde.

»Haben Sie irgendwelche körperliche Beschwerden oder besondere Wünsche?«

»Beschwerden haben wir keine gröberen, nur …« Walter wollte das Essen ansprechen, aber Beate kam ihm zuvor. »Körperlich fehlt uns eigentlich nichts. Wir suchen nur Erholung und eine gesündere Lebensweise zum Alltag.«

Frau Doktor lächelte. »Da sind Sie bei uns goldrichtig.«

Beate räusperte sich. »Eine Frage, Frau Doktor. Sie haben doch vorhin meinen Schwiegervater untersucht …«

»Lutz Schneider? Ein sehr lebenskluger und liebenswerter Mann.«

Beate sah sie ein wenig skeptisch an und räusperte sich. »Ich habe seinen Befund gelesen, also den psychischen. Ist der wirklich von Ihnen?«

Frau Doktor lächelte. »Ich darf über andere Patienten keine Auskunft geben – das gilt auch bei einem Verwandtschaftsverhältnis. Aber ich kann Ihnen versichern, der alte Herr ist besser drauf, als Sie vielleicht vermuten.«

»D–das sind ja überraschend gute Nachrichten«, stotterte Beate.

»Nun zu Ihnen!«

Beate und Walter erschraken.

Frau Doktor bat sie, ihre Oberkörper freizumachen, hörte ihre Lungen ab, maß ihren Blutdruck, ihre Größe, beorderte sie auf die Waage und stellte noch einige allgemeine Fragen. Dann nahm sie wieder hinter ihrem Schreibtisch Platz.

»Sie sind einen Meter achtundsiebzig groß und wiegen dreiundneunzig Kilo«, knöpfte sie sich Walter als Erstes vor. »Das ist zu viel.«

Walter widersprach: »Ich bin eins-achtzig!«

»Dann sind Sie geschrumpft.«

»Lächerlich, mit noch nicht mal fünfzig Jahren schrumpft man nicht. Wie groß ist übrigens meine Frau?«

Die Ärztin konsultierte ihre Aufzeichnungen. »Die ist eins-neunundsechzig.«

Beate grinste. »Siehst du, ich bin um einen ganzen Zentimeter gewachsen.«

»Das sind doch deine hochtoupierten Haare!«

»Hast du Halluzinationen? Ich toupiere meine Haare seit über zwanzig Jahren nicht mehr!«

»Rauchen Sie?«, unterbrach die Ärztin.

»Ich habe vor zwanzig Jahren aufgehört«, antwortete Walter stolz.

»Gut so.«

»Wieso? Hören Sie etwas, das Sie nicht hören sollten?«

»Es ist soweit alles in Ordnung, nur …«

»Mein Vater raucht wie ein Kamin!«, fiel Walter ein. »Meinen Sie, dass ich mir vom Passivrauchen schon einen Lungenkrebs geholt habe?«

»So schlimm ist es nicht …«

Walter bekam es mit der Angst zu tun. »Warum erwähnen Sie es dann?«

»Das leise Pfeifen kommt wahrscheinlich von Ihrem Übergewicht. Daher kommt sicher auch der Bluthochdruck. Oder haben Sie sich heute aufgeregt?«

»Ich? Nein, überhaupt nicht. Ich bin die Gelassenheit in Person.«

Die Ärztin lächelte. »Ich empfehle Ihnen früh ins Bett zu gehen und so richtig auszuspannen.«

»Das habe ich vor«, erwiderte Walter.

»Nur gegen das Übergewicht muss etwas getan werden.«

»Und was ist mit meiner Frau?«

»Was hat Ihre Frau mit Ihrem Übergewicht zu tun? Mit Ihrer Frau bin ich sehr zufrieden. Die paar Kilo kriegen wir innerhalb dieser drei Wochen locker in den Griff.«

Beate grinste hämisch zu ihrem Mann rüber.

»Ich reduziere Ihre Mahlzeiten auf tausend Kalorien am Tag, Herr Schneider. Geben Sie diese Karte heute Abend beim Servicepersonal ab. Und Ihnen, Frau Schneider, empfehle ich zwölfhundert Kalorien und verordne Ihnen viel Bewegung. Das wird Sie beide auf Vordermann bringen, besonders Sie, Herr Schneider. Sie wiegen mindestens zehn Kilo zu viel. Aber das bekommen wir schon hin. Vielleicht nicht in drei Wochen, aber wenn Sie sich zu Hause weiter disziplinieren, werden Sie am Ende des Sommers Ihr Idealgewicht erreicht haben.«

»Tausend Kalorien?« Walter erinnerte sich mit Schaudern an die Hungermahlzeit am Mittagstisch, aber die Ärztin versicherte ihm: »Nach diesen drei Wochen werden Sie mir dankbar sein!«

»Darauf würde ich nicht wetten«, brummte Walter und fragte sich, wieso er mehr als tausend Euro die Woche hinblätterte, wenn er dafür nichts zu essen bekam. Wenn er es im Kopf schnell durchrechnete, kostete ihn eine Kalorie 14,5 Cent. Unerhört!

Beate hingegen versprach: »Ich werde mich sicher daran halten, Frau Doktor!«

»Und nicht schummeln!« Die Ärztin drohte ihnen lächelnd mit dem Zeigefinger. »Wenn wir einen unserer Kassenpatienten nach dem Abendessen beim Backhendlwirt erwischen, wird er gnadenlos heimgeschickt.«

»Das sind ja Methoden wie bei der Armee!«, grummelte Walter.

»Da Sie Privatgäste sind, beruht Ihre Diät auf Freiwilligkeit. Ich würde Ihnen aber dringend dazu raten, besonders Ihnen, Herr Schneider.«

»Sie haben es auf mich abgesehen!«, murmelte er beleidigt. Zwar hatte er tatsächlich einige Kilo zu viel auf den Rippen, aber so schlimm, wie die Ärztin tat, war es auch wieder nicht. Beate ihrerseits war bereit, zu hundert Prozent zu kooperieren, und freute sich auf die neue Figur, die der Aufenthalt versprach.

»Nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihrer Frau«, empfahl ihm die Ärztin. »Zu zweit ist es auch viel einfacher. Sie können sich gegenseitig motivieren.«

»Hast du gehört, Walter?«, frohlockte Beate.

»Bin ja nicht taub.«

Die Ärztin schmunzelte. »Männer sind von einer Diät selten begeistert«, sprach sie aus Erfahrung und überreichte jedem von ihnen drei ausgedruckte A4-Seiten, auf denen das Programm der nächsten Wochen aufgelistet war, und entließ sie mit den Worten: »Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Aufenthalt und machen Sie das Beste daraus.«

Wieder auf dem Flur studierte Walter das Programm. »Was bitteschön ist eine Hydro-Colon-Therapie?«, fragte er misstrauisch.

»Eine Darmspülung!«

»Nur über meine Leiche!«

»Die reinigt und entschlackt den Körper. Ich lass das auf alle Fälle machen.«

Walter hielt die Augen gesenkt und las weiter. »Und was verstehen die unter Powerwalken und Beckenboden-Training? Ich bin zur Erholung da. Anstrengen tu ich mich das ganze Jahr über auf der Arbeit!«

»Nach diesen drei Wochen wirst du ein neuer Mensch sein!«, prophezeite Beate gut gelaunt.

»Ich will kein neuer Mensch sein! Ich bin zufrieden mit mir.«

»Ich aber möchte zur Abwechslung einen fitten und gutgelaunten Ehemann zu Hause sitzen haben.«

»Dein Ehemann ist fit genug und immer gut gelaunt!«

»Haha!«, erwiderte Beate nur.

***

Dass es im Zimmer keine Minibar gab, verstand sich von selbst, aber Walter konnte auch dieser Umstand nicht mehr erschüttern. Also fragten sie an der Rezeption nach der Hotelbar.

»Unsere Bar befindet sich im zweiten Stock«, ließ man sie freundlich wissen.

Sie bedankten sich, und während sie auf den Lift warteten, sagte Beate: »Ich hätte Lust auf ein Gläschen Sekt.«

»Und ich auf einen Appetitanreger vor dem Abendessen. Hast du übrigens meinen Vater gesehen?«

»Der ist mit Tommy spazieren gegangen.«

»Ich muss sagen, ich bin wirklich froh, dass unser Sohn Opa nicht als Last empfindet. Das ist für einen Jugendlichen nicht selbstverständlich.« Unnötigerweise fügte er hinzu: »Im Gegensatz zu dir!«

»Opa ist für mich keine Last!«, widersprach Beate. »Aber ich will im Urlaub auch mal ausspannen. Außerdem muss man sich für deinen Vater richtig schämen.«

»Ach was! Keiner nimmt ihm seine gelegentlichen Ausrutscher übel. Schämen muss man sich schon eher für Tommy.«

»Das stimmt nicht. Der Bub kann mit seinem Charme alle um den Finger wickeln, wenn er will.«

»Mutterliebe macht eben blind. Der Bub ist immerhin schon fünfundzwanzig. In diesem Alter waren wir bereits Eltern zweier Kinder und trugen Verantwortung.«

Beate antwortete darauf nichts. Für sie waren die Kinder viel zu früh gekommen, aber das konnte sie ihrem Mann natürlich nicht sagen, ohne ihn wieder auf die Palme zu bringen. Als ihre Tante Helene sie gewarnt hatte, dass man ein Kind schneller bekäme, als ein neues Kleid, hatte sie noch gelacht.

Als sie aus dem Lift stiegen, betraten sie einen kleinen Raum mit gemütlichen Sitzmöbel und runden Tischchen. Menschen in flauschigen weißen Bademänteln flanierten mit Tassen hin und her, gurrten wie Friedenstauben und lächelten immerfort. Auf den Rücken der Bademäntel trugen sie den aufgestickten Schriftzug: Jeder Tag soll dein Glückstag sein. Walter und Beate blickten betreten an sich hinunter – sie waren die einzigen in Straßenkleidung.

»Wenn ich was Ordentliches zu essen bekäme, könnte tatsächlich jeder Tag ein Glückstag werden«, grummelte Walter. »Und wenn ich jetzt auch noch einen Drink kriege, wäre mein Glück unfassbar groß.«

Die Bar, von der sie sich kostenlos bedienen durften, war reich bestückt. In großen Warmhaltekanistern gab es allerlei im Angebot. Walter setzte seine Lesebrille auf und las vor: »Blasentee, Gallentee, Lebertee, Entschlackungstee, Matetee, Schlaftee …« Er nahm die Brille ab und drehte sich zu Beate um. »Wozu darf ich dich einladen? Darf es ein Tässchen Gallentee sein?«

Beate musste lachen. »Irgendwie habe ich so etwas erwartet.«

Der Entschlackungstee, für den sich Walter entschieden hatte, schmeckte abartig bitter, und er suchte nach einem Napf, wo er ihn wieder loswerden konnte. Beate trank Matetee in kleinen Schlucken und lächelte tapfer. Sie wollte unter keinen Umständen auffallen.

Ein Mann Anfang vierzig im weißen Bademantel gesellte sich zu ihnen. Seinen schmalen Adlerkopf schmückte eine Vollglatze und über seinen stechenden, gletscherblauen Augen wuchsen kaum oder sehr blasse Augenbrauen. »Neu hier?«, gurrte er verständnisvoll.

»Sieht man uns das so deutlich an?« Beate lächelte verlegen.

Er grinste schmallippig. »Man gewöhnt sich daran, falls Sie das tröstet. Ich bin bereits eine ganze Woche hier und fühle mich jetzt schon wie neu geboren.«

Beate starrte fasziniert auf seinen Adamsapfel, der während des Sprechens auf und ab hüpfte.

Walter erwiderte nichts und nahm eine Dörrpflaume aus einem Vakuumglas.

»Vorsicht!«, warnte der Fremde. »Eine von denen hat sechzehn Kalorien!«

Walters Hand zuckte zurück, als habe er in Feuer gegriffen. Über sich selbst erzürnt, schob er sich trotzig die Pflaume in den Mund. »Vom Entschlackungstee ist mir beinahe schlecht geworden. Ich muss diesen Geschmack im Mund loswerden.«

»Versuchen Sie den Lindenblütentee, der ist noch am erträglichsten«, riet der Fremde und fügte hinzu: »Ich sitze im Speisesaal am Nebentisch. Ich habe Sie heute Mittag beobachtet.«

»Tut mir leid, ich habe Sie nicht wahrgenommen«, entschuldigte sich Walter. »Für uns ist alles noch neu.«

»Wieso beobachtet?«, wollte Beate wissen, die das Grinsen ihres Gegenübers an einen lachenden Haifisch erinnerte.

»Ich habe beobachtet, dass Sie sich mit den zwei alten Jungfern schon angefreundet haben.«

Beate errötete. Diese Formulierung für zwei alleinstehende Damen hielt sie für unangebracht. »Angefreundet ist zu viel gesagt. Wir sind Tischnachbarn, da redet man halt miteinander.«

»Frau Professor Rosenblatt und Margot Kitzler – ein lustiges Gespann. Mit Frau Kitzler war ich schon zweimal im Buschenschank. Das ist ein beliebter Treffpunkt bei den Kurgästen. Die Frau Professor gibt sich mit unsereins ja nicht ab, die spricht nicht mit jedem.«

»Ich dachte, so was Ungesundes wie ein Buschenschank ist tabu?«, wunderte sich Beate.

»Ab und zu gönnen wir uns dort ein Gläschen Wein, mehr nicht.«

»Wir als zahlende Gäste können sowieso tun und lassen was wir wollen«, trumpfte Walter auf. »Aber die Kassenpatienten werden gnadenlos heimgeschickt, wenn sie beim Fremdgehen erwischt werden, hat uns die Kurärztin verraten.«

»Zurecht. Wozu zahlen wir Beitragszahler denen einen Aufenthalt hier, wenn sie damit Schindluder treiben. Ich unterstütze das vollkommen.«

»Sie sind aber sehr streng!«, bemerkte Beate.

»Manche verstehen nur strenge Regeln.«

»Frau Kitzler ist auch Kassenpatientin«, sagte Beate beiläufig. »Bei ihr sind Sie aber nicht so streng.«

»Sie trinkt dort höchstens ein Gläschen Schilcherwein, oder zwei, das reicht schon, dass sie hinterher besonders lustig drauf ist.« Der Fremde grinste.

»Wie muss ich mir besonders lustig vorstellen?«, wollte Walter neugierig wissen.

»Das soll sie Ihnen selber sagen, aber vielleicht gehen Sie mit uns ja einmal aus? Jetzt muss ich mich umziehen, wir sehen uns später im Speisesaal. Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen noch.«

Als er gegangen war, sagte Beate: »Mir ist der Mensch irgendwie unheimlich.«

»Sei nicht albern! Was ist an dem unheimlich?«

»Hast du nicht seine Augen gesehen? So eiskalt und stechend. Und dieser lauernde Gesichtsausdruck.«

»Was du dir alles einbildest!«

Die schreckliche Wahrheit