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Vor dem Tod sind alle gleich. So hat sich Luka Kroczek seinen ersten Arbeitstag als Leiter der Kripo Bergen nicht vorgestellt: Er kommt viel zu spät, seine kleine Tochter Tilda muss mangels Kindergartenplatz mit ins Büro, die neue Kollegin Conny Böhme empfängt ihn alles andere als herzlich. Und dann muss Luka, der sich nur seiner Lebensgefährtin zuliebe von Düsseldorf nach Rügen beworben hat, auch gleich zu seinem ersten Einsatz. In einem alten Fischerhaus wurde eine Leiche gefunden. Wer hat die Frau derart übel zugerichtet? Hat das Verbrechen mit ihrem Mann zu tun, einem allseits unbeliebten Immobilienspekulanten und Wendegewinner? Luka macht sich an die Ermittlungen. Und erkennt schnell: Auf Rügen wird nichts so schnell vergeben und vergessen … "Ein mitreißender Krimi." Hamburger Morgenpost
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Seitenzahl: 433
Klara Holm
Möwenfraß
Ein Ostsee-Krimi
Ihr Verlagsname
Vor dem Tod sind alle gleich.
So hat sich Luka Kroczek seinen ersten Arbeitstag als Leiter der Kripo Bergen nicht vorgestellt: Er kommt viel zu spät, seine kleine Tochter Tilda muss mangels Kindergartenplatz mit ins Büro, die neue Kollegin Conny Böhme empfängt ihn alles andere als herzlich. Und dann muss Luka, der sich nur seiner Lebensgefährtin zuliebe von Düsseldorf nach Rügen beworben hat, auch gleich zu seinem ersten Einsatz. In einem alten Fischerhaus wurde eine Leiche gefunden. Wer hat die Frau derart übel zugerichtet? Hat das Verbrechen mit ihrem Mann zu tun, einem allseits unbeliebten Immobilienspekulanten und Wendegewinner? Luka macht sich an die Ermittlungen. Und erkennt schnell: Auf Rügen wird nichts so schnell vergeben und vergessen …
Klara Holm lebt in Oldenburg und hat bereits unter anderem Namen sehr erfolgreich Krimis und historische Romane veröffentlicht. Bei zahlreichen Rügen-Besuchen entdeckte sie ihre Liebe zur größten deutschen Insel, auf der nun ihr jazzbegeisterter Kommissar Luka Kroczek ermittelt.
FÜR ANDY
Der See war am Ende der falsche,
aber die Inspiration goldrichtig.
Danke!
Es war ein Tag wie geschaffen zum Sterben. Nicht für einen dramatischen Tod, eher für den kalten, von summenden Maschinen begleiteten in den sterilen Zimmern eines Krankenhauses. Komisch, dass ihr dieser Gedanke kam. Eigentlich neigte sie gar nicht zu depressiven Anwandlungen.
Peggy stieß die Tür des Jaguars auf und schaute auf ihr Elternhaus, das am Rand des kleinen Ostseedorfes Vitt lag. Es war erst gegen sieben Uhr abends und trotzdem schon fast dunkel. Die Regenschauer der letzten Tage hatten den Garten in ein Ödland aus Matsch und schlaffem Unkraut verwandelt. Das Gartentörchen schwang im Wind. Über dem Häuschen mit den dreckigen Fenstern und dem bemoosten Reetdach hing der Himmel so tief, dass er ihr vorkam wie ein Sargdeckel. Sie lauschte, doch bis auf das Pladdern des Regens war kein Geräusch zu hören. Nicht mal das unmelodische Gekrächze der Möwen, das ihr sonst so auf die Nerven fiel. Nur das eintönige, andauernde Rauschen. Kein Wunder, dass sie an Krankenhäuser dachte. Es ist, als würde im nächsten Moment ein Arzt die Maschinen abschalten.
Sie gab sich einen Ruck, stieg aus dem Wagen und hastete durch den Regen Richtung Haustür. Das Haus ihrer Eltern war über dreihundert Jahre alt, aber es strahlte keine Idylle wie der Rest des Dorfes aus, sondern war regelrecht verkommen. Von der Tür und den Sprossenfenstern blätterte der Lack ab. Die Fenstersimse waren von Möwen vollgeschissen worden. Überall Dreck und Verfall. Es war ein sterbendes Haus.
Verdammt, da dachte sie schon wieder an den Tod.
Deprimiert kramte sie in ihren Taschen nach dem Schlüssel. Es war eine blöde Idee gewesen, nach Vitt zu kommen. Als sie einen Blick in den hinteren Teil des Gartens warf, wurde ihr sogar ein bisschen unheimlich. Diese Bäume mit den dichten Kronen, die das letzte Licht raubten. Die wuchernden Büsche, hinter denen sich alles Mögliche verbergen konnte. Hatte Klarissa nicht erzählt, dass irgendwelche Penner ein Fenster eingeschlagen und im Haus übernachtet hatten? Peggy schauderte und drehte hektisch den Schlüssel im verrosteten Schloss.
Als die Tür endlich aufschwang, flüchtete sie erleichtert in den Flur. Dummerweise blieb es dunkel, obwohl sie den Lichtschalter drehte. Wahrscheinlich war die Birne durchgebrannt. Doch nach einigen Sekunden hatten ihre Augen sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt.
Sie wollte gerade die Haustür schließen, als sie in der Nähe der Gartenpforte eine Bewegung wahrzunehmen meinte. Angestrengt musterte sie das Gesträuch vor der Hecke, konnte aber nichts entdecken. Hoffentlich war das nicht der verfluchte Köter, von dem sie bei ihrem letzten Besuch im Ort gehört hatte. Sein Besitzer ließ ihn streunen, obwohl er aggressiv war und Vögel und einmal sogar eine Katze zerfleischt hatte. Sie schlug mit einem Knall die Tür ins Schloss.
In der Küche funktionierte die Glühbirne zum Glück noch, und kurz darauf vertrieb das kalte Licht der Energiesparlampe die Dunkelheit. Peggy starrte zur Spüle, wo eine Pappschale mit drei Pommesstäbchen und einem Ketchupklecks vor sich hin gammelte. Igitt, wie eklig. Die Sache mit den Pennern schien zu stimmen, und offenbar war das noch gar nicht lange her. Die Vorstellung, dass fremde Menschen sich direkt hier, wo sie stand, aufgehalten und ihren Müll verbreitet hatten, ängstigte sie.
Beklommen kehrte sie in den Flur zurück. Nach dem Tod ihrer Eltern hatten Klarissa und sie vorgehabt, das Haus an Urlauber zu vermieten. Hätte doch möglich sein müssen, wo die Touristen den Ort so liebten. Aber die Renovierung wäre aufwendig gewesen, und Kristof, der das Geld dafür auf den Tisch hätte legen müssen, zeigte kein Interesse.
Aber das war im Moment nicht wichtig. Jetzt wollte sie erst mal den Test machen. Sie tastete sich über die Stiege zum Bad hinauf. Auch hier gab es nur eine deprimierende Sparbirne, die gefühlte fünf Minuten brauchte, ehe sie ihr kümmerliches Licht verstrahlte. Peggy wartete, bis sich die Umrisse der alten Badewanne und des Waschbeckens aus der Dunkelheit schälten.
Gerade kramte sie die Packung mit dem Schwangerschaftstest aus der Handtasche, da fuhr sie zusammen. Knarrte etwas im Erdgeschoss? Sie horchte angespannt. Die Mutigste war sie nicht, und der Gedanke, dass sich dort unten jemand herumtreiben könnte, ließ ihr Herz wummern und die Pappschachtel in ihrer Hand zittern. Aber Klarissa hatte die kaputte Fensterscheibe ersetzen lassen und eigenhändig die Klappläden mit Holz zugenagelt. Da kam doch niemand mehr rein.
Als dem Geräusch kein weiteres folgte, beruhigte sie sich wieder. Sie würde Klarissa gleich morgen anrufen und ihr klarmachen, dass sie die alte Kate endlich verkaufen mussten. Mit Geld war ihrer Schwester doch auch besser gedient, als wenn sie diesen Schrein in Form von Holz und Steinen bewahrten. Klarissa und ihre Sentimentalität!
Mit geübten Bewegungen riss Peggy die Verpackung auf und zog den Teststreifen heraus. Es war nicht ihr erster Versuch, sie wusste also, was sie zu tun hatte. Die Klobrille war schmutzig und der Lack von Rissen durchzogen, sodass sie sich nicht draufsetzen mochte. Sie kicherte nervös. Hoffentlich war der Test positiv. Bitte, lieber Gott, mach, dass er positiv ist!, betete sie im Stillen. Sie war jetzt vierundvierzig, und viele Chancen hatte sie nicht mehr – da gab sie sich keinen Illusionen hin.
Der Strahl rann warm über das Teststäbchen, ein Teil auch über ihre Finger. Sie entdeckte eine alte Zeitung auf der Fensterbank, legte den Test darauf ab und säuberte sich. Dann ging sie zum Waschbecken. Auch die Seife war unangenehm schlierig.
Durch das Dachfenster hörte sie den Nachbarsköter bellen. Dass man solche gemeingefährlichen Viecher nicht einfach einschläferte! Sie ließ Wasser über ihre Hände strömen und wischte sie am Hosenboden trocken, weil sie das Handtuch nicht anfassen wollte.
Plötzlich war ihr schlecht vor Nervosität. Das Testergebnis ließ sich schon nach einer Minute ablesen. Sobald sie den Streifen aufnahm, würde sie Gewissheit haben. Aber jetzt, wo es so weit war, zögerte sie. Anstelle der Ungeduld, die sie in den letzten Stunden geplagt hatte, überkam sie Niedergeschlagenheit. Was, wenn ihre Hoffnung trog? Wenn die Regel nur ausgeblieben war, weil sie sich überanstrengt hatte? Oder weil sie sich so sehr ein Baby wünschte, dass ihr Körper falschen Alarm gab, wie schon so oft?
Gut, dass sie den Test hier in Vitt machte. Kristofs Spott könnte sie nicht ertragen. Falls der Test negativ war, würde sie sich hier ausheulen und dann gefasst nach Hause fahren und einfach den Mund halten.
Peggy stützte sich auf das Waschbecken und starrte auf den alten schwarzen Sprung neben dem Abfluss. Der Hund hatte aufgehört zu bellen. Im Untergeschoss knarrte es erneut. Wir sollten den alten Kasten wirklich verkaufen, dachte sie zerstreut.
Doch dieses Mal stimmte etwas nicht mit dem Geräusch. Es hörte einfach nicht auf. Sie hob den Kopf. Kam es sogar näher?
Das Klopfen ihres Herzens wurde plötzlich zu einem Hämmern. Ängstlich umklammerte sie den Waschbeckenrand. Es war nicht mehr der Dielenboden im Flur, der knarrte – jetzt ächzten die Stufen. Ihre Furcht wandelte sich in schiere Panik. Jemand stieg die Treppe zur ihr ins Obergeschoss hinauf. Peggy war wie gelähmt. Im Spiegel sah sie, dass ihr Mund zum Schreien geöffnet war, aber sie brachte keinen Laut hervor.
Die Reflexion im Spiegel zeigte ihr auch, dass die Tür aufgeschoben wurde. Ein Schatten füllte den Türrahmen. Und endlich brach ihr Schrei sich Bahn – um sich im selben Moment in hysterisches Gelächter zu verwandeln.
«Herrgott noch mal. Du bist das!»
Sie wollte sich umdrehen, mit ihrer Erleichterung herausplatzen. Doch dann sah sie plötzlich einen Gegenstand aufblitzen. Der Schatten schwang etwas über dem Kopf. Und es sah scharf und bedrohlich aus …
Teresa war mit den Nerven am Ende. Ihre sonst so warme Stimme drang schrill durch das offene Fenster auf die Straße; ein furchtbarer Waschweiberton, der überhaupt nicht zu ihr passte. Luka, der im strömenden Regen zu seinem Touareg lief, unterdrückte einen Seufzer. Ein Umzug bedeutete Stress, darauf hatte er sich eingestellt. Aber die letzten Stunden hatten ihn fertiggemacht.
Im Grunde war Teresa die Coolere von ihnen beiden. Nachdem die Entscheidung gefallen war, nach Rügen umzuziehen, hatte sie eine To-do-Liste angelegt, die sie systematisch abarbeitete. Sie hatte das kleine Reihenhäuschen gefunden, in das sie jetzt einzogen, sie bestellte mit Hilfe eines Vergleichsportals Strom, Gas und Wasser, sah sich nach einem Kindergarten für Matilda um … Selbst als sie herausfand, dass die Plätze auf Rügen Mangelware waren, haute sie das nicht um. «Dann werde ich mir halt was einfallen lassen», verkündete sie lachend.
Zwischen den Telefonaten bereitete sie sich auf ihren neuen Job vor, bei dem es um Offshore-Windenergieanlagen in der Ostsee ging. Vierzehn Tage lang war sie in Aurich beim Hauptsitz ihrer Firma gewesen, um eingearbeitet zu werden, und anschließend renovierte sie die alte Wohnung, als wäre das ein Klacks.
Aber seit sie heute früh Düsseldorf verlassen hatten, war sie wie ausgewechselt. Jede rote Ampel brachte sie auf die Palme, und ihre Kommentare zum Thema Autobahnbeschilderung wären im amerikanischen Fernsehen mit einem langgezogenen Piiieps überspielt worden.
Luka Kroczek öffnete die Hecktür seines Autos. Der Umzugswagen war bereits entladen, aber die empfindliche Elektronik und sein Saxophon hatte er vorsichtshalber im Touareg transportiert. Er steckte eine Decke um die Soundbox fest und schaute zum Himmel. Dass sie auch noch so ein Sauwetter erwischen mussten! Hoffentlich überstand das Ding den Transport bis zum Haus.
Er wuchtete den Kasten hoch, presste ihn gegen seine Brust und rannte los. Aus dem Augenwinkel sah er einen Nachbarn durchs Fenster spähen. Hoffentlich nette Leute. Teresa hatte den Kaffeeklatsch mit ihren Freundinnen geliebt. Als er ins Wohnzimmer trat, stolperte er beinahe über Tilda, die wie aufgezogen durch den Raum sauste.
«Es wird noch ein Unglück passieren, wenn das Kind so weitermacht», brummte Teresas Mutter. Rosi Schomaker saß auf der Kante des Ledersofas, das als einziges Möbelstück bereits am vorgesehenen Platz stand – eine graublonde Frau mit einem Kurzhaarschnitt und einem gerade geschnittenen Blazer, der wie eine Uniformjacke wirkte. Sie hatte die Hände auf dem Schoß gefaltet und die Beine ans Sofa gepresst, als hätte sie Angst, von Tilda berührt zu werden. Komisch, dass sie ihre Enkeltochter nie beim Namen nannte. Für sie war die Kleine immer nur «das Kind».
Tilda kümmerte es nicht. Sie hatte ihren Bob den Baumeister aus Plüsch weggelegt und versuchte gerade, die kleine Hand durch das Trageloch eines Umzugskartons zu zwängen.
«Verdammtes Ding!», schimpfte Teresa, die vor der Telefonanlage kniete. «Die haben versprochen, dass alles fertig ist, wenn wir ankommen. Das haben sie versprochen! Was denken die denn? Dass ich trommle, bis sie ihren Hintern bewegen?» Sie hielt die Basisstation des Telefons in der Hand und klopfte frustriert auf das Display. Um sie herum lagen Kabel und diverse Mobiltelefone.
Luka stellte die Anlage ab. Einen Moment überlegte er, ob er ihr seine Hilfe anbieten sollte. Aber Teresa war Ingenieurin und steckte ihn bei allem, was mit Technik zu tun hatte, mühelos in die Tasche.
«Das Kind bringt die Kiste in Unordnung», sagte Rosi.
Gereizt blickte Teresa zu Tilda, die Löffel und Kuchengabeln aus dem Griffloch des Umzugskartons zerrte. «Macht doch nichts, Mutti. Es geht ja nichts kaputt.»
«Wenn du es so siehst …»
«Wie denn sonst? Tilda ist noch nicht mal drei, und wir stecken mitten im Umzug. Ich wüsste außerdem nicht, dass sich der Bundespräsident zum Kaffee eingeladen hätte.»
Rosi presste ihre sowieso schon dünnen Lippen so fest zusammen, dass sie zu einem Strich mutierten.
«Tut mir leid, Mutti», schlug Teresa einen weicheren Ton an. «Ich meine es nicht so. Aber dieses verfluchte Telefon …» Sie pfefferte die Basisstation beiseite und streckte sich erschöpft auf dem Boden aus. Ihr blondes, kinnlanges Haar bildete einen Kranz um ihr schmales Gesicht, sie lag wie auf einem Heiligenschein.
Herrgott, ist sie hübsch, dachte Luka. Ihre dunkelblauen, fast schwarzen Augen, hinter denen sie ihre Geheimnisse verbarg, die winzige Narbe am Mundwinkel, die Kuhlen zwischen Hals und Schultern, der kleine Busen, der sich gegen das Shirt drückte …
Sie lachte auf, als Tilda zu ihr gelaufen kam und sich auf ihren Bauch warf. Mit einem kräftigen Schwung schnappte sie sich ihre Tochter und schmatzte ihr eine Kusskaskade unters Kinn.
«Man darf Kinder nicht verwöhnen!», sagte Rosi streng.
«Mutti!» Der kurze Moment der Entspannung war sofort wieder dahin. Teresa ließ Tilda los, gab ihr einen Klaps auf den Hintern und wandte sich wieder der Telefonanlage zu.
Luka machte kehrt und holte den Rest der Anlage aus dem Auto. Dann zog er die schmutzigen Schuhe aus. Ein Blick auf die Armbanduhr zeigte ihm, dass es kurz vor sieben war. Er suchte aus der Kiste mit den Schraubenbeuteln die Packung für die Regalwand heraus und legte sich das erste Brett zurecht. Das Bücherregal könnte er heute noch schaffen.
«Tilda auch!»
«Du willst mir helfen?»
Matilda hielt sich an seinem Arm fest und kletterte ihm über die Beine. Obwohl sie mit den Vögeln aufgestanden war und im Auto kaum geschlafen hatte, war sie wie aufgedreht. Eifrig krallte sie sich eine Handvoll Schrauben und begann, sie in einem der Schuhe zu verstauen. Luka zwinkerte ihr zu, dann machte er sich an die Arbeit.
«Mutti! Du kannst hier doch nicht rauchen!»
Es ging schon wieder los.
Rosi hatte sich eine Zigarette aus ihrer Handtasche geangelt, doch bei Teresas scharfen Worten ließ sie die Hände sinken.
«Jedenfalls nicht, wenn Matilda im Raum ist», meinte Teresa verärgert.
«Es tut Kindern nicht gut, wenn man sie verwöhnt.»
«Das hat doch nichts mit Verwöhnen zu tun. Passivrauchen ist so was von … Ach, lass es doch einfach!»
«Dir hat das bisschen Qualm auch nicht geschadet.»
«Woher willst du das wissen? Warte mal, bis ich vierzig oder fünfzig bin.»
Ungerührt holte Rosi ihr Feuerzeug hervor. «Man hätte das Kind weggeben sollen, bis hier alles fertig ist. Kinder haben bei einem Umzug nichts zu suchen.» Der Anzünder flammte auf.
Luka lehnte das Brett, das er an den Regalboden schrauben wollte, an die Wand. «Nein, wirklich. Du kannst hier nicht rauchen», erklärte er bestimmt und nahm Rosi die aufglimmende Zigarette aus der Hand. Sie hatten die Kücheneinrichtung der Vormieter übernommen, sodass er das Drecksding direkt in der Spüle ausdrücken konnte.
«Wenn ich störe, kann ich auch nach Hause gehen», hörte er Rosi beleidigt sagen.
«Aber wir wollten doch noch zusammen essen», protestierte Teresa.
«Du hast doch gar nichts vorbereitet.»
Luka hatte das Bedürfnis, sich die Ohren zu reiben. Beschwerte Teresas Mutter sich tatsächlich darüber, dass kein Essen auf dem Tisch stand? Warum hatte sie nicht einfach eine Schüssel Kartoffelsalat in die Umzugswohnung mitgebracht?
«Wir lassen uns was kommen, Mutti. Das macht überhaupt keine Mühe.»
«In Restaurantgerichten ist überall Glutamat drin. Das vertrage ich nicht.»
«Wir können bei der Bestellung ja angeben …»
«Denen ist doch egal, was sie bringen. Die schauen nur aufs Geld.»
«Aber …»
«Ich will lieber nach Hause.»
«Deine Mutter hat recht», fiel Luka Teresa, die immer noch protestieren wollte, ins Wort. «Es ist schon spät.»
In Teresas Augen glitzerten Tränen. Na wunderbar, dachte Luka. Wie kam ein warmherziger, humorvoller Mensch wie seine Liebste nur an einen solchen Drachen von Mutter? Schweigend zog er die Schuhe wieder an und hielt Rosi die Tür auf. Sie sah aus, als könnte sie gar nicht schnell genug nach draußen kommen.
Während der Fahrt über die im Regen glänzenden Straßen sagte sie keinen Ton. Luka war sicher, dass sie ihn nicht leiden konnte, was ihm allerdings nichts ausmachte. Er suchte keinen Familienanschluss. Aber wie sie mit Teresa und der Kleinen umging, regte ihn trotzdem auf.
Wenig später erreichten sie den Wohnblock mit der grünen Zackenbemalung, in dem Rosi wohnte.
«Bis bald dann.»
«Ja», murmelte sie geistesabwesend, stieg aus, schlängelte sich an einem Bauzaun vorbei und verschwand hinter der Eingangstür, über der eine riesige grüne 15 prangte. Sie kam ihm vor wie ein Maulwurf, der nach einem Ausflug ans Tageslicht glücklich wieder in seine dunkle Höhle kroch.
Als er in die neue Wohnung zurückkehrte, fand er das Wohnzimmer verlassen. Auch aus den übrigen Zimmern war kein Ton zu hören. Er stellte den Fernseher, den er aus dem Wagen mitgenommen hatte, neben die Telefonanlage und machte sich auf die Suche nach Teresa. Sie und Tilda lagen zwischen Kisten und Kartons auf der Doppelbettmatratze. Ihre blonden Haarschöpfe lugten unter der dicken Decke mit dem geblümten Bezug hervor. Tilda hatte sich an ihre Mama gekuschelt und schlief Gott sei Dank bereits. Aber Teresa war mit Sicherheit noch wach.
Luka kniete sich auf die Matratze und streichelte über ihr Haar.
«Sie hat Tilda kein einziges Mal auf den Arm genommen», sagte Teresa leise.
«Ich weiß.»
«Mich hat sie auch nicht angefasst. Ist dir das aufgefallen? Ich rede ja gar nicht von Umarmungen. Aber sie hat mir nicht mal die Hand gegeben. Sie behandelt mich wie eine Fremde.»
«Lass sie doch, Süße. Sie ist, wie sie ist. Und zum Glück zieht sie ja nicht bei uns ein.» Als er Teresa eine Strähne aus dem Gesicht strich, spürte er, wie sie sich steif machte. «Willst du drüber reden?»
Statt einer Antwort zog sie die Bettdecke fester um sich. Er seufzte verhalten. Diese Reaktion kannte er aus der Zeit, als ihre Beziehung noch frisch gewesen war und Teresa nicht wusste, wieweit sie ihm trauen konnte. Tildas Vater hatte sie noch vor der Geburt des Kindes verlassen, und die Verletzung ging tief. Es ist vermutlich auch nicht die erste, die sie erlitten hat, dachte Luka, Rosis bescheuertes Verhalten vor Augen. Er beschloss, sie in Ruhe zu lassen, stand auf und ging in den Flur. Im Wohnzimmer warteten die Regale. Aber er hatte keine Lust mehr, sich an die Arbeit zu machen.
Plötzlich fiel ihm sein Saxophon ein, das immer noch im Auto lag. Er verließ das Haus und kehrte zum Touareg zurück. Der Regen hatte aufgehört, und als Luka zum Himmel blickte, sah er zwischen den aufreißenden Wolken erste Sterne blitzen. Spontan öffnete er die Wagentür und setzte sich hinters Steuer. Einfach losfahren, den verdammten Tag abschütteln und versuchen, den Kopf frei zu kriegen – das war’s doch.
Sein Navi war kaputt, aber in der Ablage steckte ein Google-Ausdruck, auf dem der Weg zwischen dem Haus und dem Bergener Kriminalkommissariat eingezeichnet war. Luka studierte die Karte und fuhr los. Wenig später hielt er vor seinem künftigen Arbeitsplatz. Es war ein deprimierender, weiß und braun gestrichener Betonkasten mit einem Parkplatz daneben, dessen Rückseite von einer Betonmauer mit verrosteten Eisentüren begrenzt wurde. Vor dem Haus wuchsen ein paar kümmerliche Büsche, gegenüber lag ein Sportplatz. Na schön.
Er ließ den Motor wieder an, hatte aber keine Lust, nach Hause zurückzukehren. Teresa schlief wahrscheinlich inzwischen. Lustlos kurvte er durch die fremden Straßen. Er kam an einem Bushäuschen vorbei, an dessen Scheiben für Real und einen toom-Markt geworben wurde. Genau wie daheim in Düsseldorf. Aber die Plattenbauten gegenüber stammten mit Sicherheit noch aus DDR-Zeiten. Mit ihren seltsamen Aufsätzen, die wie riesige, gebogene Schiffsschornsteine auf den Flachdächern pappten, wirkten sie fremd und hässlich auf ihn.
Als Teresa ihm vor einigen Monaten gesagt hatte, dass sie sich nach Rügen bewerben wollte, hatte er erst einmal schlucken müssen. Seine Arbeit bei der Düsseldorfer Polizei war nicht besonders gut bezahlt gewesen, unterbesetzt waren sie auch, aber die Arbeit machte Spaß, und mit seinen Kollegen verband ihn echte Freundschaft.
Teresa wünschte sich den Start ins Berufsleben aber brennend. Sie hatte für ihr Studium böse ackern müssen. Ingenieurwesen war ja immer noch eine Männerdomäne, und man hatte ihr auf der Uni das Leben nicht gerade leichtgemacht. Zudem hatte sie sich jahrelang in Nachtjobs aufgerieben, weil das BAföG nicht reichte. Und dann war sie im vorletzten Semester von dem Mistkerl geschwängert worden, der sich davonstahl, als Tilda sich ankündigte. Trotzdem hatte sie weitergemacht und mit dickem Bauch ihre Examensprüfungen abgelegt. Aber danach war sie pfeilgerade in die Arbeitslosigkeit geschlittert. Wer wollte schon eine alleinstehende Ingenieurin mit Baby anstellen?
Als ihr eine große Auricher Firma den Job auf Rügen anbot – wie hätte er sich weigern können, mit ihr zu gehen? Vor allem, da sich bei seiner eher aus Loyalität betriebenen Recherche herausstellte, dass in Bergen zur selben Zeit eine Stelle bei der Kripo frei geworden war. Er bewarb sich also und hoffte dabei insgeheim ein bisschen, dass der Posten mit einem Kollegen aus den eigenen Reihen besetzt würde. Doch offenbar war kein geeigneter Bewerber aufzutreiben gewesen. Man hatte ihn nach Stralsund zu einem Vorstellungsgespräch gebeten und ihn eine Woche später eingestellt. Nun war er also hier.
Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es auf elf Uhr zuging. Trotzdem zog es ihn immer noch nicht in sein neues Zuhause zurück. Er passierte das Ortsausgangsschild und fuhr eine unbeleuchtete Allee hinab. Sein Blickfeld reichte nicht weiter als das Licht der Scheinwerfer, undeutlich erkannte er Wiesen hinter den Bäumen. Keine Häuser, keine anderen Autos.
Plötzlich packte ihn eine heftige Abneigung gegen die Insel. Wie hatten seine Düsseldorfer Kollegen gelästert? Du gehst nicht einfach in die Provinz – du betrittst Feindesland. Manfred aus dem K11 war nach der Wende drei Jahre nach Dresden abkommandiert gewesen. Zur «Entwicklungshilfe», wie er es nannte. Er hatte einige drastische Mobbingerlebnisse zum Besten gegeben.
Teresa wurde wütend, als Luka ihr von dem Gespräch berichtete. Der Mann ist bescheuert, die Wende ist zweiundzwanzig Jahre her – das ist doch alles längst Geschichte, meinte sie. Trotzdem diskutierten sie an diesem Abend ein einziges Mal die Möglichkeit, eine Fernbeziehung zu führen. Es war Luka, der am Ende nicht wollte. Teresa war die Frau seines Lebens, und auch Tilda liebte er heiß und innig. Die Aussicht, beide nur noch an den Wochenenden zu sehen, erschien ihm unerträglich. Außerdem war Teresa eine tolle Frau, die sicher auch andere Männer beeindrucken würde. Da machte er sich nichts vor.
Nein, die Entscheidung war richtig, dachte er. Als er einen Seitenweg erspähte, versuchte er, dort zu wenden, um nach Hause zu fahren. Allerdings gestaltete sich das schwieriger als gedacht. Er schien auf einer Art Rad- oder Wanderweg gelandet zu sein. Es gab keinen Asphalt, nur zwei Betonstreifen, die in das nasse Gras eingebettet waren, und die Räder seines Wagens drehten durch, sobald sie auf den matschigen Boden gerieten. Luka murmelte einen Fluch und beschloss, dem Weg zu folgen. Irgendwann würde er schon wieder auf einer größeren Straße landen.
Offenbar war die Strecke Teil des öffentlichen Straßensystems, denn gelegentlich tauchten Häuser am Wegrand auf. Luka fuhr etwa acht Kilometer, wobei er hin und wieder andere Wege kreuzte. Manchmal konnte er zwischen den Bäumen das Meer sehen, das seidig im Mondlicht schimmerte. Schließlich erreichte er einen gepflasterten Pfad und dann einen Platz mit einem Blumenrondell in der Mitte und einem niedrigen Gebäude an der Seite, in dem Garagen untergebracht waren. Sein Scheinwerferlicht fiel auf ein öffentliches WC. Als er eine Runde drehte, erfasste es ein seltsam geformtes, achteckiges Gebäude mit einem Kreuz auf dem Dach – offenbar eine Kapelle.
Plötzlich packte ihn die Neugier. Kurz entschlossen parkte er am Straßenrand, stieg aus und folgte einem Fußweg, der ihn bergab an grasbewachsenen Hängen entlang in ein kleines Dorf führte. Die Wege waren eng, die Häuser geduckt, alles wirkte sehr gemütlich. Auf dem Dorfplatz stand eine Pumpe, an der ein bemalter, mit Blumen bepflanzter Melkeimer hing. In einem Garten entdeckte er eine Miniaturmühle und Schilder, auf denen Fischbrötchen, Crêpes und Bockwürste angepriesen wurden.
Und dann lag plötzlich das Meer vor ihm. Überrascht und angerührt blieb Luka stehen. Wasser, so weit er blicken konnte, bis hin zum Horizont. Der Mond stand frei zwischen den Wolken und warf einen breiten glitzernden Streifen auf die gekräuselte See. Es war ein Bild, das ihn beruhigte und zugleich erregte. Luka kannte nur die Nordsee von den Urlauben mit seinen Eltern, wo ihn die Spaziergänge über endlose Deiche und eingezäunte Strände angeödet hatten. Aber das hier war anders. Die Rügener hatten ihr Meer nicht abgegrenzt oder dienstbar gemacht. Es schäumte lustvoll gegen das steinige Ufer, und er hätte mit wenigen Schritten im Wasser stehen können.
Aufmerksam schaute er sich um. Offenbar befand er sich in einem kleinen Hafen; sein Blick streifte einen Wellenbrecher aus Bruchstein. Daneben führte ein L-förmiger Holzsteg in die Fluten hinein. Fischerboote waren aufgebockt, und er entdeckte ein Gestell mit Bojen, an denen orange Fahnen flatterten.
Einem plötzlichen Impuls folgend, kehrte er zum Wagen zurück und holte sein Saxophon aus dem Kofferraum. Er schob das Mundstück auf den Korpus, hängte sich das Instrument um den Hals und kehrte zum Hafen zurück. Dort wandte er sich nach links und folgte einem breiten, steinigen Strandstreifen unterhalb einer Klippe, bis er einen Felsbrocken fand, der zum Sitzen einlud. Seine Missstimmung war verschwunden.
Nachdem er eine Weile dem Rauschen der Brandung gelauscht hatte, befeuchtete er das Blättchen, schraubte es am Mundstück fest und dehnte die Finger. Kurz darauf klangen die Töne von Hey Jude übers Wasser.
Er spielte lange, sicher eine halbe Stunde, völlig in sich versunken und ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, ob er sich mit seinem einsamen Konzert lächerlich machte. Der Umzugsstress, Rosi und das hässliche Kommissariat in Bergen verschwanden aus seinem Bewusstsein. Obwohl er lange nicht mehr geübt hatte, entlockte er dem Instrument schmelzende Melodien. Er verjazzte die Songs, die ihm in den Sinn kamen. Jazz war pures Gefühl, und es tat einfach gut, nicht mehr denken zu müssen. Es war phantastisch. Er kam sich vor wie Robinson Crusoe – als wäre er fernab jeder Zivilisation auf einer Insel gestrandet, die nur ihm allein gehörte.
Dass er hier doch nicht allein war, fiel ihm zunächst gar nicht auf. Er spielte, und irgendwann mischten sich andere Töne zwischen seine eigenen. Der perlende Klang eines Klaviers, so selbstverständlich wie das Rauschen der Wellen.
Als Luka die zweite Stimme registrierte, ließ er das Saxophon sinken. Irritiert und bezaubert zugleich blickte er am Kreidefels hinauf. Oben an der Klippe wuchsen Bäume. Dahinter, nicht sehr weit weg, musste sich der unsichtbare Pianist befinden. Jetzt spielte er einige Takte allein und spann Lukas Improvisation weiter. Dann folgten ein paar irritierte Sequenzen, die sich wie Fragen anhörten. He, wo steckst du? Keine Lust mehr? Hat doch Spaß gemacht.
Luka grinste. Offenbar hatte jemand eines seiner Fenster geöffnet und beschlossen, mit dem durchgeknallten Typ am Strand eine Miniband zu gründen. Er setzte das Mundstück wieder an. Der Klavierspieler hielt kurz inne, dann folgte er ihm mit atemberaubender Sicherheit.
Nun gab er allerdings nicht mehr den dezenten Begleiter, sondern mischte selbst mit. Einige Passagen wirkten wie eine Parodie auf Lukas Spiel, in anderen nahm das Klavier sein Thema auf und gab ihm mit winzigen Veränderungen neue Tiefe. Schließlich ergriff der Pianist selbst die Initiative und erfand eigene Motive. Luka folgte ihm fasziniert. Das war Jazz vom Feinsten. Es war … einfach großartig.
Ihm war bald klar, dass der unsichtbare Klavierspieler ein echter Künstler war. Solche Virtuosität und Leidenschaft kriegte man nicht mit gelegentlichem Klimpern hin. Sie spielten und spielten, und als Luka schließlich das Saxophon sinken ließ, geschah es mit gehörigem Bedauern.
Er zögerte kurz, dann lief er in Richtung Hafen zurück, bis er eine grob gehauene Treppe entdeckte. Er hatte keine Mühe, das Haus des Pianisten zu finden. Es lag oberhalb des Dorfes direkt am Klippenweg und war von einer wuchernden Rosenhecke umgeben, die zu dieser Jahreszeit voller weißer Blüten stand. Der Mann erwartete Luka an der Gartenpforte. Neben sich hatte er einen großen, schwarzen Hund, der den Ankömmling mit gesträubtem Fell voller Aggressionen anknurrte.
«Das Schloss von Dornröschens Bruder?», fragte Luka mit einer ausladenden Handbewegung.
Der Mann lachte leise. «Und wer bist du? Einer der wirtschaftsfördernden Touristen, die unsere Strände mit Handtüchern pflastern?»
«Ihr habt vergessen, die Steine wegzuräumen.»
«Ganz im Gegenteil. Wir sind cleverer als die Leute in Sellin. Wir locken die Gäste mit der Idylle an, sorgen aber dafür, dass sie nicht zu lange bleiben, nachdem sie ihr Geld ausgegeben haben.» Er packte den Hund am Halsband und machte den Eingang frei. «Auf ein Bier?» Ohne die Antwort abzuwarten, kehrte er zu seinem Haus zurück, einem kleinen, weiß verputzten Gebäude.
Das gesamte Grundstück war von Rosen überwuchert. Es gab kaum ein Plätzchen, wo nichts rankte oder spross, und die Luft war schwer vom Duft der Blüten. Lukas Vergleich mit dem Dornröschenschloss passte besser, als er gedacht hatte. Der Hund verschwand nach einigem Widerstreben in einer Hütte neben der Tür, und der Mann bat seinen Gast hinein.
In der Diele gab es außer einigen Wandhaken nur eine Matte, auf der ein paar dreckige, feuchte Stiefel ihre Spuren hinterlassen hatten. Offenbar war der Hausherr ein Freund von Spaziergängen im Regen.
«Lass die Schuhe an. Dornröschens Bruder lebt allein – es stört also nicht», sagte er, als hätte er Lukas Gedanken gelesen.
Luka folgte ihm in einen großen Raum mit dunklen Holzbohlen, weißen Wänden und bodentiefen Fenstern, von denen einige offen standen. Dominiert wurde das Zimmer von einem schwarz glänzenden Konzertflügel. Schimmel, las Luka und wunderte sich nicht – das Instrument hatte einen phantastischen Klang. Auf einem verschrammten, dunklen Holztisch lagen Notenblätter verstreut, darauf eine Klarinette, zwei Geigen, eine Konzertgitarre und seltsamerweise auch eine Mundharmonika. An der Wand lehnte ein Kontrabass.
Luka hob das Band seines Saxophons über den Kopf und legte das Instrument zwischen die Geigen. Dann trat er vor die geöffneten Fenster. An dieser besonderen Stelle wurde der Blick auf die Ostsee nicht von Rosensträuchern verstellt, was aber keinem Gartenplaner zu verdanken war – der Hausherr hatte schlicht eine Bresche in die Pflanzen geschlagen, um die traumhafte Sicht aufs Meer genießen zu können.
«Was zahlt man für ein Grundstück in dieser Lage?»
«Ein Vermögen oder gar nichts, wenn man’s nämlich geerbt hat wie ich.» Der Mann reichte ihm eine Bierflasche, die er vorher an der Tischkante geöffnet hatte. «David Grosser. Für dich David, wenn’s dir recht ist.»
«Luka.» Sie prosteten einander zu. Dann sanken sie in die Ledersessel, die vor den Fenstern standen. Es war sonderbar, bei jemandem im Haus zu sitzen, von dem man kaum mehr als den Namen kannte, aber Luka fühlte sich trotzdem nicht unbehaglich, nicht einmal fremd. Selbst das rasche Du kam ihm in Ordnung vor. So war es eben, wenn man sich mittels Musik unterhalten und prächtig verstanden hatte.
«Was verschlägt dich nach Rügen?», fragte David.
«Woher willst du wissen, dass ich nicht von hier bin?»
«Hört man. Gruseliger Dialekt. Ruhrpott?»
Luka grinste.
«Wo kommst du denn genau her?»
«Aus Düsseldorf.»
«Schönes Symphonieorchester.»
«Stimmt. Ansonsten leider vor allem Lärm und Dreck.»
«Dann bist du also ein gestresster Großstädter auf der Suche nach Ruhe?»
«Na ja, es ist eher … Ich würde sagen, die Liebe.»
David lachte auf. Er war ein Mensch mit sparsamer Mimik. Die dunklen Augen, die unter seinen Brauen fast verschwanden, verbargen mehr, als sie preisgaben. Seine Haare waren zu lang, um modisch zu wirken, und seine Gesichtszüge hatten etwas Weiches. Trotzdem wirkte er nicht wie ein unsicherer Mensch. Dafür beobachtete er seinen Gast zu genau und kommentierte dessen Antworten zu spöttisch. Das Spannendste an ihm waren wohl die Hände. Er besaß lange, feingliedrige Finger, was nicht verwunderte, aber über den Ring- und den Mittelfinger der Linken zog sich eine breite, gezackte Narbe. Die Wunde, die sie hervorgerufen hatte, musste eine Tragödie für ihn dargestellt haben.
«Hast du sie im Urlaub kennengelernt?»
«Was? Oh … Teresa. Nein, sie ist zum Studium nach Düsseldorf gekommen. Aber jetzt will sie Windkraftanlagen in die Ostsee bauen, und da hab ich meine Sachen gepackt und bin mitgekommen.»
«Ist sie’s wert?»
Luka lachte. «Wow – das hört sich ja an, als wäre Rügen ein sibirisches Straflager.»
«Jedenfalls kannst du von hier aus direkt rüberschauen.»
«Nach Sibirien?»
«Sagen wir mal: fast.»
«Warum lebst du hier, wenn’s dir nicht gefällt?»
Die Antwort kam mit einigen Sekunden Verspätung und einem etwas gezwungenen Lächeln. «Hast du schon mal versucht, mit einem Flügel umzuziehen?»
«Stimmt, das braucht man nicht jede Woche.» Luka trank einen Schluck Bier und sah sich um. Er entdeckte ein vergilbtes Foto, das in einem hellen Rahmen zwischen einem Regal und den Fenstern hing. Sein Blick blieb daran hängen. Es zeigte eine junge Frau mit lockigen, kunstvoll hochgesteckten Haaren, die auf einer Freilichtbühne sang. Sie wurde von drei ebenfalls sehr jungen Musikern begleitet. Trotz der damals noch wilderen Mähne war David deutlich zu erkennen – er spielte Klarinette. Neben ihm traktierte ein Bursche mit Pferdeschwanz einen Bass, und ein pummeliger, pickeliger Knabe zupfte an einer Gitarre. Der Reiz des Bildes bestand aber wohl vor allem in dem Gewitter, in dem man es aufgenommen hatte. Es war Nacht gewesen, und die jungen Leute musizierten ohne sichtbares Publikum unter einem muschelartigen Dach, über dem grelle Blitze den schwarzblauen Himmel teilten.
«Wann ist das gewesen?»
«In den Achtzigern», sagte David, der seinem Blick gefolgt war. «Hast du auch irgendwelche Jugendsünden zu beichten?»
«Ich bin mit ein paar Kumpels durch die Ruhrpottkneipen gezogen. Coleman, Charlie Mariano, Don Byron … Jazz im Herzen und Gras in der Pfeife, damit auch jeder merkte, was für abgefahrene Kerle wir sind. War ’ne tolle Zeit. Damals hab ich sogar überlegt, Musik zu studieren. Aber mein Vater …» Luka hob die Schultern und trank noch einen Schluck. «Na ja, mit dem Abstand der Jahre gesehen hatte er wohl recht. Es wäre eine Sackgasse gewesen.» Der Hund im Garten begann zu jaulen, ein jämmerliches Geräusch. «Warum holst du den armen Kerl nicht rein?»
«Benni ist ein Streuner. Er wird verrückt, wenn man ihn ins Haus sperrt. Wie lange wollt ihr denn bleiben?»
«Keine Ahnung. Teresas Vertrag ist erst mal auf zwei Jahre befristet.»
«Und was treibst du? Außer nachts am Strand Saxophon zu spielen?»
«In Bergen war ein Posten bei der Polizei frei.»
«Du bist ein Kriminaler?»
Luka hatte ein feines Ohr für Zwischentöne. Offensichtlich gehörten Polizeibeamte nicht zum Kreis der Menschen, denen David Grosser Sympathie entgegenbrachte. Aber das war ja verbreitet. «Kripo.»
«Donnerwetter.» David wuchtete sich aus dem Sessel und ging zum Flügel. Er stützte sich auf das schwarze Instrument und starrte in die Dunkelheit hinaus, wo das Meer hinter der Klippe schäumte. «Spaß an der Arbeit?»
«Geht so. Doch, ja. Aber du hast die Musikerkarriere durchgezogen», stellte Luka fest.
«Auf Umwegen. Für das, was wir damals spielten, kriegte man keinen Orden umgehängt. Vater Staat war angesäuert und hat mich in eine Molkerei gesteckt.»
«Und heute?»
«Spiel ich im Ensemble der Philharmonie Vorpommern und klimpere hier und da mit diversen Bands. Außerdem hab ich ein paar Schüler.» David wandte sich Luka zu. «Warum bist du ausgerechnet Schnüffler geworden?»
«Ist doch ’ne feine Sache. Wir schützen die Braven und geben den Bösen eins auf die Nase. Ich lebe meinen Traum.»
«Herr Jesus!»
«Was?»
«Dafür, dass du Coleman spielst, redest du ganz schöne Scheiße. Wer hätte gedacht, dass so was zusammengeht.» David wandte sich zur Tür.
Das ist dann ja wohl der Rausschmiss, dachte Luka und erhob sich mit echtem Bedauern. Er stellte seine noch halbvolle Bierflasche ab, schnappte sich das Saxophon und folgte David nach draußen. Sofort kam der Hund aus der Hütte geschossen und kläffte ihn an. Als ihm niemand Aufmerksamkeit schenkte, flitzte er in die Dunkelheit davon.
«Was hat er vor?»
«Keinen Schimmer.» David lehnte sich gegen den Türrahmen. «Kommst du wieder mal vorbei?»
«Ein Kriminaler?», stichelte Luka.
«Irgendeine Macke hat jeder. Doch, es war schön heut Abend. Wenn du willst …» Er ließ den Satz in der Luft hängen.
Luka hob die Hand zum Abschiedsgruß. Als er durch das Törchen ging und auf die Uhr blickte, sah er, dass es bereits auf drei zuging.
Der Einstieg in den neuen Job am Montag darauf verlief noch beschissener, als Luka befürchtet hatte. Er war spät dran, viel zu spät. Die Frau, deren Stelle Teresa übernehmen sollte, hatte noch vor dem Frühstück durchgeklingelt und erklärt, dass der Schwimmkran aus Kiel, den sie zur Absenkung eines Gittermastes benötigten, schon zwei Tage früher ankommen würde und sie deshalb gemeinsam mit dem Boot aufs Meer zur Baustelle fahren müssten. Die Steppe brannte, oder wie auch immer sie sich ausdrückte.
«Da muss ich hin, darauf muss ich reagieren», hatte Teresa gesagt, und Luka hatte ihr die Angst angehört, man könnte sie für nicht flexibel genug halten. Das war zwar bescheuert, aber Argumente halfen ja selten, wenn jemand sich in etwas verrannte. Sie hatten beide zu Tilda geschaut, und in Teresas Gesicht machte sich Panik breit. «Ich kümmere mich», hatte Luka rasch versprochen. Die Woche nur nicht gleich mit einer Tragödie beginnen.
Jetzt beugte er sich zum Kindersitz. «Alles bereit, Süße?»
«Kann ’leine», erklärte Tilda und fummelte am Verschluss des Kindersitzes. Es klappte nicht. Er ignorierte ihre Proteste, öffnete die Schnalle selbst und hob sie mitsamt Bob dem Baumeister ins Freie.
Im Eingangsbereich des Polizeigebäudes tat eine junge Beamtin Dienst. «Zur Kripo?», fragte sie und blickte verwundert auf Tilda. «Das ist in der zweiten Etage. Aber wenn Sie …»
«Nee, ist schon richtig.»
Sie sah ihm nach, während er die Treppe hinaufhastete. Schon von weitem hörte er die Stimme einer Frau, die genervt mit jemandem redete. Luka blickte auf die Uhr. Herrgott, schon halb zehn. Aber es dauerte eben, ein kleines Kind in Jacke und Hose zu stecken.
«Die Nummer ist zwei-acht-drei-null, Durchwahl zwei-eins-vier. Ich wiederhole. Zwei-acht … Was? Das ist die Spurensicherung! Klar braucht ihr die. Die wurde nämlich nicht nur fürs Fernsehen erfunden, du Hasel … Nee, sag ich doch … Keine Ahnung, ich glaube, er wohnt hier in Bergen. Was soll ich machen? Ihn aus dem Bett klingeln? … Auf keinen Fall, Mensch!»
Die Stimme kam aus dem ersten Büro im Flur. Luka sah durch die offene Tür. Die Frau lehnte mit dem Rücken zu ihm an der Schreibtischkante. Sie war schlank und trug eine schlabbrige Jeans und ein T-Shirt mit der Rückenaufschrift Engel sind auch nur Geflügel. Darunter befand sich eine entsprechende Comiczeichnung. Ihre Haarfarbe war wohl wegen einer missglückten Tönung ins Karottenrote abgedriftet. Die Locken, die sie wegen der wilden Krause nicht bändigen konnte, hatte sie mit einer hässlichen Spange am Hinterkopf fixiert.
«Kann ich nicht, weil einer nämlich hier die Stellung halten muss!», schimpfte sie ins Telefon. «Quatsch, Kerstin hat ihren Urlaub doch nicht zufällig genommen. Und wenn sie hört, dass der Neue zu blöd ist, den Wecker zu stellen, kannst du sicher sein, dass sie gleich noch mal verlängert. Was? … Nee, lass mal …»
Luka pochte gegen die Tür.
Die Frau fuhr herum. Ihr Blick fiel auf Tilda, und sie schnauzte: «Verkehrt! Die Wache ist unten. Der Glaskasten. Können Sie doch gar nicht übersehen haben.» Sie winkte genervt, dass er verschwinden sollte.
Luka trat vollends ins Zimmer und setzte Tilda auf dem Boden ab.
«Haben Sie nicht gehört?»
«Hab ich. Seien Sie so gut und richten Sie dem Kollegen aus, dass der Neue jetzt eingetroffen ist und dass er ihn und sämtliche anderen Mitarbeiter um elf Uhr in seinem Büro sehen will.» Luka ging zum Fenster und betrachtete den hinteren Teil des Parkplatzes, an den sich Gärten und schlichte Einfamilienhäuser anschlossen. Als er sich wieder umdrehte, hatte seine neue Kollegin ihr Handy sinken lassen und starrte ihn an.
«Wo ist es denn eigentlich – mein Büro?»
Sie deutete zum Flur. «Direkt gegenüber.»
«Besten Dank. Und was war das eben mit der Spurensicherung? Gibt es ein Problem?»
Sie räusperte sich. «Ja, so kann man das wohl nennen. Wir haben einen Mord. Also einen echten Mord, ganz beschissene Sache. Eine Frau, die regelrecht zerhackt wurde. Conny Böhme übrigens.» Sie reichte ihm die Hand, und er schlug ein.
«Luka Kroczek. Kommen Sie gleich mal mit rüber, ja?» Er nahm Tilda an die Hand und überquerte den linoleumbeschichteten Flur. Die Kleine drehte sich neugierig zu der Kommissarin um. Sie mochte Menschen und eroberte sie mit ihrer guten Laune meist im Sturm. Nur ihre Großmutter nicht, dachte Luka, aber er verscheuchte den Gedanken an Rosi Schomaker, die sich energisch geweigert hatte, auf ihre Enkelin aufzupassen.
Das Büro, in dem er künftig arbeiten würde, war geräumig. Damit hatte er die Liste seiner Vorzüge auch schon abgearbeitet. Der Schreibtisch war von Schrammen übersät und viel zu klein, die Wände in einem hässlich beigefarbenen Klinikton gestrichen, Staubflusen säumten die Winkel, und an der Wand hing ein Kätzchenkalender. Neben dem Tisch standen zwei Kartons mit gerahmten Fotos und einige vertrocknete Topfpflanzen. Sein Vorgänger hatte einen tödlichen Hirninfarkt erlitten, und offenbar hatte niemand es für nötig befunden, seine persönlichen Habseligkeiten abzuholen.
Na schön. Luka gab sich einen Ruck. «Also? Was ist los?», fragte er Conny Böhme, die ihm gefolgt war.
«Äh, tja …» Sie riss ihren Blick von Tilda los. «Die Frau wurde in Vitt in einem leerstehenden Haus gefunden. Sie ist gewaltsam zu Tode gekommen.»
«Kann man wohl von ausgehen, nach Ihrer Beschreibung.»
Sie ging auf seine ironische Bemerkung nicht ein. «Aber das da», sie deutete auf Tilda, «geht gar nicht!»
Als wenn er das nicht wüsste. Nur, mit dem Schiff zu den Windkraftanlagen – unvorstellbar. Luka hatte zwar nur eine vage Vorstellung von Teresas Arbeit, aber im Geiste sah er Schiffskräne, die Gittermasten über die Ostseewellen schwenkten und kleine Kinder dabei rasch mal mit ins Meer fegten.
Tilda hatte Bob den Baumeister fallen gelassen und erklomm den Schreibtischstuhl mit dem durchgesessenen Polster. Luka fischte sie wieder herunter. Er zog ein paar Autos aus der Jackentasche, parkte sie auf einem Schubladencontainer und stellte die Kleine davor ab. «Dein Arbeitsplatz – mein Arbeitsplatz. Alles klar?»
«Brummmm …» Tilda baute sofort einen Verkehrsunfall und ließ die Autos durch das Zimmer schießen.
«Wie heißt sie denn?», wollte Conny Böhme wissen.
«Matilda.»
«Hübsch, aber … Keine Chance, dass ich auf sie aufpasse. Ich sag das lieber sofort, damit kein Zweifel aufkommt. Ich sehe zwar aus wie eine Frau, aber diese Hände wurden nicht geschaffen, um Kindernasen zu putzen.»
«Hab ich auch nicht erwartet, keine Sorge. Und nun der Mord – alles, was Sie bis jetzt wissen.»
Also begann sie zu berichten, und er griff zum Telefon.
Wegen des Kindersitzes fuhren sie mit Lukas Auto.
«Vitt ist ein Nest im Norden, direkt an der Küste», erklärte Conny. «So ’ne Art Mekka für Touristen, auch weil der Leuchtturm von Arkona ganz in der Nähe ist. Da oben treten sich die Besucher in den Ferien gegenseitig in die Hacken. Nur dass Sie vorbereitet sind.» Ungeniert öffnete sie das Handschuhfach. «Haben Sie kein Navi?»
«Hat die Kleine draufgekotzt.»
«Echt?» Sie drehte sich zum Rücksitz. «O Mann, so ’ne Süße. Aber die kann das gleich nicht mit ansehen. Ist Ihnen doch klar, oder? Vielleicht will Olaf sich ja kümmern.»
«Wer ist das?»
«Kollege Dommel. Hat Herzrhythmusstörungen. Darf sich eigentlich nicht aufregen.»
«Warum ist er dann bei der Kripo?»
«Weil es hier normalerweise nix zum Aufregen gibt. Wir sind auf Rügen. Unsere Highlights sind geklaute Kreditkarten und gelegentlich ein paar Einbrüche. Ein Job beim Finanzamt ist dagegen wie ’ne Regenwaldexpedition.»
«Wer ist denn sonst noch vor Ort?»
«Vier von der Streife und Tobias Schneller – der ist auch von uns. Fähig und ehrgeizig, aber leider noch ein halbes Baby. Kerstin Sonntag ist auf Urlaub. Und damit sind wir am Ende der Fahnenstange. Wie gesagt: Hier passiert normalerweise ja auch nichts.»
Luka überholte einen Trecker, der gemächlich über die Landstraße ruckelte. Sein Team bestand also aus einer Frau, die er vielleicht aus dem Urlaub zurückrufen konnte, einem Mann, der gern über seine Wehwehchen plauderte, einem Baby und einer zweiten Frau mit … exorbitantem Rededrang.
Und jetzt gleich ein Mord. In Düsseldorf war er Mitglied einer ständigen Mordkommission gewesen, der Fall an sich schreckte ihn nicht. Aber dort hatten sie routiniert gearbeitet. Jeder wusste, was zu tun war. Hier latschten offenbar als Erstes ein paar Streifenbeamte durch den Tatort und anschließend noch einmal seine Kripokollegen. Die Leute von der Spurensicherung würden kreischen. Gut, es war nicht mehr zu ändern. Er würde dazu was Grundsätzliches sagen müssen, aber er hatte keine Lust, sich bei der neuen Dienststelle gleich als Beißer einzuführen. Was mit einem Kleinkind auf dem Arm wohl auch nicht eindrucksvoll gelingen würde, dachte er sarkastisch.
«Haben Sie mitbekommen, was ich vorhin am Telefon gesagt habe?», fragte Conny Böhme.
«Was denn?»
Sie schaute missmutig aus dem Fenster. Vor ihnen tauchten zwei riesige Seen auf, die akeleienblau in der Vormittagssonne glänzten.
«Ist das schon die Ostsee?»
«Nee, das sind der Große und der Kleine Jasmunder Bodden. Die ganze Insel ist durchlöchert wie ein Käse.»
«Aha.» Er musste sich dringend eine Karte anschaffen, um einen Überblick zu bekommen. Blöd, wenn man sein eigenes Revier nicht kannte.
Sie ließen die Seen hinter sich, und allmählich verschwanden auch die Hügel und wichen einer ebenen Fläche. Goldene Rapsfelder wechselten mit grünen Anbauflächen. Landschaftlich betrachtet schlug Rügen den Ruhrpott um Längen, so weit hatte Teresa recht. Statt überfüllter Straßen gab es hier idyllische Alleen, deren Blätterwerk sich wie ein Dach über ihnen ausbreitete.
«Den letzten Toten hatten wir vor zwei Jahren», nahm Conny die Unterhaltung wieder auf. «War ’ne Kneipenschlägerei. Eine Eifersuchtsgeschichte, aber nicht wegen einem Mädel, sondern einer Harley. Dabei ist einer der Idioten mit dem Kopf auf eine Steintreppe geknallt. War auch nicht schön anzusehen, aber das in Vitt … Olaf hat’s mir geschildert, der war völlig fertig. Wer tut einem Menschen so was an?»
Das war eine Frage, die Luka gewöhnlich von schockierten Zeugen gestellt wurde. Er sparte sich die Antwort. Unauffällig warf er einen Blick in den Rückspiegel. Tilda nuckelte an Baumeister Bob und gab die typisch summenden Töne von sich, mit denen sie sich selbst in den Schlaf sang.
«Einziges Kind?», fragte Conny.
«Jau.»
«Ich würd’s dabei belassen. In diesem Alter sind sie zuckersüße Schnuckel, aber zwischen zwölf und achtzehn mutieren sie zu Monstern.»
«Eigene Erfahrungen?»
«Zwei Gören. Fünfzehn und siebzehn.»
Sie durchfuhren ein Städtchen, Glowe. Dunkel erinnerte er sich, dass er Samstagnacht ebenfalls hier durchgekommen war. Auch Juliusruh, der Name des nächsten Ortes, kam ihm bekannt vor. Hatte er hier nicht zu wenden versucht? Dieses Mal fuhren sie weiter geradeaus. In Altenkirchen bogen sie rechts ab, und die Straße verengte sich.
«So, da, vor dem großen Touristen-Parkplatz … Sehen Sie das? Da müssen Sie sich rechts halten.»
«Ist das schon Vitt?»
«Nee, Putgarten. Aber Vitt liegt gleich dahinter.»
Sie erreichten eine kleine, quer durch die Felder betonierte Straße, neben der getrennt von einem Grünstreifen ein breiter Fußweg verlief.
«Und da sind sie, die Touristen», kommentierte Conny Böhme den Zug der mit Rucksäcken und Fotoapparaten behängten Fußgänger, die offenbar auf dem Weg von einem Dorf ins andere waren. Ein blau-weiß bemalter kleiner Zug mit der Aufschrift Kap-Arkona-Bahn kam ihnen entgegen und klingelte. Luka wich an den Straßenrand aus. Kurz darauf erreichten sie einen runden Platz, wo sich die Haltestelle für das Bähnchen befand. Ein paar Dutzend Leute saßen auf einem Geländer aus gefällten Baumstämmen, das ein Beet umfasste, und warteten auf die nächste Abfahrt.
«Ich glaube, wir müssen hier rechts über die Pflasterstraße. Der Tatort liegt am südlichen Dorfrand», meinte die Kollegin.
Luka starrte auf das WC und die Garagen, die sich an das Rondell anschlossen. Dann wanderte sein Blick zu der achteckigen Kapelle. Wie es aussah, befand er sich in dem Dorf, in dem er am Abend seines Umzugs Saxophon gespielt hatte.
«Ist was?»
Er schüttelte den Kopf. Hinter den Garagen konnte er auf einem sanft ansteigenden Hügel David Grossers rosenüberwuchertes Grundstück ausmachen. Es lag zwischen einem Querweg und dem Klippenpfad, auf dem die Touristen in Richtung zweier Leuchttürme wanderten, die in einiger Entfernung in den wolkenlosen Himmel ragten.
Das gab’s doch gar nicht. Wie viele Ortschaften mochten sich auf dieser Insel befinden? Vierzig? Fünfzig? Na gut, rein rechnerisch war es vielleicht doch nicht so unwahrscheinlich, dass er bekanntes Terrain erreichte. Jedenfalls wahrscheinlicher als ein Sechser im Lotto.
Er gab wieder Gas und lenkte den Wagen an einer Familie mit kleinen Kindern vorbei, die widerwillig zur Seite wichen. Auch die Pflasterstraße, die Conny Böhme meinte, war er vor zwei Nächten gefahren. Eine Abzweigung nach links endete bei einem Haus. Vor der ungepflegten Hecke parkten mehrere Streifenwagen, auf deren Dächern Warnleuchten ihr blaues Licht kreiseln ließen. Da standen auch seine neuen Kollegen. Sie hatten das Haus auf seinen Anruf hin wieder verlassen und warteten unentschlossen bei den Autos.
Unter einem der Bäume parkte ein silberfarbenes Cabriolet – ein sündhaft teurer Jaguar. Gehörte er dem Opfer? Etwa zwei Dutzend Menschen hatten sich um die Wagen versammelt. Die meisten waren sicher Touristen, aber bei einigen abseits stehenden Männern und Frauen schien es sich um Leute aus dem Dorf zu handeln. Im Gegensatz zu den Urlaubern quasselten sie nicht und stellten auch keine Mutmaßungen an.
Luka lenkte seinen Touareg an den Wegrand. Er stellte den Motor ab und warf einen Blick nach hinten. Tilda war eingeschlafen. «Schön. Das passt ja.»
Seine Kollegin, die gerade die Tür öffnen wollte, starrte ihn entgeistert an. «Wollen Sie die Kleine etwa hier sitzen lassen?»
«Frau Böhme …»
«Das können Sie nicht machen. So was ist verboten.»
Luka stieg aus und beugte sich zu den Rücksitzen herab. «Sieht es so aus, als würde sie in der nächsten Stunde einen Hitzschlag bekommen?»
«Chef, das hat was mit der Psyche zu tun. Das Mädel wacht auf … niemand ist da … fremde Umgebung … großer Schreck …» Sie hielt inne und knurrte dann verärgert: «Verdammt, geht mich doch gar nichts an! Was weiß ich schon von Kindern?» Ihre Tür flog mit einem Knall ins Schloss.
Zum Glück hatte Tilda einen gesunden Schlaf. Luka beobachtete sie einen Moment. Der Kopf war ihr auf die Schulter gesackt, ihr Atem ging ruhig. Alles in Ordnung. Er folgte Conny zu den Kollegen und begann Hände zu schütteln.
Tobias Schneller, den Conny als Baby bezeichnet hatte, war leichenblass und hielt sich den Magen, als müsste er sich im nächsten Moment übergeben. Trotz seiner Übelkeit legte er Wert darauf, cool zu wirken – eine Unstimmigkeit, die ihn noch jünger wirken ließ.
«Tut mir leid, also echt leid!» Olaf Dommel, der ihm als Nächster die Hand reichte, wedelte mit der freien Hand, um sein Bedauern zu unterstreichen. «Wir hatten einen Anruf von einem älteren Herrn, der sich über den Jaguar gewundert hat und ins Haus gegangen ist, um nach dem Rechten zu schauen, weil die Tür offen stand. Also, er hat gesagt, die Frau ist tot, aber man will sich schließlich selbst überzeugen. Es hätte ja auch sein können, dass sie noch lebt.»
«Mit einer Axt im Gesicht?», fragte Conny.
«Ich schau bei so was lieber nach.» Olaf mochte um die fünfzig sein und trug eine Brille mit Goldrand. Seine Hamsterbacken ließen das schmale Gesicht wie aufgeblasen wirken. Er sah aus wie ein Erdkundelehrer vor einer Schulklasse: korrekt und ein bisschen umständlich, aber freundlich. Luka versuchte, ihn sich beim Verhör eines renitenten Verdächtigen vorzustellen – unmöglich. Er blickte sich um.
Sie mussten Zeugenaussagen sammeln, solange die Leute alles noch frisch im Gedächtnis hatten. Das Dorf war winzig und nachts menschenleer, wie er ja wusste. Gut möglich also, dass jemandem etwas aufgefallen war. Zumindest könnten die Anwohner ihm Informationen zum Haus und zu seinen Bewohnern liefern. «Ich habe am Ortseingang eine Kapelle gesehen. Herr Dommel, besorgen Sie bitte den Schlüssel dafür.»
«Wir wollen in die Kirche?»
«Irgendwo müssen wir die Zeugen schließlich befragen.»
«Aber ich glaube, im Moment ist sie für Besichtigungen freigegeben.»
«Dann schmeißen Sie die Besucher raus.»
«Natürlich.»