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Die tote Polizistin von Rügen.
Im Kreidemuseum in Gummanz wird die Leiche der ehemaligen Polizistin Julia Schorrer entdeckt. Vor zwölf Jahren tauchte sie unter – gegen sie und drei Kollegen wurde wegen Korruption ermittelt. Zwei davon waren damals ebenfalls ermordet aufgefunden worden. Ein hochbrisanter Fall für Hauptkommissarin Romy Beccare! Noch dazu, weil ihr Mann Jan Riechter damals ein Verhältnis mit Julia Schorrer hatte. Dann tauchen Fotos auf, die belegen sollen, dass Jan und die Tote sich in Wismar kürzlich noch getroffen haben ...
Ein heikler Cold Case: der neueste Bestseller von Katharina Peters.
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Seitenzahl: 468
Veröffentlichungsjahr: 2025
Als am Kreidemuseum in Gummanz eine Leiche gefunden wird, stehen Romy Beccare und ihr Team vor einer besonderen Aufgabe – und zwar nicht nur weil die fünfundvierzigjährige Julia Schorrer brutal in Kreide erstickt wurde. Sie war außerdem eine ehemalige Polizistin, die untergetaucht ist, als gegen sie wegen Korruption ermittelt wurde. Doch wo hat Julia Schnorrer sich in den letzten zwölf Jahren aufgehalten? Und warum hat der Mörder sie auf diese besondere Art getötet?
Der Fall nimmt für Romy eine persönliche Dimension an, als ihr Mann Jan Riechter, der nun ihr Vorgesetzter ist, ihr gesteht, dass er mit seiner Ex-Kollegin vor deren Verschwinden ein Verhältnis hatte. Und dann tauchen Fotos auf, die beweisen sollen, dass sich die beiden noch kurz vor Julias Tod getroffen haben. Romy sieht nur eine Chance: Sie muss den ehemaligen Polizisten Rolf Thiel finden, der damals ebenfalls verschwunden ist und als Einziger Licht ins Dunkle bringen kann.
Katharina Peters schloss ein Studium in Germanistik und Kunstgeschichte ab. Sie begeistert sich für japanische Kampfkunst und lebt mit ihren Hunden in Schleswig-Holstein. An die Ostsee fährt sie, um zu recherchieren, zu schreiben – und gelegentlich auch zu entspannen.
Im Aufbau Taschenbuch erscheinen ihre Krimireihen, die alle von ihrer Liebe zur Osteeküste zeugen: Auf Rügen ermittelt Hauptkommissarin Romy Beccare, auf Bornholm stellt sich Sarah Pirol dem Verbrechen in den Weg, und in Wismar folgen wir der Privatdetektivin Emma Klar auf ihrer Suche nach Gerechtigkeit.
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Katharina Peters
Kreidemord
Ein Rügen-Krimi
Cover
Titel
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Titelinformationen
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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Epilog
Impressum
Wer von diesem Kriminalroman begeistert ist, liest auch ...
Der alte Lada war immer noch sein Lieblingswagen – ein zuverlässiges, kantiges Fahrzeug ohne überflüssigen Klimbim. Er hatte ihn schon damals gerne gefahren – kurz nachdem die Mauer gefallen war und alles begonnen hatte. Eine Restfamilie, die zusammengefunden hatte, zumindest für einige Jahre – entscheidende Jahre. Der große Umbruch in diesem Land, eigentlich in zwei Ländern, Chancen, die begeistert genutzt neben Möglichkeiten, die nie ergriffen wurden, alte Wunden, neue Wunden und böse Überraschungen. Als hätte man erst lange Zeit nach dem Einzug in das Heim den Schwamm entdeckt; den wirst du nie wieder los. Das Recht der Stärkeren und Machthungrigen, die Wut und Hilflosigkeit der Zurückgelassenen, Gewinner und Verlierer, Naive und Fehlgeleitete, die Angst der Unentschlossenen; Zögern und Zaudern, Hoffen und Bangen, Entsetzen und Wut. Und die Macht der Bilder, wo Worte versagten. Zeugnisse von Wahrheit. Ein Bild lügt nicht – oder etwa doch? Jedes Bild war in der Lage, Lüge und Wahrheit zu transportieren, und selbst wenn man das längst begriffen hatte, gelang es nur den wenigsten, den ersten Eindruck wegzuwischen. Das funktionierte so ähnlich wie mit den Daten, die auf jede mögliche Weise genutzt werden konnten. Das Auge des Betrachters, das Motiv des Auftraggebers. Blickwinkel und Erwartungen, unterschwellig schwelende Absichten, trügerische Unschuld und böse Intention.
Er hatte schnell begriffen, dass seine Fähigkeiten wertvoll und sehr gefragt waren – bei allen möglichen Leuten. Das Sammeln von Daten und Bildern, das Aufspüren und technisch hochwertige Verarbeiten der dargestellten Wahrheit war längst kein Kunststück mehr, ihr Zurechtrücken, das Kaschieren und Verfeinern, das Herausfiltern ihres Lügenpotenzials jedoch sehr wohl. In einem Land, das plötzlich auf der Suche war, sich selbst neu zu erfinden, und in der ersten Begeisterung kaum ahnte, dass die Karten längst gemischt waren, hatten sich alle Möglichkeiten für jemanden wie ihn gefunden. Einen Aufzeichner und technisch auf höchstem Niveau agierenden Protokollierer, der unerkannt im Schatten arbeitete und mit jedem Auftrag auch seine eigenen Möglichkeiten erweiterte.
Er legte das Fernglas beiseite und fuhr über den Strelasund. Seit dreißig Jahren folgte er ihr. Damals war sie fünfzehn gewesen und hatte an seinen Lippen gehangen. »Mensch, wenn wir zehn Jahre warten, könnten wir sogar heiraten, oder?« Sie hatte laut losgelacht, ihn dann mit roten Wangen angestrahlt und ein Feuer in ihm entfacht, das nie wieder erloschen war. Er hatte zu spät begriffen, dass sie ihn veralberte oder einen Scherz auf seine Kosten gemacht hatte oder ihn einfach nur ein bisschen provozieren wollte. Wie man es mit fünfzehn oder sechzehn tat, ein Alter, in dem Wortbrüchigkeit keine Bedeutung hatte – aber später musste sie selbst erfahren, dass ihr Wort kein Gewicht mehr besaß und seine Bilder stärker nachhallten. Da hatte sie sich längst in seinem Herzen eingenistet wie ein kleiner zauberhafter Vogel, den er vor fremdem Zugriff schützen musste und auch vor sich selbst. Manchmal war sie entflohen, aber er hatte sie immer wieder eingefangen, sie mit sich selbst konfrontiert, egal, für welche Wege, auch Irrwege sie sich entschieden hatte. Ich bin dein Spiegel, der dir überallhin folgt, auch wenn du mich oft nicht bemerkst oder annimmst, ich wäre erblindet oder hätte mich abgewandt. Das tat er manchmal – zeitweise, um ein wenig durchzuatmen, den längst als Wahn erkannten Zwang für eine Weile zu drosseln.
Sie fuhr zum Einkaufen in einen Stralsunder Discounter. Ihr Blick war gehetzt. Verständlich. Sie musste höllisch aufpassen – nicht weil er ihr stets folgte, sondern weil ein Leben im Untergrund, und sei es noch so gut organisiert, immer ein Risiko darstellte. Sie hatte sich für Gefahr und Flucht entschieden, aber ihm würde sie nie entkommen. Inzwischen hatte er ihr letztes Geheimnis entdeckt – einen machtvollen Trumpf, mit dem die Karten ein weiteres Mal neu gemischt wurden. Du entkommst mir nicht, dachte er, egal wohin du dich wendest. Er lächelte zufrieden.
Hauptkommissarin Ramona Beccare, genannt Romy, wusste nicht, wie lange sie blicklos und entsetzt auf die Szene gestarrt hatte, während ihr die unterschiedlichsten Gedanken und Bilder durch den Kopf geschossen waren. Am Vorabend hatten Jan und sie ihr Siebenjähriges gefeiert. Rosen und Sekt, eine von Glück und Heiterkeit beflügelte Atmosphäre der Zweisamkeit, die sie über viele Stunden getragen hatte, und in der Nacht – womöglich während sie sich geliebt hatten – war dieser Mord geschehen. Zu Beginn eines denkwürdigen Sommers, wenige Monate nachdem ein Teil der Corona-Maßnahmen aufgehoben worden waren; die Menschen strömten wieder auf die Insel – mit ihnen die Unruhe, dicht gefolgt offensichtlich von den Untaten.
Die stille Zeit hatte Romy gut gefallen – nachdem sie sich erst einmal daran gewöhnt und den in so vielerlei Hinsicht erschreckenden Hintergrund beiseitegeschoben hatte. Stille hatte auch diesen Mord, dieses Sterben auf dem Gelände des Kreidemuseums in Gummanz begleitet. Stille und Grausamkeit. Die Frau war an die Buddelkiste für die jüngsten Besucher gefesselt worden – mit Oberkörper und Kopf so fixiert, dass sie vor der Kiste kniete, sich nicht bewegen konnte und ihr Gesicht tief in der Kreide versunken war. Die Hände waren auf dem Rücken gefesselt. Sie war erstickt. Dass es sich um eine Frau handelte, erschloss sich auf den ersten Blick – die Gestalt war zierlich, das halb lange Haar war wie ein Kranz um ihren Kopf ausgebreitet; sie trug einen zarten Armreif.
Romy wandte den Blick ab. Das Team der Kriminaltechniker samt Spurensicherungsteam war längst dabei, Tatort und Umgebung zu sichern – sie hörte, wie Marco Buhl seine Leute einteilte, im Ton ein wenig barsch, wie sie ihn nicht anders kannte, der Rechtsmediziner war unterwegs. Bis er eintraf, durften sie die Lage der Leiche nicht verändern und auch im direkten Umfeld keine Spuren hinterlassen.
Der Kollege aus Sassnitz, der zu den ersten Beamten vor Ort gehört hatte, räusperte sich leise. Romy blickte hoch in sein deutlich erblasstes Gesicht – ein junger Kollege, gerade mal Mitte zwanzig, schätzte sie. »Wir haben einen anonymen Anruf erhalten«, erklärte er. »Den Stimmen im Hintergrund nach zu urteilen, waren es mehrere Jugendliche. Ich schätze, die haben sich auf dem Gelände herumgetrieben – und die Anruferin klang ziemlich erschrocken. ›Da liegt ’ne Tote‹, hat sie gesagt, ›wir haben nichts damit zu tun‹, hat sie betont. So schnell werden die in dieser Gegend keinen nächtlichen Ausflug mehr unternehmen.«
»Damit könnten Sie richtigliegen.« Romy nickte dem Beamten zu und ging hinüber zu Marco Buhl, der sich gerade mit einem Kollegen besprach.
Buhl sah sie an. »Ich kann dir noch nichts sagen«, erklärte er nach kurzer Begrüßung. »Wir prüfen gerade, ob es eine Videoüberwachung gibt, und sammeln sämtliche verwertbare Spuren – auch draußen auf dem Parkplatz.« Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und wies in Richtung der Buddelkiste. »Aber wer sich so etwas ausdenkt, wird sich kaum von einer Videokamera einfangen lassen – es sei denn, er will es so und nicht anders.« Er kniff die Lippen zusammen. »Nur noch krank, die Leute«, presste er hervor.
»Apropos …«
»Der Doktor ist unterwegs«, warf Buhl ein. »Du musst dich noch ein bisschen gedulden.«
»Das habe ich befürchtet. Schickst du uns schon mal die Fotodateien?«
Er nickte. »Ich kümmere mich sofort darum.«
Romy ging zu ihrem Wagen zurück und informierte das Team in Bergen und Stralsund über den aktuellen Stand der Dinge. Wenig später traf der Rechtsmediziner ein – Doktor Möller persönlich. »Wir hatten länger nicht miteinander zu tun, Kommissarin«, begrüßte er sie mit freundlichem Lächeln. Dann hob er den Blick. »Sie haben schon genug gesehen, oder begleiten Sie mich zurück zum Leichenfundort?«
Romy zögerte einen Moment, dann nickte sie. »Kein schöner Anblick«, erklärte sie leise.
Wenig später stand sie neben dem Doktor. Seine Miene spiegelte für einen Moment Fassungslosigkeit, dann tiefe Nachdenklichkeit. Er warf Romy einen langen Blick zu, dann nahm er die ersten Untersuchungen vor, bevor zwei von Buhls Leuten die Leiche schließlich auf einer Unterlage betteten.
»Die Leichenstarre ist nicht vollständig ausgeprägt«, erörterte Doktor Möller betont sachlich. »Sie können demnach von einem Todeszeitpunkt ausgehen, der vor zirka vier bis sechs Stunden lag – es war warm, dann geht es schneller. Aber zitierfähig ist diese Einschätzung noch nicht.«
Romy blickte auf die Uhr. Mitten in der Nacht, in den frühen Morgenstunden war die Frau ermordet worden. Ihr Antlitz war verzerrt, Entsetzen hatte sich darauf eingebrannt. Das Gesicht war fast vollständig von der Kreide gefärbt. Ein qualvoller Tod.
»Einzelheiten später«, fügte Möller hinzu. »Auch bezüglich anderer Verletzungen.«
»Würden Sie kurz ihre Taschen nach Ausweis oder Ähnlichem durchsuchen?«
Möller tastete Hose und Sweatshirt ab und schüttelte den Kopf. »DNA-Probe gebe ich so schnell wie möglich in die Analyse.«
»Danke.« Romy wandte sich ab.
Sie fuhr über Mukran und Prora zurück und stoppte am Strand. Die Ostsee lag wie ein blanker Spiegel vor ihr – vielversprechend, verheißungsvoll, in der Ferne der Hafen von Mukran. Die ersten Touristen breiteten ihre Handtücher aus oder belegten Strandkörbe, ein Hund jagte einer Frisbeescheibe nach, Kinderlachen, Geruch nach Sonnenschutzcreme, zarte Wolkenschleier hingen über dem Horizont. Es hätte ein schöner Sommer werden können.
Als sie im Kommissariat eintraf, saß Maximilian Breder, genannt Max, der hochgeschätzte Experte aus dem Innendienst, zuständig für sämtliche Recherchen und Datenanalysen, bereits an seinem Schreibtisch und begutachtete die Fotodateien, die Buhl geschickt hatte; Telefone klingelten, es roch nach frischem Kaffee. Im neuen Dienstgebäude an der Wasserstraße verfügte der Datenexperte über ein wesentlich komfortableres Büro, in dem er sich längst bestens eingelebt hatte. Max schaute kurz hoch, als er Romy sah. »Die Stralsunder sind auf dem neuesten Stand. Jan macht sich so schnell wie möglich auf den Weg.« Er überlegte kurz, dann vertiefte er sich wieder in die Bilder.
Romy ging in den Besprechungsraum und goss sich eine Tasse Kaffee ein. Noch ging es im Bergener Kommissariat angesichts der Geschehnisse verhältnismäßig ruhig zu – die uniformierten Kollegen und Kolleginnen waren entweder unterwegs, sicherten den Tatort oder suchten im ersten Anlauf nach Zeugen und Spuren. Sobald weitere Einzelheiten feststanden – zum Beispiel die Identität des Mordopfers –, würde ein Ermittlungsteam mit den detaillierten Nachforschungen beginnen. Offiziell leitete dieses und ähnliche Verfahren die vorgesetzte Behörde in der Hansestadt – der Chef des Stralsunder Kriminalkommissariats war Jan Riechter, seit sieben Jahren ihr Vorgesetzter, und fast genauso lange waren sie ein Paar, inzwischen längst verheiratet und in Middelhagen zu Hause. Im Polizeialltag übernahm jedoch Romy die meisten Aufgaben, die die Insel betrafen, insbesondere seitdem Jan immer wieder eng mit dem LKA zusammenarbeitete.
Sie drehte sich um, als sie ein Geräusch hinter sich hörte, und entdeckte den Kollegen erst jetzt: Hauptkommissar Gregor Reymann. Der Beamte war Anfang fünfzig und gehörte seit einigen Monaten zum Rügener Team, worüber Romy alles andere als glücklich war. Sie hegte darüber hinaus tiefe Zweifel, dass sich daran je etwas ändern würde, schon gar nicht in absehbarer Zeit. Dass sie an diesem Morgen noch nicht einen Gedanken daran verschwendet hatte, den Kollegen zu kontaktieren, sprach für sich.
Angeblich sollte Reymann die Bergener verstärken, nachdem die Stelle des pensionierten Kasper Schneider viele Jahre nicht besetzt worden war. Gregor Reymann als später Nachfolger von Kasper – das allein grenzte schon an Majestätsbeleidigung, fand Romy. Der Hauptkommissar – mittelgroß, hager, meist blass und nachlässig gekleidet – war aus Greifswald zu ihnen gestoßen, warum auch immer. Wahrscheinlich aus teaminternen Gründen, von denen nur die Vorgesetzten Kenntnis hatten, schätzte Romy und nahm sich vor, bei Gelegenheit noch einmal Ruth Kranold anzusprechen; die als Springerin tätige Kollegin aus Greifswald, die regelmäßig auf der Insel aushalf, könnte sicher mehr über die Hintergründe in Erfahrung bringen. Dass sie sich bislang nicht dazu geäußert hatte, konnte alles Mögliche bedeuten – zum Beispiel schlichte Unlust, sich mit dienstlichen Belangen zu beschäftigen. Ruth hatte sich in den letzten beiden Jahren noch mehr zurückgezogen als sonst und lebte ihr beschauliches Einsiedlerinnenleben gemeinsam mit ihrer Adoptivtochter Ina. Kontaktbeschränkung – eine für viele Menschen mittlerweile belastete Bezeichnung, womöglich sogar ein Reizwort, das diffuse Gegenwehr hervorrief – dürfte ihr ein fröhliches Lächeln ins Gesicht zaubern.
Romy grüßte zurückhaltend und setzte sich nach kurzem Zögern ans andere Ende des Tisches, Reymann nickte beiläufig, trank einen Schluck Kaffee, dann strich er über sein allenfalls zwei Millimeter langes graues Stoppelhaar und warf ihr einen Blick aus graublauen Augen zu. »Gibt es schon mehr als diese Fotos?«
Romy schüttelte den Kopf. »Wir müssen abwarten, bis die ersten Ergebnisse vorliegen und die Stralsunder das weitere Vorgehen mit uns absprechen.«
»Zumindest hat sich der Täter ja mal was Originelles einfallen lassen.«
Romy atmete tief ein. »Ich würde es anders ausdrücken und von einem besonders grausamen Mord sprechen.«
Reymann zuckte mit den Achseln. »Hattest du schon mal so einen Fall?«, schob er nach.
»Was meinst du?«
»Ich spreche auf die Kreide an. Bin gespannt, ob das was zu bedeuten hat.«
Romy sah ihn irritiert an.
»Der böse Wolf hat Kreide gefressen, um sich zu tarnen.« Reymann hob eine Braue und deutete ein ironisches Lächeln an. »Ihr hat man den Mund mit Kreide gestopft. Wie klingt das?«
Völlig daneben, dachte Romy, wie so mancher Beitrag von dir. »Die Frau ist qualvoll erstickt – das ist die Ausgangssituation«, entgegnete sie schließlich schmallippig. Sie reagierte schon ungehalten, bevor die ersten Ermittlungen begonnen hatten – das war kein gutes Zeichen.
»Der gewählte Ort und die Tötungsart werden wohl kaum zufällig gewählt worden sein.«
»Das wird sich noch zeigen«, erwiderte Romy, obwohl das Argument bei rein sachlicher Abwägung selbstverständlich Hand und Fuß hatte. Wenn der Einwand nicht von Reymann gekommen wäre, hätte sie vielleicht zugestimmt. Auch das wurde ihr sofort klar.
Der Kollege zuckte mit den Achseln und vertiefte sich wieder in die ersten Hinweise zum Mordfall.
Romy stand abrupt auf und ging mit schnellen Schritten in ihr Büro. Reymann war ein scharfzüngiger Zyniker, zudem häufig maulfaul und in der Regel schlecht gelaunt. Die Frage, warum er sich ausgerechnet für diesen Beruf entschieden hatte, drängte sich immer wieder auf – neben dem Gedanken, dass Marco Buhl wie eine aufgedrehte Frohnatur gegen ihn wirkte. Romy konnte sich nicht erinnern, nach ihrer Ausbildung je an der Seite eines derart abweisenden und unwirschen Beamten ermittelt zu haben, und das sollte nach so vielen Jahren im Polizeidienst durchaus etwas heißen. Er provozierte ihre Ablehnung, noch bevor sie sich Zeit genommen hatte, seine Haltung oder Einwände neutral zu bewerten – und sie wusste selbst, dass das weder von einer souveränen Haltung zeugte, noch fair war.
Im polizeilichen Alltag ohne aufsehenerregende Fälle fiel es kaum ins Gewicht, dass Romy wenig begeistert über den Neuzugang war – zudem war sie die Chefin auf der Insel und konnte dem Kollegen aus dem Weg gehen, wann immer sie es für richtig hielt. Doch bei Mordermittlungen war die harmonische Zusammenarbeit im Team unabdingbar, und Gregor Reymann war nach Romys Einschätzung Lichtjahre davon entfernt, als Teamplayer zu punkten. Harmonie konnte er sicher nicht mal buchstabieren. Sie hätte es deutlich lieber gesehen, wenn Kommissar Finn Maurer nicht nur ausnahmsweise, sondern regelmäßig auf der Insel tätig würde. Doch der Stralsunder Beamte mit dem gefragten IT‑Wissen und zahlreichen Zusatzqualifikationen war in der Hansestadt unabkömmlich. Hinzu kam, dass Finn die letzten Ermittlungen, bei denen der achtzehnjährige Serienmörder Jakob Koller sehr spät als psychopathischer Täter entlarvt werden konnte, noch nicht verkraftet hatte und seitdem ausschließlich im Innendienst tätig war. Er hatte viel von seinem jugendlichen Schwung und der Ermittlerbegeisterung verloren, und Romy konnte das laute Echo dieses Falles gut nachvollziehen. Sie selbst dachte ein ums andere Mal mit großem Unbehagen an das »kleine Genie« zurück, wie der Täter damals genannt worden war – ein hoch manipulativer und scharfsinniger Achtzehnjähriger, der wie ein zarter Teenager wirkte, hatte über viele Jahre hinweg seine Familie, das gesamte Umfeld und die Polizei hinters Licht geführt und zahlreiche Morde begangen. Einzig seine Großmutter hatte ihn schon früh durchschaut – ohne dass jemand etwas auf ihre Meinung gegeben hätte.
Als das Team ihn nach monatelanger Ermittlungsarbeit schließlich stellen konnte, war Koller jegliche Kontrolle entglitten. Er hatte während des Verhörs einer Polizistin die Waffe entrissen und versucht, die Kollegin Ruth Kranold zu erschießen. Ohne Finns beherztes Eingreifen wäre ihm das womöglich auch gelungen; im Handgemenge hatte sich jedoch ein Schuss gelöst und Koller getroffen. Er hatte wochenlang im Koma gelegen – wäre er gestorben, hätte ihm kaum jemand auch nur eine Träne nachgeweint. Lediglich Finn hätte damit ein noch größeres Problem gehabt. Doch es war anders gekommen – inzwischen galt Koller als genesen und würde die forensische Psychiatrie in Stralsund zeit seines Lebens nicht mehr verlassen.
Der Aspekt hätte eigentlich dazu beitragen müssen, den Kollegen von seinen Schuldgefühlen zu befreien, überlegte Romy nicht zum ersten Mal. Doch bei ihrem letzten Gespräch hatte sie den Eindruck gewonnen, dass die traumatischen Nachwirkungen des Geschehens für den jungen Beamten immer noch nicht abgeklungen waren – trotz zahlreicher Therapiestunden mit dem Psychologen und intensiven Unterredungen auch mit Ruth Kranold.
»Ich bin einfach nicht der harte Cop, der ich manchmal gerne wäre«, hatte er zu scherzen versucht. »Der Mist verfolgt mich immer noch – in Träumen, Alpträumen … Ich höre den Schuss und den Schrei, und ich spüre diesen einen Augenblick, als nicht klar war, wen es getroffen hatte, wie einen endlosen Tag in Zeitlupe in mir kreisen. Ein Kampf ohne Ende. Vielleicht sollte ich mir einen anderen Job suchen.«
»Vielleicht solltest du dir eine echte Chance geben – und uns.«
»Eine echte Chance?«
»Ja. Du kannst dir nicht verzeihen – was und warum auch immer.«
Ob Romys beschwörende Worte mehr als nur ein Trostpflaster für ihn bedeuteten, vermochte sie nicht zu sagen. Finn hatte ein Leben gerettet und dabei einen Mörder schwer verletzt. Niemand machte ihm einen Vorwurf. Doch – er selbst. Romy schob die Gedanken beiseite.
Jan meldete sich zwei Stunden später, sein Konterfei ploppte auf dem Display auf. Romy stellte die Verbindung her und hörte, dass er unterwegs war. »Ich brauche noch eine Viertelstunde«, erklärte er. Seine Stimme klang angespannt.
»Habt ihr schon was zur Identität?«
»Allerdings.«
Romy wartete, doch Jan schwieg. »Du kennst sie?«, schob sie nach.
»Ja. Sie war mal eine Kollegin. Später mehr dazu. Bis dann.« Er legte auf, ohne sich zu verabschieden.
Das war ungewöhnlich. Romy verließ ihr Büro und ging zu Max, der inzwischen die ersten Überwachungsvideos aus der Umgebung sichtete, die Marco Buhl bereits geschickt hatte. Romy war sicher, dass der Chef der Kriminaltechniker sich höchstpersönlich um die Herausgabe der Dateien gekümmert hatte, sonst hätten sie deutlich länger warten müssen. Eine Videokamera erfasste im Bereich des Kaufhaus Stolz die Ortsausfahrt von Sagard, weitere Aufzeichnungen stammten von einer Tankstelle sowie vom Parkplatz an der Gummanzer Straße.
»Es wird eine Weile dauern, die Fahrzeuge zu identifizieren«, meinte Max und sah kurz hoch. »Ich teile mir den Job mit Finn«, fügte er hinzu und blickte zur Seite, als Reymann mit seiner Tasse Kaffee eintrat und sich an den Türrahmen lehnte.
»Der Täter wird kaum über die Hauptstraßen gefahren sein, vielleicht waren es auch mehrere«, wandte Reymann ein. »Eher über Nebenwege quer durch die Felder – Bobbin, Blandow, Vietzke. Und dann vorbei am Opferstein von Quoltitz, das passt doch.« Er verzog keine Miene.
Ich mag deine Art nicht, dachte Romy, aber sie schluckte die Bemerkung herunter. »Mit dem Wagen über die kleinen Wege?«
»Kann man nicht ausschließen.«
»Wenn da nachts ein Fahrzeug langfährt …«
»Natürlich ohne Licht«, betonte Reymann. »Wer sich da auskennt, wird die Strecke auch so bewältigen können. Oder er war am frühen Abend unterwegs und hat sich ein Versteck gesucht.«
»Und die ganze Zeit hatte er die Frau im Wagen, die später ermordet werden sollte?«
»Vielleicht war sie betäubt. Das wird die rechtsmedizinische Untersuchung klären können.«
»Stimmt.«
Max sah von Romy zu Reymann und wieder zurück. Spannung lag in der Luft.
»Kennst du dich auf diesen Nebenwegen aus?«, ergriff Romy schließlich wieder das Wort.
Reymann nickte.
»Dann schlage ich vor, du beschäftigst dich nach der Besprechung mit Jan gleich mit diesem Ansatz. Vielleicht finden sich Spuren, die den Verdacht bekräftigen werden. Oder es gibt keine Hinweise, die die Annahme stärken können. Dann hätten wir das auch geklärt.«
Reymann hielt ihrem Blick stand. In seinen Augenwinkeln saß ein winziges Lächeln. Romy zuckte mit keiner Wimper. Richtig, dachte sie – ich halte nicht das Geringste von dieser These, und das spiegelt meine klare Voreingenommenheit wider. Dennoch greife ich dein Argument auf, und somit geht der Punkt an uns beide, und ich bin dich wenigstens los.
Die Tür schwang auf, und Jan trat ein. Er war blass.
»Es liegt ungefähr zwölf Jahre zurück«, erklärte Jan, nachdem sie im Besprechungsraum Platz genommen hatten. Reymann reichte ihm eine Tasse Kaffee und setzte sich neben Max, während Romy zunehmend unruhiger wurde.
»Ich war damals im OK‑Bereich und als verdeckter Ermittler unterwegs«, fuhr Jan fort. »Wir hatten monatelang eine Gruppe Polizisten aus Mecklenburg-Vorpommern auf dem Schirm. Sie standen schon länger im Verdacht, ein Doppelleben zu führen und Aufträge aus der Organisierten Kriminalität anzunehmen – dazu gehörten nicht nur Geheimnisverrat bezüglich geplanter Razzien und Ermittlungen, sondern auch aktive Unterstützung bei Identitätsklau, Beschaffung von Waffen sowie Weitergabe von Interna zu hochrangigen Beamten. Mein Team hat die Gruppe bei einer aufwendig vorbereiteten Aktion in eine Falle gelockt. Die vier Polizisten – drei Kollegen sowie eine Beamtin – tappten tatsächlich hinein, konnten aber gerade noch fliehen. Die Leichen von zwei Kollegen wurden Wochen später vor Rostock an die Küste gespült – angeblich waren sie ertrunken. Wir gingen davon aus, dass die beiden von ehemaligen Auftraggebern als unliebsame Zeugen beseitigt worden waren. Von den beiden anderen, Rolf Thiel und Julia Schorrer, fehlte seitdem jede Spur, und es lag auf der Hand, dass sie entweder auch nicht mehr lebten oder sich rechtzeitig ins Ausland abgesetzt hatten.«
Jan trank einen Schluck Kaffee. »Bei der Toten handelt es sich um Julia Schorrer – das hat der schnelle DNA-Abgleich ergeben.«
Romy ließ Jan nicht aus den Augen, er wirkte nach wie vor fassungslos. »Du hast sie näher gekannt?«, fragte sie schließlich.
»Ja.«
Das war eine denkbar knappe Antwort.
»Die ganze Aktion hat seinerzeit viel Nerven gekostet und uns an unsere Grenzen geführt«, schob er nach.
Aber das ist nicht alles, dachte Romy.
»Gibt es schon Vorgaben, was die nächsten Schritte angeht?«, ergriff Max das Wort.
Jan nickte. »Wir müssen uns aller Wahrscheinlichkeit nach noch einmal mit den alten Fällen beschäftigen und zugleich die Ermittlungen auf der Insel vorantreiben, darüber hinaus die Frage klären, was Julia Schorrer auf Rügen gemacht hat und ob der Mord an dem Ort einen tatrelevanten Hinweis geben kann. Viel Arbeit für zwei Teams.«
»Was soll schon dabei herauskommen?«, warf Reymann in gelangweiltem Ton ein. »Späte Rache, neue Rache, was auch immer – die ehemalige Kollegin sollte zum Schweigen gebracht werden.«
»Das liegt wohl auf der Hand, doch warum auf derart spektakuläre Weise?«, entgegnete Jan.
»Eine Warnung an den Letzten aus der Gruppe?«, mutmaßte Reymann.
»Wir wissen noch nicht mal, ob Thiel überhaupt noch lebt«, warf Romy ein.
»Richtig, das wissen wir nicht, also können wir einen Zusammenhang auch nicht ausschließen.«
Jan hob eine Hand. »Wir sollten uns sämtliche Spekulationen zu diesem Zeitpunkt sparen. Ich fahre gleich zu einer Besprechung mit den Leuten aus meinem damaligen Team. Die alten Akten können ja nicht einfach so geöffnet und für sämtliche Dezernate zugänglich gemacht werden.«
»Natürlich nicht.« Reymann lächelte ironisch.
Jan fasste ihn einen Moment scharf ins Auge. »Das sind nun mal die Regeln bei verdeckten Aktionen, Kollege, auch wenn sie Jahre zurückliegen – dürfte auch für dich nicht neu sein.« Dann warf er einen Blick in die Runde. »Ihr macht euch hier auf die Suche nach Anhaltspunkten, durchkämmt die Insel, Zeugenaufrufe und so weiter – das übliche Prozedere. Wir halten die Identität und den Hintergrund so lange wie möglich zurück. Finn unterstützt euch bereits mit der Datenrecherche, alle weiteren Maßnahmen ergeben sich, sobald die ersten Ermittlungsergebnisse vorliegen.« Jan erhob sich abrupt und griff seine Kaffeetasse. Er sah Romy an. »Lass uns noch kurz in dein Büro gehen«, fügte er leise hinzu.
Romy stand sofort auf. Einen Augenblick später schloss sie die Tür hinter sich und Jan. Er stellte sich ans Fenster. Romy trat neben ihn. »Wie gut kanntest du sie?«
»Sehr gut.« Jan legte den Arm um Romys Schulter. »Wir hatten eine Affäre, und eine Weile sah es so aus, als könnte etwas mehr daraus werden. Kurz darauf kam der erste Verdacht auf, dass sie zu dem Kreis der korrupten Kollegen gehören könnte. Das war schon mal ein Schock. Ich musste mich zurückziehen, und einige Monate später bereiteten wir die Aktion vor.« Er drehte ihr das Gesicht zu. »Ich konnte nur im Team bleiben, weil es zu dem Zeitpunkt keinerlei privaten Kontakt mehr zwischen uns gegeben hatte. Das war schon damals alles andere als einfach, und es wurde nicht besser, als die vier fliehen konnten und das Ganze schließlich mit zwei toten und zwei flüchtigen Polizisten endete. Ein komplettes Desaster – mit einer Ausnahme.« Jan überlegte kurz, während Romy gespannt zuhörte. »Wir konnten einige hochrangige Leute aus dem Milieu festnehmen, die heute noch hinter Gittern sitzen, bekannte Namen aus dem Drogen- und Waffenhandel sowie aus der Geldwäsche-, Betrugs- und Identitätsklau-Branche.«
»War eine direkte Verbindung zu den Kollegen nachweisbar?«
Jan nickte. »Sie hatten eine einträgliche Vereinbarung getroffen.«
»Und wie seid ihr darauf gekommen, dass die vier damit zu tun hatten?«
»Es musste eine undichte Stelle geben«, erklärte Jan. »Zu viele entscheidende Details zu geplanten Polizeiaktionen waren durchgerutscht. Außerdem gab es einen Zugriff auf Interna, der einem Kollegen aufgefallen war und zurückverfolgt werden konnte. Und schließlich – wie so oft – verfügten zwei Beamten über auffällig viel Geld, das sich nicht aus ihrem Verdienst oder privaten Zuwendungen erklären ließ.«
»Das dicke Auto und der Karibikurlaub?«, mutmaßte Romy.
»So in etwa. Wenn du einer Frau Brillanten schenkst, darfst du dich nicht wundern, dass das die Runde macht.« Jan zuckte mit den Achseln. »Wie gesagt – wir sind dem nachgegangen, klammheimlich natürlich. Und der Verdacht bestätigte sich. Das war bitter. Und ist es immer noch – auch wenn gut zwölf Jahre dazwischenliegen.«
Einen Moment blieb es still. Dann zog Jan Romy kurz an sich. »Ich muss los …«
Sie nickte. »Wir werden bald Licht ins Dunkel bringen.«
»Davon bin ich überzeugt.« Er strich ihr eine Locke aus der Stirn und lächelte – das erste Mal seit seinem Eintreffen.
»Eine Frage habe ich noch – zu einem ganz anderen Thema.« Romy holte tief Luft.
»Ich ahne, worauf du hinauswillst.«
»Umso besser – es geht um …«
»Gregor Reymann.«
»Richtig.«
»Du verstehst dich nach wie vor nicht mit ihm«, stellte Jan fest.
»Das ist eine milde Umschreibung. Ich finde ihn unerträglich.«
»Kaum jemand versteht sich mit ihm …«
»Und warum müssen wir ihn aushalten?«, ereiferte sich Romy. »Im schnöden Polizeialltag ohne besondere Ermittlungen lässt sich vieles deckeln und ausgleichen. Doch jetzt – bei einem derart kniffligen Mordfall – müssen wir ein starkes Team bilden, und Reymann weiß nicht mal, wie man das schreibt.«
»Ich weiß.« Jan lächelte erneut. »Er ist ein richtiger Kotzbrocken, der bislang auf keiner Dienststelle klargekommen ist – und es waren viele quer durch die Republik, soweit ich weiß. Er macht sich grundsätzlich unbeliebt, kuscht vor niemandem und stößt jeden vor den Kopf, unabhängig von Namen und Dienstgrad. Er steht auf der Beliebtheitsskala immer ganz unten, weil es ihm scheißegal ist, was andere von ihm denken. Und nun ist Rügen dran.«
Romy kniff die Lippen zusammen. »Ernsthaft – wir müssen das hinnehmen? In so einem kleinen Team, in dem es im Ermittlungsfall auf jeden Einzelnen ankommt, noch dazu auf unserer wunderbaren Insel?«
Jan zuckte mit den Achseln. »Zumindest eine Weile. Die Greifswalder haben irgendeine Chance genutzt, ihn loszuwerden, vorher war er in Rostock, Neubrandenburg und … Ach, egal. Und du wirst es kaum glauben – die offensichtlichen Nachteile, die mit ihm verbunden sind, bilden zugleich seine große Stärke, das hat sich auch herumgesprochen.«
Romy verdrehte die Augen. »Ach du liebe Güte. Nun bin ich aber wirklich gespannt.«
»Der Mann ist eine Wucht in Verhören – je schwieriger die Ausgangslage, desto besser. Der knackt jeden …«
»Mit Unverschämtheiten und Zynismus?«
»Ja, unter anderem. Und blöd ist er auch nicht. Da ihm darüber hinaus völlig egal ist, wie andere ihn einschätzen, zieht er einfach sein Ding durch und gibt nichts auf deren Meinung.«
Romy schüttelte den Kopf. Ich kann ihn nicht ausstehen, dachte sie, und daran wird sich auch nichts ändern. Aber womöglich sind meine persönlichen Befindlichkeiten gerade nicht gefragt. Abgesehen davon hatte sie längst den Eindruck gewonnen, dass hinter der Personalie Reymann noch mehr steckte.
Jan gab ihr einen Kuss und verließ die Dienststelle. Romy blickte aus dem Fenster und beobachtete, wie er zu seinem Wagen eilte – mit geradem Rücken und deutlich angespannten Schultern, das meinte sie selbst aus der Entfernung zu erkennen. Seine Exgeliebte war grausam ermordet worden – eine ehemalige Kollegin, die ihn bitter enttäuscht und die Seiten gewechselt hatte. Was spielte es schon für eine Rolle, dass das Ganze zwölf Jahre zurücklag? Wahrscheinlich war er immer noch völlig perplex, dass er seinerzeit nicht sofort bemerkt hatte, dass die Frau korrupt gewesen war – und das womöglich bereits Jahre zuvor.
Jan fuhr zurück nach Stralsund, von wo er nach kurzer Besprechung in Richtung Schwerin beziehungsweise Leezen aufbrach – zum Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern. Zwei Mitarbeiter aus der OK‑Gruppe erwarteten ihn dort. Sie würden zügig darüber entscheiden müssen, welche Details aus den damaligen Akten in die aktuellen Ermittlungen fließen durften – und welche nicht. Seinerzeit hatten sie mit V‑Leuten zusammengearbeitet, und deren Identität musste natürlich ebenso geschützt werden wie bestimmte Vorgehensweisen, die in einer offiziellen Akte nichts verloren hatten. Andererseits wies zu viel an diesem Mord auf einen Zusammenhang mit den alten Fällen hin, so dass übertriebene Rücksicht und strikte Maßnahmen im Rahmen der Geheimhaltung die Recherchen unnötig erschweren würden.
»Wir brauchen zwei Teams«, erklärte schließlich Hauptkommissar Konrad Thom, nachdem sie fast eine Stunde lang intensiv diskutiert hatten. Konrad hatte damals als Jans zweite Hand fungiert. »Wir bleiben unter uns und gleichen die Erkenntnisse mit den neuen Ergebnissen ab. Und die Ermittler, die zum aktuellen Fall recherchieren …«
»Werden sich garantiert nicht mit der Rolle des schlichten Zulieferdienstes für das LKA begnügen. Das betrifft im Übrigen auch mein Kommissariat«, warf Jan ein. »Ärger und unnötige Verzögerungen dürften vorprogrammiert sein, und das spielt dem Tatumfeld in die Hände.« Er sah Romy bereits vor sich, wie sie ihn mit verschränkten Armen und finsteren Blicken musterte.
»Das sollte uns kaum stören.«
Die Kollegin Louisa Schort wiegte nachdenklich den Kopf. »Jedes Team wird sein eigenes Süppchen kochen und nicht in der Lage sein, über den eigenen Tellerrand zu gucken. Das dürfte die Gefahr bei diesem Ansatz sein. Warten wir doch erst einmal ab, ob sich tatsächlich entscheidende Schnittstellen zu den alten Fällen ableiten lassen und was der Staatsanwalt dazu sagt.«
Jan hatte erneut das Bild von Julia vor Augen – in der Kreide erstickt. »Warum dort?«, fragte er in leisem Ton, und er hörte selbst, wie rau seine Stimme klang. »Warum so ein qualvolles Ende?«
Niemand sagte etwas. Konrad kaute auf einem Zahnstocher herum, dann stand er plötzlich auf. »Der Mist liegt zwölf Jahre zurück. Wir sollten uns so schnell wie möglich einlesen. Vielleicht findet sich eine Verbindung zu Gummanz, die jetzt bedeutsam wird.«
Daran glaubte Jan nicht einen Moment, doch der pragmatische Vorschlag klang trotzdem gut. Er brauchte dringend Ablenkung. »Okay, lasst uns anfangen.«
Was hatte Julia damals veranlasst, sich diesem Trupp anzuschließen? Warum hatte er nicht das Geringste davon mitbekommen – bis der Verdacht schließlich auf der Hand gelegen hatte? Und wie oft hatte Jan seinerzeit auf diesen Fragen herumgekaut, ohne eine Antwort zu finden? Die Zusammenarbeit mit den Typen aus der Organisierten Kriminalität – noch dazu als Polizeigruppe – erforderte detaillierte Vorbereitung, ständige Absicherung, perfektes Timing und natürlich ständig verdecktes Agieren. Die vier hatten in unterschiedlichen Dienststellen gearbeitet, aber man kannte sich natürlich – durch gemeinsame Einsätze, Fortbildungen, Sportveranstaltungen. Julia hatte zum Stralsunder Team gehört und war zeitweise im LKA-Schwerin als Verstärkung eingesetzt, Thiel war Rostocker Beamter gewesen, die beiden ertrunkenen Kollegen, Moritz Kaiser und Theo Handt, stammten aus Greifswald und aus der LKA-Gruppe.
Als Jan eine Weile später bemerkte, dass er das aufgerufene Dokument zum dritten Mal las, ohne den Inhalt erfasst zu haben, hob er den Kopf und traf auf den fragenden Blick der Kollegin Louisa. »Du siehst ganz schön fertig aus«, meinte sie, und ihr Ton klang besorgt.
»Ja, bin ich auch. Wir haben schon damals nicht in Erfahrung bringen können, was auf der Flucht abgelaufen ist, und daran hat sich auch später nichts geändert. Aus dem Umfeld der Angehörigen und Freunde hat niemand etwas gewusst – angeblich. Das hat uns zwar nie gänzlich überzeugt, aber …«
»Da sollten wir trotzdem noch mal nachhaken.«
Jan nickte. »Unbedingt. Und nun lebt aus der Gruppe nur noch einer.«
»Vielleicht hat es Thiel auch längst erwischt, ohne dass wir davon etwas mitbekommen haben«, gab Konrad zu bedenken.
»Dann verwundert dieser auffällige Mord aber umso mehr.«
»Er könnte auch einfach gestorben sein – Leute kriegen einen Herzinfarkt, Krebs oder neuerdings diesen Corona-Mist, oder sie werden überfahren.«
»Das ist allerdings ein Argument.« Jan schloss die Datei, fuhr den PC herunter und stand auf. »Ich habe trotzdem gerade genug vom Aktendurchforsten und mache mich auf den Weg in die JVA.«
»Lass mich mal raten – du willst mit Stephan Berthold sprechen?«
»Warum nicht?«
»Weshalb sollte er nach zwölf Jahren reden? Und falls er auf verschlungenen Wegen etwas mit diesem Mord zu tun hat oder mehr dazu weiß, wird er erst recht schweigen«, entgegnete Konrad.
»Vielleicht. Aber vielleicht ist er auch mürbe geworden. Oder sogar ein wenig altersmilde.« Das klang weder realistisch noch zuversichtlich, wie Jan selbst wusste, dennoch war es einen Versuch wert. Er warf einen letzten Blick in die Runde und machte sich auf den Weg.
Berthold hatte seinerzeit einträgliche Geschäfte an der Küste betrieben und die Unterstützung durch korrupte Polizisten kunstvoll für seine Zwecke genutzt. Er hatte über beste Verbindungen in den Rest der Republik und ins Ausland verfügt, zu Partnern mit anderen Schwerpunkten, und seine Kuriere waren ständig unterwegs gewesen – getarnt als Fahrer für Hilfsgüter oder alltägliche Waren, deren Routen gut abgesichert waren. Seine anderen Firmen – Clubs und Restaurants, Sicherheitsunternehmen, kleine Luxushotels, Kunsthandwerkläden, Autovermietungen – dienten ausschließlich der Tarnung und Geldwäsche, und zwar auf höchstem Niveau.
Deutschland war ein Paradies für Geldwäscher, selbst für Betrugsmaschen mit deutlich weniger Geschick, das hatte Jan gerade wieder in einer Fortbildung gelernt. Zigtausende Verdachtsmeldungen auf Steuerhinterziehung blieben liegen, weil es kein Personal gab, und an vielen Verdächtigen bissen sich die Beamten die Zähne aus, während die Fristen abliefen. Immer wieder das gleiche Spiel. Die Ermittler hatten eindeutige Beweise in diesem Fall nur sichern können, weil die Spur über Julia Schnorrer direkt zu Berthold geführt hatte. Ein MEK hatte sich in Stellung gebracht, und selbst das ausgefuchste Team der Anwälte war an dem Punkt machtlos gewesen – ein Waffen- und Drogenlager, Aufzeichnungen zu Verbindungen in die OK, Bargeld und versteckte Konten hatten für sich gesprochen. Berthold und etliche seiner Partner saßen seitdem in der JVA; Nachfolger hatten lange Zeit die Füße stillgehalten oder sich besonders geschickt in Stellung gebracht. Dass die Geschäfte inzwischen längst fortgesetzt worden waren, daran zweifelte Jan nicht einen Moment.
Er blickte aufs Smartphone, als eine Nachricht von seinem Assistenten in Stralsund eintraf. Simon hatte die Eltern von Julia ausfindig gemacht. Sie hatten Mecklenburg-Vorpommern nach dem Untertauchen ihrer Tochter und in dem anschließenden Ermittlungs- und Medienrummel verlassen. Inzwischen lebten sie wieder in der Nähe von Stralsund – in einem Dorf. Jan entschloss sich spontan, die Eltern aufzusuchen und sie persönlich über Julias Tod zu unterrichten.
Das Haus war klein, es stand im Schutz einer Buche, Bäume und Büsche blühten, ein Ring aus dichten Pflanzen und Blumen begrenzte den Hauseingang. Unter dem Carport stand ein unauffälliger Kleinwagen. Maria Schorrer arbeitete im Garten. Die Siebzigjährige stützte sich auf die Harke, als Jan an die Pforte trat. Er hatte sie damals nicht kennengelernt, doch Julia hatte ihm einmal Fotos seiner Eltern gezeigt. Maria war stark gealtert – die Frau hatte seinerzeit mit Ende fünfzig vor Kraft und Energie gestrotzt, jetzt wirkte sie hager, müde und grau. Sie sah ihm stirnrunzelnd entgegen. »Was kann ich für Sie tun?«
Jan zückte seinen Ausweis, während sie zwei Schritte nähertrat. »Haben Sie ein paar Minuten für mich?«
Sie hob den Blick und sah ihm starr in die Augen. »Geht es um sie?«, fragte sie in rauem Ton. »Um Julia?«
»Ja, es geht um sie. Ist Ihr Mann …«
»Er ist im Haus.« Maria Schorrer stellte ihre Harke beiseite und öffnete die Pforte. »Kommen Sie! Wenn ich Ihren Gesichtsausdruck richtig deute, sind es keine guten Nachrichten. Aber das sollte uns nicht verwundern.«
Es sind weniger als keine guten Nachrichten, dachte Jan. Kurz darauf saß er dem Ehepaar in der Küche gegenüber. Es roch nach Bohnensalat und starkem Kaffee, eine Topfpflanze stand im Fenster, daneben ein Foto – ein Familienfest, das ein paar Jahre zurücklag, vermutete Jan. Peter Schorrer, ein ehemaliger Justizbeamter und einige Jahre älter als seine Frau, wirkte insgesamt munterer und kraftvoller – dass auch er keine guten Nachrichten erwartete, war ihm ins Gesicht geschrieben. Er bot Jan ein Glas Wasser an und schenkte sich und seiner Frau ein, als er ablehnte. Das leise Sprudeln war für einen Moment das einzige Geräusch in dem Raum.
»Es tut mir leid«, sagte Jan schließlich. Er war unsicher und nervös, und er vermutete, dass die beiden mehr davon spürten, als allen lieb war. »Wir haben Ihre Tochter tot aufgefunden.« Und sie hatte nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit der Frau, die sie vor zwölf Jahren war, dachte er.
Peter Schorrer starrte ihn mit angehaltenem Atem an, seine Frau umfasste ihr Glas mit beiden Händen und blickte ins Leere.
»Was ist passiert?«, stieß Julias Vater schließlich hervor.
»Ein Tötungsdelikt, dessen Hintergründe …«
»Noch unklar sind, zu Einzelheiten können und dürfen Sie zurzeit nichts sagen«, fiel Schorrer Jan rasch ins Wort. »Mir ist die Sprache der Justiz nicht fremd. Nun sagen Sie schon, was passiert ist!« Das klang energisch, fast barsch.
Jan hielt seinem Blick stand, dann nickte er. In Kürze würde sich ohnehin herumsprechen, dass es einen Mordfall auf der Insel gegeben hatte, einen äußerst bizarren noch dazu, und als ehemaligem Justizbeamten dürfte es Schorrer nicht schwerfallen, sich auch ohne Jans konkrete Angaben einen Überblick zu verschaffen. »Sie wurde auf Rügen im Kreidemuseum in Gummanz entdeckt. Ihre Tochter wurde … erstickt.«
Maria hob den Blick. Dann stand sie so abrupt auf, dass der Stuhl hinter ihr zu Boden krachte. »Unsere Tochter ist vor zwölf Jahren für mich gestorben. Wir sollten es dabei belassen.« Sie stellte den Stuhl wieder auf und schob sich mit mühsamen Schritten und abgewandtem Gesicht an Jan vorbei, um die Küche zu verlassen.
Peter Schorrer sah ihr einen Moment nach, dann wandte er sich zu Jan um. »Sie hat recht – wie so oft«, sagte er leise. »Danke, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, uns persönlich aufzusuchen.«
Jan war verblüfft. Der energische Vorstoß des Vaters war schnell verpufft. Die beiden wollten sich nach den Ereignissen und schweren Jahren voller Ungewissheit und Kummer auf keinen Fall nun auch noch mit einem schrecklichen Gewaltverbrechen auseinandersetzen. Das war gut nachvollziehbar. Jan nickte. »Falls Sie Hilfe benötigen …«
»Nein danke, nicht nötig. Julia ist tot, sie wurde ermordet. Das passt zu ihrem Lebenslauf, der nicht das Geringste mit den Werten zu tun hat, die wir ihr vermittelt haben – oder glaubten, ihr vermittelt zu haben. Wir waren wohl nicht sehr erfolgreich. Manchmal frage ich mich … Ach, vergessen Sie es. Es ist so sinnlos.«
Ein bitteres Fazit voller Schmerz und Resignation. Jan erhob sich. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Eine Frage würde ich Ihnen gerne noch stellen, wenn Sie gestatten.«
Peter Schorrer hob das Kinn und kniff die Lippen zusammen. »Wir haben nie wieder etwas von ihr gehört«, erklärte er. »Falls Sie darauf hinauswollen. Auch nicht in Form versteckter Nachrichten oder dergleichen. Sie werden das aber sicherlich noch genauer prüfen, sobald die Ermittlungen in vollem Gange sind. Die meisten Gewalttaten geschehen im Umfeld von Familie und Freunden. Das ist mir auch bekannt … Nun, Julia hatte sich offensichtlich einen neuen Umgang, eine schillernd bunte Familie gesucht, in der sie nun ihr Leben verloren hat.«
»Darauf wollte ich nicht hinaus«, entgegnete Jan. Julias Vater hatte als Justizbeamter, der er mit Haut und Haaren gewesen war, sehr wahrscheinlich in besonderer Weise unter den Geschehnissen gelitten, auch wenn er damals bereits pensioniert gewesen war. Jan wollte gar nicht wissen, was er sich im ehemaligen Kollegenkreis an Anfeindungen hatte gefallen lassen müssen.
»Was interessiert Sie?«
»Stichwort Gummanz, das Kreidemuseum. Hatte der Ort eine besondere Bedeutung in Julias Leben?«
»Keine Ahnung. Sie war sicherlich als Schülerin einmal dort – im Rahmen eines Ausflugs oder einer Klassenfahrt nach Rügen –, und da stand dann auch das Kreidemuseum auf dem Plan, könnte ich mir vorstellen.«
Jan nickte. »Und die Insel? War sie häufiger dort?« Die Frage könnte er sich auch selbst stellen, doch er erinnerte sich tatsächlich nicht, ob Julia sich seinerzeit als Inselfan geoutet hatte. Er hatte wohl vieles verdrängt aus dem persönlichen Bereich, und manche Bilder, die nun in ihm hochstiegen, hätte er nach den Geschehnissen liebend gerne für immer getilgt. Ein nächtliches Bad an einem See. Ihr nasses Haar im Wind, der hungrige Mund und ihr lautes unbändiges Lachen, als sie sich im Wagen wieder angezogen und in der Eile die Hosen vertauscht hatten. Während er kaum mit einem Bein in ihre Hose passte, versank sie in seiner bis zum Brustansatz. Eine kleine zierliche Person, aus der er nie so richtig schlau geworden war – bis sich herausstellte, mit wem sie gemeinsame Sache machte. Hatte sie je versucht, ihn auszuhorchen? Auch diese Frage hatte er sich bereits hundertmal gestellt – ohne eine komplett eindeutige Antwort gefunden zu haben.
»Kommissar Riechter?«
Jan zuckte zusammen. »Ja, entschuldigen Sie, ich …«
»Das geht Ihnen nahe, oder?«
»Ja – sie war eine Kollegin.«
»Sie hat ihren Job missbraucht«, betonte Schorrer.
»Ich weiß.«
»Und die Menschen dazu.«
»Auch richtig.«
»Was Rügen angeht – es fällt mir schwer, mich an Julias Vorlieben zu erinnern. Ich habe sie aus meinem Kopf vertrieben, aus dem Herzen schon damals, wie Sie vielleicht verstehen. Möglich, dass sie manchmal auf die Insel fuhr und von ihr schwärmte. Aber was heißt das schon, wenn man hier oben lebt? Es geht vielen so.«
Damit lag Schorrer wohl richtig. Jan verabschiedete sich einen Moment später und fuhr Richtung JVA weiter. Er hatte Mühe, die eindringliche Stimmung im Haus der Eltern abzuschütteln. Sie haftete an ihm wie ein intensiver Geruch. Er drehte das Seitenfenster herunter.
Der Haftinsasse Stephan Berthold war nicht zu sprechen. Er lag mit Magen-Darmgrippe auf der Krankenstation, wie der Beamte am Eingang erklärte. »Den Scheiß wollen Sie nicht haben, und das dürfen Sie gerne wörtlich verstehen«, meinte er mit breitem Grinsen. »Hat hier ordentlich die Runde gemacht. Mich hat es – bislang – verschont. Hat auch Vorteile, wenn man alleine in diesem Stübchen seinen Dienst schiebt.«
»Eindeutig«, stimmte Jan zu. »Dann hoffe ich, dass Sie weiterhin gesund bleiben. Rufen Sie mich an, sobald es Berthold besser geht?« Jan reichte ihm eine Visitenkarte.
»Mach ich.«
Auf dem Weg nach Middelhagen wurde ihm langsam leichter ums Herz. Romy war noch unterwegs. Jan erledigte ein halbes Dutzend Telefonate, dann setzte er sich mit einem Glas Wein auf die Terrasse. Er freute sich auf seine Frau. Die Abenddämmerung kroch über die Salzwiesen.
Es gab nach den ersten Untersuchungen keine Anzeichen, dass das Opfer betäubt gewesen war, als es starb. »Doch das allein heißt noch nichts«, erklärte Doktor Möller. Seine Stimme klang wie gewohnt nüchtern am Handy. »Die Substanzen sind nur eine begrenzte Zeit nachweisbar. Das habe ich in meinem ersten vorläufigen Bericht bereits erwähnt. Allerdings …«
»Sie hat sich gewehrt, nicht wahr?«, warf Romy ein und ging mit dem Telefon ans Fenster.
Möller räusperte sich. »Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen, Kommissarin Beccare. Die Fesseln sind tief eingeschnitten, auch entlang der Kopffixierung zeichnen sich Spuren ab, dass Julia Schorrer versucht hat, sich zu befreien, und das Gesicht zur Seite zu wenden.«
Romy atmete tief aus. Diese Aspekte wiesen darauf hin, dass sie nicht betäubt war, während sie um jeden Atemzug kämpfte, dachte sie. Das hatte Möller in seiner schriftlichen Einschätzung sachlicher ausgedrückt. Besser wurde die Vorstellung deswegen aber nicht.
»Sie hat Kreidestaub in der Lunge«, fuhr Möller fort. »Ich fürchte …«
»Ja, das fürchte ich auch. Was können Sie sonst zu ihr sagen? Allgemeinzustand, andere Verletzungen und so weiter.« Romy fragte denkbar knapp. Das Opfer hatte grausamste Gewalt erfahren und war unter furchtbaren Umständen gestorben. Wer immer das getan – oder beauftragt – hatte, musste von Hass und/oder Rachedurst zerfressen sein. Und das ging Romy verdammt nahe. Sie wandte sich kurz um, als Reymann den Besprechungsraum betrat.
»Sie war fit und gesund – ein bisschen untergewichtig, aber in tolerierbarem Rahmen. Weitergehende Analysen und Untersuchungen folgen noch, das betrifft auch Fremd-DNA. Darüber hinaus habe ich deutliche Spuren von Gewaltanwendung festgestellt. Sie wurde brutal zusammengeschlagen, auch der Versuch einer Vergewaltigung ist herleitbar.«
»Können Sie das genauer erläutern? Es fällt mir gerade schwer, den Bericht in jedem Detail nachzulesen«, ergriff Romy wieder das Wort.
»Natürlich. Der Täter war diesbezüglich unentschlossen, oder er wurde gestört«, erklärte Möller. »Das schließe ich aus den nicht ganz eindeutigen Verletzungen. Später womöglich mehr auch dazu. Sie hören von mir.«
»Danke, Doktor.« Romy verabschiedete sich und steckte ihr Handy ein. Sie drehte sich zu Reymann um. »Hast du den rechtsmedizinischen Bericht gelesen?«
Er hob den Blick und nickte. »Die Techniker suchen heute im erweiterten Umfeld des Kreidemuseums nach Spuren«, berichtete er. »Nicht auszuschließen, dass der Täter diese Nebenwege genutzt hat, ohne dass es großartig aufgefallen ist. Ich habe mich da gestern gründlich umgesehen, fotografiert, ein bisschen Müll eingesammelt. Es soll Leute geben, die einen Mord begehen und eine Stunde vorher oder dreißig Minuten danach ein Würstchen essen und dann die Pappe wegschmeißen – oder einen Kaugummi, Kaffeebecher. Oder sie müssen ins Gebüsch, weil die Aufregung ihnen auf den Darm geschlagen ist. Und manchmal bringen uns solche Spuren weiter.« Er zuckte mit den Achseln. »Unappetitlich, aber trotzdem wahr.«
Abgesehen von der bemerkenswert ausführlichen Schilderung in lakonischem Ton hatte Reymann durchaus recht. Er hatte sich zudem nicht lange bitten lassen und Romys Aufforderung vom Vortag sofort umgesetzt. Vielleicht ist es ganz einfach – der Kollege bekommt seine Sonderaufgaben, die er zuverlässig und im Alleingang erledigt, und wir können uns aus dem Weg gehen, dachte sie.
»Irgendwelche Ergebnisse von der Videoüberwachung?«, fragte er.
»Max tauscht sich gerade mit den Stralsundern aus und sammelt die bislang identifizierten Fahrzeuge in einer seiner berühmt-berüchtigten Tabellen. Falls es eine Überschneidung gibt, wird er sie entdecken.«
»Der Typ hat sich nicht erfassen lassen – oder die Typen.«
»Ein Abgleich ist trotzdem Routine.«
»Und bindet viel Zeit und Ressourcen, die wir nicht haben.«
»Den Aspekt kannst du gerne mit Jan diskutieren. Oder mit dem Staatsanwalt.«
Reymann lächelte süffisant. »Schon gut. Aber wir wissen doch längst, dass hier jemand zu Werke gegangen ist, der weiß, wie man unter dem Radar bleibt.«
»Natürlich steht der Verdacht im Raum. Doch da der Zeitrahmen der Überprüfung bereits erweitert wurde, könnten wir dennoch eine Chance haben. Falls sich jemand letzte Woche gründlich umgesehen hat, ist er womöglich erfasst worden – und wir haben die Möglichkeit, später eine Verbindung herzustellen.« Romy gab sich Mühe, sachlich und konzentriert zu klingen, aber sie wusste selbst, dass ihr Ton eine Spur zu energisch war, um als beiläufige Erwiderung und Diskussionsbeitrag durchzugehen. Ihr Puls war bereits um fünf Schläge erhöht. Ich sollte dringend an meiner Gelassenheit arbeiten, insbesondere wenn ich mit diesem Kollegen spreche, dachte sie.
»Diese Leute kennen sich sehr wahrscheinlich bestens mit Polizeiarbeit aus«, wandte Reymann ein. »Das heißt, dass sie unsere Vorgehensweise natürlich einkalkuliert haben.«
»Wir machen alle Fehler, und die Tatsache, dass wir den Tätern – oder dem Täter – aus einem uns angeblich bekannten Umfeld von vornherein beste Chancen zugestehen, uns auszutricksen und mit den eigenen Waffen zu schlagen, sollte uns nicht lähmen.«
»Das lähmt mich nicht. Aber wir brauchen garantiert ein bisschen mehr, vorzugsweise intelligente Ansätze.« Reymann verschränkte die Arme vor der Brust.
»Unsere Dienststelle ist durchaus bekannt dafür, bei Bedarf über 0815‑Modelle hinauszugehen.«
»Stimmt, davon habe ich auch schon gehört.« Reymann hob einen Daumen. »Ich bin erleichtert, dass es sie noch gibt – die kreativen Köpfe.«
Romy durchzuckte einen Moment der innige Wunsch, ihn mit einer heftigen Bemerkung in die Schranken zu weisen, aber sie presste die Kiefer aufeinander und hob das Kinn. »Du hast es erfasst. Und genau darum bist du hier, oder?«
»Gut möglich.«
Sie starrten sich einen Augenblick stumm an.
»Zurück zum Fall«, sagte Romy schließlich. »Gibt es noch einen Vorschlag von deiner Seite, über den wir sprechen sollten?«
Reymann nickte. »Sie könnte sehr wohl betäubt gewesen sein …« Er hob eine Hand, um Romys Einwand zu verhindern. »Während des Transportes dürfte man ihr etwas verabreicht haben, das am nächsten Tag nicht mehr nachweisbar war. Das macht es einfacher und mindert das Risiko – so dürfte die Überlegung eines Profis gelautet haben. Hätte sie sich bereits während der Fahrt gewehrt, gäbe es Spuren, die Möller garantiert entdeckt hätte. Sie lag friedlich schlafend im Auto, bis es so weit war, darauf würde ich glatt wetten.«
»Es wurde so dosiert, dass die Wirkung zum richtigen Zeitpunkt nachließ«, murmelte Romy nachdenklich.
»So würde ich vorgehen, wenn mir daran läge, geringes Risiko und eine grausame Tat zu verbinden, die Aufsehen erregt und Bestürzung hervorruft.« Reymann wartete einen Moment auf Romys Erwiderung. Als sie schwieg, fuhr er sich mit einer Hand übers Kinn. »Ich versetze mich immer in die Arschloch-, Verzeihung: Täterperspektive.«
Das passt, dachte Romy. »Und doch könnte es anders gewesen sein«, meinte sie. »Sie kannte den Täter und hat nichts Böses geahnt.«
»Warum sollte sie nachts mit jemandem auf das Gelände des Kreidemuseums gehen, ohne eine Falle zu befürchten?«
»Berechtigte Frage«, gab Romy zu. »Und womöglich findet sich darauf durchaus noch eine schlüssige Antwort.« Sie sah zur Seite, als Max eintrat.
»Wir haben einen Zeugenaufruf gestartet – mit einem retuschierten Foto natürlich«, berichtete er mit Blick auf sein Tablet.
Dabei wird nichts herauskommen – die Frau hat sich versteckt, wo auch immer –, aber auch in diesem Fall galt es, die übliche Routine einzuhalten, denn manchmal spielte der Zufall eine wichtige Rolle, und ein neugieriger Nachbar, eine aufmerksame Beobachterin lieferte einen entscheidenden Hinweis. Romys Handy vibrierte. Sie stand auf und ging in ihr Büro, als sie Jans Profilbild erkannte. Sie war dankbar für die Unterbrechung. »Ich hoffe, ihr habt was für uns«, sagte sie, während sie die Tür schloss und sich setzte.
»Mal sehen … Im OK‑Team hatten wir seinerzeit einen Kollegen von Rolf Thiel länger ins Visier genommen. Ich ging davon aus, dass er mehr über die Machenschaften wusste, denn die beiden kannten sich von Fortbildungen und waren privat befreundet. Richard Kehl hat damals im Innendienst in Schwerin gearbeitet. Eine versteckte Zusammenarbeit war durchaus eine These, die uns beschäftigte. Doch die Ermittlungen brachten keine Hinweise. Kehl ist Frühpensionär, mittlerweile Single. Wir haben seine Adresse ausfindig gemacht. Er lebt jetzt auf der Insel, und ich finde …«
»Gute Idee!«
»Die Kontaktdaten sind schon unterwegs zu euch. Und mach das bitte nicht alleine.«
»Hier sind alle beschäftigt«, behauptete Romy schnell. »Wir müssen da nicht zu zweit aufkreuzen, um ein bisschen mit dem Ex-Kollegen zu plaudern.«
Kurzes Schweigen. »Du wirst Reymann nicht ständig aus dem Weg gehen können«, meinte Jan schließlich.
»Ich bin kreativ, das weißt du doch.«
»Romy …«
»Wie sehen die nächsten Schritte aus?«, warf sie rasch ein.
»Wir überprüfen die Mitarbeiter des Kreidemuseums, einschließlich der Leute, die dort nicht mehr arbeiten – Max wird sich dabei auch einbringen«, erwiderte Jan nach kurzer Pause. »Und ich fahre später noch mal in die JVA. Berthold scheint es besser zu gehen. Es kann nicht schaden, mit ihm zu sprechen, solange er noch nicht wieder hundertprozentig fit ist.«
»Gut, wir bleiben in Kontakt. Bis dann.«
Romy brach wenig später auf. Sie spürte Reymanns Blick im Rücken, als sie die Dienststelle verließ. Er würde später in die Kriminaltechnik fahren und sich mit Marco Buhl abstimmen. Das klang nach einer perfekten Arbeitsteilung.
Richard Kehl lebte seit einigen Jahren gut zwanzig Kilometer nördlich von Bergen in Jabelitz, direkt an der Neuendorfer Wiek in einem kleinen Bauernhaus – geerbt von einem Onkel, der keine anderen Verwandten hatte, wie Max noch in Erfahrung brachte, während Romy Bergen in Richtung Norden verließ. Hinter Trent bog sie nach Osten ab. Jabelitz war ein winziger Ort, genauer gesagt ein Ortsteil von Trent. Der Name stammte aus dem slawischen »Jablica« und bedeutete Apfel – das hatte ihr Kollege Kasper mal erzählt, als sie noch gemeinsam auf der Insel unterwegs gewesen waren. Das waren noch Zeiten. Romy lächelte. Erstaunlich, was das Gehirn so alles abspeicherte.
Sie hielt vor einem verwitterten Häuschen an einem Feld; dahinter lag die Wiek. Sie stieg aus und atmete tief ein – ein beschaulicher Ort. Auf einer Bank neben der Eingangstür saß ein Mann und blickte ihr entgegen. »Haben Sie sich verfahren?« Er stand langsam auf.
»Ich schätze nicht. Falls Sie Richard Kehl sind, bin ich genau richtig hier.« Romy zückte ihren Ausweis, während Kehl nähertrat. Der Mann war Mitte fünfzig, die letzte Rasur lag viele Tage zurück, seine Arbeitshose war ebenso fleckig wie die Schirmmütze. Davon abgesehen wirkte er deutlich älter und etwas abgezehrt. Er war wohl nicht ohne Grund in Frühpension gegangen.
Kehl musterte den Ausweis und fixierte dann Romy. »Was habe ich angestellt?«
Romy lächelte. »Das kann ich nicht beurteilen. Ich würde mich gerne einen Moment mit Ihnen unterhalten.«
»Um was geht es?«
»Um Julia Schorrer.«
Seine Miene blieb gleichmütig. »Habt ihr den Fall neu ausgegraben, weil es gerade nichts anderes zu tun gibt?«
»So kann man das nicht sagen«, erwiderte Romy. »Es gab einen Leichenfund.«
Kehl hob den Kopf.
»Davon dürften Sie gehört haben.«
»Die Tote im Kreidemuseum?« Er sah sie erstaunt an. Einen Moment schien sein Blick zu flattern.
Romy nickte. »Sie wurde ermordet.«