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Symptome richtig deuten, Schmerzen wirksam behandeln: Hilfe bei Kopfschmerzen So gut wie jeder Mensch kennt das Gefühl, wenn es im Kopf pocht und zieht, der Schädel brummt und die Konzentrationsfähigkeit signifikant beeinträchtigt ist: Rund vier Milliarden der Weltbevölkerung sind regelmäßig von Kopfschmerzen betroffen. In der Medizin wird zwischen mehr als 250 Arten von Kopfschmerz unterschieden. Die richtige Schmerztherapie ist dabei von der korrekten Diagnose abhängig, zusätzlich ist es wichtig, selten auftretende bedrohliche Ursachen zu kennen. Das Autoren-Team aus den Fachärzten für Neurologie und Psychiatrie, Univ.-Prof. Dr. med. Çiçek Wöber-Bingöl und Univ.-Prof. Dr. med. Christian Wöber, gibt einen umfassenden Überblick über alles Wissenswerte zum Thema Kopfschmerzen. - Ursachen und Risikofaktoren: Häufigkeit und Entstehung von Kopfschmerzen - Schmerztypen erkennen: die verschiedenen Arten von Kopfschmerzen im Überblick - Mit besonderem Augenmerk auf Migräne, Spannungs- und Clusterkopfschmerz - Ausflug in die Medizingeschichte: Forschung und Behandlung seit der Steinzeit - Ein umfassender Medizin-Ratgeber zur Volkskrankheit Kopfschmerz Beschwerden ernstnehmen und Möglichkeiten der Schmerztherapie ausschöpfen Obwohl so viele Menschen davon betroffen sind, werden Kopfschmerzen zumeist kaum als „richtige“ Krankheit mit Einschränkungen ernstgenommen. Dabei gibt es nach erfolgter Diagnose mittlerweile sehr wirkungsvolle Therapien, gerade für die schwerwiegenden Fälle von Migräne und Clusterkopfschmerz. Bei der Behandlung werden Betroffene aktiv miteinbezogen, zum Beispiel durch Kopfschmerz-Tagebücher, um mögliche Auslöser zu finden. Wirksame Hilfe bei Kopfschmerzen: In diesem Medizin-Sachbuch erhalten Sie einen umfassenden und wissenschaftlich fundierten Überblick über die verschiedenen Arten, Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten.
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Seitenzahl: 197
Veröffentlichungsjahr: 2024
Kopfschmerz
KOPFSCHMERZ
Richtig zuordnen, gezielt behandeln
von
Univ.-Prof.in Dr.in med. Çiçek Wöber-Bingöl
und
Univ.-Prof. Dr. med. Christian Wöber
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Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr; eine Haftung der Autorin und des Autors sowie des Verlages ist ausgeschlossen.
Stand des Wissens: 1.3.2024
ISBN 978-3-214-25238-0
ISBN 978-3-214-25706-4 (E-Book PDF)
ISBN 978-3-214-25707-1 (E-Book ePUB)
© 2024 MANZ’sche Verlags- und Universitätsbuchhandlung GmbH, Wien Telefon: (01) 531 61-0
E-Mail: [email protected]
www.manz.at
Layout und Satz: www.petryundschwamb.com
Druck: FINIDR, s.r.o., Český Těšín
INHALT
Zum Geleit
Vorwort
Danksagung
Autorin und Autor
HISTORISCHE ASPEKTE
Steinzeit
Altes Ägypten
Mesopotamien
Griechische und römische Antike
Mittelalter
15. bis 17. Jahrhundert
18. bis 20. Jahrhundert
Von der Vergangenheit in die Gegenwart
WIE HÄUFIG KOMMEN KOPFSCHMERZEN VOR?
Altersgruppen
Geschlecht
Weltregionen
WIE ENTSTEHEN KOPFSCHMERZEN?
Schmerzarten
Nozizeptiver Schmerz
Neuropathischer Schmerz
Schmerzleitung
Schmerzverarbeitung
Bio-psycho-soziales Schmerzmodell
WELCHE KOPFSCHMERZEN GIBT ES?
Primäre Kopfschmerzen
Sekundäre Kopfschmerzen
Gesichtsschmerzen
WIE WERDEN KOPFSCHMERZEN DIAGNOSTIZIERT?
Ärztliches Gespräch
Neurologische Untersuchung
Apparative Zusatzuntersuchungen
Computertomographie
Magnetresonanztomographie
Blutuntersuchungen
Untersuchung der Hirn-Rückenmark-Flüssigkeit
Weitere apparative Untersuchungen
Untersuchungen durch weitere Fachgebiete
Augenärzt:innen
Andere Fachärzt:innen
Psychologische Diagnostik
Wann sind Kopfschmerzen gefährlich?
RISIKOFAKTOREN – AUSWIRKUNGEN – PRÄVENTION
Risikofaktoren für Kopfschmerzen
Welche Auswirkungen haben Kopfschmerzen?
Prävention von Kopfschmerzen
SPEZIALTHEMEN
Kopfschmerz bei Kindern und Jugendlichen
Kopfschmerz bei Personen über 60
Kopfschmerz, biologisches und soziales Geschlecht
MODERNE KOPFSCHMERZMEDIZIN
Forschung
Präzisionsmedizin
Digitale Medizin
Beitrag der Medizinischen Universität Wien
Kopfschmerz durch übermäßigen Medikamentengebrauch
Epidemiologie des Kopfschmerzes im Kindes- und Jugendalter
Diagnostik von Kopf- und Gesichtsschmerzen
Triggerfaktoren der Migräne
Therapie der Migräne
MIGRÄNE
Wie entsteht Migräne?
Wie verläuft eine Migräneattacke?
Vorboten
Migräne-Aura
Kopfschmerzphase
Abklingen der Attacke
Spezielle Beschwerdebilder
Die Zeit zwischen den Attacken
Wie wird Migräne diagnostiziert?
Diagnosekriterien
Kopfschmerztagebuch
Weiterführende Diagnostik
Welche Rolle spielen mögliche Auslöser?
Migräne und weibliche Geschlechtshormone
Migräne und Stress
Migräne und Schlaf
Migräne und Alkohol
Migräne und Koffein
Migräne, Flüssigkeitszufuhr und Ernährung
Migräne und Sinnesreize
Migräne und Wetter
Leben mit Migräne
Akute Migräneattacken richtig behandeln
Behandlungsziel
Verhaltensmaßnahmen und Hausmittel
Schmerzstillende Medikamente und Mittel gegen Erbrechen
Spezielle Migränemittel
Migräneattacken gezielt vorbeugen
Behandlungsziel
Lebensstil
Entspannungstechniken
Biofeedback
Kognitive Verhaltenstherapie
Akupunktur
Pflanzliche Arzneimittel und Nahrungsergänzungsmittel
Medikamentöse Standardtherapien
Monoklonale Antikörper
Botulinumtoxin
Behandlung der menstruationsgebundenen Migräne
Blockade des Hinterhauptsnerven
Neurostimulation
Behandlung der vestibulären Migräne
Behandlung des Visual-Snow-Syndroms
Maßnahmen mit fehlendem Wirksamkeitsnachweis
Spezialthemen
Migräne bei Kindern und Jugendlichen
Migräne und Schwangerschaft
Migräne bei Personen über
Migräne und andere Erkrankungen
Migräne und Psyche
Migräne und Kunst – Künstler:innen und Migräne
SPANNUNGSKOPFSCHMERZ
Wie entsteht Spannungskopfschmerz?
Wie äußert sich der Spannungskopfschmerz?
Wie wird Spannungskopfschmerz diagnostiziert?
Lassen sich Migräne und Spannungskopfschmerz immer auseinanderhalten?
Welche Rolle spielen mögliche Auslöser beim Spannungskopfschmerz?
Akute Spannungskopfschmerzen richtig behandeln
Spannungskopfschmerz gezielt vorbeugen
Spannungskopfschmerz bei Kindern und Jugendlichen
CLUSTERKOPFSCHMERZ
Wie entsteht Clusterkopfschmerz?
Wie äußert sich der Clusterkopfschmerz?
Wie wird Clusterkopfschmerz diagnostiziert?
Wie unterscheiden sich Clusterkopfschmerz und Migräne?
Welche Rolle spielen mögliche Auslöser beim Clusterkopfschmerz?
Leben mit Clusterkopfschmerz
Akute Clusterkopfschmerzen richtig behandeln
Sauerstoff-Inhalation
Triptane
Weitere Möglichkeiten zur Akuttherapie
Clusterkopfschmerz gezielt vorbeugen
Verwandte des Clusterkopfschmerzes
Paroxysmale Hemikranie
Hemicrania continua
SUNCT-Syndrom
WEITERE PRIMÄRE KOPFSCHMERZEN
Hustenkopfschmerz
Kopfschmerz bei körperlicher Anstrengung
Kopfschmerz bei sexueller Aktivität
Primärer Donnerschlagkopfschmerz
Kopfschmerz durch Kältereiz
Kopfschmerz durch äußeren Druck
Primärer stechender Kopfschmerz
Münzkopfschmerz
Primärer schlafgebundener Kopfschmerz
Neu aufgetretener täglicher Kopfschmerz
KOPFSCHMERZ DURCH ÜBERMÄSSIGEN GEBRAUCH VON KOPFSCHMERZMITTELN
Wann verursachen Kopfschmerzmittel noch mehr Kopfschmerzen?
Wie entsteht der Kopfschmerz durch übermäßigen Gebrauch von Kopfschmerzmitteln?
Wie äußert sich der Kopfschmerz durch übermäßigen Gebrauch von Kopfschmerzmitteln?
Diagnose
Folgen für die Betroffenen
Vorbeugung
Behandlung
Nachsorge
WEITERE SEKUNDÄRE KOPFSCHMERZEN UND GESICHTSSCHMERZEN
Sekundäre Kopfschmerzen
Kopfschmerz, zurückzuführen auf ein Schädel-Hirn-Trauma
Kopfschmerz, zurückzuführen auf ein Beschleunigungstrauma der Halswirbelsäule
Kopfschmerz, zurückzuführen auf eine Subarachnoidalblutung
Kopfschmerz, zurückzuführen auf eine Riesenzellarteriitis
Kopfschmerz, zurückzuführen auf einen Gehirntumor
Kopfschmerz, zurückzuführen auf verminderten Liquordruck
Kopfschmerz, zurückzuführen auf eine idiopathische intrakranielle Hypertension
Kopfschmerz, zurückzuführen auf eine Infektion
Zervikogener Kopfschmerz
Gesichtsschmerzen
Trigeminusneuralgie
Anhaltender idiopathischer Gesichtsschmerz
KOPFSCHMERZ UND CORONA
Kopfschmerz und COVID-19-Infektion
Kopfschmerz und COVID-19-Impfung
Anhang
Kopfschmerztagebuch für Kinder und Jugendliche
Kopfschmerztagebuch für Erwachsene
Kopfschmerztagebuch für Patient:innen mit Clusterkopfschmerz
Weitere Informationen
Literatur
Abbildungen
ZUM GELEIT
Noch eine Stunde – dann ist endlich Dienstschluss! Das Pochen im Kopf wird von Minute zu Minute stärker, die Konzentration schwindet und es kostet mich ungemein viel Kraft und Energie, zu funktionieren. Wieder einmal habe ich nicht auf meinen Körper gehört und mein Triptan gegen die Migräne viel zu spät eingenommen. Die Vorzeichen habe ich ignoriert: das plötzlich ständige Gähnen, das vor Stunden begonnen hat, und auch die Heißhungerattacken, die sich seit gestern Abend verlässlich melden.
Der Wecker läutet, viel zu früh. Ich bin abgeschlagen und die Nachwirkungen meiner gestrigen Migräne sind deutlich zu spüren. Meine Augen möchte ich schließen, im Bett bleiben und mich erholen … aber ich muss zur Arbeit, es waren schon zu viele Krankenstandstage in diesem Jahr und ich kann es mir nicht leisten, wieder zu Hause zu bleiben. Was denken meine Kolleg:innen, meine Vorgesetzten – nein, es wird schon wieder, ein paar Tassen Kaffee, dann bin ich wieder fit. Ich muss funktionieren! „Wenn ich Migräne habe, bin ich nicht gut genug“, dieser Glaubenssatz, der mich seit Jahren begleitet, meldet sich verlässlich wieder und mit schlechtem Gewissen schleppe ich mich zur Arbeit.
Jahrzehntelang verschwieg ich meine Migräne, die mich seit meiner Kindheit begleitet, gab scheinheilige Erklärungen und Ausreden ab, warum es mir nicht gut ging, und kompensierte meine Ausfälle mit einem angelernten Perfektionismus. Ich konnte nicht darüber reden, denn mir schien, ich wurde von niemandem verstanden.
Mein Wunsch war es, mich – endlich – mit Betroffenen auszutauschen. Das war der Anfang meiner ehrenamtlichen Arbeit für die Patient:innenorganisation „Selbsthilfe Kopfweh“. Seit dieser Zeit erweiterte ich meinen Horizont, eignete mir neues Wissen an und unterstützte, auch mit ärztlicher Unterstützung, Betroffene. Wir sind eine moderne ehrenamtliche Organisation, die österreichweit Aufklärungsarbeit in Form von Fachvorträgen, Veranstaltungen und Präventionsarbeit leistet.
In diesem Ratgeber bringen Univ.-Prof.in Dr.in med. Çiçek Wöber-Bingöl und Univ.-Prof. Dr. med. Christian Wöber ihre langjährige Erfahrung auf dem Gebiet des Kopfschmerzes und der Migräne ein. Sie verstehen es, praktische Hinweise und moderne medizinische Standards in der Diagnose und Behandlung von Kopfschmerzen mit informativen wissenschaftlichen Aspekten zu verknüpfen.
Kopfschmerzen und Migräne sind unsichtbare Krankheiten. Aus diesem Grund ist es von größter Wichtigkeit, Licht in den Schatten zu bringen, um Betroffene und deren Angehörige zu informieren und durch Transparenz mehr Akzeptanz bei unseren Mitmenschen zu erlangen.
Kassandra SteinerSelbsthilfegruppe Kopfweh Wien
In Europa leiden fast 300 Millionen Menschen an einer der 250 bekannten Formen des Kopfschmerzes, jährlich kommen 70 Millionen Neuerkrankungen hinzu. In Österreich sind laut Neurologie-Report 2022 der Österreichischen Gesellschaft für Neurologie mehr als eine Million Menschen allein von Migräne betroffen. Kopfschmerzen sind daher nach Schlaganfall und Demenz der dritthäufigste Grund für einen krankheitsbedingten Verlust an gesunden Lebensjahren. Sie führen zu erheblichen Beeinträchtigungen im Alltag und haben dadurch enorme direkte und indirekte sozioökonomische Auswirkungen für Betroffene und die Gesellschaft, inklusive krankheitsbedingter Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit.
Trotz dieser gigantischen Krankheitslast („burden of disease“) werden Kopfschmerzen leider immer noch oft in der (gesundheits-)öffentlichen Wahrnehmung als subjektive Beschwerde oder gar als „Befindlichkeitsstörung“ bagatellisiert und daher häufig erst mit großer Verzögerung (differenzial-) diagnostisch geklärt und schlussendlich wirkungsvoll behandelt. Das liegt vielleicht auch am mehr als prävalenten „Gender-Gap“ in nahezu allen Lebensbereichen, der auch beim gegenständlichen Thema Kopfschmerz ignoriert, dass beispielsweise von Migräne zu 75 % Frauen betroffen sind ... Gerade bei Migräne sind aber mittlerweile die neurobiologischen Ursachen wissenschaftlich erwiesen, die pathophysiologischen Prozesse definiert und dementsprechend gezielte hocheffektive Therapien entwickelt und seit geraumer Zeit im klinischen Alltag verfügbar.
Daher ist es unumgänglich, dass Wissen und Aufklärung zur neurologischen Diagnose, Behandlung und Prävention von Kopfschmerzen auf breiter Ebene in der Bevölkerung, bei Ärzt:innen und anderen Gesundheitsberufsgruppen sowie gesundheitspolitischen Verantwortungsträger:innen erheblich gesteigert werden. Frau Prof. Wöber-Bingöl und Herr Prof. Wöber tragen mit ihrem vorliegenden „opus magnum“ zu dieser Bewusstseinserweiterung zum Wohle der von Kopfschmerzen betroffenen Menschen entscheidend bei – dafür möchte ich ihnen an dieser Stelle aufrichtig danken!
Univ.-Prof. Dr. Thomas BergerLeiter Universitätsklinik für Neurologie Leiter Comprehensive Center for Clinical Neurosciences & Mental HealthMedizinische Universität Wien und Universitätsklinikum AKH Wien
VORWORT
Sehr geehrte Patientin, sehr geehrter Patient, geschätzte Leserin, geschätzter Leser,
Studien zur Häufigkeit von Kopfschmerzen und zur kopfschmerzbedingten Belastung haben klar gemacht, dass Kopfschmerzen eines der weltweit größten Gesundheitsprobleme darstellen.
Wiederkehrende Kopfschmerzen wie Migräne, Spannungskopfschmerz oder Clusterkopfschmerz werden zunehmend als das erkannt, was sie sind, nämlich chronische neurologische Erkrankungen, welche die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen können.
Kopfschmerzen richtig zuzuordnen und gezielt zu behandeln, ist daher eine tagtägliche ärztliche Aufgabe, sei es in der allgemeinmedizinischen oder neurologischen Ordination, der Notfallaufnahme oder in einer spezialisierten Kopfschmerzambulanz. Am Beginn steht stets die Frage, ob dem Kopfschmerz eine Erkrankung oder andere konkrete Ursache zugrundeliegt; auch, ob sich Betroffene Sorgen machen oder ob ein primärer Kopfschmerz vorliegt, also der Kopfschmerz selbst die Erkrankung ist.
Das bestmögliche Herangehen im Alltag setzt eine entsprechende kopfschmerzbezogene Ausbildung voraus, die im Medizinstudium ihre Basis hat, in der ärztlichen Ausbildung ihre Vertiefung erfährt und in der allgemeinmedizinischen, neurologischen oder sonstigen fachärztlichen Tätigkeit um die Erfahrung im praktischen Umgang mit Kopfschmerzbetroffenen bereichert wird. Dies alles auf dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung, die regelmäßige Weiterbildung erfordert.
Unabdingbar sind dabei die Kooperation unterschiedlicher ärztlicher Disziplinen und die Zusammenarbeit mit anderen Gesundheitsberufen, wie der Gesundheits- und Krankenpflege, Psychologie und Psychotherapie, Physiotherapie, Heilmassage und mit weiteren Spezialist:innen – nicht nur in Hinblick auf den Kopfschmerz selbst, sondern auch in Hinblick auf begleitende medizinische Erscheinungsbilder.
Alle Menschen, die von Kopfschmerzen betroffen sind, haben das Recht auf eine Betreuung, die ihre individuellen Erfordernisse berücksichtigt und nach bestem Wissen und Gewissen durchgeführt wird.
Fundiertes Wissen über Kopfschmerzen macht es den Betroffenen möglich, sich auf eine ärztliche Konsultation gezielt vorzubereiten, konkrete Fragen zur Abklärung und Behandlung zu stellen und Therapiemaßnahmen kritisch zu bewerten. Informierte Patient:innen können nicht zuletzt die kopfschmerzbezogene Kompetenz einer Ärztin oder eines Arztes besser einschätzen und die bestmögliche Abklärung und Behandlung einfordern.
Der vorliegende Ratgeber hat sich zum Ziel gesetzt, genau diese Informationen zu vermitteln, die Vielfalt der Kopfschmerzen und das breite Behandlungsspektrum zu beschreiben und dabei sowohl den aktuellen Stand der Wissenschaft darzustellen als auch unsere langjährige ärztliche Erfahrung einfließen zu lassen.
Die Themen spannen sich von einem historischen Überblick, der aufzeigt, wie die Menschen seit Anbeginn ihrer Geschichte versucht haben, Kopfschmerzen zu ergründen und zu behandeln, über die Häufigkeit und die Entstehungsmechanismen von Kopfschmerzen, die vielfältigen Kopfschmerzarten, die Wege zur Diagnoseerstellung bis hin zu den Risikofaktoren, Auswirkungen und zur Prävention. Wir beschreiben Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen, bei Personen über 60, aber auch geschlechtsbezogene Unterschiede. Wir widmen uns künftigen Möglichkeiten der Präzisionsmedizin sowie der digitalen Medizin und fassen Beiträge der MedUni Wien zur Kopfschmerzforschung zusammen.
Breiten Raum schenken wir der Migräne, indem wir auf Entstehung, Verlauf, Diagnose, Auslöser, Akuttherapie und Vorbeugung eingehen. Spezielle Kapitel befassen sich mit Migräne bei Kindern und Jugendlichen, in der Schwangerschaft, bei Personen über 60 sowie mit den Zusammenhängen der Migräne mit anderen Erkrankungen und mit der Psyche. Im Kapitel über Migräne finden Sie zudem den bemerkenswerten Bericht einer Patientin und einen Exkurs in die Welt der Kunst.
Weitere Kapitel widmen sich dem Spannungskopfschmerz, dem Clusterkopfschmerz (mit einer eindrücklichen Schilderung eines Betroffenen), anderen primären Kopfschmerzen sowie Kopfschmerzen durch übermäßigen Medikamentengebrauch und ausgewählten Kopfschmerzen als Folge anderer Erkrankungen (inkl. Corona).
Dieser Ratgeber richtet sich an Patient:innen und deren Angehörige. Es ist uns aber auch ein besonderes Anliegen, das Wissen über das Phänomen Kopfschmerz bei all jenen zu mehren, die nicht selbst betroffen sind, aber in den unterschiedlichsten Bereichen Menschen mit Kopfschmerzen begegnen oder für sie Verantwortung tragen. Das kann in der Familie und im Freundeskreis sein, wird denken dabei aber auch an Arbeitgeber:innen oder Vorgesetzte, Mitarbeiter:innen oder Kolleg:innen am Arbeitsplatz, Lehrer:innen, Pädagog:innen, Sonderpädagog:innen, Psycholog:innen oder Mitschüler:innen in der Schule, Lehrende in der beruflichen Ausbildung oder an Universitäten und nicht zuletzt an Personen in der Gesundheitspolitik, in der Gesundheitsverwaltung, in Sozialversicherungen oder beim Arbeitsmarktservice.
Wir hoffen aber auch, dass in Gesundheitsberufen Tätige, sei es in der Gesundheits- und Krankenpflege, Physiotherapie, Psychologie, Psychotherapie, anderen therapeutischen Gesundheitsberufen, oder seien es Ärztinnen und Ärzte, in diesem Buch nützliche Informationen finden.
Möge dieser Ratgeber von Kopfschmerz betroffenen Menschen, ihren Angehörigen und vielen anderen die Vielfalt der Kopfschmerzen, die kopfschmerzbedingte Belastung und das breite Spektrum an Behandlungsmöglichkeiten anschaulich vermitteln, Wege zum bestmöglichen Umgang mit Kopfschmerzen nutzbar machen und das Verständnis für Menschen mit Kopfschmerzen mehren!
Çiçek Wöber-Bingöl & Christian Wöber
DANKSAGUNG
Die Entstehung dieses Buches ist der Initiative der MedUni Wien geschuldet. Namentlich gilt unser Dank Magnifizenz Rektor Univ.-Prof. Dr. Markus Müller und Herrn Mag. Johannes Angerer, Leiter Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit, sowie Frau Mag.a Karin Kirschbichler, Herrn Mag. Karlheinz Hoffelner und Herrn Dr. Christopher Dietz für das Lektorat seitens der MedUni Wien bzw. des Manz Verlages. Wir danken Frau Priv.-Doz.in Dr.in Doris Lieba-Samal, Fachärztin für Neurologie, für die fotografische Unterstützung bei der druckgerechten Erstellung von Abbildungen. Herrn Dr. Wolfgang Marik, Klinische Abteilung für Neuroradiologie und Muskuloskeletale Radiologie, Univ.-Klinik für Radiologie und Nuklearmedizin, MedUni Wien, danken wir für das Bereitstellen der MR-Bilder. Die Abbildung auf dem Umschlag hat Herr Taha Burak Dağ, Motion Designer und Absolvent der Faculty of Fine Arts, Maltepe University, Istanbul, Türkei entworfen und unentgeltlich zur Verfügung gestellt – herzlichen Dank!
Die Möglichkeit zur langjährigen Tätigkeit in der Patient:innenbetreuung, Wissenschaft und Lehre an einer so anerkannten und traditionsreichen Universität wie der MedUni Wien (vormals Medizinische Fakultät der Universität Wien) sehen wir mit besonderer Dankbarkeit.
Ohne die Patient:innen mit Kopfschmerzen und ihre Angehörigen gäbe es das Buch in dieser Form nicht. Wir sagen danke für unzählige Gespräche, die uns lehrten, wie unterschiedlich der Umgang mit Kopfschmerzen sein kann, welche Ängste und Sorgen bestehen und wie eine wirksame Behandlung das Leiden maßgeblich lindern und die Lebensqualität deutlich verbessern kann.
Die Entstehung dieses Buches ist zudem Menschen zu verdanken, die uns auf unserem Weg mit ihrer Humanität, medizinischen Erfahrung und Fachkompetenz geleitet und inspiriert haben.
Wir danken ganz besonders unserem Mentor Univ.-Prof. Dr. Peter Wessely, dem langjährigen Leiter der Kopfschmerzambulanz an der MedUni Wien, der unser Interesse am Kopfschmerz geweckt, uns den Weg in die Welt der Kopfschmerzforschung geebnet und uns als bester vorstellbarer Lehrer gelotst hat. Bis heute steht uns Prof. Wessely mit seinem Wissen zur Seite. Unser besonderer Dank gilt auch dem viel zu früh verstorbenen Prim. Dr. Felix Holzner, der unsere Liebe zur Neurologie bekräftigt und mit seinem Zugang zu diesem Fachgebiet, seiner beispiellosen Gabe, neurologisches Wissen zu vermitteln, und seinem empathischen Umgang mit den Patient:innen beflügelt hat.
Auch Kolleg:innen und Menschen in anderen Berufsgruppen, die uns auf unserem Weg unterstützt haben, gilt unsere Dankbarkeit.
Der Autorin ist es ein Anliegen, dieser Danksagung einige persönliche Worte und speziellen Dank hinzuzufügen:
Schon als kleines Kind lernte ich von meinen geliebten Eltern (beide Ärzte), wie wichtig es ist, das Leben, menschliche Beziehungen und zuteilgewordene Unterstützung zu schätzen, dankbar dafür zu sein, was uns das Leben schenkt, zu verstehen, dass nichts im Leben selbstverständlich ist, und anderen Menschen altruistisch zu begegnen.
Bestimmte Anlässe lassen uns die Vergangenheit Revue passieren. Dann erinnern wir uns an brillante Begegnungen, und es ist an der Zeit, diesen edlen Menschen zu danken, wobei manchmal das Wort „Danke“ zu schwach zu sein scheint, denn niemand wird „etwas“ von allein.
Für unvergessliche positive Erfahrungen und unschätzbare Unterstützung im Studium danke ich Univ.-Prof. Dr. Kurt Komarek†, ehemaliger Rektor der Universität Wien und an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien (nunmehr MedUni Wien), Univ.-Prof. DDr. Otto Kraupp†, ehemaliger Dekan, Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Auswald†, ehemaliger Leiter des Physiologischen Instituts, und Univ.-Prof. Dr. Erich Kaiser†, ehemaliger Leiter des Instituts für Medizinische Chemie, sowie em. Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Firbas, ehemaliger Leiter des Instituts für Anatomie der MedUni Wien.
Aus der Zeit der Facharztausbildung gilt mein spezieller Dank Univ.-Prof. Dr. Gernot Schnaberth, Dr. Heinz Fölkl und als Ideengeber zur Gründung der ersten österreichischen Kopfschmerzambulanz für Kinder und Jugendliche Prim. Hofrat i.R. Dr. Werner Leixnering.
Univ.-Prof. Dr. Reinhard Krepler, ehemaliger Direktor des Allgemeinen Krankenhauses Wien, hat dieser Gründung zugestimmt, was mich mit großer Freude erfüllte.
Auf internationalem Parkett hat mich Univ.-Prof. Dr. Gerhard S. Barolin†, Begründer der Kopfschmerzforschung in Österreich, in einem entscheidenden Moment unterstützt.
An der MedUni Wien stand mir Rector emeritus Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Schütz stets mit weisem Rat zur Seite.
Im Lauf der Jahre war meine Motivation, geleitet von Idealismus, den Hilfestellungen der oben erwähnten besonderen Menschen durch meine Arbeit und den Aufbau eines international anerkannten Spezialbereiches gerecht zu werden.
Autorin und Autor danken Univ.-Prof. Dr. Peter Wessely nochmals für seine beispiellose Unterstützung in der Welt des Kopfschmerzes.
Çiçek Wöber-Bingöl & Christian Wöber
AUTORIN UND AUTOR
Univ.-Prof.in Dr.in med. Çiçek Wöber-Bingöl
hat sich für klinische Neurologie habilitiert, sie ist Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Kinder- und Jugendneurologie und Kinder- und Jugendpsychiatrie. Nach ärztlicher und wissenschaftlicher Tätigkeit in der Arbeitsgruppe Kopfschmerz der Universitätsklinik für Neurologie hat sie die österreichweit erste Ambulanz für Kopfschmerz bei Kindern und Jugendlichen an der Universitätsklinik für Neuropsychiatrie des Kindes- und Jugendalters gegründet und diese Klinik stellvertretend geleitet. Damit war sie an der Medizinischen Universität Wien die erste Frau in einer Leitungsfunktion einer bettenführenden Klinik. Wöber-Bingöl hat das Kopfschmerzzentrum für Kinder und Jugendliche an der Medizinischen Universität Wien zu einem der weltweit führenden ausgebaut. Ärztinnen und Ärzte aus Ägypten, Armenien, Aserbaidschan, Deutschland, Georgien, Guatemala, Indien, Italien, Lettland, Litauen, Serbien und der Türkei haben sich hier weitergebildet. Sie hatte langjährige Funktionen in der österreichischen, europäischen und internationalen Kopfschmerzgesellschaft inne. Zehn Jahre lang hat sie das Child and Adolescent Standing Committee der International Headache Society geleitet, dessen Mitgliederzahl vervielfacht und in dieser Zeit zwei internationale Kongresse veranstaltet.
Wöber-Bingöl ist auch im Ruhestand in Wissenschaft, Lehre und postgradueller Weiterbildung tätig. Sie hat eine weltweite Studie zur Häufigkeit und krankheitsbedingten Belastung von Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen initiiert, die in Zusammenarbeit mit der Weltgesundheitsorganisation durchgeführt wird, und federführend die wissenschaftlichen Grundlagen dieser Studie geschaffen.
Univ.-Prof. Dr. med. Christian Wöber
hat sich für Neurologie habilitiert, ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Oberarzt an der Universitätsklinik für Neurologie an der Medizinischen Universität Wien und leitet dort den Spezialbereich Kopfschmerz sowie die Akutambulanz. Zudem ist er Beauftragter für das Qualitätsmanagement an der Universitätsklinik für Neurologie. Wöber ist Mentor von drei kopfschmerzbezogenen Habilitationen, Senior Supervisor im Rahmen des Doktoratsprogramms Clinical Neuroscience, hat mehr als 40 Diplomarbeiten betreut und ist Autor bzw. Koautor von über 200 Artikeln in wissenschaftlichen Zeitschriften, Büchern und Lehrbüchern. Er unterrichtet an der Medizinischen Universität Wien, an der Donauuniversität Krems und bei postgraduellen Fortbildungsveranstaltungen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Migräne, deren Auslöser, Vorboten und medikamentöse Behandlung sowie der Kopfschmerz durch übermäßigen Gebrauch von Kopfschmerzmitteln.
HISTORISCHE ASPEKTE
Kopfschmerz hat den Menschen wahrscheinlich von Anbeginn begleitet. Neben mystischen Zuordnungen finden sich bereits in der Antike Beschreibungen unterschiedlicher Kopfschmerzen, Überlegungen zu Entstehungsmechanismen und Therapievorschläge.
Begleiten Sie uns auf einer Kopfschmerz-Zeitreise von der Steinzeit bis in die Gegenwart!
STEINZEIT
Ein Schädel aus der Jungsteinzeit um 7000 v. Chr. (Abb. 1) und ein ähnlicher Fund in Anatolien könnten die ersten Zeugnisse einer Kopfschmerzbehandlung sein. Auch wenn wir den Grund für die Schädeltrepanationen, die chirurgische Öffnung des Schädels, naturgemäß nicht kennen, so ist es durchaus denkbar, dass unerträgliche Kopfschmerzen Anlass für die Eingriffe waren. Zweifelsfrei ist erkennbar, dass die Patient:innen den Eingriff überlebt haben, weil die Ränder der Öffnung auf einen Heilungsprozess hinweisen.
Abb. 1: Schädeloperation in der Jungsteinzeit.
ALTES ÄGYPTEN
In einem ägyptischen Papyrus aus der Zeit um 1200 v. Chr. wurde der Heiler angewiesen, ein Krokodil aus Ton mit etwas Getreide im Maul zu fertigen und eine Beschwörung über diese Figur zu sprechen. Danach sollte ein Streifen aus Leinen mit den Bildern von Göttern beschriftet, das Krokodil am Kopf des Patienten befestigt und dieselbe Formel ein zweites Mal gesprochen werden. Das Ritual sollte auf magische Weise den Schmerz in die Tonfigur übertragen.
Auch wenn wir Kopfschmerzen längst nicht mehr auf böse Geister zurückführen, ist über die Jahrtausende eines gleich geblieben: die enorme Bedeutung der Zuwendung von Ärzt:innen an ihre Patient:innen.
MESOPOTAMIEN
Im 7. Jahrhundert v. Chr. wurden tausende Texte aus allen Ecken des assyrischen Reiches in die Hauptstadt Niniveh gebracht und damit die erste Bibliothek der Menschheitsgeschichte geschaffen.
Unter den Schriften fand sich das Gilgamesch-Epos ebenso wie medizinische Texte und Keilschrifttafeln mit der Überschrift „Wenn der Schädel eines Mannes Hitze (Fieber) enthält“. In einem ersten Schritt sollten „Kopfschmerzen“ mit Verbänden und einer Beschwörung behandelt werden. Blieb dies erfolglos, brauchte es spezielle Therapien. Der Heiler sollte nach der Erstellung der Diagnose eine Gans opfern, einige ihrer Körperteile in das Harz einer Pflanze mischen, diese Mischung mit einer Beschwörung magisch anreichern und das Haupt des Patienten damit salben, um den „Kopfschmerz“ auszurotten.
GRIECHISCHE UND RÖMISCHE ANTIKE
Der griechischen Mythologie zufolge plagten Göttervater Zeus unerträgliche Kopfschmerzen, die ihn veranlassten, Hephaistos – den Gott des Feuers und der Schmiedekunst – aufzufordern, seinen, des Zeus, Kopf zu spalten, um die Ursache der Kopfschmerzen zu finden. Seiner göttlichen Natur gemäß überlebte Zeus den Eingriff und seinem Kopf entstieg Pallas Athene mit Rüstung und Schild.
Hippokrates von Kos (Abb. 2) gilt als Begründer der wissenschaftlichen Medizin und war der berühmteste Arzt der Antike. Er betonte die Notwendigkeit, Krankheitssymptome zu beobachten und zu beschreiben, und ist Namensgeber des Corpus Hippocraticum, einer Sammlung medizinischer Schriften, die zwischen dem 6. Jahrhundert vor und dem 2. Jahrhundert nach Chr. entstanden sind. Kopfschmerz wird darin als häufiges Symptom schwerer Erkrankungen beschrieben mit Fieber, Übelkeit, Erbrechen, Nasenbluten, Krämpfen und Störungen der Sinneswahrnehmung als Begleiterscheinungen.
Abb. 2: Hippokrates (um 460 v. Chr. bis um 370 v. Chr.).
Im Jahr 429 v. Chr. nahm Sokrates in Platons Dialog „Charmides“ gleichsam das bio-psycho-soziale Schmerzmodell (vgl. Seite 48) vorweg.
Nach einem Mittel gegen Kopfschmerzen gefragt, beschreibt Sokrates, was er von einem Arzt in Thrakien gelernt hatte: So wie man nicht versuchen solle, die Augen zu heilen ohne den Kopf, oder den Kopf ohne den ganzen Leib, so könne man auch nicht den Leib heilen ohne die Seele. Die Seele aber werde durch gewisse Gespräche behandelt. Durch solche Gespräche entstehe in der Seele Besonnenheit, und wenn diese entstanden sei, würde es leicht sein, Gesundheit auch dem Kopf und dem übrigen Körper zu verschaffen. Der Arzt aus Thrakien warnte Sokrates, dass er sich von einem Kranken nicht überreden lassen dürfe, den Kopf mit einer Arznei zu behandeln, wenn der Kranke zuvor nicht auch seine Seele dargeboten habe, um sie mit Gesprächen behandeln zu lassen.
Aretaios von Kappadokien verfasste im 1. Jahrhundert n. Chr. ein Lehrbuch über Neurologie, in dem er auch auf Kopfschmerzen einging, eine Kopfschmerzklassifikation vorschlug und die Heterokranie (Migräne) von der Cephalalgie (seltene, leichte Kopfschmerzen) und der Cefalea (häufige starke Kopfschmerzen) abgrenzte.
Im 2. Jahrhundert erweiterte Galen das Konzept und führte die Hemikranie (den halbseitigen Kopfschmerz) auf gelbe Galle zurück, die das Gehirn und die Hirnhaut einer Kopfseite irritiere. Pulsierende Schmerzen würden ihren Ursprung in den Blutgefäßen haben, Spannungsschmerzen in den Sehnen und Nerven.
MITTELALTER
In Mittelasien war Ibn Sina (lateinisch: Avicenna, 980–1037) der herausragende Arzt und Naturwissenschaftler. In seinem fünf Bücher umfassenden Kanon der Medizin stellte Ibn Sina den Stand der medizinischen Wissenschaft und eigene Konzepte systematisch dar. Ins Lateinische übersetzt, blieb das Werk bis ins 16. Jahrhundert eines der wichtigsten Lehrbücher an europäischen Universitäten. Ibn Sina klassifizierte Kopfschmerzen nach ihren Entstehungsmechanismen. Er beobachtete, dass viele Kopfschmerzen nicht auf eine Schädigung des Gehirns zurückzuführen sind und dass Sinneswahrnehmungen nicht gedämpft sind, sondern überaus intensiv sein können, sodass Licht, Geräusche und Gerüche Kopfschmerzen auszulösen vermögen.
Hildegard von Bingen (1098–1179) hat in ihren Schriften Kopfschmerzen und halbseitige Kopfschmerzen unterschieden. Sie war eine teilnahmsvolle Beobachterin und hatte eine originelle Erklärung für den einseitigen Migränekopfschmerz: Niemand könnte derart entsetzliche Schmerzen überleben, bestünden sie auf beiden Seiten des Kopfes. Hildegard beschrieb einen Zusammenhang zwischen Migräne und Melancholie. Ihre Visionen (Abb. 3) wurden auf Migräne-Auren zurückgeführt (vgl. Seite 105).
Abb. 3: Hildegard von Bingen, Vision der Stadt Gottes.