Kornkönig - Anne Klisch - E-Book

Kornkönig E-Book

Anne Klisch

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Beschreibung

Kannst du blind vertrauen, in einem Spiel um Leben und Tod?

Maeve ist 17 und hat längst keine Lust mehr auf ihre Abschlussprüfung zu lernen. Eine Reihe ungeklärter Todesfälle und das Auftauchen einer unbekannten Droge kommen ihr als Ablenkung gerade recht. Ein Geheimfach unter ihrem Tisch und eine mysteriöse Kapsel in ihrem Essen verleihen ihrer Neugier jedoch einen gewaltigen Dämpfer. Allerdings nicht genug um sie abzuschütteln. Was hat es mit dem Biotechnischensystem auf sich, dass in der Kapsel steckt, und warum wirkt es bei ihr so ganz anders? Glaubt der Fremde Tom tatsächlich daran, dass sie der Schlüssel zur Lösung des Problems ist oder wird sie ihre Sympathie für ihn teuer bezahlen?

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Anne Klisch

Kornkönig

Vertrauen

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Prolog

 

 

 

 

 

 

 

Das Vorzimmer war hell erleuchtet und warmes Licht ergoss sich über die Wände. Anders als in den Kellerlaboren, in denen er arbeitete, wo alles kahl, steril und weiß war, waren die Wände hier mit dicken orangenen Papiertapeten beklebt. Die Struktur machte sie fast samtweich und die langen senkrechten Rillen brachen das Licht in eine angenehm schummrige Stimmung. Um manche der schweren Holztüren war kunstvolle Malerei, teilweise sogar dreidimensionale Fresken angebracht. In dunklem Braun schlängelten sich Ornamente und filigrane Zeichnungen über das Papier. Es war ein schönes Gebäude. Alt, aber prunkvoll. Der Keller war im Vergleich zu den oberen Stockwerken kalt und leer. Wo hier über all Teppichboden und Parkett verlegt war und sich dunkles Holz in zierenden Vertäfelungen durch die Flure zog, waren im Bereich der Labore nur quadratische Fließen. Und obwohl er jeden Tag dort hinmusste, störte er sich nicht daran. Es hatte schließlich auch seinen Sinn, dass die Labore gefliest waren. Und nur weil der Keller ausgebaut wurde, musste der Rest des stolzen alten Gebäudes ja nicht zerstört werden.

Er war unschlüssig in der Nähe der Tür stehen geblieben. Zugegebenermaßen ein bisschen überwältigt. Aufgeregt war er natürlich auch. So ein Gespräch hatte man schließlich nicht jeden Tag.

„Hi Georg“, sagte die Sekretärin.

Ihr rotes Haar viel in einem langen Zopf über ihre Schulter und sie errötete leicht als er sie ansah. Doch er war viel zu nervös, um das zu bemerken. Oder wie sie jetzt mit ihren Haarenden spielte und sich ganz leicht von innen auf die Lippe biss.

Seine Augen huschten durch den Raum und eine Strähne seines Haars viel ihm in die Stirn, obwohl er sicherlich eine halbe Stunde mit der Pomade gekämpft hatte. Unruhig wischte er sich die Hände an den Hosenbeinen ab. Erst die Rechte, dann wechselte er die Petrischale in die andere Hand, dann die Linke.

Sie räusperte sich.

„Einen kleinen Moment, bitte. Ich sage Bescheid, dass du da bist.“

Er nickte nur knapp. Zu groß war die Angst, dass ihm, wenn er jetzt sprach die Stimme brach.

Ganz langsam wagte er sich einen Schritt weiter in den Raum hinein. Er betrachtete die Gemälde, die in schweren, breiten Rahmen an den Wänden hingen. Dazwischen die Portraits der Chefetage. Fotografien. Er hörte das Klappern der Tasten, während sie eine schnelle Durchwahl wählte. Noch bevor sie sprach hörte er das Murmeln der Stimme am anderen Ende. Ob es tatsächlich aus dem Telefon kam, oder vielleicht sogar durch die Holztür zu hören war konnte er nicht sagen.

„Herr..“, sie räusperte sich. „Dr. Deis ist jetzt da.“

Wieder murmelte die Stimme am anderen Ende. Sie holte Luft, kam jedoch nicht zu Wort.

„Ja... Ja. Nein, eingetragen ist ein Termin um vierzehn Uhr Dreißig.“

Sie wartete. Als er sie an sah lächelte sie entschuldigend. Mit dem Zeigefinger folgte sie ein paar Zeilen in ihrem Kalenderbuch.

„Es geht um die Anmeldung eines Beta-Tests... Ja...“

Sie nickte, als könnte man sie durch den Hörer sehen. Jetzt musste er doch lächeln. Einen Moment später legte sie auf.

„Einen kleinen Moment noch.“

Mit den Fingern fuhr sie sich durch die Haare und dünne Strähnen lösten sich aus ihrem Zopf. Die Strickjacke war von ihrer Schulter gerutscht und zeigte ein hübsches Muttermal, direkt vor dem Träger ihres lila Tops. Mit flinken Fingern begann sie zu Tippen und blätterte durch die vielen Zettel und Notizen auf ihrem Tisch. Es war beruhigend ihr zu zusehen. Und nach und nach hörten seine Hände auf zu zittern. Wieder wischte er sich die Handflächen an seiner Jeans ab und faltete seine Papiere neu, bevor er sie schließlich in seine hintere Hosentasche schob.

Dann klingelte endlich das Telefon. Nur einmal und ganz kurz. Die Sekretärin tippte ihren Satz zu Ende und sah dann auf. Sie lächelte freundlich.

„Gut. Du kannst jetzt rein gehen.“

Sie deutete auf die Tür rechts hinter ihrem Schreibtisch. Mit einem letzten Blick auf die Bilder und auf den blühenden Garten jenseits der Fenster setzte er sich in Bewegung.

„Danke Karolina. Wünsch mir Glück.“

Er holte tief Luft.

„Viel Glück.“

 

 

Polizei Marburg

 

Sehr geehrter Herr Michaelsen,

 

nach dem in Marburg nun zwei sehr ähnliche Fälle aufgetreten sind möchten wir Sie bitten Ihre Ergebnisse im Fall Caroline Hansen mit uns zu teilen.

 

Auf Grund der extremen Ähnlichkeit der aktuell sieben Todesfälle, können wir nicht länger von Zufall ausgehen.  Natürlich kann es sich noch immer um eine bisher unbekannte Krankheit handeln. Jedoch halten wir dies für sehr unwahrscheinlich.  Neben den sieben offensichtlich ähnlichen Fällen haben wir nach einer oberflächlichen Recherche vierunddreißig weitere Todesfälle, die akute Ähnlichkeit aufweisen zu Tage gefördert. Sie alle sind eher wahllos in verschiedenen Städten aufgetaucht. Auf Grund der Unauffälligkeit wurden diese Fälle bislang als natürliche Tode eingestuft.  Unter den aktuellen Umständen halten wir es daher für sinnvoll auch unauffällige Situationen genauer zu betrachten.

 

Als auffällige Merkmale gelten hier:

- Veränderungen im Verhalten vor dem Tod, dazu gehören Müdigkeit,

  verminderte soziale Aktivität und erhöhte Aggression

- Tod über Nacht

- Keine Hinweise auf fremdes Eindringen

- Keine Hinweise auf Fremdeinwirkung

- Nasenbluten

- Keine Hinweise auf Gewalteinwirkung

 

Bislang war der toxikologische Befund in allen Fällen Negativ. Nichtsdestotrotz halten wir die Überdosierung einer bislang unbekannten und unregistrierten Droge für sehr wahrscheinlich.

 

Vielen Dank für Ihre Kooperation.

Mit freundlichen Grüßen,

Mike Barlach

 

Polizei Marburg

1.

 

 

 

 

 

 

 

Genervt ließ ich den Kugelschreiber klicken. Inzwischen zogen sich mehrere unförmige, sonderbar kantige Bögen über das Blatt. Es war eine blöde Idee gewesen. Eine wirklich blöde Idee, nach dem Portrait-Montag den Stillleben- Dienstag einzuführen. Aber die schlechteste Idee aller Zeiten war die Einführung des egal- wo- du- bist Freitags. Klar, ich hätte die ganze Sache auch sein lassen können, aber wie sagte mein Vater immer so schön: von Nichts kommt Nichts! Wenn ich also besser werden wollte, kam ich um das Üben wohl oder übel nicht herum. Und das desaströse Ergebnis aus der praktischen Kunstprüfung konnte und würde ich nicht auf mir sitzen lassen.

Die Feder am Ende des Kugelschreibers schnappte ein letztes Mal und ich versuchte mich wieder auf das weiße Blatt mit den ungehaltenen schwarzen Linien zu konzentrieren. Nicht gerade ein Meisterwerk. Ich wischte einen Krümel von der Seite. Dunkle Tinte löste sich aus der Zeichnung und schmierte quer über die leeren Flächen. Mit der Hand schlug ich mir gegen die Stirn. Wunderschön. Ich seufzte resigniert. Diese Seite war über keinen Umweg mehr zu retten.

            „Einfach kein Talent für Räume, oder sonst irgendetwas Realistisches“, murmelte ich in die Hand, auf die ich mein Kinn gestützt hatte. Lustlos strichelte ich Schatten in die Ecken und Kanten zwischen den S-Bahnsitzen, die ich gezeichnet hatte. Aber wer wollte auch eine Zeichnung von einem Zugabteil. Von Innen. Leer. Das war furchtbar langweilig. Und furchtbar schlecht noch dazu. Ich betrachtete die Kante meiner Hand. Sie war ganz schwarz von der vielen Tinte, die ich verwischt hatte. Die Bahn bremste und warmes Licht viel durch die Fenster, tauchte den schmalen verlassenen Bahnsteig davor und die vielen Sitze dahinter in schummrige Schatten. Ein dumpfer Laut ließ mich aufschauen. Am anderen Ende der Sitzreihen entdeckte ich strubbelige braune Haare. Einem müden Stöhnen folgte eine Hand, die durch die wirren Strähnen pflügte. Doch nicht ganz leer. Geistesabwesend blätterte ich auf die nächste Seite des Blockes. Vielleicht ließe sich aus dem egal- wo- du- bist- Freitag ja auch ein egal- wer- du- bist- Freitag machen. Ein verschmitztes, zufriedenes Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus. Leise sammelte ich meine Tasche auf, klemmte mir den Block unter den Arm und stand auf. Der Zug war wieder angefahren und so ging ich schwankend von Haltegriff zu Haltegriff den Gang hinunter.

Der dunkle Schopf war mittlerweile wieder hinter der Lehne des vorderen Sitzes verschwunden, doch kurz vor dem Drehgelenk des Waggons entdeckte ich die zusammengesunkene Gestalt. Er musste wieder eingeschlafen sein. Den Kopf an die Scheibe gelehnt war er langsam am Glas heruntergerutscht. Die Haare fielen ihm quer über das Gesicht, wirklich viel konnte man da nicht erkennen. Aber besser so, als gar nichts. Oder S-Bahnsitze. Ich rutschte in den Platz auf der anderen Seite des Ganges eine Reihe weiter hinten als er, stellte die Tasche auf den Platz am Gang und zog die Beine an. Es war ohnehin sonderbar genug fremde Menschen, ohne ihr Wissen zu zeichnen, so hatte er sich immerhin schon selbst unkenntlich gemacht. Und nein, ich war kein perverser Stalker der gerne schlafende Menschen zeichnete. Ich war ganz normal... komisch. Ich klickte den Kugelschreiber und begann zu zeichnen. Der Stift erhaschte ein paar Strähnen seines Haars und folgte der Kurve, die sich aus Rücken und Beinen ergab. Der Arm verschwand handlos hinter seinem Oberschenkel.

 

Zwei Haltestellen später war sein Kopf nahezu auf seine Knie hinab gesunken. Die Füße hatte er auf den kleinen Heizkörper gestellt, der sich knapp über dem Boden durch das gesamte Abteil zog. Es sah wahnsinnig unbequem aus. Ich schielte auf mein Blatt, selbst dort sah die Haltung noch starr und verkrampft aus. Beinahe konnte ich die Rückenschmerzen fühlen, die er mit Sicherheit später haben würde. Dennoch kam ich nicht umhin zu bemerken wie leer das Blatt noch immer war. Die Zeichnung war nicht schlecht, sah ihm sogar relativ ähnlich, zumal ich nicht das ganze Gesicht zeichnen musste. Ein wenig stilisiert vielleicht. Mit einem Hauch künstlerischer Freiheit begann ich zu schraffieren und ließ die offenen Linien mit dem treppenartigen zickzack Muster der Sitzpolster verschmelzen. Bis es schließlich aussah als läge die kleine Figur inmitten von Kabeln und Drähten. Wie an einen Mikrochip angeschlossen. Ein schiefes Grinsen entschlich sich meiner Kontrolle. Eigentlich ganz interessant.

 

Mittlerweile war es draußen ganz dunkel geworden und leichter Nieselregen trommelte an die Scheiben. Im Zug war es fast genauso dunkel. Die Beleuchtung schien defekt zu sein, so dass die Neonröhren nur ab und zu an flackerten, bevor sie nach ein paar Minuten wieder ausgingen. In einer langgezogenen Kurve schob sich die Bahn den Berg hinauf und in den Wald hinein. Der Wind beugte die Äste und der Regen prasselte stärker. Ich klappte den Block zu und ließ ihn in die Tasche gleiten. Dann begann ich meine restlichen Sachen zusammen zu suchen und zog meine Jacke an. Mit dem Haarband an meinem Handgelenk band ich meine braunen Haare zusammen und zog Mütze und Regenschirm aus der Tasche, als der Zug den Wald wieder verließ. Lichter der Stadt flackerten durch die Fenster und Schatten liefen über die Sitze und Wände des Waggons. Fast zu Hause.

Es war nach sieben Uhr und schon längst dunkel, aber es war eben immer noch März, was sollte man also groß erwarten. Ich blickte zurück zu dem Jungen im anderen Sitz. Er war weiter zusammengesunken und die Haare waren an seiner Schulter hängen geblieben. Unwillkürlich verzog ich das Gesicht. Das hätte mir früher auffallen müssen. Jonas.

Ich zog den Block noch einmal aus meiner Tasche und starrte auf das Bild. Jap. Ich war noch nie so froh darüber gewesen einen Haufen schwarzer Striche über ein Gesicht gezeichnet zu haben. Erleichtert atmete ich aus und steckte den Block zurück, während der Kugelschreiber in der Ringbindung klapperte.

Spärlich beleuchtete Gebäude huschten als vertraute Schatten durch die Nacht. Dann stand ich auf und ging zur Tür. Der Halteknopf leuchtete in einem dumpfen Orangeton. Hadernd drehte ich die Mütze zwischen den Fingern, während der Zug das Tempo allmählich drosselte. Schaute zwischen der Tür und den Sitzreihen hin und her, bevor ich ergeben seufzte und mir die Mütze über den Kopf stülpte. Die Tasche schlug hart gegen meine Beine als ich eilig zurück in den Gang lief. Neben seinem Platz blieb ich stehen und starrte ihn kurz an. Er schien tatsächlich zu schlafen, zuckte nicht einmal.

            „Oh, na gut!“, brummelte ich missmutig vor mich hin und pikste ihn mit ausgestrecktem Arm in die Schulter.

            „Jonas. Jonas!“

Ich rüttelte seinen Arm. Er schien nichts zu bemerken. Der Zug war inzwischen beinahe zum Stehen gekommen und die flackernden Laternen kamen in Sicht.

            „Jonas!“

Noch einmal rüttelte ich an seiner Schulter. Sein Kopf rutschte von seiner Hand und knallte erneut mit einem dumpfen Ton an die Scheibe. Er zuckte zusammen, hielt kurz inne und richtete sich dann schwungvoll auf. Mit einer Hand in den Haaren sah er aus dem Fenster.

            „Scheiße!“

Fluchend sprang er auf und schnappte sich blind die Tasche vom Nebensitz. Als er sich umdrehte blieb er wie angewurzelt stehen. Mit großen Augen starrte er mich an, dann schien er mich langsam zu erkennen.

            „Was machst du da?“, sagte er genervt.

            „Ich glaube du musst hier aussteigen..“

            „Ja, und du stehst mir dabei im Weg!“

Damit schob er mich zur Seite und war schon aus der sich öffnenden Tür hinaus. Ich starrte ihm hinterher.

            „Okay.“

Erst als die Türen zischten erinnerte ich mich daran, dass auch ich aussteigen sollte. Mit einem schnellen Satz hechtete ich zur Tür hinaus. Keinen Moment zu spät. Ratternd fuhr die Bahn hinter mir davon.

 

Der Regen prasselte auf meinen Schirm, während der Wind an meinem Mantel zerrte. Vereinzelt rauschten Autos über die dunkle Straße und schickten Wellen aus Wasser über den Gehweg. An der Ampel stand eine nasse Person. Ich überquerte die Straße bis zur ersten Insel und streckte den Schirm über seinen Kopf. Überrascht drehte er sich um und stöhnte bei meinem Anblick. Ich lächelte.

            „Nur weil unsere Eltern uns vor Jahren in denselben Sandkasten gesetzt haben, heißt das nicht, dass wir jetzt Freunde sind“, sagte er bissig.

            „Hey, du bist der nasse Typ im Regen.“

Gleichgültig zuckte ich die Achseln. Er lachte stumpf und freudlos auf und trat unter dem Schirm heraus in den Regen, sodass der Schirm, niemanden schützend nutzlos zwischen uns schwebte.

            „Es ist schade, dass du älter geworden bist“, sagte ich und mein Mundwinkel zitterten unter einem traurigen Lächeln. Er schnaubte nur als ich ihn mit ernstem Blick ansah.

            „Weißt du“, begann ich und hielt den Schirm wieder über meinen eigenen Kopf. „In einer Geschichte wäre das eigentlich der Moment, in dem du mir einen Schirm oder eine Jacke anbieten würdest.“

            „Oh, ja!“, er zog die Worte lang bis sie sarkastisch und verzerrt klangen und legte den Kopf in den Nacken, sodass er mich aus dem Augenwinkel heraus anschielen konnte. „Oder Liebe auf den ersten Blick.“

            „Genau.“

Ich antwortete, ohne ihn anzusehen. Ich starrte auf die Straße, lauschte dem Regen auf dem dünnen Stoff meines Regenschirms und den rauschenden Autoreifen. Er zischte.

            „Auf deiner Seite vom Sandkasten lag definitiv zu viel Katzenscheiße!“ Und ohne auf die Ampel oder den Verkehr zu achten ging er über die Straße.

Nichts passierte. Nur die plötzliche Stille lag schwer in der Luft. Vereinzelte Autos zischten vorbei, die Krokusse ließen traurig die Köpfe hängen und neigten sich sacht im Fahrtwind, während sie kleine Wasserschwalle aus ihren Kelchen in die Wiese leerten. Der Wind zerrte an meinem Schirm und der erste Blitz durchschnitt die Nacht. Mit einem lauten Knall grollte der Donner, kaum eine Sekunde später. Der Regen fiel nun so schräg, dass mir die Tropfen ins Gesicht wehten und langsam unter meinem Schal hindurch den Nacken hinunterrollten. Dann endlich sprang der Summer an und das kleine grüne Männchen begann zu leuchten.

 

Ich ging die schmale Straße hinunter, an den kleinen Häusern mit den gepflegten Vorgärten vorbei. Hinter den Vorhängen waren die Zimmer hell erleuchtet und Schatten huschten umher, deckten Tische, aßen, lachten. Das Wasser schwappte in meinen Stiefeln, während ich auf das letzte Haus zu hielt.

Das Gartentor quietschte, als ich es aufdrückte und fiel mit einem lauten metallischen Klacken hinter mir wieder zu. Mit kalten zittrigen Fingern klimperte ich die Schlüssel aus der Tasche. Immer wieder schrammte das Metall über den Zylinder, bis ich endlich das Schloss traf. Klickend öffnete sich die Tür.

Drinnen war es leise und dunkel, meine Mutter war noch nicht zu Hause und der Rest zurzeit nicht im Land. Ich schaltete das Licht an und schob mir die Stiefel von den Füßen, wo sich eine kleine Pfütze gebildet hatte. Die nassen Kleider legte ich in der Badewanne ab, bevor ich den Schirm zum Trocknen aufspannte und hängte sie dann über den kleinen Wäscherost, den man von Rand zu Rand über die Badewanne lehnen konnte. Barfuß ging ich die knarzende Treppe hinauf. In meinem Zimmer angekommen leerte ich meine Tasche auf den Schreibtisch aus. Alle Bücher und Ordner waren an den Rändern nass und aufgequollen. Vorsichtig legte ich sie auf der Fensterbank aus und drehte den Heizkörper darunter auf. Durch mein kleines Fenster sah ich hinüber zu dem Haus gegenüber. Zu einem kleinen Fenster, hinter dem ein Raum lag, ganz identisch wie der in dem ich stand. Hinter schweren Vorhängen war das Licht angegangen und fiel gedimmt in weichen rötlichen Strahlen hinaus in die Nacht. Ein dunkler Schatten huschte durch den Raum. Jonas war schon zu Hause.

Wäre mein Leben ein amerikanischer High-School kitsch- Film müsste ich jetzt von unserer stürmischen Romanze erzählen, während das Bild langsam unscharf würde, bevor man die Geschichte sieht. Wir hätten uns Nachrichten geschrieben und sie auf großen Kartons an die Fenster geklebt, oder eine Seilrutsche von Fenster zu Fenster gespannt oder tiefgründige Gespräche auf der Fensterbank geführt. Aber das Leben war eben kein Film und schon gar keine amerikanische High-School Romanze. Es gab eine Zeit da hatten wir uns wirklich gut verstanden. Zusammen mit Lauren, war er mein bester Freund gewesen. Die Kinder vom Stadtrand und die Neue. Wir hatten gut zusammengepasst. Aber dann sind wir älter geworden. Jonas und Lauren hatten plötzlich alle Hände voll zu tun gehabt mit ihren neuen Freunden. Aber wer konnte ihnen Vorwürfe machen. Sicherlich nicht ich. Jonas, groß und schlank mit seinen dunklen Haaren und den warmen braunen Augen. Und Lauren, die es irgendwie schaffte gleichzeitig schlank und kurvig zu sein, mit ihren elfenhaften Gesichtszügen, den honigblonden Haaren und den klaren blauen Augen. Es war klar, dass sie beliebt waren. Und ich war das leider nicht.

Von da an hatten wir uns immer weiter voneinander entfernt. Während die beiden an die Spitze der schulischen Hackordnung geklettert waren, war ich eben ich geblieben. Nicht zu sagen ich hätte mich in den letzten sechs Jahren überhaupt nicht verändert. Aber ich war immer noch ich. Das seltsame Mädchen mit dem komischen Humor und dem unnatürlichen, unverständlichen Interesse an dem meisten was die Lehrer in der Schule so zu erzählen hatten.

Ich lehnte das letzte Buch gegen den Heizkörper. Die Seiten waren nur leicht wellig geworden und würden vermutlich ohne größeren Schaden wieder trocknen. Ein kleines Stück Zeitung rutschte unter dem Rand hervor. Richtig. Ich zog es heraus, um es neben die anderen losen nassen Seiten zu legen. Meine Hand zitterte. Das Papier war schon ein paar Tage alt und durch den Regen so verquollen, dass die Tinte verschmiert und verlaufen und jetzt komplett unleserlich geworden war. Doch selbst in diesem Zustand bekam ich es nicht übers Herz es weg zu werfen.

Ich strich mir ein paar lose Haarsträhnen hinter das Ohr. Immerhin konnte ich alle Worte, die einmal in der Todesanzeige gestanden hatten, auswendig. Denn Lauren war gestorben. Das Licht im Haus gegenüber verlosch und Dunkelheit legte sich über die verbleibenden Schatten.

 

 

 

 

2.

 

 

 

 

 

 

 

Ein schmerzhaftes Pieken am Kinn weckte mich. Ich kniff die Augen zusammen, bevor ich sie mühevoll öffnete. Ein paar unscharfe schwarze Linien starrten mir entgegen. Ich klappte das Buch zu, dessen Einband mir so liebevoll den Kiefer zerkratzt hatte und legte es vor meinem Bett ab.

Neun Uhr dreißig, leuchteten mir die roten Zahlen meines Weckers entgegen. Schlaff ließ ich mich zurück in meine Kissen fallen. Es hatte die ganze Nacht über geregnet und Blitz und Donner hatten mich regelmäßig wieder aufgeweckt. Erst am Morgen als das Gewitter langsam vorbeigezogen war, war ich fest eingeschlafen. Mit dem Arm über den Augen wäre ich jetzt beinahe wieder eingeschlafen. Langsam wühlte ich mich unter der Decke hervor und setzte mich auf. Meine Haare waren noch immer feucht vom Regen und klebten in meinem Nacken. Gähnend zog ich sie aus den Falten und unter meinem T-Shirt hervor und wickelte sie in einen losen Dutt. Es nutzte ja alles nichts. Schwungvoll stand ich auf und ordnete, mir die Augen reibend, das Durcheinander in meinem Bett.

 

Die Stufen knarzten gewohnt unter meinen Füßen, während ich die gebogene Treppe hinunterstieg. Ich konnte die Stimme meiner Mutter und das Klappern von Geschirr aus der Küche hören, noch bevor ich die Tür aufdrückte. Ich murmelte ein leises „morgen“ in den kleinen Raum, um das Telefonat nicht zu stören. Eine Hand am Ohr, eine in den dunklen Haaren drehte sich meine Mutter um. Lächelnd deutete sie auf einen Stuhl und formte stumm die Worte „bin gleich da“. Dann drehte sie sich wieder um. Eine Hand auf die Arbeitsplatte gestützt starrte sie einen Moment hinaus auf die Straße und lauschte der Stimme an ihrem Ohr.

            „Gut, Liebling. Dann solltest du jetzt eventuell schlafen. Außer, Maeve ist jetzt wach, vielleicht willst du sie noch sprechen?“

Sie warf einen Blick über ihre Schulter und schaute mich an. Ich verzog das Gesicht und winkte schnell ab. Glücklicherweise schien es ihm genauso zu gehen.

            „Okay, gut. Dann sprechen wir morgen wieder.“

Ein paar Abschiedsfloskeln später legte sie auf. Seufzend drehte sie sich um und lehnte sich an die Anrichte. Der Hörer wippte leicht, als sie ihn zur Seite legte.

            „Warum hast du ihn denn nicht angerufen?“

            „War doch unterwegs, gestern.“, erwiderte ich ausweichend.  Meine Mom zog eine Augenbraue hoch. „Klar. Aber du hast ja ein Handy...“

Natürlich hatte sie recht. Und das wusste sie auch. Sie löste sich von der Anrichte, um weiter Besteck und Essen aus Schubladen und Küchenschränken zu räumen.

            „Im Zug hättest du sicher einen Moment Zeit gehabt, oder nicht?“

            „Schon, aber da ist es immer so laut. Außerdem weiß ich nicht wann seine Meetings sind, ich will ihm ja keine Schwierigkeiten machen.“

            „Stimmt schon. Aber er hat ja auch eine Mittagspause.“

Sie ließ sich mir gegenüber auf den Stuhl fallen und stellte einen Teller mit dampfendem Speck vor mir ab.

            „Ich weiß. Ich weiß aber auch, dass du dann mit ihm telefonierst. Also..“, ich zuckte die Achseln und meine Mutter schmunzelte.

            „Ich weiß schon. Acht Stunden Zeitverschiebung ist viel und einmal um die halbe Welt ist ganz schön weit. Ich will doch nur vermeiden, dass ihr den Kontakt verliert.“

            „Er ist mein Dad, Mom. Als ob wir den Kontakt verlieren nur weil er ein paar Wochen nicht da ist.“

Ich konnte mir ein kurzes Auflachen nicht verkneifen und schaufelte dann eine Portion Rührei auf meinen Teller. Warme Luft hauchte mir von unten entgegen und ein leichter Geruch von Pfeffer kitzelte mich in der Nase. Ich schauerte und zog die Sweatshirt Jacke enger um meinen Körper. Wie jeden Morgen, zumindest so früh im Jahr, wunderte ich mich über das Tanktop und die lockeren blauen Shorts die meine Mutter selbst im Winter zum Schlafen anzog.

            „Wie war das Theater?“, fragte sie schließlich, womit das andere Thema wohl beendet war.

Wir waren kurzfristig mit der Klasse zu einer Aufführung von Dantons Tod gefahren, als Vorbereitung auf die Prüfungen in zwei Wochen. Sie schaute mich über das Brot in ihrer Hand hinweg an. Mit aller schauspielerischen Kraft, die ich aufbringen konnte setzte ich eine patriotische Miene auf und rekte die Faust in die Luft.

            „Danton, Danton, Danton“, skandierte ich, während sich das Schmunzeln meiner Mutter zu einem breiten Grinsen ausdehnte.

            „Es muss beeindruckend gewesen sein.“

            „Oh ja. Es war... revolutionär.“ Ich riss die Augen weit auf und starrte sie mit gespieltem Ernst an. Dann machte sich das Ei auf meiner Gabel selbständig und platschte zurück in meinen Teller. Lachend entglitten mir meine ernsten Gesichtszüge.

 

Der Morgen zog in schattigen Nebelschwaden vorbei und erst spät durchbrach die Sonne die dicke Wolkendecke. Seit Stunden starrte ich auf die gleiche Seite meines Aufschriebs ohne auch nur ein Wort zu verstehen, oder überhaupt zu lesen. Glücklicherweise waren die handgeschriebenen Sachen gestern nicht so nass geworden, dass die Tinte verlaufen war. Die meisten Bücher waren auch wieder glatt und ohne Knicke getrocknet. Ein Ordner und das Biologie Buch hatten ein paar Eselsohren und auf der Seite mit den Mitochondrien waren ein paar Worte des Zeitungsausschnittes spiegelverkehrt hineingelaufen. Aber das war nicht weiter schlimm, das Biologie Buch war glücklicherweise eines der Bücher, die ich ohnehin bereits hatte kaufen müssen.

Ich starrte zurück auf die karierte Seite. Die Villa Rotonda hatte sich keinen Millimeter bewegt. Seufzend begann ich erneut die Seite zu lesen. Nach dem gefühlt hundertsten Mal erlöste mich das leise Ping meines Handys. Rasch klappte ich die Bücher und Hefte zu.

 

Ich wechselte meinen Schlabberlook in eine schwarze Bluse und dunkle Jeans. Skeptisch stand ich vor meinem Spiegel. Zwei Finger zwischen Hals und Blusenkragen geschoben hielt ich diesen mit verzerrtem Gesicht zur Seite. Ich hasste Blusen. Es war nicht unbedingt das Hochgeschlossene, eigentlich waren viele meiner liebsten Kleidungsstücke hocheschlosen. Es war eher das Material. Diese dünnen gewobenen Stoffe. Immer wenn ich so etwas anhatte, befürchtete ich dass die Nähte rissen, wenn ich die Arme hob. Man war wie eingesperrt, eine Zwangsjacke war nichts dagegen. Ständig warf der Stoff Falten an den sonderbarsten Stellen und wenn man sich bewegte rutschte das ganze Oberteil nach oben, sodass man ständig an sich herum zupfte und die Kleider zurecht ziehen musste. Ich öffnete die obersten zwei Knöpfe und zog den Saum wieder nach unten. Der Kragen kippte auf meine Schultern und meine blassen Schlüsselbeine wurden sichtbar. Tja. Bieder war das nun nicht mehr, aber es sollte wohl genügen, dass der Stoff und die Situation an sich schon unbequem genug waren. Weiter starrte ich meinen Spiegel an. Ein gestresstes, angespanntes Gesicht starrte zurück. Die Hände verkrampft, die Zähen fest aufeinandergebissen. Ich musste mich zwingen aus zu atmen, versuchte die Spannung abzuschütteln. Ich seufzte und zog erneut den Saum nach unten. Während ich mich der Tür zu wand zog ich das Haarband aus der Tasche und band mir einen hohen Pferdeschwanz.

Eilig polterte ich die Treppe hinunter und ließ mit ein paar Handgriffen die Schlüssel und mein Handy in die Taschen meines Mantels fallen. Die Stiefel waren noch nicht trocken und meine Füße waren sofort kalt als ich sie anzog.

            „Ich geh dann jetzt los!“, rief ich den Flur hinunter.

Während ich in meinen Mantel schlüpfte tauchte der Kopf meiner Mutter im Türrahmen auf. Einen Moment lang sah sie mir nur still entgegen.

            „Ich kann immer noch mitkommen, Irene kann meine zwei Patienten heute Mittag sicher übernehmen.“

Lächelnd schüttelte ich den Kopf.

            „Das Krankenhaus liebt es, wenn die Ärzte spontan absagen, oder?“, ich lächelte schief. Mit einem Blick auf die Armbanduhr an meinem linken Handgelenk ging ich zu Tür.

            „Die Kirche fängt um zwei Uhr an. Es wird sicher fünf, bis ich wieder da bin.“

            „Okay. Pass auf dich auf.“

In der Tür blieb ich stehen und sah noch einmal schnell zurück.

            „Mach ich.“

Lächelnd schlüpfte ich hinaus in den Wind.

 

Das große Metalltor am Friedhofseingang quietschte filmreif, als ich die Klinke nach unten und das Tor nach innen drückte. Die Metallstreben waren ornamentartig verbogen und schlangen sich umeinander, bis sie in einem großen Bogen über das obere Ende verliefen und eine kleine Spitze in der Mitte bildeten. Metallisch scheppernd fiel es hinter mir ins Schloss.

Zwischen den Zweigen und auf den Knospen glitzerten noch die Tropfen des letzten Regens, während sich der Himmel inzwischen erneut zu zog und der Wind auf flaute. Es war still und außer meinen Schritten im Schotter des Weges war nichts weiter zu hören. Zügig ging ich zwischen den einzelnen Feldern entlang. Immer wieder führten die Pfade seitlich ab und tiefer in den Friedhof und zwischen die Gräber hinein. Schlichte Holzkreuze wechselten sich mit abgeschliffenen Steinplatten ab und Blumen in allen Formen und Farben waren in die kalte Erde gepflanzt und von Reisig bedeckt. Ab und zu tauchten größere Gräber auf, mit Statuen und Figuren von Tieren, kleinen Kindern oder religiösen Heiligen. Unter meinen Füßen knirschten kleine Steine und dünne Zweige.

Je näher ich der kleinen Kapelle in der Mitte des Friedhofs kam, desto häufiger entdeckte ich ein paar einzelne Menschen. In der Nähe der Kapelle blieb ich bei einer Engelsfigur aus Bronze stehen. Mit niedergeschlagenen Augen wachte sie über ein Doppelgrab. Ungefähr in der Größe eines Kindes, jedoch mit erwachsenen Gesichtszügen saß sie auf dem Rand einer großen rötlich schwarz melierten Steinplatte. Mit Silberfarbe waren Namen, sowie Geburts- und Sterbedaten eingeprägt. Regentropfen glitzerten auf dem Metall und Rinnsale aus Wasser zogen sich über die Figur. Eine kleine Pfütze hatte sich in der Vertiefung zwischen dem großen und dem zweiten Zeh gebildet. Ich strich über die glatte Oberfläche. Das Metall war brennend kalt. Mit Blick auf die kleine Kapelle verharrte ich im Schatten der halb ausgebreiteten Flügel.

Kleine Menschengruppen kamen langsam die ausgetretenen Pfade entlang und der kleine Platz vor der Kapelle füllte sich. Es wirkte wie ein großer atmender schwarzer Schatten, der sich dämpfend über den Friedhof legte. Ich hörte die ersten Schritte auf dem Weg hinter mir und wollte mich schon tiefer in den Schatten zurückfallen lassen. Doch es war eine Beerdigung, ich durfte hier sein. Vermutlich würden mich die Menschen, die kamen ohnehin nicht erkennen. Es war zu lange her, dass ich jemanden aus Laurens Familie getroffen hatte, außer ihrer Mutter. Sie wären genauso Fremde für mich, wie ich für sie. Ich löste mich von der Metallfigur und gab mir aller größte Mühe nicht so auszusehen, als hätte ich mich im Schatten versteckt, während ich hinaus auf den Weg trat. Ich sah in Richtung der Schritte. Eine größere Gruppe kam auf mich zu. Unerwarteterweise erkannte ich alle sechzehn Gesichter. Langsamen Schrittes zog meine Klasse geschlossen den Weg herauf. Ein bisschen seltsam war das schon, oder war es eventuell geplant gewesen?

Die Ersten stapften bereits an mir vorbei. Mit energischen Schritten, sodass die Steinchen in alle Richtungen davon spritzten und gegen meine Beine prasselten. Allen voran Melissa und Catharina, mit den ehrlichsten Gesichtszügen seit der Vorschule. Sie hatten mich in der siebten Klasse quasi abgelöst. Die typischen hübschen Mädchen die man in jedem Buch, jedem Film und ganz sicher auch in jedem Leben findet. Heute hatten sie nicht einmal einen missbilligenden Blick für mich übrig. Ehrlich gesagt war ich froh, dass sie traurig waren. Das bedeutete immerhin, dass Lauren ihnen wirklich wichtig gewesen war.

 

Die Glocke in dem kleinen Turm der Kapelle begann zu leuten und die kleine Versammlung auf dem Vorplatz setzte sich in Bewegung. Graue und schwarze Schatten schlüpften durch die Tür, hinein in den Bauch der Kapelle. Ich folgte meiner Klasse als Letzte und ging still mit ein wenig Abstand hinter ihnen auf das weiße Gebäude zu. An der letzten Reihe der Gräber standen die Trauerkränze bereit. Die dünnen Bänder, die die grünen Zweige umwanden flatterten im Wind. Ohne stehen zu bleiben folgte ich weiter dem Sog durch die Tür hindurch.

Hinter und vor mir standen Menschen und sortierten sich in die Bankreihen. Schmal geschnittene Bänke mit halb offener Lehne zogen sich durch den hohen Raum. Eine schwarze metallene Wendeltreppe in einer Ecke führte auf eine winzige Empore. Die Wände waren weiß und kahl, bis auf ein paar schmale Fenster an den Seiten, und an der Rückwand vertäfelt. Es gab weder Schmuck noch Prunk. In hohen Ständern standen einzeln acht weiße Kerzen, daneben ein kleiner Tisch. Gedeckt wie ein Altar mit Altartuch, Kreuz und Blumengestecken. Weitere Kerzen standen um eine dicke aufgeschlagene Bibel. Links davon, etwas weiter in den Raum gerückt stand ein schmales Rednerpult aus hellem Holz. Ein kleiner Teppich, aus dicken Fäden gewoben, fiel über die Oberkante, sodass sein spitz zulaufendes Ende knapp über dem Boden baumelte.

Ich schob mich in eine Bankreihe im hinteren Drittel auf der rechten Seite und blieb in der Nähe des Ganges neben einer älteren Frau mit krausen grauen Locken sitzen. Millionen Sommersprossen zierten ihre dünne Haut. Ihre Augen waren traurig umwölkt. Ich lächelte sie zaghaft an. Zitternd tätschelte sie mir die Hand bevor sie sich einer knackenden Tür zu wand.

Hinter dem provisorischen Altar war ein Panel der Wand geöffnet worden. Ein schmächtiger Mann in Jeans und Wanderschuhen schob den zweiten Flügel auf und sicherte ihn mit einem Metallhaken an der Wand. Eilig ging er hinaus. Einen Moment später schob er einen Sarg aus dunklem rötlichem Holz auf einem kleinen Wagen herein und ließ ihn vorsichtig, zwischen den beiden Kerzenreihen auf dem Boden ab. Der Deckel blieb geschlossen. Ihn zierte ein riesiges Bouquet aus zartrosa Lilien und violetten Veilchen. Ein weißes Band fiel, wie eine Borte über die gesamte Länge des Holzes.

Der Mann schob seinen Wagen zurück durch die doppelflügelige Tür und kam zurück, um die Haken zu lösen. Mit einem dumpfen hölzernen Hallen war er verschwunden und die Wand wieder eine kahle, weiße Barriere.

Während ich nach vorne geschaut hatte, hatten sich die restlichen Gäste in die Bänke sortiert und als der letzte Ton der Glocken verhallte, legte sich eine drückende Stille über den Raum. Man konnte spüren, wie jeder einmal tief Luft holte. Dann setzte die Orgel ein.

 

Es gab einen kurzen Abriss über das Leben der verabschiedeten Person und die Gäste weinten. Angehörige und Freunde erzählten von ihrer gemeinsamen Zeit, von ihren Erinnerungen und Momenten und die Gäste weinten. Es wurden Kerzen angezündet und Lieder gesungen und die Gäste weinten. Ich weinte nicht.

Am Ende standen alle in einer losen Reihe, um nach und nach den Hinterbliebenen ihr Beileid aus zu sprechen. Die Grüppchen hatten sich aufgelöst und neu sortiert und die Menschen hielten sich in den Armen. Ich stand ganz am Ende des Raumes, in der Ecke unter der Wendeltreppe. Froh, dass ich allein war. Ich hatte einen Kloß im Hals. Ich war nicht gerade ein Ass in sozialer Interaktion und hatte riesen Angst. Das Ende der Schlange vor mir rückte ein kleines Stück weiter. Was sollte ich bloß sagen? Dass es mir leidtat? Dass ich sie vermissen würde? Aber unsere Freundschaft war vor so langer Zeit zerbrochen, dass sie, selbst vorher schon, eine bloße Erinnerung gewesen war. Ich vermisste sie schon viel zu lange.

Unruhig huschte mein Blick durch den Saal. Meine Klasse hatte sich in kleinere Grüppchen zerlegt und stand verstreut vor mir in der Reihe. Viele hielten sich an den Händen. Der Klos in meinem Hals wuchs. Bis meine ruhelosen Augen plötzlich von einem Blick eingefangen wurden. Vorne neben dem Pult stand Laurens Mutter, rechts und links umrahmt von ihren Eltern. Sie lächelte mich traurig an. Ich versuchte zurück zu lächeln und legte eine Hand auf mein Herz. Ihr Mann hatte sich vor fast zehn Jahren von ihr getrennt und sie alleine mit einem kleinen Kind zurückgelassen. Und jetzt war auch ihr Kind fort. Ich hatte nicht darauf geachtet wer alles bei ihr stand, um das Beileid entgegen zu nehmen, doch ich war erleichtert, dass sie nicht allein war. Sie legte ihre Hand an ihr Herz und der Blick in ihren dunklen Augen drang tief in mich ein. Als hätte sie jeden Gedanken aus mir heraus gelesen nickte sie mir zu. Dann kippte sie den Kopf in Richtung der Tür und nickte erneut. Meine Finger krallten sich in den Stoff der Bluse, als ein nasser warmer Tropfen auf meinen Handrücken platschte. Erschrocken atmete ich ein und fuhr mit zwei Fingern durch mein Gesicht. Laurens Mutter lächelte, Tränen rannen über ihr Gesicht. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich weinte.

 

Ich erinnerte mich nicht, wie ich aus der Kirche gekommen war. Irgendwie musste ich mich durch die Menschen geschoben haben, um zu der kleinen Tür an der Seite des Schiffs zu gelangen. Kalte Luft schlug mir entgegen und klärte meine Sicht, während die Tür mit einem Wumm hinter mir zu fiel. Tief einatmend fuhr ich mir mit beiden Händen durchs Gesicht und drückte mir die Handballen auf die Augen. In meinem Kopf war alles graue Masse, ich hörte nur noch dumpf und die Farben der Blumen flickerten in meiner Sicht. Ich ging ein paar Schritte von der Tür weg und ließ mich auf den kleinen Steinrand fallen, der die Vorderseite der Kapelle wie eine Veranda umzog.

Ich wischte mir mit dem Ärmel über die Nase und starrte auf den Schotterplatz. Die Wolken zogen schnell über den Himmel und türmten sich dunkel. Es würde sicher bald wieder regnen, obwohl von den Ästen der Bäume noch immer das Wasser des letzten Schauers tropfte. Der Wind blies in meinen offenen Mantel und kalte Strudel kräuselten sich an meinem Hals und in den Ärmeln. Ich schauerte. Den Mantel fester um den Körper ziehend stand ich wieder auf. Es war sehr still hier draußen. Außer dem Tropfen des Wassers und ein paar knackenden Ästen war nichts zu hören.

Bisher war niemand aus der Kapelle gekommen. Ich drehte mich zu der weißen Wand um. Der Wind spielte mit den Seiten eines aufgeschlagenen Buches, das auf einem fragil wirkenden kleinen Tisch neben der Tür lag. Das Kondolenzbuch. Ich ging zurück unter das Vordach, dass sich wie der Steinrand über die gesamte Vorderseite der Kapelle spannte. Vorsichtig blätterte ich durch die dünnen Seiten. Die blaue Tinte war nicht schwer genug, um die Seiten nach unten zu drücken. Wenn ich mich schon nicht traute heute jemandem die Hand zu schütteln, sollte ich vielleicht wenigstens hier ein paar Worte zurücklassen.

Ich suchte nach Worten, während ich zur nächsten leeren Seite blätterte, doch alles was mir einfiel waren abgedroschene Floskeln. Nicht genug, um die Erinnerungen in Worte zu fassen. Gedankenverloren tastete ich nach einem Stift. Ich sah auf und blickte über den Tisch, doch außer dem Buch war er leer. Als wäre es ein Ausstellungsstück. Auch auf dem Boden darunter war nichts zu sehen. Vermutlich hatte ihn jemand mitgenommen als der Wind auffrischte, damit er nicht verloren ging.

Die Tür knackte und ich blickte auf. Erste Schritte und Stimmen drangen nach draußen. Ich strich die vom Wind zerzausten Seiten glatt und klappte den schweren Buchdeckel darüber zu. Bevor sich die Tür öffnete trat ich hinunter auf die freie Fläche und ging auf dem Weg zwischen den Gräbern davon.

Ich hätte sicher noch bleiben können, um mit der Verwandtschaft Kaffee zu trinken, doch ich war einfach schon zu weit weg. Allein sein konnte ich auch ohne Menschen um mich herum.

 

Ich wollte noch nicht nach Hause, also ging ich weiter die Straße hinunter, die vom Friedhof auf den Feldweg führte. In einem kleinen Bogen führte er um die Stadt und ein Stück weiter in den Wald hinein. Zwischen den grünen Nadeln der Bäume quollen dicke Tropfen hervor und überall im Wald plitschte und gluckerte es, als würde der Wald flüstern. Der Wind wiegte die obersten Zweige, doch am Boden war noch alles still. Fünfhundert Meter in den Wald hinein zweigte der erste Weg ab. Er führte leicht bergab auf die Umgehungsstraße und diente hauptsächlich als Einfahrt für Waldarbeiter. Noch ein paar hundert Meter weiter lichtete sich der Wald und öffnete sich nach rechts zu einem kleinen See.

Der See war nahezu kreisrund. Zwar versuchten immer wieder vereinzelt Menschen, vor allem Touristen, hier zu angeln, doch dafür war er inzwischen wohl zu matschig. Und viel zu sehr Tümpel als See, als dass man darin schwimmen könnte. Anzusehen war er jedoch wunderschön. Ich ging an der kleinen Holzhütte vorbei ans Ufer.

Seit Jahren war das hier mein Denkplatz. Die Luft war immer ein bisschen kühler als anderswo und meistens war nichts zu hören außer ein paar Vögeln, dem eigenen Atem und dem Gluckern und Rascheln im Wald. Es war still hier. Seit der See immer mehr Schlamm zu enthalten schien statt Wasser blieben die meisten Menschen fort. Früher hatten wir hier gespielt, die Holzhütte war das Zentrum unserer Mysterien gewesen. Durch die staubigen Fenster konnte man Schatten und von Laken bedeckte Formen sehen. An den klapprigen Holzwänden standen allerlei Geräte und in der Nähe der Tür waren ein paar Heuballen gelagert. Seit Lauren, Jonas und ich mit Zehn Jahren jedoch durch das Oberlicht geklettert waren, hatte sie von Jahr zu Jahr von ihrem Reiz verloren. Sie gehörte dem Förster und anstelle von Drachen und Prinzessinnen oder Geiseln und Leichen versteckten sich unter den Laken nur alte Waldmaschinen. In einer Ecke stand ein kleiner Tisch mit Lampe und rund herum waren Holzbeugen aufgestapelt. Bei den Heuballen lag ein Sack Körner für die Vögel im Winter.

Ich strich mit der Hand das Wasser von der Bank und setzte mich auf das feuchte Holz. Große Wolken verdunkelten den Himmel und spiegelten sich in der trüben Oberfläche des Sees. Ein erster Donner grollte in der Ferne und der Wind frischte auf. In meinem Kopf konnte ich die Stimme meiner Mutter hören. „Wo bist du solange gewesen?“ Doch ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren, wahrscheinlich war es noch gar nicht so spät und sie selbst noch nicht zu Hause. Ich streckte die Arme und baumelte mit den Beinen, während es sachte zu nieseln begann.

 

 

 

 

Februar

Der Tod der Caroline Hansen wird bislang als Unfall geführt. Aufgrund des nahezu identischen Aufbaus der Folgefälle wird nun genau dies ausgeschlossen. Die Ähnlichkeit der Umstände ist zu groß und die Fälle zu häufig, um sie als Zufall wahrzunehmen. Da in der Wiederholung keine Fehler auftreten, muss es sich um ein menschlich induziertes Muster handeln.

3.

 

 

 

 

 

 

 

Ich ließ mich tiefer in den Stuhl sinken und streckte die Beine lang unter dem Tisch durch. Draußen prasselte noch immer der Regen und trommelte unerbittlich an die Scheiben. Schon seit Tagen herrschte diese Weltuntergangsstimmung und das trübe grau in grau des Himmels war eine undurchdringliche Masse geworden. Es war ziemlich still im Raum. Außer meiner Lehrerin, die sich an der Tafel in Ausschweifungen über die 50er Jahre verlor, saßen alle mit hängenden Schultern und Schlaf in den Augen tief in ihren Stühlen. Als wäre Geschichte nicht ohnehin schon ein wenig mitreisendes Fach, hatte man es auch noch in die erste Stunde gelegt. Und obwohl es offensichtlich niemanden interessierte plapperte sie weiter über ihre spannenden Jahre, für die sie viel zu jung war, als dass sie sie zwischen 1950 und 1959 hätte erlebt haben können.

Gelangweilt schob ich meine Hände in das Gitterfach unter dem Tisch. Wir waren in einem der Fünftklässler- Räume gelandet, wo die Tische auf niedrigste Höhe eingestellt waren und man mit dem Stuhl beinahe auf dem Boden saß. Ich hatte Glück, in der ersten Reihe konnte man wenigstens die Beine ausstrecken, ohne jemandem in die Quere zu kommen. Doch mit Hilfe des Spiegels über dem Waschbecken vor mir, konnte ich die restliche Klasse betrachten. Mit ihren angewinkelten Beinen, die Knie tief zwischen die Metallstäbe des Fachs unter der Tischplatte geklemmt. Teilweise balancierend, weil die Tischbeine kürzer als die Menschenbeine waren.

Ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern jemals komfortabel an diesem Tisch gesessen zu haben. In den letzten Jahren waren die Tische mitgewachsen, nur um in der zwölften Klasse wieder in einem Zimmer mit Miniaturmöbeln zu landen.

Leise zupfte ich eine unhörbare Melodie an den aufgebogenen Enden der Metallstäbchen. Mein Blick schweifte weiter über die Spiegelung des Raumes. Ein paar meiner Klassenkameraden konnten kaum die Augen offenhalten. Unbemerkt zuckten sie immer wieder leicht zusammen, wenn ihr Kopf zur Seite kippte. Ich schmunzelte. In dieser Klasse folgten nur wenige dem Vortrag mit interessiertem Funkeln in den Augen. Es war eine eher kleine Schule, da wir in einem ebenso eher kleinen Ort waren. Die mit echtem brennendem Interesse, hatten Geschichte als Leistungskurs gewählt. Der Rest von uns war bunt zusammengewürfelt auf zwei Klassen aufgeteilt worden. Und die eine davon hatte man, mit welcher Motivation auch immer, in die erste Stunde am Montagmorgen gelegt. Jegliches verbliebenes Interesse hatte sich spätestens da, ganz rasant, dem Nullpunkt genähert.

Ein dumpfes „Klonk“ lenkte meinen Blick direkt hinter mich. In der letzten Reihe war Phillipp der Kopf auf den Tisch gefallen. Die linke Hand, noch immer den Stift halten, war vom Blatt gerutscht und baumelte knapp über dem Boden. Bis vor zwei Jahren hätte das alle in helle Aufregung versetzt, doch heute unterbrach Frau Tremmel nicht einmal ihren Vortrag, um ihn anzusehen.

Phillipp hatte Narkolepsie. Eine Krankheit bei der einem ab und zu einfach der Kopf auf den Tisch fällt. Nein, Narkolepsie ist eine Schlafkrankheit, bei der der Patient manchmal, ohne Vorwarnung, einfach einschläft. Es gibt ein paar Sonderformen, so dass zum Beispiel in manchen Fällen auch nur der Körper einschläft, aber der Kopf noch wach ist. Die Muskeln lösen dann einfach jede Spannung und man fällt um, als würde man schlafen. Nur dass man eben noch wach ist. Ganz unpraktisch beim Treppen steigen. Aber abgesehen davon haben die meisten Patienten einfach Schlafprobleme. Manchmal auch Depressionen und andere ähnliche Begleiterscheinungen. Zumindest hatte man uns das so erklärt, als er die Diagnose bekommen hatte.

Ich zupfte weiter meine unhörbare Melodie, als mein Blick auf seine rechte Hand fiel. Ich kniff die Augenbrauen zusammen. Wie eine Spinne wanderte seine Hand über sein Blatt und sein Buch, bis sie auf einen Bleistift stieß. In Windeseile begann er zu schreiben. Ich sah auf seine linke Hand, die noch immer in der Luft schwebte und langsam den Halt um den Füller verlor. Noch nie hatte ich ihn mit rechts schreiben sehen. Sein Gesicht war ganz ruhig und entspannt, nichts wies darauf hin, dass er das bewusst tat.

Irgendetwas war seltsam. Selbst als Scherz machte es keinen Sinn, denn niemand achtete auf ihn. Dass er im Unterricht weg nickte war mittlerweile schon zu normal.

            „Maeve!“

Ich zuckte zusammen. Mein Handrücken schlug gegen die Unterseite der Tischplatte und ein pochender Schmerz explodierte in meiner Haut. Die Klasse kicherte.

            „Können Sie meine Frage beantworten?“ Frau Tremmel hatte ihren Vortrag unterbrochen und fixierte mich jetzt mit vor der Brust verschränkten Armen. Sie war sichtlich gekränkt, dass ich etwas Interessanteres gefunden hatte, als ihren Unterricht. Ihr Blick wurde zunehmend selbstsicherer, und damit herablassender. Langsam setzte ich mich aufrecht hin, um meinem Gehirn etwas Zeit zu verschaffen. Meine Gedanken rasten, während meine Erinnerung eine Kurzfassung der Informationen abspulte mit denen Frau Tremmel, mit ihrer wahnsinnig femininen Stimme, meine Gehörgänge malträtiert hatte.

Ja. Es war alles da, bis zu dem Moment als ich mich auf die wandernde Hand konzentriert hatte. Ich hatte keine Ahnung was Ihre Frage gewesen sein könnte. Dennoch räusperte ich mich prophylaktisch. Mein Herz pochte, während ich nach einer Antwort suchte, die mich nicht wie der letzte Trottel wirken ließ.

            „Ich wollte nur, dass Sie wieder aufpassen“, unterbrach sie meinen Atemversuch. Sie bedachte mich mit einem siegessicheren Lächeln und wandte sich wieder der Klasse zu, um ihre Frage selbst zu beantworten.

Ich fühlte mich blass. Obwohl mir mein Herz noch immer bis zum Hals pochte und das Blut in meinen Ohren rauschte, war ich furchtbar erleichtert. Ohne es zu wissen hatte sie mir einen Gefallen erwiesen. Normalerweise konnte ich auf ihre Fragen antworten, selbst wenn ich vorher neunundachtzig Minuten aus dem Fenster gestarrt hatte, das wusste sie inzwischen. Nicht antworten zu dürfen wäre daher, ihrer Wahrnehmung nach, wohl strafender für mich. Es war nicht leicht an einem Streber ein Exempel zu statuieren.

Langsam ließ meine Anspannung nach und ich zog meine Hände aus dem Fach. Auf meinem rechten Handrücken waren lange Kratzer und kleine Blutstropfen saßen in Reihen nebeneinander, wie Vögel auf einer Stromleitung. Ich zog ein Taschentuch aus meiner Hosentasche und tupfte darüber. Immerhin konnte man von einer Spanblatte keine Spreisen bekommen. Mit der linken Hand tastete ich die Unterseite des Tisches ab. Nachdenklich verzog ich das Gesicht. Sie wirkte ganz normal. Eine flache, glatte Oberfläche. Dann erspürte ich einen kleinen Rand. Mit den Fingerspitzen fuhr ich die Kante entlang. Es fühlte sich an wie ein kleines Viereck, vielleicht einen Millimeter tief. Die Kanten waren wellig und unsauber geschnitten. Ich zog die Hand wieder hervor. Vermutlich hatte irgendein gelangweilter Schüler mit seiner Schere heimlich blind am Tisch herum geschnitzt. Ich seufzte innerlich und blickte zur Tafel. Frau Tremmel hatte die sechziger Jahre erreicht und eine kleine Aufstellung der wichtigsten Ereignisse aufgelistet.

 

Der Gong löste die Starre aus den Schülern, wie warmes Wasser. Gegen den plötzlich steigenden Lärmpegel ankämpfend versuchte Frau Tremmel ihren Vortrag zu beenden und Aufgaben zu verteilen, während die Ersten schon den Raum verließen. Man sollte meinen, dass sich diese Situation mit der Zeit verliert und alle brav warten bis die Stunde auch inhaltlich vorbei ist. Aber nein, gerade jetzt wo es auf den Abschluss zu ging, gab es kein Halten mehr. Teilweise fehlte der halbe Kurs. Und ich war nicht sicher, ob sie fehlten, um für ihre Schwerpunkte zu lernen.

Nach wenigen Momenten war der Raum wie leergefegt, nur hier und da waren noch ein paar Nachzügler übrig, die gemütlich die Klappen ihrer Taschen schlossen und die Schnallen klicken ließen. Auch Frau Tremmel stand schon an der Tür. Nachdem ein Trupp quatschender Mädchen den Raum verlassen hatte, drehte sie sich noch einmal um.     

            „Vielleicht sollte jemand hierbleiben“, sie wedelte wage mit der Hand in Philipps Richtung.  „Ich bin mir nicht sicher, ob man Narkoleptiker wecken darf. Bei Epilepsie macht das ja alles nur schlimmer..“

Sie sah kurz nachdenklich auf das schlafende Gesicht, drehte sich dann um und war schon aus dem Raum, bevor irgendjemand auch nur hätte nicken können. Ich drehte mich nach hinten um, während ich den Reißverschluss meines Rucksacks zu zog.

            „Ich hab‘ gleich Physik. Ich glaube die ist ziemlich sauer, wenn man da zu spät kommt“, sagte Max, der wie immer ruhelos, mit wippendem Knie am Ende der Tischreihe stand und ungeduldig an seiner Wange kaute. Außer ihm war niemand mehr im Raum. Ich nickte.

            „Ist okay. Wir haben die nächste Stunde sowieso zusammen, dann kann ich ihn auch hinbringen.“

            „Du bist super.“ Seine Augen strahlten, als er beide Daumen in die Höhe reckte und aus dem Zimmer sprintete.