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Klara Holm

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Beschreibung

Showdown in den Klippen von Rügen Bei einem Routineeinsatz an den Rügener Klippen kommt es zu einem tragischen Zwischenfall: Eine Kollegin von Hauptkommissar Luka Kroczek schießt in Notwehr auf eine drogenberauschte junge Frau. Aber hielt die Angreiferin wirklich ein Messer in der Hand? Ihre als «Rabenaas» verschriene Mutter, Oberhaupt einer kleinkriminellen Sippe, behauptet das Gegenteil, und so steht Aussage gegen Aussage. In der kleinen Siedlung, in der die Leute leben, brodelt es. Welche mörderische Fehde existiert zwischen den Nachbarn? Geht es um den attraktiven Baugrund? Oder um Rache? Luka ist ratlos. Ein Anschlag folgt dem nächsten. Und dann gibt es den ersten Toten … Der dritte Band der erfolgreichen Rügenkrimi-Reihe.

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Seitenzahl: 385

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Ähnliche


Klara Holm

Rabenaas

Ein Rügen-Krimi

 

 

 

Über dieses Buch

Showdown in den Klippen von Rügen

Bei einem Routineeinsatz an den Rügener Klippen kommt es zu einem tragischen Zwischenfall: Eine Kollegin von Hauptkommissar Luka Kroczek schießt in Notwehr auf eine drogenberauschte junge Frau. Aber hielt die Angreiferin wirklich ein Messer in der Hand? Ihre als «Rabenaas» verschriene Mutter, Oberhaupt einer kleinkriminellen Sippe, behauptet das Gegenteil, und so steht Aussage gegen Aussage.

In der kleinen Siedlung, in der die Leute leben, brodelt es. Welche mörderische Fehde existiert zwischen den Nachbarn? Geht es um den attraktiven Baugrund? Oder um Rache? Luka ist ratlos. Ein Anschlag folgt dem nächsten. Und dann gibt es den ersten Toten …

Vita

Klara Holm lebt in Oldenburg und hat bereits unter anderem Namen sehr erfolgreich Krimis und historische Romane veröffentlicht. Bei zahlreichen Rügen-Besuchen entdeckte sie ihre Liebe zur größten deutschen Insel, auf der nun ihr jazzbegeisterter Kommissar Luka Kroczek zum dritten Mal ermittelt.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2017

Copyright © 2017 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Redaktion Sarah Tober

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-57381-9

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für Nils und Johanna,

bei denen es auch bei Sturm und Eisregen immer warm und behaglich bleibt. Und jetzt reden wir nicht vom Wetter, ihr zwei.

Rügen, März 2016

Eins

Die Fratze des Todes …

Fratze … Was für ein dämliches Bild. In Deutschland kam der Tod korrekt im Arztkittel und gab sich beschwichtigend: Alles in Ordnung, dem Patienten geht es erwartbar, in der Cafeteria wird übrigens ein hervorragender Kaffee serviert. Dass es sich beim Sterben um eine Ungeheuerlichkeit handelte, um nicht weniger als die totale Auslöschung eines fühlenden menschlichen Wesens, darüber fiel kein Wort. Die Ärzte taten so routiniert, als würden sie die Sterbenden einfach überweisen. Kollege Tod: ein neuer Patient. Warum wurden die über ihrer Arbeit nicht verrückt? Man musste doch verrückt werden, wenn man täglich damit konfrontiert wurde, wie Menschen einfach aufhörten zu existieren.

Auch Papas Gesicht hatte nichts von einer Fratze. Da er an Übergewicht litt, waren seine Wangen voll geblieben, und die Augen wirkten wie immer. Nur die vielen Apparate, an die man ihn angeschlossen hatte, gaben einen Hinweis, und natürlich die Nasensonde, über die er Sauerstoff einatmete. COPD, Raucherlunge – Scheiße. Er hatte halt so gern gepafft. Ein kleines Laster, eine verzeihbare Sünde …

«Keine Sorge, der Spaß dauert eine Viertelstunde, dann sind wir damit durch.» Finn, der Streifenpolizist, der neben Kerstin auf dem Beifahrersitz saß, schreckte sie aus den Gedanken. «Der Idiot, der uns gerufen hat, beschwert sich im Tagesrhythmus. Wenn du nicht in die Bresche gesprungen wärst, hätten wir ihn vertröstet und die Sache einfach in der speziellen Ablage entsorgt.»

Damit meinte er den Papierkorb.

«Wer zieht auch in eine so beschissene Nachbarschaft!», lästerte Finn. «Diese Schreppers sind eine Sippe wie aus dem Lehrbuch: Einbruch, Drogen, Körperverletzung … Die lassen nichts aus. Kannst die ganze Bande komplett in die Tonne treten. Der Kerl, wegen dem wir rausmüssen, ihr Nachbar, war übrigens früher mal Lehrer. Der hat wohl ’ne Zeitlang gedacht, er hätte ’nen pädagogischen Auftrag bei den Schreppers. Gott, da kriegt man fast schon wieder Mitleid mit den Leuten.»

Finn rekelte sich auf seinem Sitz, wahrscheinlich wartete er auf Beifall für seine lockere Einschätzung. Er kriegte sicher ständig Applaus von Frauen, so gut, wie er aussah, mit seinen lockigen Orlando-Bloom-Haaren, dem breiten Kinn und den Muskelpaketen.

«Danach haben wir uns jedenfalls den Feierabend verdient.» Mit einem anzüglichen Grinsen legte er seine Hand auf Kerstins Knie mit der dicken, blauen Strumpfhose. Kerstin hätte sie am liebsten fortgeschlagen. Aber das wäre unfair gewesen. Sie hatte ihrem Streifenkollegen eindeutige Avancen gemacht, als sie ihn zufällig im Sassnitzer Revier traf. Und als sie anbot, ihn zu den Schreppers zu begleiten, war ihm natürlich klar gewesen, worauf es rauslaufen sollte. Kerstin arbeitete bei der Kripo Bergen, hatte also gar nichts mit der Arbeit der Streifenpolizei im Nachbarrevier zu tun. Entsprechend hatte er kombiniert, dass sie auf eine schnelle Nummer mit ihm aus war.

Und genau das hatte sie auch gewollt. Ein bisschen unverbindlichen Sex, um die verfluchte Anspannung loszuwerden, die seit dem Krankenhausbesuch Besitz von ihr ergriffen hatte. Inzwischen musste sie bei dem Gedanken, sich mit Finn im Bett zu wälzen, allerdings würgen. Papa würde an seiner COPD sterben, man müsse täglich mit seinem Ableben rechnen, hatte der Arzt gesagt. Warum war sie nach der Arbeit nicht sofort wieder zu ihm gefahren? Sie liebte ihn doch. Klar, mit seiner fortschreitenden Demenz war es in den letzten beiden Jahren nicht immer leicht gewesen, aber er hatte sie wiedererkannt und so richtig schlimm …

«Vorsicht!» Finn riss die Hände hoch, und Kerstin schlug einen hektischen Bogen um eine Ziege, die wie aus dem Boden gewachsen plötzlich auf der Straße stand. Scheiße, warum konnten die Leute nicht auf ihr Viehzeug aufpassen! Das wäre der größte Hohn gewesen: Papa hätte ihr den Vortritt ins Paradies gelassen.

Kerstin ging vom Gas und atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Zum ersten Mal an diesem Spätnachmittag nahm sie wieder ihre Umgebung wahr. Lohme, das Dorf, aus dem die Beschwerde gekommen war, lag im Nordosten von Rügen auf Jasmund. Es war ein stiller Flecken Erde. Hügelland mit Äckern und Waldstreifen, gelegentlich ein Hof oder eine winzige Ortschaft. Auf den Feldern zeichnete warmes Licht die grünen Sämlinge weich. Möwen von der nahen Ostsee schwebten am Himmel.

«Mann, hast du sie noch alle?», beschwerte sich Finn.

«Ist doch gutgegangen.»

Finn begann wohl zu dämmern, dass es mit dem Quickie nichts werden würde. Vielleicht argwöhnte er, dass sie mit ihrem Angebot nur hatte austesten wollen, ob sie es noch schaffte, einen Mann um den Verstand zu bringen. Und da lag er nicht ganz falsch. Kerstin sah nach wie vor gut aus, was mit eiserner Fitness und strengen Diäten zu tun hatte, aber sie ging bereits auf die vierzig zu, und das beunruhigte sie. Regelmäßiger Sex, am liebsten mit jüngeren Männern, wurde immer wichtiger für sie. Sie fuhr in eine der Alleen hinein, die Rügen wie grüne Tunnel durchzogen. Dann erschienen erste Häuser und plötzlich eine Absperrung mitten auf der Straße.

«Wir müssen da rechts lang, in einem Bogen durchs Dorf.»

«Danke, ich hab Augen», schnauzte Kerstin und nahm die Kurve. Lohme war direkt an die Steilküste im Osten der Insel gebaut, sie konnte hinter den Häusern das Meer schimmern sehen. Ein toller Anblick. Am Straßenrand hing an einem Holzgerüst ein Plakat. Lohme zuBETTonieren? NEIN! Das verstand sie nicht.Wie konnten die nur so behämmert sein? Sie hatten hier ein Paradies, das jedes Jahr Tausende Urlauber anlockte, und es war doch der Tourismus, der die Insel am Leben hielt.

«Jetzt links», sagte Finn. Noch eine Kurve, dann lotste er sie zwischen einem leer stehenden Gebäude und einem Schrebergarten zu einem Parkplatz. «Am besten hältst du hier. Ist nicht mehr weit. Das letzte Stück können wir laufen.»

Kerstin stellte den Wagen ab, sie stiegen aus. In einer Ecke des Platzes stand ein blauer Anhänger, daneben ein alter Mercedes, eine Mischung aus geliebtem Oldtimer und Schrottkarre, und bei einem Gatter parkte ein Volvo. Jenseits des Gatters lag ein Buchenwäldchen. Hinter den Baumspitzen sank gerade die Sonne, allerdings ohne Glanz, es wurde nur dunkler. Das war wie eine Parabel auf das beschissene Leben, das auch einfach versackte, wenn das Ende kam. Armer Papa. «Wo wohnen die denn?»

«Den Weg hinterm Gatter lang. Nur ein paar Schritte.» Finn ging zu einem Gebüsch.

«Was soll das denn jetzt?»

«Muss mal.» Er hatte den letzten Rest guter Laune verloren. Provokant stellte er sich so, dass sie sein Prachtstück sehen konnte, während er pinkelte.

«Was, verdammte Scheiße …»

«Hab ich dich gezwungen mitzukommen?» Ja, er war sauer auf sie.

Angewidert wandte Kerstin sich ab. Neben dem Gatter war genügend Platz, um einen Fußgänger durchzulassen. Sie schlängelte sich an dem verwitterten Hindernis vorbei und zog allein los. Am besten die Sache möglichst schnell hinter sich bringen. Danach würde sie Finn zum Revier zurückbringen und im Anschluss gleich zu ihrem Vater fahren. Rasch eilte sie voran. Der Waldboden war mit einem grün-weißen Teppich aus Buschwindröschen übersät, die teilweise bis auf den Weg wucherten. Sie hörte hinter den Bäumen die Ostsee rauschen. Aber die Idylle beruhigte sie nicht. Papa würde sterben, und sie würde dann allein sein. Keine Geschwister, keine Onkel, Tanten oder Cousins … Ihre Mutter war schon vor Jahren gestorben, damals in Berlin.

Nach kurzer Zeit hatte sie die Häuser erreicht, von denen Finn gesprochen hatte. Inzwischen war sie entschlossen, hart durchzugreifen und den – wie hießen sie gleich? Schneppers? – ordentlich die Meinung zu geigen. Und dem Ex-Lehrer, der mit seiner Geltungssucht Staatsgelder vergeudete, auch. Gott, hatte sie das alles satt! Immer den Ärger anderer Leute ausbaden müssen.

Sie musterte die Gebäude, die unterschiedlicher kaum sein konnten. Der Weg bog in einem scharfen Winkel nach links ab. An seinem Ende stand ein aufwendig renovierter Bauernhof – weiß verputzte Wände, Naturholzsprossenfenster, Reetdach, Blumenkübel, Rankgitter und eine lackierte Bank. Ein Bild wie aus der Landlust kopiert. Der Bauerngarten, der das Haus umgab, war von einem Jägerzaun umgrenzt, von dem ein Element niedergetreten worden war. Na, da wusste man ja schon, in welche Richtung die Beschwerden zielten.

Das zweite Haus direkt vor ihr besaß einen völlig anderen Stil. Herrenhaus war das Wort, das ihr spontan einfiel. So hätte sie auch leben wollen. Eine in Ehren gealterte Villa mit zwei riesigen Balkonen, von denen einer die Terrasse schützte und der andere die linke Seite des Gebäudes auflockerte. Die Fenster besaßen ebenfalls Sprossen, bildeten aber eine gläserne Front, sodass die Räume dahinter von Licht durchflutet sein mussten. Lädt zum Einbruch ein, dachte Kerstin mit einem kritischen Blick auf den Wald, der die kleine Siedlung umschloss. Allerdings schien das Haus unbewohnt zu sein, da gab’s nichts zu holen.

Das dritte Haus direkt links neben ihr war einfach nur hässlich. Es überragte die beiden anderen. Die ehemals gelbe Farbe blätterte von den Wänden, eine der Scheiben im obersten Geschoss hatte einen Sprung, vergangene Stürme hatten ein paar Ziegel vom Rand des Dachs gepflückt, und am Balkon verrotteten die Holzlatten. Auf dem weitläufigen, ungepflegten Grundstück, das übergangslos im Wald versickerte, flatterte Wäsche im Wind. Hier wohnten die Schreppers, sie brauchte gar kein Türschild.

Komische Siedlung, dachte Kerstin. Da passte ja gar nichts. Kein Wunder, dass sich die Bewohner ständig in den Haaren lagen. Aber das ging sie nichts an. Sie würde die Anzeige aufnehmen und fertig.

Gerade als sie auf das Bauernhaus zuschreiten wollte, brauste plötzlich Musik auf. Heavy Metal, Heaven Shall Burn, volle Kanone. Vögel flogen auf, der Boden schien zu zittern. Kerstin musste grinsen. Das war genau die Musik, die sie brauchte, um ihre trüben Gedanken zu verscheuchen. Zum ersten Mal an diesem schrecklichen Tag passierte was Schönes. Die Schreppers, aus deren Richtung die Musik kam, waren vielleicht doch nicht völlig daneben.

Aber erst mal musste sie zum Bauernhof. Sie öffnete das Törchen, ging den akkuraten Plattenweg hinauf und klingelte.

«Na endlich!», schnauzte der Mann, der ihr öffnete – ein älterer Herr mit einem Bauch, über dem Hemd und Pullunder spannten. Sein Haar war schütter, das Gesicht fleckig und in Verdrossenheit versteinert. Irgendwo in einem der Zimmer liefen Nachrichten. Typisch Rentner, dachte Kerstin angewidert. Starrsinnige Knacker, die glaubten, ihr Alter hätte sie mit Gottes Weisheit und dem Recht auf alles versorgt. Die gingen ihr so was von auf den Sack. Wo zur Hölle blieb Finn?

Sie wollte ihren Ausweis vorzeigen, aber der Mann drängelte an ihr vorbei und schritt energisch auf das gelbe Haus zu. Kerstin folgte ihm widerwillig. Er umrundete eine Treppe mit kaputten Stufen und verschwand hinter einer Hausecke. Die Musik wurde mit jedem Schritt lauter. The Lie You Bleed For … Da wurden alle Ängste weggedröhnt.

Rhythmisch mit den Schultern zuckend, bog sie ebenfalls um die Hausecke. Vor ihr lag ein verwilderter Garten. Er war ebenso wie der Waldboden mit Buschwindröschen übersät, nur dass die Blumen hier in Laufrinnen niedergetreten worden waren. Bänke umringten ein Feuer, an dem gegrillt wurde. Der Anblick hatte etwas Anarchisches. Die machen’s richtig, dachte sie. Raus aus dem Trott, einfach alles wegrutschen lassen. Sie musterte die Feiernden: Auf der linken Bank saß eine junge Frau, ausnehmend hübsch, mit rotblonden Locken, die sie im Nacken zusammengesteckt hatte. Auf der mittleren Bank schmuste ein Pärchen in Lederklamotten, die rechte war leer, bis auf ein Kissen. Etwas dichter am Feuer saß auf einem klapprigen Campingstuhl eine alte, unglaublich hässliche Frau mit einem Strohhut und schwarzen Zähnen voller Zahnlücken. Daneben hockte ein kleines Mädchen, das mit einem Messer etwas in der Glut röstete.

«Walten Sie Ihres Amtes!» Der Lehrer blickte Kerstin mit verschränkten Armen an. Wie bescheuert war das denn?

Sie räusperte sich. «Ich müsste erst mal erfahren, worum es überhaupt geht.»

«Das hab ich doch bereits am Telefon erklärt.»

«Dann wiederholen Sie’s.»

Der knutschende Mann löste sich von seiner Freundin und zeigte den Stinkefinger. Er war ein ungepflegter Typ mit Bartstoppeln, einem schwarzen Piercingring im Ohr und einer Fluppe zwischen den Fingern, keiner, dem man gern im Dunkeln begegnet wäre.

«Ja, machen Sie sich denn keine Notizen, wenn bei Ihnen eine Anzeige eingeht?», regte der Lehrer sich auf. «Es handelt sich um den Tatbestand des Vandalismus. Mein Gewächshaus – ich werde Ihnen das gleich zeigen – wurde von diesen ungeheuerlichen Menschen …»

«Wie ist Ihr Name?»

«Das ist der liebe Gott», kicherte der Gepiercte. Er war besoffen oder auf Drogen, vielleicht beides.

«Gottfried Probst», erklärte der Rentner steif.

«Bei Ihnen ist also etwas kaputtgegangen?»

«Nicht kaputtgegangen. Man hat mein Gewächshaus mutwillig beschädigt. Nicht man – dieses asoziale Pack hier …»

«Der lügt», meldete sich die Alte mit einer Stimme, die wie über rostiges Eisen gezogen klang, zu Wort.

«… ist in meinen Garten eingedrungen und hat …»

«Der lügt.»

«… vorsätzlich die Glasfront meines Gewächshauses eingeworfen. Natürlich waren die das! Ist ja nicht das erste Mal. Vor ein paar Wochen hab ich sie erwischt, als sie …»

«Haben Sie gesehen, wie die Scheiben zerstört wurden? Ich meine den aktuellen Schaden? Und haben Sie eine konkrete Person identifizieren können?» Kerstin war sicher, dass der Mann recht hatte, aber sein besserwisserischer Tonfall brachte sie auf die Palme. Er starrte sie entgeistert an. «Wenn nicht, dann handelt es sich nämlich nur um eine Vermutung, die Ihnen schlimmstenfalls eine Anzeige wegen Verleumdung einbringen könnte. Ich bräuchte also etwas Handfestes, oder die Sache …»

«Der hat selbst bei uns was eingeschmissen. Da oben», gackerte der Gepiercte und wies zu einem von Dreck und Spinnweben fast blinden Dachfenster.

«Halt’s Maul, du Arsch!», entfuhr es dem genervten Lehrer.

«Haben Sie das gehört, Frau Kommissarin? Der Gott hat mich beleidigt.»

«Was unternehmen Sie denn nun? Ich erwarte den Schutz, der mir als Steuerzahler …»

Kerstin verfluchte Finn, der sich immer noch nicht blicken ließ, und sich selbst, weil sie ihm angeboten hatte, mit hier rauszufahren. Zum Kotzen war das. Gott sei Dank hatte Probst genug. Am ganzen Körper zitternd, drehte er sich um und stolzierte davon. Seine Beschwerde wegen mangelnder Unterstützung durch die Staatsmacht würde sich auf jeden Fall Finn ans Knie binden müssen.

Der Gepiercte erhob sich und wankte auf Kerstin zu. «Der Gott hat mich beleidigt, haste das auch in dein Anzeigenbuch geschrieben, Schneckchen?» Er war echt stockbesoffen. Die Zigarette glühte zwischen seinen Lippen.

Kerstin hasste es, wenn sie dämlich angemacht wurde. «Ich brauche Ihre Namen.» Sie zückte ihr Notizbuch. Aber bevor sie zu schreiben beginnen konnte, kam jemand über eine unkrautüberwucherte Terrasse aus dem Haus – ein Mann mittleren Alters mit einem verlebten Gesicht. Er trug eine Schüssel mit Salat in den Händen, das bekam Kerstin noch mit. Salat – sie hätte Steaks erwartet.

Und dann kam der Filmriss, wie sie es später nannte. Was sie noch wahrnahm, war eine Bewegung im Augenwinkel. Jemand machte etwas, das sie alarmierte. Sie wusste, sie musste herumfahren, die Pistole ziehen, sich wehren, sie hatte plötzlich eine Scheißangst … Dieses Gefühl brannte sich am stärksten in ihr Gedächtnis ein – die Angst.

Dann ertönte der Schuss … Es folgte ein Schrei, der ihr bis ins Mark ging … Und schließlich tauchte Finns schockiertes Gesicht vor ihr auf …

Zwei

Wie konnte das passieren? Niemand sprach die Frage aus, aber sie hing über der Lichtung, wie mit Leuchtfarbe an den Nachthimmel gemalt.

Auf dem Boden lag inmitten weißer Waldblumen eine angeschossene Frau, eine hübsche Rothaarige namens Nadine Schrepper – sie wurde von einem Notarzt versorgt, zwei Polizisten leuchteten ihm mit Taschenlampen. Der Krankenwagen wartete mit kreiselndem Blaulicht, bereit, die Bewusstlose abzutransportieren, sobald es zu verantworten war. Aber noch beugte der Arzt sich mit besorgter Miene über ihren Körper.

Luka Kroczek, Leiter der Kripo Bergen, konnte nicht sehen, was der Mann genau tat, aber er spürte seine Unruhe. Schussverletzungen gehörten sicher nicht zu seinem Alltag. Die Kugel hatte die Frau im Brustbereich getroffen, ihr weißer Pullover war mit Blut gefärbt, und Blut schwamm auf ihrer Brust, die der Arzt freigelegt hatte.

Finn Schmorle, der Polizist, der für den misslungenen Einsatz verantwortlich zeichnete, stand mit schuldbewusstem Gesicht auf einer versifften Terrasse. Kerstin Sonntag, die ihn aus unerfindlichen Gründen begleitet und auf die Frau geschossen hatte, verharrte neben dem Krankenwagen, so weit wie möglich von der Verletzten und deren Familie entfernt. Man konnte ihr den Schock ansehen.

Die Kollegen von der Sassnitzer Wache hatten Luka vor einer halben Stunde alarmiert. Finn Schmorle und Kerstin Sonntag hätten einen Notruf abgesetzt, sie würden angegriffen, es gebe eine Verletzte. Zwei Streifen und ein Krankenwagen seien auf dem Weg. Aber da Frau Sonntag in Lukas Kommissariat arbeite … «Ich komme», hatte Luka gesagt und seinen Vorgesetzten in Stralsund aufgescheucht.

«Was hat Kerstin Sonntag bei einem Einsatz der Sassnitzer Polizei zu suchen?», hatte Martin Berger verblüfft gefragt.

«Weiß ich nicht», hatte Luka geantwortet. Dann war er rüber nach Lohme gefahren. Ein Polizist hatte sie vom Parkplatz zu einer Lichtung gebracht, auf der die Streifenpolizisten versuchten, etwa ein Dutzend Zivilisten vom Tatort fernzuhalten. Schmorle fuchtelte mit seiner Pistole – es war offensichtlich, dass er Angst hatte. Luka hatte ihm als Erstes die Waffe aus der Hand genommen. Hätte ja gefehlt, dass noch einmal geballert wurde.

Und dann hatte sich Kerstin in seine Arme geworfen. Vielleicht war dieser Moment am überraschendsten gewesen. Luka war Kerstins Vorgesetzter, aber sie hatten einander nie gemocht. Seit ihrem ersten gemeinsamen Tag auf Rügen hatte sie versucht, ihm Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Unvergessen die Episode, als sie seine Freundin in die Pathologie bestellt hatte, damit sie den abgeschnittenen Kopf ihres Bauleiters identifizierte. Die gegenseitige Abneigung saß also tief.

«Sie ist mit einem Messer auf mich losgegangen», flüsterte Kerstin an seiner Brust.

Er war sauer. Was erwartete sie von ihm? Sie hatte eine junge Frau schwer verletzt, und das würde ihr eine Menge Ärger einbringen. Suchte sie Schützenhilfe? Aber er war bei dem Geschehen ja nicht mal anwesend gewesen. Er hatte sich von ihr in dem ärgerlichen Gefühl gelöst, benutzt zu werden.

Nun schaute er zu den gaffenden Dörflern. Den Polizisten gelang es endlich, sie zum Fortgehen zu bewegen.

Auf einem Gartenstuhl, den jemand auf den Weg zwischen den drei Häusern der Siedlung getragen hatte, saß ein weinender älterer Mann, der vermutlich zur Familie gehörte. Neben ihm stand sein Rollator, auf der anderen Seite ein etwa sechsjähriges Mädchen. Der Rest der Familie – eine vielleicht sechzigjährige Frau, zwei jüngere Männer und eine ebenfalls junge Frau – steckte ein paar Meter weiter die Köpfe zusammen. Und das war ein Problem. Sie waren vermutlich Zeugen. Normalerweise hätte Luka sie voneinander isoliert und noch vor Ort die ersten Befragungen durchführen lassen. Genügend Polizisten waren ja inzwischen eingetrudelt. Aber da lauerte das zweite Problem. Da Kerstin zu seiner Abteilung gehörte, war er parteiisch, das Gleiche galt für Finn Schmorle und seine Sassnitzer Kollegen. Was auch immer sie aus den Zeugen rauskitzelten – vor Gericht würde man sie zu Recht als voreingenommen bezeichnen. Ihnen blieb also vorerst nur, Sorge dafür zu tragen, dass niemand durchdrehte.

Verflucht, wo blieb der Chef mit seinem Trupp?

Der Arzt gab ein Zeichen, und die Patientin wurde auf eine Trage gelegt und in den Krankenwagen geschoben. Der alte Mann wollte sich erheben, schaffte es aber nicht und sackte auf den Gartenstuhl zurück. Sonst schien niemand die Verletzte begleiten zu wollen. Die Frau mit dem zerfledderten Strohhut warf einen Blick auf den Krankenwagen, redete dann aber weiter auf die anderen ein.

Conny Böhme, Lukas Kollegin, die zusammen mit ihm nach Lohme gefahren war, kam in ihrem dicken, knallgelben Wollmantel zu ihm rüber. «Haste nicht das Gefühl, du solltest da mal zwischengehen?»

«Wir sind Kerstins Kollegen, wir sind parteiisch. Du weißt doch, was das heißt: Keine Befragungen.» Luka starrte zu der Menschentraube. So viel Wut. Die alte Frau drohte ihm mit der Faust.

«Rabenaas», murmelte Finn Schmorle, der ebenfalls zu ihnen getreten war.

«Bitte?» Luka drehte sich zu ihm um.

«So nennen sie die Alte im Dorf. Martha Schrepper. Die ist ein Miststück wie aus dem Bilderbuch. Ich bin hier in der Nähe aufgewachsen. Als ich klein war, war die für uns so was wie der Teufel.»

«Und mal abgesehen vom Dorftratsch?»

Schmorle schien den kaum verhüllten Rüffel nicht zu bemerken. «Die sind in den Siebzigern hierhergezogen. Der Vater da drüben ist nicht richtig im Kopf, der hat einen an der Klatsche. Seine Frau hat in der Familie das Sagen. Und die hat eine echte Verbrecherbrut rangezogen. Wenn auf Rügen ein Einbruch gemeldet wird, stecken in der Hälfte der Fälle die Schreppers mit drin. Die beiden Kerle daneben sind ihre Söhne, das Mädel ist die Freundin von dem einen. Wetten, die sprechen gerade ihre Aussagen ab?»

Luka wischte die eigenen Bedenken beiseite und ging zu der Familie hinüber. Zumindest konnte er sie daran hindern, ihr Gespräch weiterzuführen. Man öffnete den Kreis für ihn. Das kleine Mädchen, das sich inzwischen zu den anderen Erwachsenen gesellt hatte, starrte ihn an. Seltsam, dass sie sich nicht an die Oma oder einen der Onkel drängte. Und ebenso seltsam, dass niemand sich um sie kümmerte. «Frau Schrepper?»

«Bin ich, ja.»

Luka musterte die Frau. Er hatte wohl noch nie einen so hässlichen Menschen wie Martha Schrepper gesehen. Sie war bis auf die Knochen abgemagert, das Gesicht entsprechend faltig, die Haare, die ihr ungekämmt auf die Schultern fielen, strähnig. Aber am schlimmsten waren die Zähne. Schwarze und nikotingelb gefärbte Zahnstummel in einem von Falten gekerbten Mund.

«Die Verletzte ist Ihre Tochter?»

«Nicht verletzt, Jungchen. Abgeknallt. Ohne jeden Grund von dem verfluchten Bullenweib zusammengeschossen. Das gibt’n Aufstand, da kann sie sich jetzt schon drauf freuen.» Hass ließ ihre kehlige Stimme zittern.

«Warum begleiten Sie Ihre Tochter nicht?»

«Geht dich ’n Scheißdreck an.»

Luka zog die Braue hoch, sie starrte zurück.

Einer ihrer Söhne schien zu seinem Vater gehen zu wollen, änderte dann aber abrupt die Richtung, sodass er hinter Luka zu stehen kam. Luka bezwang den Drang herumzufahren. Sieben Polizisten hatten das Gelände im Blick. Kein Grund zur Sorge. Mit der Stimme des Mannes drang ein Schwall kalten Zigarettenrauchs über seine Schulter. «Meine Schwester wurde Opfer eines Verbrechens, begangen durch Ihre Kollegin, Herr Kommissar. Wir sind zutiefst erschüttert – das wollte meine Mutter ausdrücken. Sie steht unter Schock. Wir stehen alle unter Schock. Dieses Revolverweib stürmte in eine private Familienfeier. Wir haben gegrillt und Musik gehört. Da kommt sie mit unserem Nachbarn um die Ecke. Wir haben kein Wort gewechselt. Die Vorwürfe waren ja auch lächerlich. Probst haut wieder ab – und plötzlich zieht sie die Knarre und schießt auf meine Schwester. Nadine hatte sich nicht einmal bewegt. Ist Ihre Kollegin krank im Kopf?»

Luka drehte sich um. «Und wie ist Ihr Name, bitte?»

Der Mann sog an seiner Zigarette, blies ihm den Rauch ins Gesicht und sagte: «Schrepper. Dietmar. Und Ihrer?»

Luka zog seinen Ausweis, der Mann warf einen flüchtigen Blick darauf, erkennen konnte er bei dem schlechten Licht sowieso nichts.

«Sie werden Nadine die Schuld geben», sagte er. Seine Augen waren verhangen, Bart und Kopfhaar ungepflegt. Aber es lag etwas Intelligentes in seinen Zügen, etwas Klares, Einschätzendes und Berechnendes.

«Glauben Sie nicht, dass Ihre Schwester jetzt jemanden an ihrer Seite bräuchte?», wiederholte Luka seinen Vorschlag.

Wieder bekam er Rauch ins Gesicht geblasen. «Wir machen die Schlampe fertig. Sagen Sie das Ihrer Kollegin. Wir werden dafür sorgen, dass sie keinen guten Tag mehr erlebt. Das ist ein Versprechen. Ein Schrepper-Versprechen.»

Durch das Buchenwäldchen tönte das Jaulen von Sirenen. Martin Berger rückte mit seinem Trupp an. Endlich. Jetzt könnten die Befragungen beginnen.

 

Stunden später saßen sie im Bergener Kommissariat in Lukas Büro. Es war immer noch Nacht, aber der Morgen graute bereits. Die Spurensicherung hatte ihre Arbeit getan, was bedeutete, dass sie eine Patronenhülse eingesammelt und Kerstins Waffe eingetütet hatten. Außerdem hatten sie Haus und Grundstück nach dem Messer abgesucht, mit dem Kerstin nach eigenen Angaben angegriffen worden war, allerdings nichts gefunden. Es war verschwunden oder hatte nie existiert. Mehr hatten sie nicht machen können. Die Fußspuren auf dem Boden stammten von den Schreppers, den Polizisten und den Nachbarn, was sollte man da sichern?

Vor ihnen stand Kaffee auf dem Schreibtisch. Martin Berger ließ sich von Kerstin ihre eigene Version des Vorfalls erzählen, und die ging so: Sie hatte auf Finn gewartet, aber das Arschloch – Kerstin war zu aufgeregt, um auf ihre Sprache zu achten – hatte rumgebummelt. Gottfried Probst, der Pensionär, der die Polizei gerufen hatte, war zu seinem eigenen Haus zurückkehrt. Sie selbst wollte nur noch die Namen der Beteiligten und die wichtigsten Vorwürfe schriftlich festhalten und dann gehen.

«Warum waren Sie überhaupt mit der Sassnitzer Streifenpolizei unterwegs?», unterbrach Berger sie.

Kerstin blickte zu Luka. Wollte sie, dass er ihr mit einer Anweisung, die er angeblich gegeben hatte, aus der Klemme half? Nee, so was machte er nicht. Es wäre auch gar nicht sein Job gewesen, sie zu einem Streifeneinsatz abzukommandieren.

«Das war etwas Persönliches», erklärte Kerstin steif. Wahrscheinlich lief etwas zwischen ihr und Finn Schmorle. Einen anderen Grund konnte Luka sich nicht vorstellen. Aber so was sollte man doch zugeben, wenn man bis zum Hals in Schwierigkeiten steckte.

Kerstin wischte sich über die geröteten Augen. «Es ging mir nur noch darum, die Daten der Familie Schrepper zu notieren. Und da ist diese Frau plötzlich durchgedreht. Ich hatte sie noch gar nicht angesprochen, da ist sie auch schon auf mich los. Mit einem Messer. Das ging alles so schnell, ich hatte keine Chance. Wenn ich nicht sofort reagiert hätte, würde ich jetzt im Leichenschauhaus liegen. Es war Notwehr!»

«Niemand außer Ihnen hat den angeblichen Angriff gesehen. Auch Ihr Kollege nicht», wandte Martin Berger ein.

«Die stecken doch alle unter einer Decke.»

«Die Schreppers mit Finn Schmorle?»

«Nein, der … der hat sich eben getäuscht. Er ist doch erst dazugekommen, als alles schon vorbei war.» Kerstin drehte fast durch vor Verzweiflung.

«Wir konnten das Messer nicht finden», erinnerte Berger.

«Jemand hat es aufgehoben und ist damit weggerannt.»

«Wer?»

«Einer von den Schreppers.»

Berger nickte reserviert. Er blickte zu Luka. Kerstins Vergehen würde von einer außenstehenden Dienststelle bearbeitet werden müssen. So war die Vorschrift. Es hatte keinen Sinn, dieses Gespräch weiterzuführen. «Na schön. Sie sind fürs Erste vom Dienst befreit.»

Kerstin starrte ihn entgeistert an. War ihr gar nicht klar gewesen, was auf den Schuss folgen würde? Dass man sie suspendieren musste? Ihr letzter Blick, bevor sie rausrannte, galt Luka. Gott, war sie sauer. Sie hatte tatsächlich erwartet, dass er sie verteidigen würde.

 

Die Polizeimaschinerie lief ausnahmsweise einmal ohne das gewohnte Holpern an. Das LKA nahm sich des Falls an, und schon am nächsten Tag öffnete sich die Tür zu Lukas Büro. Der Mann, der hereinkam, war um die fünfzig. Seine ausgedehnte Halbglatze wurde von grauen Locken gerahmt, er trug eine schwarze, dicke Brille, Edeljeans und einen silbernen Anorak und lächelte sonnig.

«Herr Kroczek? Na, dann erst mal: Hallo. Gerd Kutscher mein Name – LKA Mecklenburg-Vorpommern. Das ist ja mal ’ne schöne Scheiße. Ich bin der Untersuchungsführer für den Fall Kerstin Sonntag. Ist rübergekommen, ja? Sagen Sie einfach Gerd zu mir. Ein paar Kollegen kommen noch nach, falls das nötig sein sollte, aber ich nehme an, dass wir alles rasch geregelt kriegen. So viel gibt’s ja nicht zu ermitteln.»

Luka bat ihn, Platz zu nehmen. Es war ein kühler, sonniger Märztag. Licht fiel in breiten Streifen in das karge Büro. Man konnte den nahenden Frühling spüren, die Bäume vor dem Fenster trugen einen grünen Flaum, bald würden die Blüten der spanischen Kirschen aufplatzen. Normalerweise versetzte ihn diese Zeit in gute Stimmung. Heute nicht. Polizisten ermitteln gegen Polizisten. Davon hörte man, selbst hatte er so etwas noch nicht erlebt.

Knapp erzählte er seinem Besucher, worin Kerstins Stellung im Kommissariat bestand – sie arbeitete als seine Stellvertreterin –, und ergänzte verkrampft, dass er sie als fähige Polizistin kennengelernt hatte. Stimmte das? Ja, sie war clever und machte selten Fehler. Sie hatte es nur drauf, den Kollegen mit ihrem Rumgezicke das Leben schwer zu machen. Nicht allen Kollegen – nur mir, dachte Luka. Weil ich ihr vor drei Jahren die Leitung des Kommissariats weggeschnappt habe.

Kutscher beugte sich vor, fast sah es aus, als wollte er ihm die Hand tätscheln. «Keine Sorge, ich habe nicht vor, einer Kollegin ans Bein zu pinkeln. Die Wahrheit ist doch: Wir, also die Polizei, machen uns krumm fürs Volk, und zum Dank werden wir angepöbelt und bespuckt, und wenn was schiefläuft, wie in Lohme, dienen wir dem Rest der Republik als Schießbudenfiguren. Dann fangen sie alle an, auf uns einzudreschen. Die Politik, die Medien … der komplette Gutmenschenzirkus. Die Geier von der Presse waren schon da, richtig?»

«Die Ostsee-Zeitung hat eine Meldung gebracht.»

«Nur eine Meldung? Gott sei Dank. Verstehen Sie mich nicht falsch, Kroczek: Ich ermittle korrekt. Aber ich weiß, wie schwierig unser Job ist. Kerstin Sonntag musste in Sekunden eine Entscheidung treffen. Zack! Es war eine problematische Entscheidung – aber hinterher kann man immer gute Ratschläge geben.»

Luka lehnte sich zurück. «Wir haben Macht, Herr Kutscher – das macht die Sache so kompliziert. Wenn solche Sachen nicht geklärt werden, kriegen wir mexikanische Verhältnisse.»

«Natürlich, seh ich doch genauso. Die junge Frau, gegen die Frau Sonntag sich zur Wehr gesetzt hat, stammte aus einem schwierigen Milieu?»

Donnerwetter, in diese Richtung sollte es also gehen? «Ich gebe Ihnen die Adressen, die Sie haben müssen», meinte Luka wortkarg. «Sie brauchen sicher auch ein Büro?»

Kutscher nickte. «Wie geht es Nadine Schrepper?»

«Sie liegt im Koma. Ich habe veranlasst, dass ihr Blut abgenommen wurde.»

Kutscher brauchte einen Moment, um zu kapieren, worauf er hinauswollte. Dann nickte er begeistert. «Klar, die Kleine war unter Drogen oder besoffen. Erst bekifft sie sich, dann dreht sie durch und geht mit dem Messer auf Frau Sonntag los. Ich kenne eine, die hat sich einen Tee aus Engelstrompete gebrüht und anschließend einen meiner Kollegen gebissen. Mann, weißt du, wie gefährlich Menschenbisse sind? Schlimmer als Hundebisse. Da kannste eine Infektion kriegen, an der du in Tagen krepierst. Und weißt du, was das Tollste war? Der Richter hat das Weib auf achtzig Stunden gemeinnützigen Hilfsdienst verknackt. Damit hatte sich’s.» Der Wechsel vom Sie zum Du geschah mit unangenehmer Selbstverständlichkeit. «Ich habe zu Mark – so heißt der Kollege – gesagt: Das ist mal wieder typisch, du kratzt beinahe ab, und diese Schlampe geht für ein paar Tage in ein Altenheim, den Omas was vorlesen. Aber was soll’s, ich scheiß drauf. Ich mache meinen Job und fertig.»

Fünf Minuten später wusste Kutscher, wo sein Schreibtisch stand und sich die Kaffeeküche befand – nämlich gleich im Zimmer daneben –, und Luka kehrte in sein eigenes Büro zurück. Drüben auf dem Sportplatz kickten ein paar Jungs mit einem Fußball, der eine Luftpumpe gebraucht hätte. Schreibkram lag an.

Warum hatte Kerstin auf Nadine Schrepper geschossen? Vielleicht war sie wirklich von einer drogenbenebelten Frau angegriffen worden. Aber er konnte sich genauso gut vorstellen, dass sie in der Dämmerung etwas falsch wahrgenommen hatte. Vielleicht waren die Schreppers sie vor dem verfluchten Schuss verbal angegangen. Er hatte ja selbst erfahren, wie aggressiv die Familie war. Dann hatte Nadine sich unglücklich auf sie zubewegt … Tja, war alles möglich. In Düsseldorf, wo er vor seinem Umzug nach Rügen gearbeitet hatte, gab es extra Trainings, bei denen geübt wurde, eben nicht reflexartig loszuballern, wenn man sich bedroht fühlte. Er bezweifelte aber, dass hier so etwas angeboten wurde.

Conny Böhme öffnete die Tür. «Kommst du mit?» Seine Kollegin steckte in Schlabberjeans und trug darüber eines ihrer T-Shirts mit Schriftzug, für die sie eine Neigung hatte. Ich kann Essen in meinem Mund verschwinden und auf meinen Hüften wieder auftauchen lassen. Macht mich das zum Zauberer? Sie war spindeldürr, er hatte keine Ahnung, wieso sie sich gerade dieses Shirt geschnappt hatte. Wahrscheinlich hatte es irgendwo als Sonderangebot rumgehangen. Ihre Tochter Nina, die eine Boutique betrieb, hatte ihr einen Blazer aufgenötigt, der zum Shirt wie die berühmte Faust aufs Auge passte. Und dazu diese Haare mit dem Nagelscherenschnitt …

Er musste lächeln. Kleidungstechnisch hatte Conny nichts drauf. Aber sie war unkompliziert, offen und ehrlich, und ihr Verstand funktionierte wie ein Skalpell. Sie war genau der Mensch, nach dem er sich jetzt sehnte.

 

«Katja ist immer noch am Büffeln?», fragte er, als sie im Bergen 94 saßen, der Kneipe, in der Conny ihr Bier am liebsten trank. Hinter der Theke glänzten die Pokale des VFL Bergen 94. Mucke, der Wirt, spülte in einem kleinen Edelstahlwaschbecken Gläser mit der friedlichen Miene eines Menschen, der mit sich und seinem Tun im Reinen ist. Es roch nach Zwiebeln und Pommes.

«Meine Süße muss nicht büffeln. Die löst abends zum Spaß mathematische Gleichungen oder zieht sich eine Runde Spanischvokabeln rein, du, die ist hyperschlau. Sie hat sich in New Jersey bei einer Anwaltskanzlei für ein Praktikum beworben – kannst du dir das vorstellen? Meine Kleine? Ich hab zugehört: Die sabbelt Englisch, als wäre sie damit geboren. Und die haben auf der Stelle zugesagt, keine Bedenkzeit oder so. Wollten nur noch ihre Zeugnisse rübergemailt bekommen.» Conny seufzte. «Ich würde glauben, man hat mir Katja untergeschoben, wenn ich sie nicht in meinem eigenen Schlafzimmer zur Welt gebracht hätte.»

«Im Ernst? Hausgeburt?»

«Genau genommen in der Küche. War aber aus Versehen. Weißt ja, bei mir geht immer alles hektisch.»

«Bist du stolz auf sie?»

Conny seufzte. «Klar. Nur ist sie mir manchmal so fremd. Die lebt gedanklich in Welten, in denen man im schwarzen Kostüm rumrennt und am Feierabend Cocktails schlürft, oder wie das heißt, und irre schlaue Sachen sagt. So stell ich mir das vor. Die will rübermachen zum Klassenfeind – das wäre mein Gefühl, wenn die DDR noch existierte. Klingt das bescheuert?»

«Und wie.»

«Ich hab Angst, dass sie mich irgendwann nicht mehr besuchen kommen wird.»

«Ihre erstklassige Mutter, die so umsichtig war, ihr den exzellenten Verstand zu vererben?»

«Hör auf mit dem Scheiß. Nina versteh ich. Das mit der Boutique ist ein Bockmist, und ich weiß, dass sie damit auf die Nase fallen wird, aber wenigstens kapiere ich, wie sie tickt. Luka, ich spür in mir so ’nen kleinen Teufel, der sagt: Behaupte doch einfach, dass wir uns Amerika und die Kanzlei nicht leisten können. Dann würde Katja hierbleiben, sagt mir der kleine Teufel, und vielleicht Lehrerin werden oder was anderes, das in mein Leben passt.»

«Klar, aber das machst du nicht.»

«Vielleicht ja doch.»

«Sie wird immer zu dir zurückkommen. Verlass dich drauf. Die Welt, in der Cocktails geschlürft werden, ist kalt, dein Zuhause warm.»

Conny schniefte. «Und wie läuft’s bei dir? Was macht die Liebe?»

«Teresa und Tilda sind in Düsseldorf bei einer Freundin. Letzter großer Urlaub, bevor Tilda eingeschult wird. Freizeitpark und so. Ich habe also massenhaft Zeit.» Er prostete ihr zu.

Ein Mann mit einem klitschnassen Schäferhund kam herein. Es hatte wohl angefangen zu regnen. Der Hund schüttelte sich, das Wasser spritzte auf die Gäste, die es gelassen nahmen. Das Bergen 94 war nicht der schlechteste Ort, wenn man einen Feierabend verbummeln wollte.«Wurde sie nun angegriffen oder nicht?»

«Kerstin?»

Er nickte.

«Die ist kalt wie ein Stahlschrank, unsere süße Kollegin. Die ballert nicht einfach aus Schreck drauflos. Da ist sie wie Katja. Alles, was sie tut, hat Klasse. Wo ich Stunden drüber grübeln muss, da schießt sie, zack!, ins Schwarze. ’tschuldigung, war jetzt ein blöder Vergleich. Was ich meine …»

«Sie hat etwas mit Finn Schmorle am Laufen, schätze ich. Trotzdem sind die beiden getrennt zu den Häusern gegangen. Und nach dem Schuss hat er sich auch nicht um sie gekümmert, obwohl man sehen konnte, wie dreckig es ihr ging. Wetten, die beiden haben sich auf der Fahrt nach Lohme gestritten?»

«Und deshalb rastet sie aus und ballert auf einen Menschen? Nee, Luka. Außerdem: Kann uns doch egal sein. Mit diesem Fall muss sich der Mensch vom LKA rumschlagen.»

«Kutscher.»

«Netter Kerl.»

«Im Ernst?»

«Nicht so neunmalklug. Einfach geradeheraus, find ich sympathisch.»

«Er ist voreingenommen.»

«Für oder gegen Kerstin?»

«Für jeden, der eine Polizeimarke besitzt.»

«Und das gefällt mir auch!» Conny zwinkerte, um klarzumachen, dass sie es nicht ernst meinte.

«Was wäre, wenn Kerstin die Schreppers von früher kennt? Wenn sich da etwas aus der Vergangenheit hochgeschaukelt hat?»

Conny verschränkte die Arme hinter dem Kopf und ließ den verspannten Nacken krachen. «Luka, halt dich da raus. Einmal, weil du ihr Chef bist, und außerdem, weil du sie nicht leiden kannst. Beides versaut den Blick. Das ist mein Rat, und für den kannst du mich jetzt auf ein Bier einladen. Ich knauser doch auf Amerika hin.»

Er hob die Hand und winkte Mucke.

 

Kutscher brauchte Geselligkeit wie andere Leute Luft zum Atmen. Und da die angekündigten Kollegen auf sich warten ließen, hielt er sich in der Zeit der Untersuchung an die Bergener Kripoleute. Alles, was ihm durch den Kopf ging, strich durch die Büros wie ein stetiger Wind aus Informationen und Beurteilungen.

Luka erfuhr, dass Kerstin bei ihrer ersten Aussage geblieben war: Nadine Schrepper habe sie grundlos mit einem Messer angegriffen. Der Schuss sei in Notwehr erfolgt. Finn Schmorle erklärte, dass er den Garten erst kurz nach dem Schuss betreten habe – wofür Kutscher ihn als Kameradenschwein titulierte. Ob er damit sein spätes Erscheinen kommentierte oder seine mangelnde Bereitschaft, für Kerstin zu lügen, war nicht auszumachen.

Familie Schrepper behauptete inzwischen unisono, dass Nadine aufgestanden sei, um sich eine Jacke aus dem Haus zu holen, und dabei grundlos niedergeschossen wurde. Eine Jacke also. Das widersprach der ersten Aussage von Dietmar Schrepper, aber Luka ahnte, dass ein geschickter Anwalt diesen Einwand im Nu zerpflücken würde. Zum einen war es Kerstins Kollege, der das entlastende Detail vorbrachte. Zum anderen geschah es ja ständig, dass Zeugen ihre Aussagen ergänzten oder korrigierten.

Luka war trotzdem sicher, dass die Sache mit der Jacke später von der Familie erfunden worden war. Leute, die sich gerade mit der Polizei stritten, würden wohl kaum darauf achten, ob einer von ihnen das Bedürfnis hatte, sich wärmer anzuziehen. Hatte Kerstin vielleicht doch die Wahrheit gesagt, als sie behauptete, dass Nadine grundlos auf sie losgegangen sei?

Als Kutscher wieder einmal den Kopf in sein Zimmer streckte, fragte er: «Die Sache mit der Jacke … Hat dieser alte Mann, dieser …»

«Georg Schrepper?»

«Hat er das eigentlich auch bestätigt?»

«Der ist nicht nur verwirrt, sondern auch stumm. Und empfindlich. Der haut mit seinem Rollator ab, sobald ich komme. Übrigens gibt es noch eine weitere Schrepper-Tochter. Die hab ich aber nicht vernommen, war ja bei der Tat nicht anwesend.»

Kurz darauf kam aus dem Polizeilabor die Nachricht, dass in Nadines Blut Rückstände von Ketamin gefunden worden waren. Luka kannte die Droge. Früher war sie als Narkosemittel in der Tiermedizin verwendet worden und irgendwann zu einer Modedroge avanciert, die schöne Träume bescherte und gern auch als K.-o.-Tropfen benutzt wurde.

Kutscher, der ihm die neue Nachricht brachte, meinte: «Also, für mich fügt sich alles zusammen. Diese Nadine war auf einem Trip, sie hat weiße Kaninchen gesehen und Kerstin in Panik angegriffen.»

Nicht mehr Frau Sonntag, sondern Kerstin, registrierte Luka.

«Wenn das kein Fall von Notwehr ist! Dass die eigenen Leute für Nadine aussagen, hat keine Bedeutung. Zum einen, weil sie zu ihrer Familie gehören, und dann: Diese Asozialen lügen doch aus Gewohnheit.»

«Ist mir nie aufgefallen, dass es da Unterschiede gäbe. Die Ärzte und Anwälte machen’s nur geschickter.»

Kutscher starrte Luka mit einem seltsamen Ausdruck im Gesicht an. Gut möglich, dass er für ihn gerade ebenfalls zum Kameradenschwein mutiert war.

Luka war froh, als er ins Wochenende verschwinden konnte.

Drei

Judy war eine Heulsuse. Das sagten alle. Oma Martha, die ihr immer eins hinter die Ohren gab, wenn sie weinte, Mutti, Onkel Dietmar und Onkel Monti, Tante Simone, die Onkel Montis Freundin war und alles nachplapperte, was Monti sagte … Nur Opa nicht, weil der nicht redete. Und Tante Gitte auch nicht. Die sagte dafür: «Ey, Mädels sind cool. Und Weinen hilft sowieso nichts.» Und damit meinte sie wohl das Gleiche. Aber sie gab ihr dann immer einen Kuss, und deshalb war es nicht so schlimm. Judy hatte sie lieb, auch weil sie ihr oft was zum Spielen mitbrachte. Und weil sie mit ihr vor der Einschulung nach Stralsund gefahren war, um einen Schulranzen mit einer Prinzessin Lillifee drauf zu kaufen.

Der Schulranzen war für Judy wichtig gewesen. Die anderen Kinder aus dem Dorf ärgerten sie, und sie hoffte, dass der rosa Schulranzen etwas daran ändern würde. Der war nämlich superschön, mit einem Rehkitz und einem Schmetterling drauf, und außerdem gehörten noch ein Turnbeutel und zwei Mappen für Stifte dazu, die auch alle rosa waren. Tante Gitte hatte einen anderen Ranzen vorgeschlagen, mit Sternen und einer Rakete, aber Judy hatte auf dem Prinzessin-Lillifee-Ranzen bestanden. Sie glaubte, dass die anderen Mädchen sie dann lieber mögen würden.

Leider war das nicht der Fall gewesen. Ihre neuen Mitschülerinnen hatten sie Assel gerufen, und Judy nahm an, dass das ein anderes Wort für Heulsuse war.

Sie saß oben im Haus auf dem Dachboden, der voller Gerümpel war und wo Mäuse und Ratten herumhuschten, die sie gern mochte, weil sie vor ihr wegliefen und ihr nichts taten. Einige der Fenster waren zerbrochen. Aus dem größten konnte man auf die Ostsee hinaussehen, aber zu dem ging sie nie hin. Judy fürchtete das Meer, weil es bei schlechtem Wetter brodelte und dann die Wasserzombies rauskamen. Die hatten grüne, nasse Haare und Vampirzähne und schnappten sich Kinder, um sie zu fressen. Monti hatte ihr das erzählt. Gitte hatte gesagt, dass es keine Wasserzombies gäbe, aber Judy wusste, dass man sich, was Gefahren anging, mehr auf die Onkel als auf ihre Tante verlassen konnte.

Aus den anderen Fenstern konnte sie auf die Nachbarhäuser schauen, und das tat sie gern. Frau Gott, die in dem schönen Haus mit den Bänken und den bunten Lämpchen im Garten wohnte, grub oft die Beete um oder pflanzte Blumen und machte, dass alles gemütlich war. Manchmal sang sie dabei, dann wurde Judy leicht ums Herz. Aber jetzt war es schon dunkel, und Frau Gott war in ihrem Haus. Im Wohnzimmer brannte Licht, man konnte an der Wand die Bilder vom Fernseher flackern sehen. Das war nur noch langweilig.

Judy ging zu dem anderen Fenster. Dort lag das Haus, das so lange leer gestanden hatte. Vor kurzem waren ein paar Männer mit einem grünen Auto gekommen und hatten angefangen, das Haus innen wieder schön zu machen. An die Wände von einem Zimmerchen, in das sie von ihrem Fenster aus reinsehen konnte, hatten sie Tapeten mit Entchen drangeklebt. Die hatten ihr besonders gut gefallen. Judy hatte gehofft, dass dort vielleicht bald auch ein Mädchen wie sie wohnen würde. Eines, das nicht Assel zu ihr sagte.

Am Wochenende waren auch tatsächlich Leute eingezogen. Aber das Kind war leider noch ein Baby gewesen. Trotzdem freute Judy sich. Die Frau, die jetzt dort wohnte, lachte viel und schaukelte das Baby, und einmal hatte sie ihr zugewunken, als wollte sie ihr was zeigen. Aber da war Judy schnell weggerannt. Sie kannte die Frau ja gar nicht, und traurige Erfahrung hatte sie gelehrt, dass man sich von fremden Menschen besser fernhielt.

Komisch war, dass Onkel Dietmar und Onkel Monti zu den neuen Nachbarn rübergegangen und dass sie nett zu ihnen gewesen waren. Sie hatten den Grill mitgebracht und auf die Terrasse gestellt und mit dem Mann und der Frau zusammengesessen, und es hatte ausgesehen, als wären sie Freunde. Das war ein bisschen unheimlich, weil Judys Familie sonst mit niemandem befreundet war. Es hatte ihr auf der einen Seite gefallen, auf der anderen aber auch nicht. Judy fand es sicherer, wenn die Dinge immer gleich abliefen. Da wusste man, worauf man sich einstellen musste.

Leider rührte sich jetzt gerade auch in dem schönen Haus nichts. Die Fenster waren alle dunkel. Sollte sie runter in ihr Bett gehen? Lieber nicht. Onkel Dietmar und Onkel Monti hatten gesoffen, da wollte sie ihnen lieber nicht in die Quere kommen.

Also schlich sie wieder zu dem ersten Fenster zurück. Zwischen ihrem Haus und dem von Herrn und Frau Gott lag eine Wiese, links davon ein Schuppen und daneben Opas Grab. Opas Grab war eine tiefe Grube, die Onkel Monti früher mal gebuddelt hatte, weil Opa einen Platz haben wollte, wo er später mal beerdigt werden konnte. «Er will nicht in der Fremde verrotten», hatte Oma Martha erklärt, als Judy danach fragte. «Und da hat er recht.» Inzwischen wuchsen Blumen in der Grube.

Judy wollte sich schon abwenden, da bemerkte sie zwei Gestalten, die langsam zu dem Weg gingen, der über die Wiese zum Schuppen führte. Eine von ihnen war der Opa, das konnte man erkennen, weil er seinen Rollator schob. Die andere war größer, mit einer schwarzen Hose, einer schwarzen Jacke und einer Kapuze über dem Kopf.

In einer der Dachbodenkisten, in denen schlecht riechende Kleider lagen, hatte Judy ein Fernrohr versteckt, das sie einmal von einer Yacht in dem kleinen Hafen unten beim Dorf geklaut hatte. Mit dem Fernrohr hätte sie vielleicht rausfinden können, wer dort mit dem Opa spazieren ging, aber eigentlich war es ihr egal. Die beiden liefen zum Grab, dort blieben sie stehen. Der schwarze Mann deutete in die Grube hinab. Wahrscheinlich sagte er etwas. Opa konnte ja nicht sprechen, und deshalb redeten immer die Leute, die mit ihm zusammen waren. Sie blieben eine ganze Weile dort stehen. Der Fremde legte den Arm um Opas Schultern. Opa drehte sich ein bisschen, als wäre es ihm nicht recht.