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Im Wilhelmshavener Pflegezentrum Sanfte Wellen kommt eine alte Frau ums Leben. Kurz darauf wird die zuständige Pflegerin bestialisch ermordet in den Salzwiesen aufgefunden. Was hat Hubert Lambacher, der Sohn der alten Frau damit zu tun? Welche Rolle spielt der Heimleiter Thiemo Hanken? Seine junge und sensible Ehefrau Linda fühlt sich bedroht, weiß die Zeichen aber nicht zu deuten. Erst kurz zuvor hat sie Thiemo geheiratet und mit ihm in Neustadtgödens ein Haus gebaut, war glücklich, in ihm einen Vater für ihren Sohn Laurin gefunden zu haben. Die Idylle bekommt bald Risse, durch die immer mehr Unangenehmes hereinzusickern und Bedrohliches hindurchzuschimmern scheint. Nach und nach zeigt sich, welch perfides Spiel und gut gehütetes Geheimnis hinter all dem steckt. Die Gefahr, in der sie und ihr Sohn schweben, erkennt Linda viel zu spät.
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Seitenzahl: 313
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Regine Kölpin
Krähenflüstern
Kriminalroman
Regine Kölpin ist 1964 in Oberhausen geboren, lebt seit dem 5. Lebensjahr an der Nordseeküste und schreibt Romane und Geschichten unterschiedlicher Genres. Sie ist auch als Herausgeberin tätig und an verschiedenen Musik- und Bühnenproduktionen beteiligt. Außerdem hat sie etliche Kurztexte publiziert. Regine Kölpin ist verheiratet mit dem Musiker Frank Kölpin. Sie haben 5 erwachsene Kinder, mehrere Enkel und leben in einem kleinen Dorf an der Nordsee. In ihrer Freizeit vereisen sie gern mit ihrem Wohnmobil, um sich für neue Projekte inspirieren zu lassen. Dabei haben sie auch Usedom entdeckt und lieben gelernt. Ihre Lesungen gestaltet die Autorin oft mit dem Gitarrenduo »Rostfrei«. Mehr unter www.regine-koelpin.de
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
(Originalausgabe erschienen 2007 im Leda-Verlag)
Herstellung: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer
unter Verwendung eines Fotos von: © Andreas / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6444-7
Elfriede Lambacher legte sich eine Decke über die Beine. Es zog. Dieser stürmische Ostwind fegte nicht nur lautstark über den Jadebusen, er drang auch durch die feinsten Poren der Wände in die Häuser. Elfriede rührte in ihrer Tasse und sah auf die Uhr. Gleich musste Hubert kommen, wie jeden Tag.
Sie trank den Nachmittagstee stets zusammen mit ihrem Sohn und nahm ihn nicht mit den anderen Heimbewohnern im Speisesaal ein. Ihre Mitmenschen gingen ihr auf die Nerven, deshalb hatte sie auch keinen engeren Kontakt zu irgendjemandem.
Elfriede sah ungeduldig auf die Uhr. Hubert hätte längst hier sein müssen, er kam immer auf die Minute pünktlich. Der Löffel klirrte überlaut, als sie ihn auf die Untertasse zurücklegte. Sie würde den Tee nicht trinken. Nicht allein.
Ungehalten rollte sie mit dem Rollstuhl zentimeterweise hin und her. Hubert gehörte einfach des Nachmittags an ihre Seite. Es war gut, dass er es normalerweise auch so sah. Sie hatten schließlich viel Zeit nachzuholen. Und sie hatten nur sich.
Elfriede kurvte zu der überdimensionalen Fensterfront. Die bescherte ihr zwar eine erstklassige Sicht auf den Jadebusen, aber ließ im Sommer auch die Sonne aufdringlich ins Zimmer scheinen. Jetzt vermittelte sie ihr das Gefühl, inmitten dieses Sturmes zu sitzen, der selbst die vorwitzigen Silbermöwen aus der Bahn warf.
Der Jadebusen war weiß von der aufgewühlten Gischt und die Wellen donnerten bedrohlich ans Ufer. Sie leckten teilweise schon an dem Betonweg, auf dem sie sonst mit Hubert spazieren fuhr.
Elfriede verzog das Gesicht. Laufen konnte sie seit drei Jahren nicht mehr. Seitdem sie ihr die Beine oberhalb des Knies abgenommen und sie zu einem hilflosen Krüppel gemacht hatten. Wie gern wäre sie nur noch einmal auf eigenen Füßen dort entlangspaziert. Nur ein einziges Mal. Eine Windböe donnerte gegen die Scheibe. Elfriede sackte ergeben in ihrem Rollstuhl zusammen.
Im Heim war es heute außergewöhnlich ruhig. Keine Schritte auf dem Flur, kein Geschirrklappern störte. Vielleicht hatte ihr Donnerwetter, das sie in der letzten Woche beim Geschäftsführer abgelassen hatte, ja doch Wirkung gezeigt.
Das einzige Geräusch war dieses Windgetöse, das jetzt von dem lauten Klingeln des Telefons zerhackt wurde. Elfriede rollte zum Tisch. Dort stand ein altmodisches Gerät, überzogen mit rot-samtigem Stoff. »Ja?«, sagte sie unwirsch.
»Hallo, Mutter! Mein Auto ist kaputt. Ein Reifen zerstochen. Ich komme heute nicht«, sagte Hubert.
Elfriede ließ den Hörer kommentarlos auf die Gabel sinken.
Er könnte den Bus nehmen, dachte sie. Aber er tut es nicht. Er tut es einfach nicht.
Es war das erste Mal, dass er nicht kam. Resigniert rollte sie zum Fenster zurück und verfolgte weiter das Spiel des Windes mit den Wellen, bis das Hinausschauen durch die aufkommende Dunkelheit zu anstrengend wurde.
Der Tee stand schal, mit einer feinen, dünnen Haut bedeckt, auf dem Tischchen. Das Marmeladentöpfchen der Zwischenmahlzeit war unberührt.
Elfriede wusste, dass es wegen ihres Diabetes nicht gut war, das Brot stehen zu lassen, zumal sie schon das Mittagessen kaum angerührt hatte. Es war völlig versalzen gewesen, aber anscheinend hatte nur sie das gemerkt; den anderen schmeckte es. Elfriede war bekannt für ihr ständiges Genörgel, wurde nicht mehr ernst genommen.
Sie starrte stumpf gegen die Scheibe, die noch immer leise unter den Windböen ächzte, dann nickte sie ein.
Nach einer Weile schreckte Elfriede hoch, das Zimmer lag völlig im Dunkeln. Sie merkte, dass ihre Hände leicht zitterten und ihre Bluse feucht war. Sie musste die Schwester rufen.
Gerade als Elfriede zum Lichtschalter rollen wollte, klackte die Tür. Nur leise – sicher hatte die Pflegerin schon ein schlechtes Gewissen, weil sie sich so lange nicht hatte blicken lassen. Aber wahrscheinlich dachte sie, dass Hubert bei ihr sei. Wie jeden Nachmittag.
»Schwester, Sie waren lange nicht da und mir geht es nicht gut. Mein Sohn ist nämlich gar nicht gekommen!«, sagte Elfriede in schneidendem Ton. Das ging immer, egal wie sie sich fühlte. Sie zählte es zu ihren Aufgaben, das Personal frühzeitig auf seine Fehler aufmerksam zu machen, damit keine Luscherei einsetzte. So hatte sie das stets gehalten und sich Respekt verschafft.
Die Tür klackte ein zweites Mal, aber der erwartete Lichtschein blieb aus.
Offenbar war die Schwester gar nicht erst ins Zimmer gekommen, hatte nur kurz hereingeschaut und war wieder gegangen. Es war eine Schande, wie Elfriede heute behandelt wurde. Das würde Ärger geben, da konnte sich das Personal sicher sein. Nun musste sie klingeln und sich um etwas zu essen kümmern, denn das Zittern der Hände hatte zugenommen. Die Müdigkeit umklammerte ihre Oberschenkel wie ein Schraubstock.
Doch als sie ihre Hand an den Bügel des Rollstuhlrades legte, hielt sie inne. Ein leichtes Atemgeräusch wehte zu ihr herüber. Es war doch jemand im Zimmer.
»Hubert?«, flüsterte sie. »Bist du es?«
Das leise Atmen setzte für einen Moment aus.
Elfriede versuchte den Rollstuhl zu drehen, um die rettende Klingel zu erreichen, aber sie rutschte mit ihren schweißnassen Händen ab. Sie fiel vornüber und konnte sich gerade noch ausbalancieren.
Dann wurde sie von hinten gepackt und fest in den Rollstuhl gezogen.
Der Stich durch die Perlonstrumpfhose in den Oberschenkel kam gezielt. Einen Moment klammerte sich Elfriede an die Hoffnung, es möge doch einfach nur die Schwester sein, die ihr heute das Insulin eigenhändig verabreichte, weil sie selbst häufig recht nachlässig damit umging.
»Sie müssen erst den Zucker messen, ich habe kaum gegessen«, flüsterte sie. »Seit heute …«
Elfriede hörte am Klacken, dass es einer ihrer Pens war, der in ihrem Fleisch steckte. Sie hatte beide stets auf der Kommode am Eingang in einer Schale liegen.
»Ich habe …«, versuchte sie es wieder und wollte sich aus dem Griff befreien.
Aber gerade, als sie schreien wollte, wurde die Nadel aus ihrem Bein gezogen. Ein Lederhandschuh legte sich über ihren Mund. Sie hörte ein ersticktes Glucksen, das sie erst kurze Zeit später sich selbst zuordnete. Ihre Minuten liefen ab. Elfriede konnte die Sekunden auf der beleuchteten Zifferntafel des Weckers verfolgen. Sie lauschte dem monotonen Klacken, und ihr wurde bewusst, dass dieses Ticken wohl das Letzte war, was sie in ihrem Leben hören würde.
Irgendwann, der große Zeiger war ein gutes Stück weitergekommen, ließ die Hand Elfriede los. Ein schwarzer Schleier legte sich auf die alte Frau, unter dem sie nun rasch verschwand.
*
Thiemo Hanken steckte den Stecker der Baulampe in das Aggregat. Kaltes Licht durchflutete den Neubau.
»Wie ungemütlich!« Linda griff nach seiner Hand. Bei dem kalten und stürmischen Wetter war sie froh, sich im Inneren des Hauses aufhalten zu können, obwohl sich der Wind seinen Weg auch hier hinein suchte. Ihre Körper warfen große Schatten an die Wände. Linda konnte der Versuchung nicht widerstehen, mit Zeige- und Ringfinger ein Häschen an die Wand zu werfen.
»Lass das!« Thiemo fuhr sich mit der Hand durch sein dunkles, akkurat geschnittenes Haar. »Laurin ist doch gar nicht da!«
Er küsste seine Frau, dass die bunte Norwegermütze, die sie über ihre blonden Haare gezogen hatte, zur Seite rutschte.
»Nun zeig, was du mir zeigen wolltest«, sagte Linda. Sie schob ihn vorsichtig weg, als er begann, ihre Jacke zu öffnen. »Nicht! Es ist hier einfach … zu kalt, keine Atmosphäre …« Linda zuckte mit den Schultern und rümpfte die Nase. »Geht halt nicht. Noch nicht.«
Es war zur Zeit weder im Haus selbst noch außen herum besonders schön. Die Straße konnte man kaum als solche bezeichnen. Tiefe, mit Wasser gefüllte Schlaglöcher wechselten sich mit schlammüberzogenem Asphalt ab und die Grundstücke ringsum waren noch lehmige Graswüsten. Ihr Haus war erst das dritte, das im letzten Teil des Neubaugebietes in Neustadtgödens gebaut wurde.
Das Grundstück neben ihnen war aber bereits ausgebaggert, nur lag es wegen des Frostes brach. Ein Grundstück weiter stand das Haus von Sinje und Hanno Probst.
Linda hatte die beiden in der letzten Zeit nicht oft zu Gesicht bekommen, es hatte sich einfach nicht ergeben. Aber das würde sich bestimmt bald ändern. Sie waren Freunde von Thiemo. Linda war erst wenige Male dabeigewesen, wenn sie zusammengesessen hatten, aber sie waren gut miteinander klargekommen.
»Bin froh, wenn wir erst tapezieren und schöne Fußböden drin haben«, sagte Linda. »Dann ist das schon anders hier.« Ihre Stimme weckte ein Echo in den kahlen Räumen. Noch hatte sie keine Beziehung zu dem Haus.
Linda zog die Schultern fröstelnd zusammen. Die Räume wirkten gedrungen und düster. Der graue Putz der Wände und die Leiter, die an Stelle einer Treppe den Zugang zum oberen Stockwerk ermöglichte, ließen nicht einen Moment vergessen, dass sie sich auf einer Baustelle befanden. Dazu kam das schreckliche Wetter draußen.
»Lass uns gleich noch etwas zu Abend bei dir essen«, sagte Linda. »Ich bin total hungrig und Laurin wird bei seiner Tagesmutter gegessen haben.«
»Gute Idee. Ich habe Ravioli im Angebot. Und eingeschweißte Tortellini.« Thiemo streichelte Linda am Hals. »Wir werden hier glücklich sein. Bestimmt.«
Er wirkte völlig entspannt, ein normaler Zustand bei Thiemo. Es gab nur wenige Augenblicke, in denen er nicht locker durchs Leben ging. Linda war da etwas anders gestrickt, dachte komplizierter. Bislang hatte es sich jedoch optimal ergänzt.
Das Haus war für Thiemo so etwas wie der Höhepunkt seines Lebens. Jedenfalls schien es Linda so. Thiemo war seit zwei Jahren Leiter eines großen Seniorenpflegezentrums. In seiner beruflichen Position hatte man einfach ein Haus und eine Familie, das machte sich gut.
Linda kam sich trotzdem nicht benutzt vor, dazu liebten sie sich zu sehr. Im Prinzip freute sie sich ja auch auf das Haus. Für sie war jetzt nur die Umstellung etwas schwierig. Sie war erst vor eineinhalb Jahren Hals über Kopf von Köln nach Norddeutschland zurückgekehrt, hatte dann allein in Jever gelebt. Und nun zog sie in dieses kleine Dorf, wo sie außer Sinje und Hanno niemanden kannte. Thiemo dagegen kam aus Sande, dem Nachbarort. Für ihn war es kein Problem.
»Ich glaube auch … – hoffe einfach, dass wir glücklich werden«, sagte Linda.
Sie versuchte, ihre kritischen Gedanken zu verdrängen, indem sie sich überlegte, wo sie die alte Kommode am besten hinstellen könnte. Alte Sachen brauchten einen ehrwürdigen Rahmen. Sie durften nicht wahllos irgendwo platziert werden.
»Wollen wir los?« Thiemo griff nach Lindas Hand und zog sie rasch an sich. Er hatte sein spezielles Rasierwasseraufgelegt. Linda legte ihr Gesicht in seine Halsbeuge und sog den Geruch auf. Thiemo umschlang sie mit seinen kräftigen Armen. Es war gut, so wie es war.
»Hallo? Seid ihr da?« Sinje und Hanno traten in den Flur. »Wir kommen gerade von der Arbeit und dachten, wir sagen mal Guten Tag. Sind doch ein bisschen neugierig! Dürfen wir?«
»Klar, kommt rein!« Thiemo ließ Linda los. »Wenn ihr mit der Baulampe genug seht!« Er zupfte seinen grell getupften Schlips zurecht, prüfte mit der Hand seine Frisur und machte eine einladende Handbewegung. »Voilà!«
Sinje grinste. »Hallo? Du bist nicht auf der Arbeit! Du sollst uns das Haus nur zeigen, keinen Heimplatz verkaufen! Wir sind schon untergebracht!«
Linda sah, dass Thiemo sich ärgerte, von Sinje zurechtgewiesen zu werden. Aber er sagte nichts, sondern hielt an seinem gewinnenden Lächeln fest. Eben locker bleiben. Linda grinste in sich hinein.
»Das ist ja wie ein Schattenkabinett hier«, sagte Sinje und schaute ins Wohnzimmer. »Aber es wird schön, das sieht man trotzdem. Es sieht schon jetzt so … Yin-und-Yang-mäßig aus.«
Linda lachte. »Woran siehst du denn das auf dieser schrecklichen Baustelle?«
»An Thiemos Augen und seinem Chi. – Nee, im Ernst, Linda, Thiemo hat von deiner esoterischen Ader erzählt. War nur ein Witz!« Sie lachte so warm und herzlich, dass Linda mit einstimmte. »Hat Thiemo heute direkt mal pünktlich Feierabend gemacht, was?«, fragte Sinje.
Linda nickte. Es kam nicht oft vor, dass er rechtzeitig zu Hause war.
»Ich will Hanno kurz was zeigen«, sagte Thiemo. »Oben habe ich eine Leuchte mit Batterien, müsste gehen. Komm, Hanno!«
»Beeil dich aber«, sagte Linda. »Das First-Class-Menü wartet auf uns.« Sie wandte sich an Sinje. »Was er mir zeigen wollte, hat er augenscheinlich vergessen.«
Hanno drehte sich am Fuß der Leiter um und lächelte Linda zu, bevor er nach oben kletterte.
Es war schon seltsam, dass sie es ausgerechnet Thiemos Fußballkumpel zu verdanken hatten, dass sie nun verheiratet waren. Denn er war es gewesen, der Thiemo im letzten Winter mit in die Marktschenke in Jever geschleppt hatte, wo Linda abends als Aushilfe am Tresen bediente, um ihr schmales Budget aufzubessern.
Hanno war ihr erst nicht gerade sympathisch gewesen, aber als sie ihn dann näher kennen lernte, revidierte sie ihre ursprüngliche Meinung. Inzwischen erschien es Linda wie ein Wink des Schicksals, dass er dort eines Abends am Tresen gesessen und sie mit Thiemo bekannt gemacht hatte.
Danach war alles so schnell gegangen. Die Hochzeit, ganz heimlich, ohne Aufsehen, ohne Feier. Schließlich dieser Hausbau, den sie spontan entschieden hatten, verliebt wie sie waren.
Thiemo war immer die treibende Kraft gewesen. Er hatte sie ganz schnell in sein Leben integriert und sie war einfach nur froh gewesen, endlich irgendwo angekommen zu sein.
Jetzt konnte sie Laurin, ihrem Sohn, alle Sicherheit geben, die er brauchte und so vermisst hatte. Linda hoffte einfach, dass aus Thiemo jetzt, wo sie ihr Leben zusammen verbringen konnten, ein guter Ersatzvater werden würde. Bei seinem Charme zweifelte sie eigentlich nicht daran.
»Ich hoffe, ich bekomme es so schön hin, wie ihr es habt«, sagte Linda. Bei Sinje und Hanno wirkte alles perfekt. Selbst der Rasen hatte sich im letzten Herbst noch mit großer Energie durch den kleihaltigen Boden gebohrt. Vor den Fenstern hingen bunte Baumwollgardinen und die Fensterbänke schmückten kleine Tonfiguren.
»Das wird, keine Sorge. Dauert eben.«
»Ihr seid schon so weit; als würdet ihr seit Jahren drüben wohnen.«
Sinje lachte und schüttelte ihre langen tiefroten Locken in den Nacken. »Hanno ist halt ein Pedant. Ihm kann es immer nicht schnell genug gehen, alles muss sofort fertig sein. Und wehe, ein Grashalm wächst schief! Ist manchmal ganz schön anstrengend.«
Ihre Nachbarin hatte etwas Faszinierendes, was sicher an den schönen, grünen Katzenaugen, aber auch an der dunklen und rauchigen Stimme lag. »Warte erst mal ab, bis du Hanno richtig kennen lernst. Vielleicht denkst du dann anders! Nicht, dass der bei dir noch Unkraut rupft, damit es nicht zu uns weht.«
»Ich hätte nichts dagegen«, sagte Linda lachend. »Mit der Gartenarbeit kenne ich mich nämlich gar nicht aus. Ich zupfe wahrscheinlich ständig das Falsche aus der Erde.«
Die Stufen der Leiter knarrten, als die beiden Männer wieder nach unten kletterten. »Nun dauert es nicht mehr lange und wir beiden spielen mit Laurin die perfekte Familie«, sagte Thiemo.
»Perfekt soll es ja gar nicht sein, aber einfach … gut«, lächelte Linda. Da Thiemo mit der Leitung seines Pflegezentrums Sanfte Wellen in Wilhelmshaven viel zu tun hatte, würde Linda ihren Job als Kassiererin aufgeben und zunächst bei Laurin zu Hause bleiben. Wenigstens so lange, bis sich das Leben zu dritt eingependelt hatte.
Thiemo sah auf die Uhr. »Seid nicht böse, aber wir müssen los. Kurz was essen und dann muss Linda zu Laurin.«
»Kein Problem. Wie ich Hanno kenne, gibt es im Haus bestimmt noch was zu tun«, meinte Sinje. »Bevor er nachher zum Training verschwindet.«
»Ich schaffe es heute bestimmt nicht zu kommen«, sagte Thiemo.
»Ich entschuldige dich. Bau ist Bau, kenne ich.« Hanno legte die Hand auf Thiemos Schulter, fixierte dabei aber Linda lächelnd. Er hatte eigentümlich helle Augen, die gar nicht so recht zu seinem Gesicht passten.
»Du musst verstehen, dass du nicht bleiben kannst, hörst du?« Die Stimme ist weich, streichelt ihn mit den Vokalen. Die Hand gleitet über seine dunklen Haare. Als sie damit aufhört, greift sie ohne zu zögern in seinen Schrank, zieht die Sachen heraus und packt den Koffer. »Ich gebe dir etwas von mir mit«, sagt sie und reicht ihm eine durchsichtige Tüte mit einer kleinen blonden Haarsträhne. »Ich werde immer an dich denken, aber jetzt kann ich nicht mehr bei dir sein. Später werde ich dich wieder holen. Ganz bestimmt. Verlass dich drauf!«
Sie schließt den abgeschabten Koffer, der dabei ein leises Ächzen von sich gibt. Zur Befestigung zurrt sie einen Gürtel darum. Der Junge freut sich ein bisschen auf die große Reise, aber er hätte es schöner gefunden, wenn sie mitgekommen wäre.
Angst hat er nicht, denn ihre Stimme klingt recht fröhlich und sie plappert munter weiter. »Du kommst zu netten Leuten. Leute, die fest an Gott glauben und gut auf dich aufpassen werden.«
Er kennt die Leute aus der Kirche. Sonntags gehen sie immer dorthin. Es ist warm und hinterher gibt es Kekse und Tee.
Er nickt. Alles ist halb so wild. Sie würde ihn wieder zu sich holen, ganz bestimmt. Sie hat es gesagt.
»Du musst lange fahren«, plaudert sie weiter und steckt ihm ein Malbuch ein. »Damit es nicht langweilig wird.« Ihre Stimme klingt jetzt doch komisch. Als ob sie weinen würde, wenn sie weiterredet. Und so sagt sie nichts mehr, schaut nur immer wieder aus dem Fenster.
Als der weiße VW-Bus mit der roten Schrift auf den Hof rollt, nimmt sie ihn in den Arm und versinkt mit ihrer Nase ganz in seinem Haar. »Es ist nur für kurz, mein Kleiner. Bestimmt. Nur für kurz. Bis ich es hier im Griff habe. Vertrau mir!«
Sie winkt ihm hinterher, bis er um die Ecke gefahren ist. Er starrt aus dem Fenster, wo die Bäume an ihm vorbeisurren. Der Mann am Steuer hat noch nichts zu ihm gesagt. Der Junge nimmt seinen Plüschhasen und zieht ihn vor das Gesicht. Der Hase ist der Einzige, der merken darf, dass er doch weint.
Sie würde ihn holen, hat sie gesagt. Ihre blonden Haare würden sich mit seinen vermischen, so wie es immer gewesen ist.
»Herr Hanken?«
Thiemo blickte von seinem Schreibtisch auf. Selbst sein Lächeln gelang ihm heute nicht so recht, er hatte das Gefühl, als falle es schief aus. Er war so müde. Die Arbeit auf dem Bau, die sich am Wochenende arg in die Länge gezogen hatte, und die Renovierungsarbeiten in seiner alten Wohnung forderten langsam ihren Tribut. Die letzten Nächte hatte er bei Linda in der kleinen Wohnung in der Anton-Günther-Straße in Jever verbracht, aber es war für zwei Erwachsene und ein Kind einfach zu eng dort. Laurin war zwar ein netter Kerl, aber eben fünf Jahre alt. Thiemo war Kinder nun mal nicht gewohnt. So hatte er verdammt schlecht geschlafen. Schließlich war er auf das Sofa ausgewichen, weil Laurin partout bei Linda im Bett bleiben wollte und er die nackten Kinderfüße an seinen behaarten Beinen nicht mehr ertragen konnte.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Thiemo. Er versuchte, sich auf den grauen Mann ihm gegenüber zu konzentrieren.
»KripoWilhelmshaven, Rothko, guten Tag.«
Thiemo setzte sich auf. Die Kripo hatte er noch nicht im Haus gehabt.
»Am Freitag ist bei Ihnen Elfriede Lambacher verstorben«, sagte der Mann. Thiemo fiel auf, dass er noch nie so kleine Augen gesehen hatte. Nicht, dass sie in irgendwelchen Fettpolstern verschwanden. Der Mann war eher hager, aber die Augen wirkten rund und winzig, viel zu eng zusammengestellt. »Schweinsaugen«, dachte Thiemo und bemühte sich, konzentriert auszusehen, was ihm aber nicht gelang. Er strich sich über den Kopf, gab sein Passwort ein und rief am PC die Patientendaten auf, um etwas Zeit zu gewinnen. Thiemo kannte die Bewohner meist nur flüchtig, da er nur noch für die Organisation und den Ablauf zuständig war. Aber bei Frau Lambacher war das anders. Sie hatte sich so oft über das Haus, das Personal oder sonstige Dinge beschwert, dass selbst er über diese Frau voll informiert war.
Thiemo überflog die Akte. »Ja, Elfriede Lambacher ist am Freitagabend in ihrem Zimmer aufgefunden worden. Sie saß reglos im Rollstuhl. Das Pflegepersonal hat alle notwendigen Maßnahmen eingeleitet, aber wir konnten nichts mehr für sie tun. Frau Lambacher verstarb an einem hypoglykämischen Schock, also Unterzuckerung. Alles dokumentiert und vom Hausarzt so abgezeichnet. Da sind wir sehr genau mit der Erfassung, wissen Sie.« Thiemo wies auf den Bildschirm. Es war alles in Ordnung. Gut, dass er konsequent auf korrekten Eintragungen beharrte, dafür hatte er extra ein digitales System eingeführt.
»Wir haben einen anonymen Hinweis bekommen, dass es kein natürlicher Tod war.«
»Frau Lambacher war Diabetikerin und eine undisziplinierte dazu«, sagte Thiemo. »Sie können die Einträge in den Akten verfolgen. Eigentlich hätte sie mit ihrer Krankheit selbstständig sein sollen, aber immer wieder kam es zu Entgleisungen, sowohl nach oben als auch nach unten. Frau Lambacher kontrollierte ihren Blutzucker selbst und hatte zwei Insulinpens mit Plan zur Verfügung. Nur pflegte sie sich nicht an die verordneten Einheiten zu halten, sondern spritzte so, wie es ihr passte. Vielleicht hat sie auch am Freitag wieder ihr Ding gemacht. Sie wusste immer alles besser! Fragen Sie ihren Sohn, der kann das bestätigen.«
Thiemo war zu müde, um sich jetzt mit dem Tod dieses alten Drachen herumzuärgern. Nicht nur von Frau Lambacher waren Klagen bei ihm eingegangen, nein, auch das Personal hatte sich ständig über sie beschwert. Diese Frau hatte stets nur das getan, was sie selbst für richtig hielt, und ihre Pflegerinnen gemaßregelt, wo sie nur konnte.
Der schweinsäugige Kommissar drehte den Bildschirm zu sich herum und studierte die Einträge. Er grunzte hin und wieder. Dann nickte er. »Sie sind aber modern mit Ihrer Digitalisierung.«
Thiemo wusste nicht, ob das ein Kompliment oder eine Kritik sein sollte, und schwieg. Der Kommissar las noch immer. Schließlich lehnte er sich zurück und sagte: »So weit stimmen Ihre Angaben. Ich denke, es war ein schlechter Scherz mit dem Anruf. Die Leute sind ja ganz irre wegen der Prozesse gegen die Todesschwestern und so.«
»Für mein Personal kann ich garantieren, Herr Rothko. Wir sind da sehr eigen.« Selbstgefällig lehnte Thiemo sich in seinem Sessel zurück. Sein Pflegeheim war sauber. Daran würde auch der Kommissar nicht rütteln können.
Er hoffte, der Mann würde seinen Besuch endlich beenden. Frau Lambacher war mit ihren siebzig Jahren zwar noch recht jung gewesen, aber sie hatte ja auch nicht gerade zur Verbesserung ihrer Situation beigetragen. Ihre amputierten Beine waren nun mal das Ergebnis eines seit Jahren schlecht eingestellten Diabetes. Da kam es, so traurig es war, eben vor, dass solch ein Mensch an einer Entgleisung starb.
Rothko griff nach einem herumliegenden Kugelschreiber und tippte mit dem Ende gegen sein Kinn. »Warum«, setzte er langsam an, »warum hat Ihr Personal eigentlich nicht rechtzeitig etwas gemerkt?«
Thiemo spannte unmerklich den Rücken an und holte tief Luft. Dabei bemühte er sich, gelassen zu wirken. Er griff ebenfalls nach einem Stift und klopfte ihn leicht auf die Schreibtischunterlage, als mache er eine Zigarre zum Anzünden klar. Er wollte Zeit gewinnen, denn das war genau die Frage, die er liebend gern vermieden hätte. Es war der einzige heikle Punkt, denn Frau Lambachers Unterzuckerung hätte vielleicht schneller entdeckt werden können.
Thiemos gewohntes Lächeln kämpfte sich unaufhaltsam durch die müden Gesichtszüge und seine Stimme klang ruhig und bestimmt, als er den Stift beiseite legte. »Die zuständige Schwester ist davon ausgegangen, dass der Sohn da war, wie jeden Nachmittag. Wir haben über den Türen Leuchten. Grün heißt, dass die Schwester im Zimmer ist, bei Rot ertönt eine Klingel. Bei Frau Lambacher war es so, dass sie auf dem Brennen der grünen Lampe bestand, wenn der Sohn zu Besuch war. Dann sollte keiner das Zimmer betreten, sie wollten nicht in ihrer Privatsphäre gestört werden. Und die Leuchte war den ganzen Nachmittag an.«
»Aber Herr Lambacher war gar nicht da, oder?«
»Nein. Aber er war sonst jeden Nachmittag hier. Wirklich jeden. Immer zur gleichen Zeit. Ein dummer Zufall, dass die Schwester ausgerechnet an diesem Tag vergessen hatte, das Licht auszumachen. Ein wirklich dummer Zufall.«
»Ein menschlicher Fehler, nicht ungewöhnlich«, sagte Rothko.
»Sie waren schon komisch, die beiden. Der Sohn und die Mutter, so – zusammen«, rutschte es Thiemo heraus. Er hatte das immer wieder bei den Personalgesprächen mitbekommen: Die Beziehung von Herrn Lambacher zu seiner Mutter hatte eindeutig etwas Pathologisches gehabt.
Der Kommissar reagierte nicht auf Thiemos Bemerkung, vielleicht hatte er sie einfach auch nur zu leise ausgesprochen. »Das wäre es erst mal. Ist eine unangenehme Geschichte. Wir melden uns!« Er drehte den Bildschirm in die Ausgangsposition zurück und stand auf. Thiemo hatte den Eindruck, dass auch der Kripobeamte sehr müde war, und was sollte man von zwei so müden Menschen an Hochleistung heute erwarten …
*
Hubert Lambacher hatte das Gefühl, dass seine Finger am Lenkrad festfroren. Er stand vor dem Eingang des pompösen Seniorenpflegezentrums Sanfte Wellen und konnte den Blick von keinem der Menschen lassen, die das Gebäude betraten oder verließen.
Einer von ihnen hatte seine Mutter auf dem Gewissen, einer von ihnen hatte sie getötet, er war ganz sicher. Von allein war sie bestimmt nicht gestorben.
Der Kommissar war kurz bei ihm gewesen, hatte ihn nach seiner Mutter gefragt, wegen der Zuckerkrankheit. Hubert war zu dem Zeitpunkt noch nicht ganz Herr seiner Sinne gewesen, zu sehr hatte ihn der Schmerz über den Verlust aus der Bahn gefegt. Er fühlte sich wie ein Blatt, das vom Baum gefallen war und nun willenlos vom Wind durch die Welt getragen wurde.
Drei Nächte hatte er nicht geschlafen. Zuerst war er unter dem Strom der Tränen erstickt und dann hatte er versucht, einen Sinn in dem Ganzen zu finden. Ein Mal, ein einziges Mal war er nicht bei seiner Mutter gewesen und schon passierte so etwas. Hubert fühlte sich entsetzlich schuldig, konnte die kalten Blicke seiner Mutter fühlen, wusste, was sie in ihren letzten Minuten gedacht hatte. Sie war böse gewesen, hätte ihn bestraft, wenn er das nächste Mal gekommen wäre.
Stockend hatte Hubert dem Kommissar von seiner Anbetung für sie und von ihrer Krankheit erzählt. Doch der Mann mit den kleinen, stechenden Augen hatte gar nicht richtig hingehört, war so schnell wieder weg gewesen, dass Hubert ihm in all seiner Trauer nichts von den zerstochenen Reifen gesagt hatte. Das war ihm erst später eingefallen, als er nicht mehr von den ständigen Weinkrämpfen geschüttelt wurde.
Hubert hatte dann bei der Polizei angerufen, aber da war Rothko unterwegs gewesen. Ein seltsamer Typ. Allein der Name war lächerlich. Aber wenigstens hatte er zurückgerufen.
Dabei war der Kerl aber wieder die Unfreundlichkeit in Person gewesen. Ganz klein und dumm hatte Hubert sich gefühlt, als er vergeblich versucht hatte, ihm von den Todesschwestern zu erzählen, die überall auf der Welt nur darauf warteten, ihre Patienten zu töten.
»Es ist aber ein eindeutiger Fall. Ihre Mutter war hoffnungslos unterzuckert«, hatte der Kommissar ihn gleich unterbrochen. »Sie war einfach undiszipliniert. Es tut mir leid!«
Dieser Ton ließ Hubert verstummen, obwohl er sich vorher die Worte zurechtgelegt hatte. Das höhnische Tuten, das ihm dann der Hörer entgegenspuckte, war einfach nur brutal.
Er hatte das mit den kaputten Reifen wieder nicht sagen können. Der Kommissar hätte ihn ja ausgelacht. Der hatte seine Wahrheit schon festgelegt, da war kein Platz mehr für die Theorien eines unglücklichen Sohnes. Seine Worte wären schon im Vorfeld klar gewesen. Der Mann war wie seine Mutter und die hatte auch immer recht gehabt. Herr Lambacher! Sie sind Mathelehrer an einem Gymnasium. Da können Sie sich doch ausrechnen, wer so etwas macht. Erstatten Sie Anzeige und wir nehmen den Schaden auf.
Und so war Huberts Verdacht, dass die Reifen etwas mit dem Tod seiner Mutter zu tun haben könnten, unausgesprochen durch sein Denken gekrochen, bis er sich irgendwann festgesetzt hatte und Stück für Stück seine Hirnwindungen zermarterte. Am Ende war ein brennender Kopfschmerz entstanden, den er mit nichts löschen konnte.
Es gab einen Menschen in diesem Heim, der seine Mutter getötet hatte. Er konnte es nur nicht beweisen.
Bestimmt war sie einer der Altenpflegerinnen auf den Schlips getreten. Und die war dann zum Todesengel geworden, wie die ganzen anderen Schwestern und Pfleger, die ihre Patienten getötet hatten. Hubert hatte alle Berichte, die er finden konnte, in den Nächten verschlungen.
Er betrachtete wieder seine weißen Fingerkuppen, die am Lenkrad klebten und sich nicht lösen konnten, wischte mit der Wange über die Schultern und merkte, dass er dabei feuchte Spuren auf seiner Jacke hinterließ.
Die zerstochenen Reifen könnten der Schlüssel sein. Aber nichts im Leben machte Hubert bei irgendeiner Sache wirklich sicher. Alle Gedanken, alle Ideen waren immer nur vage und auf Hypothesen ausgelegt, einzig die mathematischen Formeln folgten einer unumstößlichen Logik, um die er sein ganzes Leben formierte.
Hubert glaubte aber einfach nicht, dass einer seiner Schüler die Reifen zerstochen hatte. Zum einen hatte er nie jemanden durchfallen lassen und zum anderen wohnte er in Wilhelmshaven, unterrichtete aber an dem zwanzig Kilometer entfernten Schlossgymnasium, einer privaten höheren Schule in Jever. Und wenn er ehrlich war: Den Schülern war er zu unwichtig.
Sie nannten ihn Weichei und Muttersöhnchen, hatten herausgefunden, wie sehr er an seiner Mutter hing. Er war sicher nicht beliebt, eher die Witzfigur der Schule, weil er mit seiner Hornbrille und dem kurzgeschorenen Haar den klassischen Mathelehrer verkörperte. Außerdem war er Junggeselle, da kam es schon mal zu Sprüchen, wie: »Der sollte mal so richtig … dann ist er auch ein echter Kerl.«
Nur, dazu brauchte Hubert keine Ehefrau, es gab in Wilhelmshaven und Umgebung genug Etablissements, die diesen Zweig seiner Männlichkeit befriedigten – und von ihm keine weiteren Verpflichtungen forderten.
Mit diesen banalen Dingen des Lebens musste er sich nicht befassen, daher hatte er genug Zeit für seine Mutter gehabt. Sie hatten nicht ihr ganzes Leben miteinander verbringen können, zu viel Zeit war schon verschwendet worden. Da wollte er nun ausschließlich für sie da sein. Und jetzt war er allein. Ganz allein, ohne sie.
Hubert löste eine Hand vom Lenkrad und wischte mit dem Jackenärmel über die beschlagene Scheibe, weil ihm am Seiteneingang eine Bewegung auffiel.
Thiemo Hanken trat aus dem Haus. Er sah übernächtigt aus, vielleicht machte ihm die Geschichte doch mehr zu schaffen, als er zugeben wollte. Obwohl wahrscheinlich so oft ältere Herrschaften verschieden, dass er sich normalerweise bestimmt keine Gedanken darüber machte.
Hubert wusste nicht, wie lange er hier noch mit dem Auto vor dem Gebäude stehen wollte, er wusste nicht einmal, was es bringen sollte. Zu Hause lag noch der Stapel mit den Leistungskursklausuren, die dringend zu bearbeiten waren. Aber irgendetwas sagte ihm, dass er hier, vor der Tür der Seniorenanlage, das finden würde, das ihn weiterbringen musste.
Es dämmerte, als er die Pflegerin aus dem Haus gehen sah, die seine Mutter am Freitagnachmittag hätte betreuen sollen – wenn sie nicht diesem irrsinnigen Licht aufgesessen wäre und gedacht hätte, er sei anwesend. Es wäre trotzdem ihre Pflicht gewesen, reinzuschauen. Egal, was seine Mutter angeordnet hatte. Sie war schließlich verantwortlich. Hubert Lambacher ließ den Motor an und folgte der blonden Frau.
*
Als Thiemo in Jever ankam, war es bereits dunkel. Linda hatte Erbsensuppe gekocht und war gerade dabei, Laurin aus der Wanne zu lotsen, als er in den kleinen beengten Flur trat.
Laurin kreischte, wollte noch sein Schiffchen fahren lassen. Heute ging es Thiemo wirklich auf die Nerven. Am liebsten wäre er auf dem Absatz umgedreht, sofort wieder in seine Wohnung nach Sande gefahren und hätte die Beine auf den Tisch gelegt. Heute Abend kam die Live-Übertragung des Spieles Werder gegen Wolfsburg. Das hätte er sich gern in Ruhe angesehen. Aber seine Wohnung war eine Baustelle. Die Jahre des Junggesellendaseins hatten mehr Spuren hinterlassen, als Thiemo vermutet hatte. Deshalb hatte er jetzt begonnen, zu renovieren. So konnte er die Wohnung schließlich keinem Nachfolger hinterlassen. Aber er wollte nicht zwischen Kleister und Tapetentisch hausen. Das wäre vermutlich noch grausamer als das Gekreische aus dem Badezimmer.
Vielleicht hätte er sich mit Hanno zum Fußballgucken verabreden sollen, aber davon wäre Sinje wahrscheinlich nicht begeistert gewesen. Ihr schienen Hannos zwei Trainingsabende und die Wochenendspiele schon völlig zu reichen. So langsam schwante Thiemo, dass es ihm mit Linda bald nicht anders ergehen würde.
Er fläzte sich an den Küchentisch, sagte Linda noch nicht, dass er da war. Noch ein bisschen abspannen, ausruhen, vielleicht schlief der Knirps ja gleich. Thiemo hätte gern einen Abend Ruhe gehabt. Und vielleicht auch Linda mal wieder für sich allein … Das brächte etwas Ablenkung.
Der Besuch des schweinsäugigen Kommissars hatte ihm doch zugesetzt. Er musste morgen unbedingt noch einmal mit der zuständigen Schwester reden. Heute war er einfach zu müde gewesen. Thiemo gähnte und hoffte, dass die Geschichte im Sande verlaufen würde. Mord! Das war doch absurd. Trotzdem hätte die Schwester mal reinschauen sollen.
Thiemo zuckte mit den Schultern. Irgendwie hatte die Lambacher mit ihrer Lampenaktion das Ganze ja selbst heraufbeschworen. Sie hatten lange diskutiert, ob sie sich daran halten sollten. Aber weil diese Giftspritze nur noch zeterte, hatte er grünes Licht gegeben.
Eigentlich schade, dass die Frau so unangenehm gewesen war. Sie hatte trotz ihrer Behinderung nicht viel älter gewirkt als ihr vierzigjähriger Sohn. Dem Aussehen nach hätte er fast der etwas jüngere Ehemann sein können.
Thiemo dachte, dass Elfriede Lambacher früher mit Sicherheit Format gehabt hatte. Das Blond ihrer Haare war zwar längst einem glänzenden Silbergrau gewichen, aber man konnte durchaus noch erkennen, was für ein Kaliber die Lambacher zu ihren besseren Zeiten gewesen war. Dafür hatte Thiemo einen Blick.
»Hallo! Du bist schon da?« Linda umschlang ihn mit ihren Armen.
»Ja, war ein dummer Tag«, sagte er.
Linda blickte erstaunt. Es kam selten vor, dass er Schwierigkeiten zugab. Sie sagte aber nichts, sondern holte ihm ein Bier aus dem Kühlschrank. »Willst du etwas essen? Die Suppe ist noch warm. Laurin hat schon ein Brot gehabt, ich bringe ihn gleich zu Bett.«
Bevor Thiemo antworten konnte, raste ihr Sohn um die Ecke. »Ich geh nicht in mein Bett, ich schlaf bei Mama!« Dabei sah er Thiemo herausfordernd an. Der nickte wortlos und nahm von Linda den Teller Suppe entgegen. Er würde also wieder auf dem Sofa schlafen.
Als Laurin endlich im Bett lag, nahm sich Linda auch ein Bier und setzte sich zu Thiemo auf die Couch. »Was war denn los, dass dein Tag so schrecklich war?«, fragte sie, während sie den Flaschenöffner ansetzte. Der Deckel löste sich mit einem Zischen.
»Gib mir auch noch ein Bier!«, lenkte Thiemo ab. Er nahm die Fernbedienung und begann sich durch die Programme zu zappen.
»Nimm von mir was, ich trink es sowieso nicht ganz.« Linda reichte ihm die Flasche. Die Melodie von Hinter Gittern ergoss sich in den Raum.
»Kannst du das nicht ausschalten? Ich habe dich nämlich was gefragt«, sagte Linda.
Thiemo hielt die Fernbedienung zwischen beiden Händen, als fürchte er, Linda könnte sie ihm entreißen, wenn er sie auch nur für eine Zehntelsekunde losließ.
»Hallo? Erde an Thiemo!«
Er stellte den Fernseher etwas leiser.
»Ist nichts Gravierendes«, sagte er leichthin. »Nur ärgerlich.«
»Ich weiß nicht. So klang das vorhin nicht.« Linda nahm einen Schluck Bier.
Thiemo wischte ihr vorsichtig mit der Seite des Zeigefingers den Schaum ab. »Ein anonymer Anruf. Bei uns soll eine ältere Dame getötet worden sein.«
»Oh.« Linda setzte sich auf. »Ist denn an der Anschuldigung was dran?«
»Ach was. Aber es ist einfach … blöd.« Thiemo wollte den Film wieder lauter stellen, aber Linda legte ihre Hand auf seine.
»Das könnte doch … Ich meine, du bist verantwortlich, oder?«
Thiemo schüttelte den Kopf. »Es stimmt nicht, überhaupt nicht und kann auch nicht sein.«
Erleichtert atmete Linda aus. Jetzt griff sie nach der Fernbedienung und Hinter Gittern verschwand hinter der schwarzen Blende. Linda schnappte mit den Lippen nach Thiemos Zeigefinger und er spürte ihre Zunge daran. Die Hände wanderten zu seiner Hose und krochen Finger für Finger in den Bund. Mit der anderen Hand löste Linda Knopf und Reißverschluss.
Der Bus surrt durch das flache Land. Als der Junge erwacht, sieht er ein dunkelrotes Backsteingebäude mit weißen Fenstern. Im umzäunten Garten steht ein Spielgerüst.
Er muss Hausschuhe anziehen und wird in einen großen Speisesaal geführt. Es ist, trotz der vielen Kinder hier, äußerst leise. Er wird verstohlen gemustert. Seine Gruppe hat die Nummer zwei. Dort muss er auf einem harten Holzstuhl sitzen. Es sind auch ein paar Ältere dabei. »Die helfen mit und sorgen für Ordnung«, hat die Frau mit dem schwarzen Mantel gesagt. Sie hat eine dicke Nase. Der Junge bekommt warme Milch und ein Stück Brot mit Schmierkäse.
Sie holt mich bald wieder ab. Vielleicht schon morgen, denkt der Junge, als er einen Tritt gegen das Schienbein bekommt.
»Hier kommste nicht mehr so schnell weg«, sagt der Treter. Er ist einer von den Älteren. Einer von denen, die für Ordnung sorgen. »Manchmal kommen welche und nehmen jemanden mit. Du bist noch jung genug. Vielleicht haste Glück!«
»Meine Mutter kommt wieder und holt mich ab«, flüstert der Junge.
»Wer’s glaubt! Die hat dich doch abgehakt, sonst wärst du nicht hier.«
Der Junge schüttelt so heftig den Kopf, dass der ganze Körper vibriert und dabei die Milch umfällt. Ein harter Griff fasst seinen Oberarm und zerrt ihn in die Ecke des Speisesaales.
Erst als alle fertig mit dem Essen sind, darf er von dort weg. Sein Magen knurrt die ganze Nacht und sein Kissen hat einen nassen Fleck.