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Klara Holm

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Beschreibung

Ein Krähennest dient normalerweise als Ausguck auf einem Schiff. In einem alten Fischerboot am Breetzer Bodden findet sich dort allerdings der abgetrennte Kopf eines Mannes. Luka Kroczek, der ermittelnde Kommissar, ist alarmiert, denn der Tote entpuppt sich als Angestellter seiner Freundin Teresa. Und die gerät plötzlich ins Visier der Polizei. Als Teresa in der Firma auf gefälschte Bilanzen stößt, ermittelt sie auf eigene Faust. Und befindet sich schon bald in Lebensgefahr … Ein spannender Fall mit originellen Charakteren und viel Lokalkolorit. Der 2. Teil der Rügenkrimi-Reihe.

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Seitenzahl: 446

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Klara Holm

Krähennest

Kriminalroman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Ein Krähennest dient normalerweise als Ausguck auf einem Schiff. In einem alten Fischerboot am Breetzer Bodden findet sich dort allerdings der abgetrennte Kopf eines Mannes. Luka Kroczek, der ermittelnde Kommissar, ist alarmiert, denn der Tote entpuppt sich als Angestellter seiner Freundin Teresa. Und die gerät plötzlich ins Visier der Polizei. Als Teresa in der Firma auf gefälschte Bilanzen stößt, ermittelt sie auf eigene Faust. Und befindet sich schon bald in Lebensgefahr …

 

Ein spannender Fall mit originellen Charakteren und viel Lokalkolorit.

Über Klara Holm

Klara Holm lebt in Oldenburg und hat bereits unter anderem Namen sehr erfolgreich Krimis und historische Romane veröffentlicht. Bei zahlreichen Rügen-Besuchen entdeckte sie ihre Liebe zur größten deutschen Insel, auf der ihr jazzbegeisterter Kommissar Luka Kroczek nach «Möwenfraß» nun zum zweiten Mal ermittelt.

Inhaltsübersicht

WidmungRügen, August 2015EinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigWas noch zu sagen wäre

Für Uwe

 

Danke für die Erklärungen zu Schattenschlag und verklebten Sensoren und zu den Tücken einer Fundamentabsenkung. Und natürlich für deine Bereitschaft, nachts bei Nebel an den Ruinen von Prora entlangzustapfen, damit die Autorin auch noch das allerletzte fabelhafte, unverzichtbare Foto schießen kann.

Rügen, August 2015

Mit James darfst du … Mit James darfst du … Mit Jamesdarfst du nicht spielen …

Jana rannte über die duftende Blumenwiese auf die Landstraße zu, die sich wie ein dickes, graues Band zwischen den Wittower Feldern hindurch zum Fähranleger schlängelte. Es war trotz der einbrechenden Dunkelheit noch warm, und sie fror in ihrem ärmellosen roten Kleid kein bisschen, aber es zog Regen auf, und da spielten die Mücken verrückt. Immer wieder musste sie eine auf ihren nackten Armen totklatschen.

Mit James darfst du … nicht spielen … Mit James …

Als Jana die Straße erreichte, blieb sie stehen. Sie blickte gewissenhaft nach links und rechts. Das hatte Mutti ihr eingebläut: Immer gucken – die Urlauber fahren wie die Irren, wenn sie die letzte Fähre erwischen wollen. Tatsächlich tauchte in der Kurve ein schwarzes Auto auf, dessen Lichter sich viel zu schnell näherten. Die Fähre nach Vaschvitz ging um neun, jetzt war es drei Minuten vor. Touristen, dachte Jana und rollte die Augen. Alle hier im Dorf brauchten diese Leute, weil sie Geld auf die Insel brachten, aber irgendwie blieben sie einem doch fremd.

Obwohl – Jana plante ja selbst ein Leben als Fremde in fremden Ländern. Oder genauer: auf fremden Meeren. Sie wollte nämlich Kapitänin werden, Herrscherin über ein Kreuzfahrtschiff. Vielleicht würde sie auch zuerst auf einem Frachter anheuern. So große Schiffe zu steuern war nämlich schwer. Dafür brauchte man mächtig Übung. Aber egal. Hauptsache, Wasser unterm Kiel, hatte ihr Opa immer gemeint. Und das sagte Jana auch: Ich brauch Wasser unterm Kiel. Ihr war egal, ob Mutti darüber lachte – sie würde es schaffen.

Das Auto rauschte an Jana vorüber und bremste ab, als es sich dem Platz mit der Schranke näherte, hinter der die Fähre wie ein Wal mit aufgerissenem Maul wartete. Jana eilte weiter. Ob James wohl schon in Klaus Brudnicks Garten wartete? Dort wollten sie sich nämlich treffen, im Garten von ihrem Patenonkel.

Mit James darfst du nicht …

Trotzig reckte sie das Kinn, während sie die letzten hundert Meter zu Klaus’ Grundstück zurücklegte. James war nett, total easy. Er ging genau wie sie aufs Gymnasium, und als er erfahren hatte, dass sie nur ein Dorf weiter wohnte, hatte er sie angesprochen. Mann, war das aufregend gewesen. Er war nämlich schon in der 11. und sie erst in der 5. Klasse. Vor lauter Hippeligkeit und weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte, war ihr das von ihrer Bande rausgerutscht. Sie, Aline, Jasper und Margitta waren die Kaperbande, die das Wittower Land unsicher machte. Ihr hatte die Bemerkung sofort leidgetan, weil James Banden sicher für Kinderkram hielt. Aber überraschenderweise fand er es supergeil, dass sie angeln gingen und auf Bäume kletterten. Und da hatte sie ihn eingeladen, auch mal mitzukommen.

James war also an einem der ersten Ferientage zu ihnen gestoßen, und es war überhaupt nicht peinlich gewesen. Im Gegenteil, ihm waren Sachen eingefallen, die sie sich allein nie getraut hätten. Zum Beispiel mit dem Ruderboot von Klaus auf den Bodden rauszufahren. James hatte ihnen gesagt, dass sie Badesachen mitbringen sollten, und so waren sie ins Wasser rein, und er hatte ihnen nachher geholfen, sich trocken zu rubbeln. Sie hatten einen Riesenspaß gehabt.

Mit James darfst du nicht …

James war auf dem Wasser wahnsinnig vorsichtig gewesen. Sie waren mit ihrem Boot nur an einsame Stellen gerudert, wo sie niemandem, vor allem nicht der Fähre, in die Quere kommen konnten. Und er hatte sie nach dem Spielen sicher zu Klaus’ Grundstück zurückgebracht und das Vorhängeschloss des Bootes, das er irgendwie mit einem Schraubenzieher aufgekriegt hatte, durch die Kette gezogen und wieder verriegelt.

Leider hatte Oma Viola, die gleich nebenan wohnte, sie beobachtet, als sie aus Klaus’ Garten huschten, und sie an ihre Eltern verpetzt. Mutti war furchtbar böse geworden, obwohl sie das mit dem Boot gar nicht mitbekommen hatte. «Was glaubst du wohl, warum ein großer Kerl wie der sich mit kleinen Mädchen abgibt?», hatte sie geschimpft.

«Weil er mit uns Spaß haben will», hatte Jana erwidert.

«Genau!», hatte Mutti geschrien und ihr den Umgang mit dem neuen Freund verboten.

Das war echt ungerecht, weil Mutti James ja nicht einmal kannte. Und die anderen Mütter waren genauso gemein gewesen. Plötzlich war die Bande in Verruf geraten, und sie hatten allesamt Hausarrest bekommen.

Als der vorbei gewesen war, trafen sie sich wieder zum Spielen, aber James durften sie nicht mehr einladen, und sie spielten auch nur noch am Computer, was die anderen plötzlich viel cooler fanden. Auf Bäume klettern, Birnen auf offenem Feuer braten und angeln war vorbei. Aber gestern hatte James ihr per SMS eine Nachricht geschickt. Er wollte sie treffen, ohne Jasper und die anderen Angsthasen, die sich wegen eines kleinen Anpfiffs gleich in die Hose machten. «Hast du Lust?»

«Klar», hatte Jana geantwortet, «geht aber nur abends.» Wenn ihre Mutter nämlich dachte, dass sie im Bett wäre.

James hatte sofort reagiert. «Beim Boot von Klaus. 21:00. Hab ’ne Überraschung für dich.»

Wollte er vielleicht wieder mit ihr auf den Bodden raus? Das musste toll sein in der Nacht. Sie könnten die Sterne anschauen wie die Piraten früher. Gut, dass Klaus über dieses Wochenende einen Freund in Rostock besuchte. Da konnten sie sein Boot nehmen, ohne dass er etwas merkte. Und sie machten ja auch nichts kaputt.

Mit James sollst du … Ach was! Eine Kapitänin musste mutig sein. Schlappschwänze wie Jasper, Margitta und Aline hatten keinen Platz auf einer Kommandobrücke.

Jana kletterte über den Zaun, der Klaus’ Grundstück umgab, und lief den schmalen, geharkten Weg hinab in den hinteren Garten. Dort stand ein sechseckiges weißes Gartenhäuschen mit grün gestrichenen Fensterläden, in dem Klaus seine Gartenmöbel und die Gartengeräte aufbewahrte. Die Abendsonne schien auf das Dach und ließ die Schindeln und den vorderen Teil des Holzhäuschens leuchten. Der Garten war voller wilder Blumen, die entweder schwarz oder rosa aussahen, je nachdem, wie das Licht darauf fiel. Das war wunderschön. Aber am tollsten war das Meer.

Jana blieb einen Moment stehen und blickte auf den Bodden hinaus, der direkt hinter einem Streifen Schilf am Rand von Klaus’ Grundstück begann. Die Sonne ging in ihrem Rücken unter, das Meer vor ihr war also nicht rot, was sie besonders liebte, sondern schlicht silbergrau. Trotzdem verschlug es ihr vor Freude den Atem. Der Blick ins Weite … die Möwen, die über der Wasseroberfläche segelten … Sie liebte das Meer, sie liebte es so sehr.

Und dann entdeckte sie das Boot. Nicht das kleine, alte Ruderboot, sondern einen echten Kutter, der mit zwei dicken Tampen an Klaus’ Anlegesteg vertäut war. Ihre Augen weiteten sich. Boah, war das toll! Wie’s aussah, hatte Klaus seinen Traum wahr gemacht und sich einen Kahn gekauft, um darauf an seinen freien Tagen um die Insel und rüber nach Bornholm zu schippern. Davon redete er ja schon die ganze Zeit. Mann, wie … superkrass!

Sollte das die Überraschung sein, von der James gesprochen hatte? Der Kutter war alt, die blaue Farbe abgeblättert, eine der Glasscheiben an der Kajüte zerbrochen und die beiden Masten rostig. Aber das machte nichts. Klaus war geschickt. Der konnte alles reparieren und auf Vordermann bringen. Das Boot hieß Seebär – sie konnte den Namen gerade noch entziffern. Würde Klaus an den Wochenenden auf der Seebär Touristen rumfahren? Und sie vielleicht mitnehmen?

«James?», flüsterte Jana. Sie traute sich nicht, laut zu rufen, denn Oma Viola wohnte ja ganz in der Nähe. Zögernd ging sie auf den Kutter zu. «James? Bist du da?»

Keine Antwort. Sie schaute auf ihre Jack-Sparrow-Uhr mit den Leuchtzeigern, es war fünf nach neun. Ihr Freund müsste eigentlich schon da sein, James war doch immer pünktlich. Irgendwie war ihr die Stille unheimlich. Sie blickte zu der Planke, die vom Steg auf das kleine Schiff führte und aussah, als wollte sie sie in ein Abenteuer locken. Die Luft roch nach Brackwasser und Seetang. Eine Möwe hockte auf der Mastspitze.

Zögernd machte Jana sich auf den Weg. «James?», fragte sie, als sie das Deck erreicht hatte. Vor ihr ragte das Ruderhaus in die Nacht. Sie ging zur Tür und öffnete sie. «Hallo?» Der kleine Raum roch muffig. Sie konnte nur das Ruder, einige staubige Instrumente und einen alten Tisch erkennen. Wo war James?

Nachdem sie die Tür wieder geschlossen hatte, ging sie um das Ruderhaus herum. Und da fand sie ihn endlich. Er stand an der hinteren Reling vor einer Rettungsboje und starrte auf eine große, hölzerne, auf die Seite gekippte Tonne. Janas Herz schlug höher. Mann, war das krass. Das war ein Ausguck, ein funkelnagelneues Krähennest. Offenbar hatte Klaus das Ding zusammengezimmert, um es oben am Segelmast anzubringen. Heutzutage brauchte man solche Krähennester gar nicht mehr, man fuhr ja nicht mehr auf Sicht, sondern mit Instrumenten, aber Touristen fänden es bestimmt toll. Vielleicht würde Klaus sie da mal reinsteigen lassen, wenn er sie mit nach Bornholm nahm. Dann könnte sie so tun, als wäre sie auf der Black Pearl, und …

Warum war James so still? Der sagte ja gar nichts.

«Hallo, da bin ich.»

James rührte sich nicht. Es war, als wäre er festgefroren – wie das Mädchen in dem Film mit der Eiskönigin, nachdem man es mit dem Zauberstab berührt hatte. Auch seine Haltung war komisch. Zitterte er etwa? Viel konnte Jana nicht erkennen, dafür war es mittlerweile zu dunkel, aber die Augen wirkten viel zu groß. Das Weiße darin blitzte, als würde es angeleuchtet.

Plötzlich war sie nicht mehr sicher, ob sie wirklich ein Abenteuer erleben wollte. Sie schielte rüber zu Klaus’ Garten. Andererseits wollte sie aber kein Feigling wie Jasper und Aline sein.

«James?» Sie ging die beiden letzten Schritte auf ihren Freund zu und umkreiste dabei das Krähennest. Dann sah sie es.

Jana riss die Augen auf und begann zu schreien.

Eins

Luka Kroczek, Kriminalhauptkommissar und Leiter des Kommissariats in Bergen, blickte zu den Fenstern des Hochhauses hinauf, in dem seine Kollegin Conny Böhme wohnte. Zwei davon waren beleuchtet. Dahinter lagen wohl das Schlafzimmer und das Bad, nahm er an. Wo blieb sie nur? Er bildete sich ein, einen Schatten wahrzunehmen, der hinter einer der hoffnungslos altmodischen Gardinen durch das Schlafzimmer schlich, und schaute auf seine Uhr. Viertel nach zehn. Er wartete jetzt schon seit zwanzig Minuten im Auto. Wenn er noch zehn Minuten für den Weg dazurechnete und die zehn Minuten, die er selbst gebraucht hatte, um sich fertig zu machen, hatte sie bereits vierzig Minuten Zeit gehabt … Mensch, Conny!

Ungeduldig trommelte er mit den Fingern auf den Schaltknüppel. Er arbeitete seit gut zwei Jahren mit der Kollegin zusammen, seit er von Düsseldorf auf die Insel gezogen war. Conny war prima. Verlässlich, clever, engagiert, die Beste in seinem Team, wie er fand. Deshalb war sie es auch gewesen, die er aus dem Wochenende geholt hatte, als der Anruf von der Einsatzzentrale kam. Aber heute schien sie durchzuhängen. Wahrscheinlich war wieder irgendetwas mit ihren Töchtern. Katja und Nina waren in dem Alter, in dem sich eine Katastrophe an die nächste reihte.

Endlich trat Conny ins Freie. Es war zwanzig nach zehn. Luka ließ die Scheinwerfer aufleuchten, und sie kam zu ihm rüber. Wie auch immer sie die letzte halbe Stunde verbracht hatte – auf keinen Fall vor einem Spiegel. Sie trug ein zerknittertes T-Shirt mit einem Aufdruck von Justin Bieber, das wohl einer ihrer Töchter gehörte und das sie blind aus der Bügelwäsche gegriffen hatte. Ihre Jeans war mindestens eine Nummer zu groß. Die Haare hatte sie vor ein paar Tagen raspelkurz geschnitten, um die rötliche Färbung rauszubekommen, was sie aussehen ließ wie ein zerzauster Igel. Ihre Augen waren gerötet, und die Nase schien wund.

Sie öffnete die Beifahrertür. «Scheiße, eine Leiche hab ich heut nicht mehr gebraucht», brummte sie anstelle einer Begrüßung und ließ sich auf den Sitz fallen.

Luka stellte den Motor an, das Navi hatte er bereits programmiert, Richtung Wittower Fähre. Sie sollten zum nördlichen Anleger kommen, und da er sich nicht vorstellen konnte, dass die Fähre zu dieser Zeit noch fuhr, hatte er den Umweg über Jasmund gewählt. Rügen war von Wasserflächen durchlöchert wie der berühmte Schweizer Käse. Das hatte er in seiner kurzen Zeit auf der Insel bereits gelernt. Autofahren machte hier nur Spaß, wenn man Zeit hatte.

«Alles in Ordnung?»

«Nee», brummte Conny, «ich glaub, ich krieg ’ne Erkältung. Eine von den beschissenen, die dich komplett aus den Latschen hauen.»

Er stellte den Motor wieder aus. «Dann geh ins Bett zurück.»

«Wegen einer Erkältung?» Conny angelte sich den Gurt und ließ ihn einschnappen. «Ich hab einen Schnupfen, nicht die Pest im Endstadium. Was ist? Fahr los.»

«Du hast keine Jacke an.»

Sie rollte die Augen, und er verzichtete auf weitere Einwände. Gut zureden hatte bei Conny ja selten Zweck. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es bereits halb elf war. Sie würden wohl erst gegen Morgen wieder heimkommen.

«Kinder, ja?», brummte sie.

«Was?»

«Wenn Kinder in einem Fall drinhängen – so was macht mich fertig. Das ist bescheuert, weiß ich selbst, aber … Keine Ahnung. Wie alt ist die Kleine denn?»

«Elf.»

«Und der Junge?»

«Siebzehn.»

«Scheiße …» Conny starrte düster in den Regen. «Weißt du, was Nina mir heute zum Abendbrot serviert hat? Sie will die Schule schmeißen.»

«O Gott.»

«Genau! Sie stellt sich vor, dass sie und Leandros heiraten und …»

«Ich dachte, der ist weg von der Bühne.»

«Leandros ist wie das Krokodil beim Kasperletheater – immer, wenn du denkst, du bist ihn los, taucht er wieder aus der Versenkung auf.» Sie schnäuzte sich. «Ach Quatsch, ich mag den Jungen. Aber jetzt hat Nina sich drauf eingeschossen, mit ihm eine Familie zu gründen und so ganz nebenbei eine Boutique aufzumachen. Kannst du dir was Dämlicheres vorstellen? Boutique! In welchem Barbie-Paradies lebt die denn eigentlich?»

«Was sagen sie denn, wie sie finanziell über die Runden kommen wollen?»

«Leandros jobbt an einer Tankstelle.»

Luka verschluckte das zweite Ogott. «Nina ist erst neunzehn und wohnt noch zu Hause. Verbiete es ihr doch einfach.»

«Und dann stopf ich ihr den Schulstoff mit dem Trichter in den Kopf? Wenn sie bockig ist, hört sie auf zu lernen. Dann ist sie auch nicht besser dran. Mann, ich hab mich so gefreut, als sie gesagt hat, dass sie doch noch ihr Abi machen will. Aber das ist jetzt wirklich ihre allerletzte Chance. Schließlich hat sie schon letztes Jahr ’ne Ehrenrunde gedreht.» Conny lehnte den Kopf gegen die Kopfstütze und versank in düsteres Schweigen.

Eine Dreiviertelstunde später hielten sie beim Fähranleger. Es hatte zu regnen begonnen. Durch das nasse Fenster, über das die Scheibenwischer glitten, sahen sie zwei Schranken, die den betonierten Platz vor dem Anleger eingrenzten, und dahinter die Aufbauten einer Fähre – viel weiß lackiertes Metall, auf dem, nicht mittig, sondern links, die Steuerkabine mit ihren erleuchteten Fenstern thronte, was dem Gefährt etwas Unsymmetrisches verlieh.

Die Lichter der Streifenwagen und des Busses von der Tatortsicherung kreiselten und warfen blaue Schatten an die Wand eines Fahrkartenschalters. Der Anblick rief bei Luka das gewohnte Kribbeln hervor. Er mochte seinen Beruf. Und wenn diese Faszination an menschlichen Abgründen, die ihn bei jedem frischen Fall packte, ein Makel war, dann zumindest einer, der ihm half, einen guten Job zu machen.

Er stieg zusammen mit Conny aus dem Wagen. Die Kollegen von der Streife hatten auf seine Weisung bereits das Wichtigste veranlasst: Der Tatort war großräumig mit Flatterband abgesperrt, und sie hatten einen Raum für die Verhöre in Beschlag genommen.

Ein Polizist mit einem altmodischen Schnäuzer kam auf sie zu. «Da oben, die Steuerkabine auf der Fähre, da haben wir den Zeugen hingebracht. Hier gibt’s ja nur ein paar Häuser. Und am Ende kann jedes Wohnzimmer einem Verdächtigen gehören, stimmt’s, Chef?»

Karl Kummerling war der Streifenbeamte, der den nächtlichen Einsatz bis jetzt geleitet hatte. Sein schütteres Haar glänzte von Regentropfen. Die Jacke spannte über seinem Bäuchlein.

«Auf jeden Fall verschafft das Ding uns einen Überblick.» Luka nahm zumindest an, dass man von der Kabine aus auf das Grundstück schauen konnte, das zum Tatort geworden war. Betreten wollte er es jetzt noch nicht, weil die Spurensicherung gerade erst mit der Arbeit begonnen hatte. Für ihn hatten die Vernehmungen Vorrang.

Karl drückte ihm ein Handy in die Hand. «Das haben uns die Eltern des Mädchens gegeben, bevor sie mit der Kleinen abgezogen sind. Die ist total durch den Wind.»

«Was auch sonst», brummte Conny.

Luka steckte das Gerät ein und folgte seiner Kollegin auf das schwimmende Monstrum. Sie erklommen die schmale Treppe, die zur Kabine hinaufführte.

Ihr Hauptzeuge saß an einem Klapptisch – ein nicht besonders großer, schlanker Junge mit blonden Haaren und einem hübschen Gesicht, aber noch ohne Bartflaum. Auf den ersten Blick hätte man ihn auch für ein Mädchen halten können. Hinter ihm stand ein in Schlips und Sakko gekleideter korpulenter Mann, sicher der Vater des Jungen, den man dazugeholt hatte. Conny hustete und schnäuzte sich die Nase, während sie gleichzeitig ihre braune Ledertasche von der Schulter gleiten ließ. Sie kramte ein Aufnahmegerät heraus, schaltete es ein, sprach die nötigen Erklärungen darauf und legte es auf dem Tischchen ab.

Luka setzte sich dem Jungen gegenüber. James Mühlmann also. Das Wichtigste hatte er schon beim ersten Anruf von Karl gehört: Einer der Bewohner der kleinen Siedlung hatte ein Kind schreien hören, war in die Nacht hinausgetreten und hatte gesehen, wie James aus Klaus Brudnicks Garten herausgerannt kam. Er hatte ihn festgehalten, wegen des Geschreis und weil er das Benehmen des Jungen befremdlich fand. Die Nachbarn waren zusammengelaufen, und einer davon war auf den Kutter gegangen, wo er die kleine Jana Lachmut entdeckt und anschließend den entsetzlichen Fund gemacht hatte.

«Du bist also James?»

Der Junge hatte die Finger krampfhaft ineinander verknotet, die Knöchel waren weiß. Er stierte gebannt zum Kutter. Das Licht der Spheron-Kamera, mit der die Leute von der Spurensicherung den Tatort fotografierten, erhellte das Bootsdeck. Man konnte den Techniker sehen, der die Kamera bediente. Zwei in weiße Schutzkleidung gehüllte Kollegen gingen auf einem zuvor penibel festgelegten Trampelpfad Richtung Straße.

«Warum bist du auf dem Kutter gewesen, James?»

Der Junge wischte sich über den Mund und starrte weiter in die Dunkelheit.

«James?»

Endlich raffte er sich zu einer Antwort auf. «Nur so zum Gucken.»

Sein Vater zischte etwas, das Luka nicht verstehen konnte. Freundlich hörte es sich nicht an.

«Du wolltest dir also bloß den Kutter ansehen?» Luka holte das Handy der kleinen Jana hervor und legte es auf den Tisch. Trotz des nicht sonderlich hellen Lichts konnte er sehen, dass James errötete. Der Junge murmelte etwas von einer Bande. Er sei mit den Kindern im Ort befreundet, sie würden zusammen abhängen und so. Und das hatte er auch mit Jana machen wollen. Nur ein bisschen chillen. Er zuckte zusammen, als sein Vater sich vorbeugte und ihm ins Gesicht schlug. Eine knallharte Ohrfeige, die den Jungen aber kaum zu überraschen schien.

«Was war das denn, bitte schön?», fragte Luka scharf.

Mühlmann antwortete nicht.

«Kommen Sie mal mit raus», forderte Conny nicht weniger aufgebracht. Sie stieg mit dem Mann auf das Fährdeck hinab. Luka konnte drinnen nicht hören, was sie sagte, aber der Kerl machte ein bockiges Gesicht.

«Würdest du lieber ohne deinen Vater mit uns sprechen?»

Der Junge schüttelte den Kopf.

«Wo ist denn deine Mutter?»

«In der Klinik.»

«Ist sie krank?»

«Nee, wir haben ein Baby gekriegt.»

«Glückwunsch.»

James schaute ihn mit leeren Augen an.

Conny schien losgeworden zu sein, was sie zu sagen hatte. Als sie mit Mühlmann in den zugigen Raum zurückkehrte, bekam sie einen Hustenanfall. Luka deutete mit dem Kopf in Richtung seiner Jacke, die er über das Steuerruder gehängt hatte. Dankbar griff sie zu und schlüpfte hinein.

Luka räusperte sich. «Du hattest dich also mit Jana verabredet, James?»

Mehrere Sekunden verstrichen, bis der Junge zaghaft nickte.

«Kannst du bitte laut antworten?»

«Ja.»

«Du warst also mit Jana …»

«Ja.»

«Um welche Uhrzeit hast du das Grundstück betreten?»

«So um halb neun vielleicht.» Er war mit Jana für 21 Uhr verabredet gewesen, aber zu früh gekommen. Also stromerte er ein bisschen über das Grundstück und schaute in ein unverschlossenes Gartenhäuschen und durch die Terrassentür ins Wohnzimmer des Hauses. Dann war er zur Straße zurückgekehrt, um zu sehen, ob seine Freundin wirklich kommen würde. Er hatte gemerkt, dass es bald regnen würde, und beschlossen, wieder heimzuradeln, auch weil er müde war. Aber da kam sie gerade über die Wiese gelaufen. Und er selbst war zum Kutter gerannt und hatte ihn über eine Planke betreten.

«Was wolltest du dort?»

«Jana überraschen. Sie ein bisschen … erschrecken.» Der Satz hing im Raum. Womit erschreckte ein siebzehnjähriger Junge ein elfjähriges Mädchen, mit dem er sich spätabends gegen den Willen ihrer Eltern verabredet hatte? Stand er auf Kinder? Oder war James zurückgeblieben und in seiner emotionalen Entwicklung selbst noch ein Kind, das sich andere Kinder als Spielgefährten suchte, weil es bei den Größeren nicht ankam? Würde er so arglos reden, wenn es anders wäre? Luka fand es unmöglich, das zu beurteilen. Im Moment stand das aber auch nicht im Vordergrund. «Was ist dann passiert?»

«Ich bin auf den Kutter geklettert. Es wurde dunkel, und ich hatte wieder Lust bekommen, mit Jana zu spielen.»

Lust … mit Jana spielen … Hässliche Bilder schoben sich in Lukas Kopf.

«Was wolltet ihr denn spielen?»

«Dass wir zur See fahren.»

Mühlmann senior gab ein prustendes Geräusch von sich, eine Mischung aus Verachtung und Empörung.

«Und dann?»

«Ich bin um das Ruderhaus rumgegangen, um mich zu verstecken. Hab mich ein bisschen umgesehen, ich hatte ja auch die Taschenlampe dabei. Und als ich ins Krähennest reingeleuchtet habe …»

«In was?», fragte Luka.

«Das ist ein Ausguck auf einem Schiff», erläuterte die schniefende Conny. «Man muss sich den wie einen Riesenbecher aus Holz vorstellen, eine Art Fass. Darin wurde …»

«Ich hab’s verstanden», unterbrach Luka sie. «Du hast also ins Krähennest hineingeleuchtet. Und dann?»

«Ich hab gedacht …» James schaute erneut zum Kutter. Sein Blick war jetzt gepeinigt, auf der Stirn stand trotz der Kälte Schweiß. «Ich hab gedacht, das ist eine Perücke. Wie die von meiner Oma. Ich hab die Taschenlampe weggelegt und wollte sie aufsetzen und Jana damit erschrecken.» Auf seiner bleichen Haut zeichneten sich rote Flecken ab. «Ich dachte, das wäre lustig», stotterte er.

«Und dann?»

James brach in Tränen aus.

«Scheiße», murmelte Conny und massierte sich unauffällig die Schläfe.

«Und dann?», wiederholte Luka.

Der Junge wollte etwas sagen, schaffte es aber nicht mehr, sondern übergab sich direkt auf den kleinen Tisch.

 

Jana zu verhören, wurde ihnen von der Ärztin, die von den besorgten Eltern verständigt worden war, verboten. Das Mädchen habe einen schweren Schock erlitten und sei nicht vernehmungsfähig. Luka fuhr trotzdem hin.

«Sie sperren den Mistkerl weg, ja? Dieser gottverdammte Kinderschänder kommt doch nicht einfach mit ein bisschen Ausschimpfen davon?», fragte Janas Mutter, deren sorgfältiges Make-up durch Tränenspuren verwüstet war. Sie stand in der Tür ihres Hauses und knetete ein Taschentuch.

«Dazu sehen wir momentan keinen Grund.»

Es war nicht das, was die Frau hören wollte – konnte man sich denken. «Dieser James lauert den Kindern seit Wochen auf. Wir sind hier schon ganz verrückt davon. Ich hab sogar mit seinem Vater, diesem Arschloch, telefoniert. Was muss denn erst passieren? Ist Ihnen klar, dass es auch Jana hätte sein können, die dort im Boot …» Die Frau wischte sich den Regen aus dem Gesicht, den der Wind unter das Vordach blies. Sie bat Luka nicht hinein. Vielleicht hätte sie es getan, wenn er über James gewettert und klare Kante gezeigt hätte. War aber nicht drin. Nach Lukas Einschätzung war der Junge ein armer Wicht. Es gab keinen Beweis dafür, reines Bauchgefühl, und er konnte sich irren. Aber selbst wenn – es war schließlich nicht strafbar, sich mit fünf Jahre jüngeren Kindern zu verabreden. Auffällig vielleicht, aber nicht strafbar.

Janas Mutter schloss wortlos die Tür, und Luka wandte sich zur Straße. Er sah, wie Conny, die in seinem Wagen saß, irgendetwas schluckte, wahrscheinlich eine Schmerztablette, und beschloss, ihr eine kleine Verschnaufpause zu gönnen. Den Mann, der James auf dem Nachbargrundstück bemerkt und festgehalten hatte, konnte er auch allein vernehmen.

Er bedeutete ihr, im Auto zu bleiben, und marschierte die Dorfstraße wieder Richtung Tatort hinunter. Wie erwartet kam nicht viel bei der Befragung von Wilhelm Bröder – so hieß ihr Zeuge – heraus. Nach dem Schrei des Mädchens war er aus dem Haus gerannt und hatte sich den flüchtenden James gegriffen. Reines Glück, dass zu dieser späten Stunde keine Autos unterwegs gewesen waren, denn der Junge war blindlings über die Straße gelaufen. Er hatte ihn festgehalten, und im selben Moment kam auch schon seine Frau aus dem Haus, und gleich darauf ein weiterer Nachbar, der dann zum Boot gegangen war. Bröder zeigte zu einem der Schaulustigen, die mit Regenschirmen bei den Streifenwagen standen.

«Wer ist der Besitzer des Grundstücks?»

«Klaus Brudnick. Aber … Also der hat mit dem Scheiß auf dem Boot nichts zu tun. Das ist ein Rügener von altem Schrot und Korn.»

«Welcher Scheiß?»

«Na, was mein Nachbar erzählt hat.»

In dem Moment stieß Karl Kummerling zu ihnen. «Ich hab endlich Brudnick erreicht», erklärte der Streifenkollege.

Notgedrungen entließ Luka seinen Zeugen.

«Wenn Sie mich fragen, Chef: Der Mann hatte keine Ahnung, was da in dem Korb auf seinem Kutter lag. Als er hörte, dass ich von der Polizei bin, hat er in eine ganz andere Richtung gedacht. Vandalismus und so.»

Luka verkniff sich die Bemerkung, dass er lieber selbst mit dem Mann gesprochen hätte, um seine Reaktion einschätzen zu können. Er wollte nicht hochnäsig klingen. Die schlimmsten Aversionen gegen ihn als «den arroganten Westler», der auf die Insel gekommen war und sich wie King Louie im Kommissariat breitmachte, hatten sich glücklicherweise gelegt. Aber er hatte immer noch das Gefühl, in bestimmten Situationen darauf achten zu müssen, was er sagte. Also bedankte er sich bei seinem Streifenkollegen und ging zu Conny, die düster durch die Windschutzscheibe starrte. «Kommst du mit aufs Boot?»

 

Und dann standen sie auf den regennassen Planken und sahen sich an, was James und Jana solch einen Mordsschrecken eingejagt hatte. Nicht nur die Kamera der Spurensicherung – auch ein Spot auf einem Stativ spendete Helligkeit. Der weiße Lichtkegel beleuchtete einen menschlichen Kopf, der auf dem Boden des Krähennestes lag. Die Leute von der Spurensicherung hatten ein Tuch darübergespannt, um ihn vor dem Regen zu schützen.

«Wie aus einem Horrorfilm, was?» Die Feststellung kam von Gerhild Sichelmann, der Leiterin der Spurensicherung.

«So was hab ich das letzte Mal in der Geisterbahn gesehen», versuchte Conny einen missglückten Scherz.

Luka ging in die Knie. Er schaute in blutunterlaufene Augen mit dunklen, fast schwarzen Pupillen, die mit dem typisch blinden Leichenblick ins Leere starrten. Die Brauen über den Augen waren mit grauen Haaren durchsetzt, genau wie das akkurat geschnittene und nach hinten gegelte Kopfhaar. Die Nase des Toten schien gebrochen, die Oberlippe war aufgeplatzt, eine Schläfe eingedrückt – massive Verletzungen also, auf denen das Blut getrocknet und durch den Regen wieder verflüssigt worden war. Wer auch immer dieser Mensch gewesen war: Er musste vor seinem Tod Schlimmes durchgemacht haben.

Dass James uns überhaupt antworten konnte, dachte Luka. Im Nachhinein kam ihm sein Verhör herzlos vor. Musste man Janas Mutter einen Wink geben, was ihre Tochter gesehen hatte? Ihr vielleicht ein Foto zeigen, damit sie eine Vorstellung davon bekam, welche Bilder die Kleine in ihren Albträumen heimsuchen würden? Nein, es war besser, bei Beschreibungen zu bleiben. Den Anblick dieses Schädels sollte man so wenig Menschen wie nur möglich zumuten.

«Sieht aus, als wäre der Kopf mit einem Messer abgetrennt worden», spekulierte Conny.

Lukas Blick ging zum Hals des Toten, von dem er allerdings nur wenig sehen konnte – eine blutige, von Knochen und weißlichen Strängen durchzogene Masse.

«Da müssen Sie auf den Bericht der Pathologie warten», sagte Gerhild und begrüßte im nächsten Moment einen Mann, der mit einer Art Kühltasche aufs Bootsdeck kam. Er drängelte sich an ihnen vorbei und klappte den Styropordeckel zurück. Gab es in der Rechtsmedizin tatsächlich extra Behältnisse, um Köpfe zu befördern? Vielleicht auch Kisten für Beine oder Arme? Einen Moment lang sah Luka den Mann vor seinem geistigen Auge über die Insel schreiten und Gliedmaßen einsammeln.

«Vierzig», hörte er ihn sagen.

«Bitte?»

«Ich schätze, unser Opfer muss um die vierzig Jahre alt gewesen sein.»

«Irgendeine Vorstellung, wie lange er ungefähr tot ist?»

«Schon etwas länger. Vielleicht einen Tag. Sobald ich ihn im Bus habe, werde ich die Hirntemperatur messen, aber … tut mir leid, Genaueres gibt’s erst nach der Obduktion.»

«Klasse», brummte Conny düster.

«Was denn?»

«Mein Hals fängt an zu kratzen. Da bahnt sich was an, Luka, da bahnt sich was richtig Blödes an.»

Zwei

Das albtraumhafte Puzzeln, das Conny befürchtet hatte, fand dann aber doch nicht statt. Der Torso des Ermordeten, inklusive Gliedmaßen, wurde zwei Tage später auf dem Vordersitz eines Opels entdeckt. Der Wagen war auf einem abschüssigen Gelände hinter dem Parkplatz eines Industriekomplexes in einem Zaun hängen geblieben. Die Stelle lag so verborgen, dass die Leute, die dort arbeiteten, ihn erst spät bemerkten. Der Anruf ging am Montagmittag auf der Wache ein und kam von einem völlig unter Schock stehenden Monteur, der wegen eines Sprachfehlers zusätzlich Probleme hatte, sich verständlich zu machen. Luka ließ sich die Adresse geben – und hielt die Luft an. Langsam legte er das Handy auf den Schreibtisch zurück.

«Ist was, Chef?», fragte Tobias Schneller, der Jüngste seines Teams, der gerade ins Zimmer kam, um sich das Aufnahmegerät mit den Vernehmungen vom Samstag zu holen.

Luka winkte ab, aber Tobias wartete wie ein witternder Hund.

«Wir haben den Rest der Leiche.»

«Klasse. Ist sie in einem Stück?»

«Sieht so aus.» Luka las die Adresse vor, und Tobias, der dafür verantwortlich war, die Fakten des Falls zu sammeln und bei Bedarf weiterzuleiten, notierte sie gewissenhaft. Dann stutzte er.

«Auf dem Gelände des Nordwind-Energie-Unternehmens – ist das nicht die Firma, die diese Windkraftanlagen im Meer aufstellt? NWEU?»

Luka nickte.

Die nächste Frage kam zögernd. «Arbeitet da nicht Ihre …?»

Woher wusste er das denn? «Ja, dort arbeitet meine Freundin, genau.» Tatsächlich leitete Teresa die Niederlassung, deren Hauptsitz sich in Ostfriesland befand, sogar. Tobias brauchte gar nicht zu erwähnen, dass ihre Ermittlungen dadurch komplizierter wurden. Wenn Verwandte involviert waren, wurde der entsprechende Beamte meist abgezogen. Andererseits war Teresa ja nicht wirklich beteiligt. Und die Personaldecke der Polizei war dünn, man würde Luka wahrscheinlich also wohl oder übel weitermachen lassen.

Tobias schien ähnlich zu denken. Er war schon wieder beim Fall. «Ob da ein Zusammenhang besteht? Also zwischen der Leiche und der Firma? Diese widerliche Art, wie das Opfer ermordet wurde – da denkt man doch sofort an die Mafia.»

Luka hob die Augenbrauen.

«Für mich sieht es wie eine Warnung aus. Der Mord soll vielleicht sagen: So geht es Leuten, die uns stören. Windenergie ist schließlich ein Wahnsinnsgeschäft. Bestimmt mischen da auch kriminelle Typen mit.»

Tobias wirkte mit seinem Polo-Shirt, der poppigen Brille und den Geheimratsecken, die sich trotz seiner Jugend schon abzeichneten, nicht gerade wie ein abgebrühter Bulle, der sich mit breiten Schultern dem organisierten Verbrechen entgegenstellt. In seiner Freizeit spielte er Volleyball, und vor kurzem war er der freiwilligen Feuerwehr beigetreten. Merkwürdig, das Wort Mafia aus seinem Mund mit so viel Gelassenheit zu hören.

«Ist natürlich nicht auszuschließen.»

«Vielleicht handelt es sich auch um eine Schutzgelderpressung», spann Tobias den Faden weiter.

«Möglich.»

«Bei einem Beziehungsmord oder einem Raubmord würde man das Opfer wohl an weniger abgelegenen Plätzen finden.»

«Und in ganzen Stücken.»

«Na, wenigstens wissen wir jetzt, dass es sich tatsächlich um einen Mord handelt.» Tobias zog sich wieder auf sicheres Terrain zurück. Aber sein Gesicht glühte. Er zögerte, dann fragte er: «Darf ich mitkommen, Chef?»

Luka hätte lieber Conny dabeigehabt, die war zwar ruppig, hatte dafür aber den extrascharfen Blick, der ihm weiterhalf, wenn er sich verrannte. Und auch sonst – sie war ein klasse Kumpel. Geradlinig wie ein Stück gespannte Schnur. Er hatte sie noch nie taktieren oder sonst wie rumeiern sehen. Mit ihr an der Seite war der Arbeitsalltag einfach teuflisch entspannt. Bevorzugte er sie? Klar. Und merkten das die anderen? Er nahm es an. Umso besser, dass sie jetzt ein paar Tage krankgeschrieben war und er sich an die übrigen Kollegen halten musste.

Luka nickte.

 

Sie erreichten das Industriegelände um kurz vor zwei. Es lag etwa zehn Kilometer vom Fundort des Kopfes entfernt direkt am Wieker Bodden in einer einsamen Gegend. Die kleine Zufahrtsstraße, die dem Ufer folgte, wurde von Bäumen und Büschen gesäumt, hinter denen das Meer schimmerte. Und was für ein Meer! Eine von winzigen Wellen gekräuselte Fläche mit wechselnden Farbschattierungen, je nachdem, wie der Himmel sich darin spiegelte, und verheißungsvollen Ufern auf der gegenüberliegenden Seite. Die knallbunten Segel einiger Kitesurfer schwebten über dem Wasser. Und es gab keine Zäune, die den Blick oder den Zugang zum Wasser versperrten, was der See eine atemberaubende Atmosphäre von Freiheit verlieh.

In diesem Idyll wirkte das Industriegelände des Nordwind-Energie-Unternehmens umso trostloser. Es wurde von Betonmauern mit einer Krone aus Stacheldraht geschützt. Das Tor aus solidem Eisengestänge war beiseitegeschoben worden und gab den Blick auf verschiedene Lagerhallen und einen doppelstöckigen Container-Bürotrakt frei. Weiter hinten befanden sich mehrere Parkplätze mit eingezeichneten Linien, die aber niemand beachtete, und seitlich erhob sich eine Windkraftanlage – das sichtbare Zeichen, welches Gewerbe hier betrieben wurde. Es war eines der älteren Modelle. Teresa hatte ihm die genaue Bezeichnung einmal genannt, aber er hatte sie wieder vergessen.

Luka lenkte den Wagen durch das Tor. Die Ingenieure und Techniker hatten sich in einem kleinen Grüppchen vor dem Bürogebäude versammelt und blickten ihnen mit schockierten Gesichtern entgegen. Einige Köpfe drehten sich zu einer abgelegenen Halle. Dahinter musste wohl das Auto stehen, in dem sie den kopflosen Körper gefunden hatten.

Ausnahmsweise war die Kripo einmal schneller als der Streifendienst. Luka gab die wichtigsten Anweisungen. Keiner durfte das Grundstück mehr verlassen, die Anwesenden mussten allesamt vernommen werden. Da das Gelände zu einem Tatort geworden war, würde es für die nächsten ein, zwei Tage der Spurensicherung gehören, die Belegschaft müsste also mit der Arbeit woandershin ausweichen. Er sah die Leute nicken. Als Ingenieure waren sie es gewohnt, mit Schwierigkeiten nüchtern umzugehen.

«Hallo, Herr Kroczek», meldete sich ein Mann zu Wort, der in Jeans und T-Shirt in der ersten Reihe stand. Seine Arme und sein Gesicht waren gebräunt, die kräftige Hakennase verlieh ihm etwas Raubvogelhaftes, die sanften Augen dagegen versprühten einen gewissen Charme. Luka wusste, dass er den Mann kannte, wahrscheinlich hatte Teresa sie einmal einander vorgestellt, aber er hatte seinen Namen vergessen. Also ersetzte er die Begrüßung durch ein Nicken und ein Lächeln. «Wo steckt denn die Chefin?»

Wieder drehten sich die Köpfe, und dann entdeckte er sie selbst: Teresa. Die Frau, mit der er Bett und Tisch und die Liebe zu ihrer kleinen Tochter Matilda teilte. Er war mit seinen beiden Mädchen vor gut zwei Jahren nach Rügen gezogen, weil Teresa hier einen Job bekommen hatte.

Stirnrunzelnd sah er zu, wie Teresa aus einer Luke der Windkraftanlage auf eine Plattform hinabstieg, die direkt unterhalb der Gondel montiert war. Ein Mann folgte ihr, die beiden schienen sich zu unterhalten. In ihren blonden Haaren, die unter einem Helm hervorlugten, zauste der Wind, und obwohl sie zu weit entfernt war, um Genaueres erkennen zu können, wusste Luka, wie ihr Gesicht jetzt aussah. Die dunklen Augen würden konzentriert und nüchtern alles um sie herum erfassen, zweifellos sprach sie in streng sachlichem Tonfall, und ganz sicher lächelte sie nicht. Lächeln war zu weiblich, womöglich gar ein Zeichen von Schwäche in ihrer Branche, das sie sich auf keinen Fall zugestand.

Musste man wirklich so sein, wenn man unter Ingenieuren Karriere machen wollte? Ach Süße, dachte Luka, du solltest jetzt hier unten stehen und ruhig mal zeigen, dass es dich umhaut, wenn ein Mann ohne Kopf auf deinem Parkplatz gefunden wird. Manchmal ist es genau das, was Kerle von anderen Kerlen erwarten und was ihnen Respekt einbringt.

Aber es brachte nichts, darüber zu grübeln. Er wandte sich wieder an ihre Mitarbeiter und begann sie nach ihren Beobachtungen auszufragen. Tobias tat dasselbe. Kurz darauf stieß der erste Streifenwagen zu ihnen. Luka ging zu den Kollegen, um sie zu instruieren. Den Fundort abzusperren war das Wichtigste, klar, das wussten sie auch selbst. Gerade als er ihnen sagen wollte, dass die Leute vom Erkennungsdienst bereits unterwegs waren, sah er, wie sich ihre Blicke zum Turm wandten. Teresa war zu dem Geländer gegangen, das die Plattform umgab, und stieg darüber. Was, zur Hölle …?

Einen Moment sah es aus, als zögerte sie. Dann breitete sie die Arme aus und sprang in die Tiefe.

Ihm sackte das Herz in die Hose. Hatte er aufgeschrien? Hoffentlich nicht. Jemand klatschte, hörte aber gleich wieder damit auf. Einige Ingenieure, die zu ihm hinüberblickten, grinsten. Der Mann mit der Hakennase trat zu ihm. «Wir haben heute Sicherheitstraining», erklärte er. Er hieß Friedhelm Stade, oder Stadler, fiel Luka plötzlich wieder ein. Er hatte Teresa einmal zur Arbeit abgeholt.

Luka nickte, immer noch mit rasendem Puls. Jetzt, als er Teresa in dem orangefarbenen Ding baumeln sah, das wie eine überdimensionierte Windel an Seilen wirkte, hatte er es wieder auf dem Schirm. Die Ingenieure von NWEU mussten ein Mal im Jahr Sicherheitsübungen absolvieren. Teresa hatte ihm heute Morgen davon erzählt. Erst Abseilübungen in der Halle, und dann, gewissermaßen als Höhepunkt, wurde ein Sturz von der Gondel simuliert. Den hatte sie wohl gerade über die Bühne gebracht. Trotz der kopflosen Leiche in einem Auto auf dem Firmengelände. Trotz aller Aufregung. Typisch Teresa. Immer Kurs halten. Sich von nichts irritieren lassen.

«Sie ist schon eine klasse Frau», meinte Stadler. Er war einer von Teresas Bauleitern, auch das fiel Luka jetzt wieder ein. Das Klingeln des Handys bewahrte ihn davor, etwas erwidern zu müssen. Er wandte sich ab. Während er seinen Namen nannte, sah er zwei weitere Streifenwagen aufs Gelände einbiegen und neben seinem eigenen Auto halten.

«Luka?», drang es aus dem Smartphone.

«Oh, Martin. Hallo.» Martin Berger war der Leiter der Polizeiinspektion Stralsund und damit Lukas Chef. Sie hatten den aktuellen Fall, also den Kopf auf dem Kutter, bereits am Wochenende diskutiert. Nachdem der Torso gefunden worden war, hatte Luka ihm eine Mail geschickt: «Wir sind noch beim Absperren und warten auf die Tatortsicherung. Aber wird schon passen. Es wäre ja seltsam, wenn wir gleich zwei Köpfe und zwei kopflose Leichen auf der Insel hätten.»

Luka versuchte einen leichten Ton anzuschlagen. Wie brachte man unaufgeregt rüber, dass die eigene Freundin ihr Büro direkt neben dem Leichenfundort hatte, dass das aber keine Rolle spielte, weil diese Freundin nämlich keinerlei Neigung besaß, anderen Leuten an die Kehle zu gehen?

Sein Talent wurde gar nicht auf die Probe gestellt. «Ich habe gehört, dass Frau Schomaker bei NWEU angestellt ist? Dass sie die Niederlassung dort sogar leitet?», fragte Martin.

Woher wusste er das? Und wieso kannte er überhaupt Teresas Namen? Luka war mit seinem Chef nicht befreundet, sie hatten sich bisher ausschließlich in förmlicher Runde getroffen. Selbst das Du zwischen ihnen war mehr durch Zufall zustande gekommen.

Er bekam die Antwort, ohne fragen zu müssen: «Kerstin hat mich informiert. Und um es gleich zu sagen: Dass ein Beamter in einem Mordfall ermittelt, in den die eigene Lebensgefährtin verwickelt ist …»

«Wieso verwickelt?»

«Mensch, genau das meine ich», brauste Martin auf. «Ihr findet einen Toten, und du hältst Sachen unterm Tisch und sortierst Leute aus, noch bevor irgendwas geklärt ist. Der Fundort einer Leiche hat ja durchaus gelegentlich was mit dem Mörder zu tun. Scheiße, dass ich das überhaupt sagen muss. Kerstin hat schon recht.»

Kerstin Sonntag war Lukas Stellvertreterin im Bergener Kommissariat. Er war nicht überrascht, dass sie ihm in den Rücken gefallen war. Sie konnten einander nicht ausstehen, das war seit dem ersten Tag so gewesen und hatte sich seitdem um keinen Deut gebessert. Luka ging ein paar Schritte, um sich zu beruhigen. «Du bist sauer, Martin.»

«Nö, wieso denn?», kam es aggressiv zurück.

Luka biss sich auf die Lippe. «Ist das immer noch wegen dem Konzert? Mann, ich weiß, dass ich damals Mist gebaut habe. Und das tut mir auch leid. Es war … eine blöde Geschichte.»

«Ah! Da scheinst du eine extrem lange Leitung zu haben, dass dir das jetzt erst aufgeht.»

Der besagte Sommer war wirklich ein kleines Desaster gewesen. Jedenfalls hatte Luka sich in mehr als einer Hinsicht über die Vorschriften hinweggesetzt, wenn er auch im Ergebnis damit Erfolg gehabt hatte: Da hatten sie einen Mörder gepackt, vor spektakulärer Kulisse, mit Musik und Mondschein und der Ostsee als Panorama. Nee, wirklich bereuen konnte Luka die Sache nicht. Er unterdrückte ein Grinsen und bemühte sich um einen reumütigen Ton, als er sagte: «Ich dachte, wir hätten das inzwischen geklärt.»

«Scheiß drauf!», blaffte Martin. «Ist dir klar, dass es auch Conny Böhme erwischt hätte, wenn die Sache damals schiefgegangen wäre? Das ist es, was mich aufregt! Du hast nicht nur um deinen Kopf gespielt, sondern auch um ihren. Wenn dieser Typ dir damals durch die Lappen gegangen wäre, hätte man euch beide drangekriegt. Und mich womöglich auch noch.»

Ein weiterer Wagen bog in den Hof ein. Da war sie schon – Kerstin, in ihrem Privatwagen, einem schicken roten Cabriolet mit so vielen Pferden unter der Haube, dass es sie in zehn Minuten über die Insel trug. Während Martin sich weiter beklagte, sah Luka sie aussteigen. Sie warf ihm einen triumphierenden Blick zu, als wüsste sie, mit wem er telefonierte, und ging schnurstracks zu den Arbeitern des NWEU.

«Ja, das war bescheuert», sagte Luka und hoffte, dass der Satz passte, er hatte den Faden verloren.

Er passte nicht. «Mann, ich sagte, dass Kerstin die Leitung in diesem Mordfall übernimmt. Hörst du überhaupt nie zu?»

Kerstin begann mit den Leuten zu reden. Im Gegensatz zu Teresa lächelte sie, aber auf eine Art, die bewusst Hierarchien schaffen sollte, und zwar welche, in denen sie das Sagen hatte. Sie suhlte sich geradezu in ihrem herrischen Tonfall. Oder machte er sie jetzt schlimmer, als sie war? Antipathie verlieh ja nicht den klarsten Blick. Sie scheuchte die Streifenpolizisten herum. «Warum ist hier noch nicht abgesperrt?», hallte ihre Stimme über den Platz.

Luka näherte sich ein Stück und hielt das Handy so, dass sein Chef ein bisschen mithören konnte. «Ist klar, Martin», versuchte er zu beschwichtigen, «du hast ja recht.»

«Hallooo, dahinten! Hat jemand gesagt, dass Sie ins Gebäude zurück dürfen? Sie bleiben alle im Trupp zusammen und halten sich zur Verfügung, bis ich mit jedem Einzelnen gesprochen habe! Hat das nun jeder kapiert? Und außerdem brauche ich einen Raum.»

Martin Berger war verstummt. Luka glaubte zu spüren, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Kerstin hatte diese Wirkung. Je wohler sie sich fühlte, umso mehr ging sie ihren Mitmenschen auf die Nerven. Oder bildete er sich auch das nur ein?

«Wo steckt diese Frau Schomaker?», bellte sie.

Teresa kam bereits über den Platz. In ihrer Hand schlenkerten die orangefarbenen Gurte.

«Nur ein Gedanke noch», sagte Luka ins Handy. «Der Kopf unseres Toten landete nicht versehentlich auf dem Kutter. Er wurde dort hingetragen, unter vielen Mühen und in der Gewissheit, dass man ihn entdecken würde. Martin?»

Durch das Handy drang ein zustimmendes Brummen.

«Der Körper auf dem Parkplatz wurde dagegen einfach hier zurückgelassen.»

«Worauf willst du hinaus?»

«Warum transportiert ein Mörder einen abgeschnittenen Kopf quer über eine Insel? Weil es ihm wichtig ist, dass er an einer bestimmten Stelle gefunden wird. Und zwar auf dem Kutter beim Fähranleger. Es geht hier nicht um das Industriegelände, Martin. Der Mann wurde in dem Opel hinten auf dem Parkplatz umgebracht, davon gehe ich mal aus. Aber der Schauplatz des Mordes war zufällig gewählt. Der Kutter dagegen … Wir sollten uns diesen Klaus Brudnick genauer anschauen.»

Teresa war herangekommen. Sie streckte das Kinn vor. Hier war ihr Revier, das waren ihre Leute. Punkt. Er sah es in ihren Augen funkeln. «Schomaker.» Sie hielt Kerstin die Hand entgegen und zog sie beiläufig zurück, als die Kommissarin nicht reagierte. «Wie können wir Ihnen behilflich sein?»

«Indem Sie vielleicht dafür sorgen, dass Ihre Leute nicht überall rumtrampeln und Spuren verwischen?»

«Niemand hat den hinteren Parkplatz mehr betreten, seit wir den Toten entdeckt haben. Aber der Betrieb muss weitergehen. Wir haben Termine – an unserem Zeitplan hängen Millionen.» Das entsprach den Tatsachen, wie Luka wusste.

«Ihr Firmengelände, gute Frau, ist der Schauplatz eines Mordes. Die Millionen gehen mir am Arsch vorbei.»

«Sie haben Ihren Job und ich meinen.»

«Hören Sie, wenn Sie frech werden wollen …»

«Haben Sie den Eindruck?»

Die beiden Frauen maßen einander mit Blicken. Luka wurde von Teresa ignoriert. Es drängte ihn dazwischenzufahren, und gleichzeitig wusste er, wie übel sie ihm das nehmen würde. Teresa ließ sich nicht beschützen. Schon gar nicht von dem Kerl, in den sie sich verliebt hatte und dem sie glaubte beweisen zu müssen, dass sie das Leben ebenso mühelos packte, wie sie es bei ihm vermutete. Weil ihre bescheuerte Mutter ihr eine Kindheit lang eingebläut hatte, dass sie nichts taugte? Oder war es das Studium unter Männern gewesen, die gern den Macker herauskehrten, wenn jemand nicht nur eine Frau, sondern auch noch verdammt hübsch war?

Luka wandte sich wieder ab. «Der Körper ist Fleisch und Knochen», sagte er zu Martin. «Aber die Persönlichkeit, die Seele eines Menschen, sitzt im Kopf. Und jemand hat sich die Mühe gemacht, diesen Kopf zum Kutter zu tragen.»

«Hab ich kapiert, ja, das ist ein schöner Gedanke», antwortete Martin brummig. «Aber es bleibt dabei: Kerstin leitet diesen Fall.»

 

Und das machte sie genau so, wie Luka es sich vorgestellt hatte. Als sie ins Kommissariat zurückgekehrt waren, holte sie sich das kleine Trüppchen mit Kommandostimme ins Besprechungszimmer am Ende des Flurs – und schloss demonstrativ die Tür hinter sich. Peng, du gehörst nicht mehr dazu. Vielleicht war das Türknallen nur eine kindische Kleinigkeit, aber Luka kochte innerlich.

Er schaltete seinen Computer an. Man konnte nicht sagen, dass er nichts zu tun hatte. Ihnen machten einige Drogendealer Sorgen, die aus Straßburg hochgekommen waren und auf Rügen, vor allem in den Bäderstädten, Fuß zu verfassen versuchten. Vier Belgier. Aalglatt. Da musste er mit dem LKA telefonieren. Außerdem war in Trent ein Haus niedergebrannt, bei dem sie einen Versicherungsbetrug vermuteten.

Und am drängendsten: In einem Bauernhaus bei Rambin hatte ein eifersüchtiger Gymnasiallehrer seine Frau niedergestochen. Hatte schon jemand offiziell den Bruder des Opfers und die alte Dame vernommen, die mit dem Rollator am Haus vorbeigekommen war, als der Streit eskalierte? Luka hatte die Zeugenbefragungen delegiert, aber schon wieder vergessen, an wen.

Er holte sich das Protokoll der Einsatzkollegen auf den Bildschirm. Offenbar hatte der Bruder der Verletzten Abflüsse in einem Binzer Hotel säubern sollen und auf dem Weg dorthin einen hysterischen Anruf seiner Schwester bekommen. Er war umgekehrt, hatte den Täter gerade noch rechtzeitig niederringen können und dann den Krankenwagen und die Polizei alarmiert.

Kerstins Stimme drang durch die geschlossene Tür. Sprach sie absichtlich laut? Um ihn zu provozieren? Quatsch, dachte Luka. Er musste aufhören, sich verrückt zu machen. Sie hatte von Martin Berger aus durchaus nachvollziehbaren Gründen die Leitung der Ermittlungen übertragen bekommen und erledigte ihren Job. Fertig.

Er griff zum Hörer, um sich mit dem Schwager des Gymnasiallehrers in Verbindung zu setzen.

Es war halb sechs, als er das Haus des Zeugen wieder verließ. Der Mann war stocksauer gewesen – nicht auf den Täter, sondern auf seine Schwester. Dass sie sich so einen Kotzbrocken ans Bein gebunden hatte. Einen Angeber, der mit seinem Geprotze jeden Kneipenbesuch sprengte. Der Mann hatte Runden ausgegeben, als bestünde die angeheiratete Verwandtschaft aus armen Schluckern, die sich den Euro fürs Bier nicht leisten konnten, nur weil sie keine Examensurkunde an der Wand pappen hatten. Wie diese Ehe enden würde, hatte man sehen können, als käme eine Lokomotive auf einen zu. Nur Susanne hatte ihn immer wieder in Schutz genommen!

Luka überlegte kurz, ob er noch ins Krankenhaus fahren sollte. Susanna Färber war ansprechbar. Aber er hatte keine Lust auf weitere Tiraden oder, schlimmer noch, auf ein Mäuschen, das den Ehemann verteidigte, der es gerade beinahe umgebracht hätte.

Also fuhr er zurück nach Bergen. Es war kurz vor sechs. Er fand, es könne nicht schaden, Conny einen Besuch abzustatten.

 

Sie öffnete ihm in einer Trainingshose und einem labbrigen Pulli die Tür und machte es sich schniefend wieder auf ihrem Sofa bequem, wo sie sich unter einer Schneewittchendecke, die wohl aus den Kleinkindertagen ihrer beiden Mädchen stammte, verkroch.

Luka ging über den Flur in die Küche. «Hallo, ihr zwei», begrüßte er ihre Töchter, die sich gerade Brote schmierten. Katja, die jüngere, verzog sich mit einem Blick auf die Abwaschberge, die sicher von mehreren Tagen stammten, errötend in ihr Zimmer. Nina begrüßte ihn mit ausgebreiteten Armen, weil ihre Finger von Marmelade klebten.

«Kannst du Teresa Bescheid sagen, dass ich am Samstagabend babysitten kann? Ist auch kein Problem, wenn ihr ein bisschen länger wegbleiben …» Sie hielt inne, schlug sich mit den Marmeladefingern auf den Mund und murmelte: «Scheiße, Geheimnis verraten.»

Na schön, da konnte man sich den Rest zusammenreimen. Luka grinste. «Ich hab’s schon wieder vergessen.»

«Hast du Geburtstag?»

«Nee, erst im Herbst.»

«Kennenlern-Jubiläum oder so was? Mann, bin ich blöd. Willst du auch ’ne Stulle?»

Er schüttelte den Kopf.

Nebenan rauschte die Klospülung. Leandros kam in die Küche. Nina schmierte ihre roten Finger in seinem Gesicht ab, er lachte und küsste sie verliebt.

«Ihr wollt eine Boutique aufmachen, hab ich gehört?», fragte Luka.

«Mutti kann wohl den Mund nicht halten.» Ninas gute Laune war schlagartig verschwunden.

«Erzählt mal, was plant ihr denn?»

Er nahm sich Zeit, den beiden zu lauschen. Allmählich begannen Ninas Wangen wieder zu glühen. Aber Leandros warf ihm verlegene Blicke zu, während er Marmelade, Wurst und Käse in den Kühlschrank zurückräumte und Abwaschwasser einließ. War ihm bewusst, dass Ninas Zukunftsvisionen das Potenzial zu einem gigantischen Knall besaßen? Bedrückte ihn die Vorstellung von Schulden, die sie jahrelang, wenn nicht jahrzehntelang, abstottern müssten?

Nina erzählte von ihrem Plan, italienische Größen – sie liebte die italienische Mode! – mit einem Computerprogramm oder so ähnlich in deutsche Größen umrechnen zu lassen. «Weil es die Kunden nämlich aufregt, wenn sie nach Größe 36 greifen und dann wie in der Wurstpelle stecken. Wenn so was passiert, sind wir sofort wieder out. Das ist Psychologie, Luka. Bei einer Boutique brauchst du vor allem ein psychologisches Verständnis. Kleider kriegst du ja überall, und übers Internet sogar billiger. Und mit dem müssen wir konkurrieren.»

«Verstehe.»

«Wahrscheinlich ändere ich die Etiketten. Oder überklebe sie einfach. Man könnte Herzen draufdrucken. Als eigenes Label, nur für meinen Laden, meine ich. Oder ist das zu kitschig?»

«Da fragst du den Richtigen …»

Sie schnitt ihm eine Grimasse. «Ich hab mich schon mal erkundigt, wo man Räume mieten kann. Erst mal ganz klein und wohl in einer Seitenstraße. Leider. An die Touristen kommen wir so natürlich nicht ran. Aber ich stelle mir vor, dass Leute in meinem Alter das als Geheimtipp weitergeben. Verstehst du? So läuft es heute doch. Man twittert und postet in den Netzwerken und redet in der Schule drüber. Und dann kennt jeder den Laden, wo man sich eindeckt, wenn man richtig stylisch drauf ist.» Nina griff zum Geschirrtuch und nutzte die Gelegenheit, Leandros einen Kuss auf die Wange zu drücken. Ihr Haar war ebenfalls raspelkurz geschnitten, aber was bei ihrer Mutter unmöglich aussah, hatte bei ihr Pfiff, das musste man ihr lassen.

«Und was passiert im Worst Case?»

«Was?», fragte sie verwirrt.

«Gehört das nicht dazu? Ein Worst-Case-Szenario? Ich dachte, das ist Usus bei Existenzgründern.»

«Wieso Worst Case?»

Luka zuckte mit den Schultern.

«Meinst du Worst Case wie: Alles geht schief?»

«Habe ich nur irgendwo aufgeschnappt. Ich glaub, sie haben mal im Radio was drüber gebracht. Hängt ja ’ne Menge dran, finanziell also, wenn jemand sich selbständig macht.»

«Wenn man immer nur die Hindernisse sieht, kriegt man nie einen Fuß auf die Erde. Frag Steve Jobs.»

Luka hob entwaffnend die Hände. «Vielleicht redest du mal mit Teresa drüber. Die hat ja mehr mit Wirtschaft zu tun.»

Er ließ die beiden in der Küche allein.

 

«Worst-Case-Szenario, ja?», brummte Conny, als er die Tür des Wohnzimmers hinter sich schloss. Hier herrschte das übliche Chaos. Auf dem Tisch stand eine Thermoskanne, daneben lagen Zeitschriften, Taschentuchpackungen, ein zerfledderter Ordner mit der Aufschrift Rechnungen und ein Fernrohr. Der Hocker vor dem elektrischen Klavier war mit einem Korb voller unsortierter Socken besetzt, auf der Fensterbank stapelten sich Bücher.

«Nun setz dich schon, du machst mich nervös.»

Er faltete eine Decke zusammen, legte sie auf den Tisch und ließ sich in den nun freien Sessel sinken. «Was ist, wenn du Leandros mal einen Tritt gibst? Warum arbeitet er bei der Tankstelle? Der ist doch nicht dumm.»

«Lass dich nicht täuschen. Er ist ein Süßer, aber über den Tag hinaus kann er auch nicht denken. Es liegt an Katja.»

«Wie?»

«Katja ist in unserer Familie die Miss-ich-krieg’s-hin. Letztes Jahr war sie zum Schüleraustausch in Amerika, nächstes Jahr legt