Kreis und Punkt - Annette Pichler - E-Book

Kreis und Punkt E-Book

Annette Pichler

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Beschreibung

Die von Rudolf Steiner entwickelte Punkt-Kreis-Meditation spielt bis heute eine zentrale Rolle für die anthroposophische Heilpädagogik. Annette Pichler entwickelt die Grundbedingungen für gelingende Arbeit mit der Punkt-Kreis-Meditation in der pädagogischen Praxis, die heute im Zeichen von Inklusion, Teilhabe und größtmöglicher Selbstbestimmung von Menschen mit Assistenzbedarf steht. Darüber hinaus geht es der Autorin darum, die anthroposophische Heilpädagogik zur selbstkritischen Reflexion ihrer Ursprünge anzuregen. Sie erarbeitet eine kritische Analyse einer von Steiner auf Basis des Punkt-Kreis-Motivs vorgenommen Diagnose und Therapieverordnung. Das Buch schließt mit einem Aufruf zur wissenschaftlichen Bearbeitung weit verbreiteter Grundannahmen, wie zum Beispiel die, dass Gemeinschaften eine ideale Lebensform für Menschen mit Assistenzbedarf darstellen. Ein engagierter Beitrag für eine zeitgemäße anthroposophische Heilpädagogik. /// „Ich gehe davon aus, dass Steiner Anthroposophie als einen graduellen Prozess, eine Art dauerhaften Wahrnehmungs-Versuch, verstanden hat, in dem Irrtümer nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich sind.“ Annette Pichler

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Annette Pichler Kreis und Punkt Eine kritische Analyse zum Heilpädagogischen Kurs Rudolf Steiners (Reihe Kontext Band 20)

ISBN E-Book 978-3-95779-210-5ISBN gedruckte Version 978-3-95779-209-9Diesem E-Book liegt die erste Auflage 2024 der gedruckten Ausgabe zugrunde.E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage 2024

© Info3 Verlagsgesellschaft Brüll & Heisterkamp KG, Frankfurt am Main 2024

Lektorat: Jens Heisterkamp, Frankfurt am Main Umschlag: Frank Schubert, Frankfurt am Main Unter Verwendung einer Wandtafelzeichnung von Rudolf Steiner Satz: Ulrich Schmid, de∙te∙pe, Aalen

Bildnachweis der Wandtafelzeichnungen:

Über dieses Buch

Ich gehe davon aus, dass Steiner Anthroposophie als einen graduellen Prozess, eine Art dauerhaften Wahrnehmungs-Versuch, verstanden hat, in dem Irrtümer nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich sind.

Annette Pichler

Die von Rudolf Steiner entwickelte Punkt-Kreis-Meditation spielt bis heute eine zentrale Rolle für die anthroposophische Heilpädagogik. Annette Pichler entwickelt die Grundbedingungen für gelingende Arbeit mit der Punkt-Kreis-Meditation in der pädagogischen Praxis, die heute im Zeichen von Inklusion, Teilhabe und größtmöglicher Selbstbestimmung von Menschen mit Assistenzbedarf steht.

Darüber hinaus geht es der Autorin darum, die anthroposophische Heilpädagogik zur selbstkritischen Reflexion ihrer Ursprünge anzuregen. Sie erarbeitet eine kritische Analyse einer von Steiner auf Basis des Punkt-Kreis-Motivs vorgenommen Diagnose und Therapieverordnung.

Das Buch schließt mit einem Aufruf zur wissenschaftlichen Bearbeitung weit verbreiteter Grundannahmen, wie zum Beispiel die, dass Gemeinschaften eine ideale Lebensform für Menschen mit Assistenzbedarf darstellen.

Ein engagierter Beitrag für eine zeitgemäße anthroposophische Heilpädagogik.

Über die Autorin

Annette Pichler leitet die Akademie AnthropoSozial, eine Fachschule für Sozialwesen mit zwei Standorten im Raum Stuttgart. Sie ist seit 2020 im Vorstand von Anthropoi Bundesverband und seit 2024 Vorsitzende der Ständigen Konferenz der Ausbildungsstätten für Heilpädagogik. Sie ist Psychologin (MSc) und Heilerziehungspflegerin und war von 1990 bis 2003 in einer anthroposophischen Dorfgemeinschaft tätig.

Inhalt

Vorwort

1 Einführung

1.1 Schärfer trennen und inniger verbinden

1.2 Hinweis zur Entstehungsgeschichte des Textes

1.3 Hintergrund, Zielrichtung und Gliederung des Textes

1.4 Der Kreis ist ein Punkt, der Punkt ein Kreis: Die Einführung der Punkt-Kreis-Meditation am 5. Juli 1924

2. Punkt und Kreis als Motiv bei Steiner

2.1 Die Punkt-Kreis-Meditation als Weg zum Selbst und zum Gegenüber

2.2 Die Punkt-Kreis-Meditation als Weg zum Göttlichen

2.3 Punkt und Kreis als Grundmotive in anderen Werken Steiners

2.4 Punkt und Kreis als Grundlage von Wiederverkörperung

3. Die Punkt-Kreis-Meditation und ihre Zielsetzungen

3.1 Die Punkt-Kreis-Meditation als Ergebnis von Steiners phänomenologischer Betrachtung im Heilpädagogischen Kurs

3.2 Die Punkt-Kreis-Meditation als Instrument der Kompetenzentwicklung

4. Eine Punkt-Kreis-Situation? Willfried Immanuel Kunert und seine Mutter Theodora Kunert

4.1 Willfried Immanuel Kunerts Lebensgeschichte

4.2 Die Stimme von Theodora Krück von Poturzyn

4.3 Steiners Diagnose der Situation von Willfried Immanuel und Theodora Kunert

4.4 Steiners Therapieansätze zur Situation von Willfried Immanuel Kunert

5. Eine Punkt-Kreis-Situation? Meine Analyse

5.1 Subjektive Perspektive und ethische Dilemmata

5.2 Fragestellungen und Begründung für die Analyse

5.3 Analyse von Steiners Diagnose – Methodischer Aspekt

5.4 Analyse von Steiners Diagnose – Inhaltlicher Aspekt

5.5 Eine Pioniersituation

5.6 Mögliche psychologische Folgen der Diagnose

6. Übersinnliche Wahrnehmung und Irrtum

6.1 Steiners Diagnose im Kontext übersinnlicher Wahrnehmung

6.2 Wahrnehmung und Irrtum im Fall von Willfried Immanuel und Theodora Kunert

7. Voraussetzungen und Potential der Punkt-Kreis-Meditation

7.1 Entstehungsbedingungen intuitiven Handelns

7.2 Entwicklung von Gefühlsregulation und Selbstwahrnehmung

7.3 Das Potential der Punkt-Kreis-Meditation: Im Zwischenraum sein

8. Ausblick: Anthroposophische Heil- und Inklusionspädagogik und ihre Herausforderung im Jahr 2024

8.1 Problematische Diskurse in der anthroposophischen Heil- und Inklusionspädagogik

8.2 Die Aufarbeitung von Leid und Gewalt und ein neues Selbstverständnis

9. Literatur

10. Anmerkungen

Vorwort

Einhundert Jahre ist es her, dass Rudolf Steiner mit den zwölf Vorträgen des Heilpädagogischen Kurses eine Grundlage für die Heilpädagogik als Praxisfeld der Anthroposophie gelegt hat. Neben der Würdigung dieses Impulses gehört zu einer zeitgemäßen Einordnung jedoch auch eine dauerhaft etablierte, kritische Auseinandersetzung mit dem Werk Steiners und daraus abgeleiteten Diskursen und erneuerten Methoden. Das umfasst eine historischforschende Perspektive auf die Rahmenbedingungen des Gründungsimpulses und seine nicht widerspruchsfreie und streckenweise problembehaftete Rezeption in den Jahrzehnten danach. Nicht widerspruchsfrei war diese Rezeption, weil einerseits der menschliche, zugewandte Blick und der unbedingt entwicklungsorientierte Ansatz Steiners aus gutem Grund früh als wegweisend für die Entfaltung von Unterstützungsangeboten für Menschen mit Assistenzbedarf erkannt wurde, andererseits jedoch die Durchdringung der zwölf Vorträge mit schwer verständlichen und auch teilweise befremdlich-rätselhaft anmutenden Setzungen und Behandlungsempfehlungen vielfach zu einer selektiven Lesart führte oder zu einer Ablehnung des Heilpädagogischen Kurses zugunsten einer Fokussierung auf andere menschenkundliche Werke Steiners. Problembehaftet war die Rezeption dabei sowohl aufgrund einer jahrzehntelangen unkritischen Tradierung von offenkundig wissenschaftlich und im gesellschaftlichen Diskurs überholten Aussagen, aus einer von dogmatischem Respekt vor Werk und Person Rudolf Steiners geprägten Grundhaltung heraus, als auch aufgrund der Übertragung eines ganz offenkundig auf Kinder gerichteten heilpädagogischen Blickes auch auf erwachsene Menschen mit Assistenzbedarfen. Insbesondere der letzte Umstand hat unzweifelhaft vielerorts mit zur Etablierung einer dezidiert paternalistischen Haltung gegenüber erwachsenen Menschen geführt, die die Hinwendung zu den zeitgemäßen Dimensionen von Selbstbestimmung, Gleichstellung und Empowerment erschwert und verzögert hat.

Zu einer kritisch-reflexiven Auseinandersetzung gehört unbedingt die Prüfung der Relevanz für die fachliche Arbeit nach aktuellen Standards in den mehr als sechshundert Einrichtungen und Diensten, die sich eine anthroposophische Fundierung ihrer Tätigkeit auf die Fahnen geschrieben haben.

Annette Pichler beleuchtet das Gründungs-Momentum der anthroposophischen Heil- und Inklusionspädagogik anhand des Schicksals von Wilfried Immanuel Kunert, dessen Krankengeschichte und dessen familiäres Umfeld im Heilpädagogischen Kurs eine zentrale Stellung einnehmen. Sie verknüpft dies mit einer Analyse der Punkt-und-Kreis-Meditation, die mit Recht als Grundlage einer meditativen Praxis zur Selbstentwicklung für Tätige in diesem Arbeitsfeld gelten kann.

Steiners Perspektive auf Wilfried Immanuel Kunert und seine Eltern ist auch davon geprägt, dass 1923 ein fachlich-reflektierender Blick auf die asymmetrischen Machtverhältnisse in helfenden und heilenden Berufsfeldern allenfalls in Ansätzen entwickelt war. Eine paternalistische Haltung in Diagnostik und Behandlung und in der Beziehung zwischen Patient:innen und Ärzt:innen oder Pflegenden ist damals der Regelfall gewesen und findet sich auch in der Krankengeschichte von Wilfried Immanuel Kunert. Gewiss ist Steiner und den beteiligten Ärzt:innen in dieser Hinsicht kein Vorwurf zu machen. Die Ambivalenz eines hohen Einfühlungs-, Reflexions- und Ausdrucksvermögens, gepaart mit Herausforderungen und Gefahren eines die Intellektualität überschreitenden Erkenntnisweges, der, wenn auch ungewollt, Gefolgschaft und unkritisches Übernehmen von Aussagen zur Folge hatte, verstärkten jedoch diesen Effekt. Auch der zuweilen anzutreffende Reflex, Steiner überall dort relativierend als „Kind seiner Zeit“ einzuordnen, wo in seinem Werk aus heutiger Sicht problematische oder unhaltbare Aussagen, Haltungen und Begriffe zu finden sind, greift dann zu kurz, wenn es gleichzeitig noch immer eine stellenweise verbreitete unkritische oder gar idealisierte und von dogmatischen Glaubenssätzen geprägte Rezeption des breiten Werkes gibt, die es dann eben auch ermöglicht, heute überholte Methoden unkritisch als „wahr“ oder „richtig“ in die Gegenwart zu holen oder zu tradieren. Finden diese in der konkreten sozialen oder therapeutischen Arbeit dann möglicherweise Anwendung, wird die Notwendigkeit des hier vorliegenden Diskursbeitrages umso deutlicher.

Im vorliegenden Text wird ein Weg aufgezeigt von der kritischen Reflexion der Vergangenheit hin zu einer zeitgemäßen fachlichen Neubewertung und Transformation des Zugangs zur Punkt-und-Kreis-Meditation als individuellem, achtsamem und reflektiertem Haltungsansatz für Tätige in sozialen Handlungsfeldern. Aktuelle Ansätze und Ergebnisse der Kognitions- und Neurowissenschaften machen deutlich, wie zentral zwei Ebenen des Selbsterlebens bzw. Selbstverständnisses für das menschliche Sein und seine Entwicklung sind: Einerseits eine nach innen gerichtete, integrierende, reflektierende Ebene (entsprechend dem zentralen Pol), andererseits das verkörperte, mit der Welt verbundene, handelnde Selbst (entsprechend dem peripheren Pol). Werden erprobte Praktiken der Meditation und Kontemplation zum Gegenstand dieser Forschung, zeigt sich, welch bedeutsame Rolle die Fähigkeit der Aufmerksamkeitslenkung für eine zwischen den Polen ausgleichende Gefühlsregulation und Selbstwahrnehmung und damit für eine als erfüllend und gesund erlebte Entwicklung ist.

Die innere Geste einer Neubewertung und Transformation lässt sich auch auf die Visionen einer zeitgemäßen breiten gesellschaftlichen Weiterentwicklung von Gemeinschaft übertragen, einem zentralen Ideal des anthroposophischen Sozialwesens. Das kann gewissermaßen der spirituell impulsierte, ideelle Rahmen sein für die im Zusammenhang mit der UN-Behindertenrechtskonvention geforderte Deinstitutionalisierung.

Dabei zeigt sich, dass die gewählte Schrittfolge orientierend für einen breiteren Prozess werden kann. Die Auseinandersetzung mit dunklen Flecken, mit vielleicht auch unbewusst in der Vergangenheit des anthroposophischen Sozialwesens tabuisierten Fragen und der Mut, den Finger in die Wunde zu legen, Tabus und Traumata aufzudecken und ihnen dadurch die Wirkmächtigkeit zu entziehen, werden zu einer Eingangsvoraussetzung für eine ehrliche Standortbestimmung. Gleichzeitig wird im nächsten Schritt durch eine eingehende Analyse der seelischen und mentalen Voraussetzungen für eine gelingende meditative Praxis des Einzelnen, hier der Punkt- und-Kreis-Meditation, der Transformationsprozess deutlich, der für eine zeitgemäße anthroposophisch inspirierte Heil- und Inklusionspädagogik über den Einzelnen hinaus im Feld notwendig ist. Gerade die unbedingte Anerkennung der individuellen Selbstbestimmung des Gegenübers und der offene Raum für Empowerment in der sozialtherapeutischen Begegnung verlangen intuitive Wachheit für die eigene Vulnerabilität, Betroffenheit und Subjektivität, anstelle von Habituation im Umgang mit anthroposophischen Quellen, unbedarftem Paternalismus und unreflektierter Projektion.

Hier gilt für die innere Haltung von Tätigkeiten in diesen Berufsfeldern gleichermaßen, was Leander Palleit, Leiter der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention beim Deutschen Institut für Menschenrechte bei der Jahrestagung 2024 von Anthropoi Bundesverband sinngemäß zu den äußeren Verwirklichungsvoraussetzungen einer inklusiven Gesellschaft formuliert hat: Sie gelingt nicht ohne eine Transformation bestehender (Denk-)Systeme und auch nicht ohne ein aktives gestalterisches Ergreifen.

Die Punkt-und-Kreis-Meditation kann unter den in diesem Buch beschriebenen Voraussetzungen ein methodisches Werkzeug darstellen, das es dem Einzelnen ermöglicht, die nötige Haltung für die Transformation des Berufsfeldes zu erlernen. Und: „Ein weiterer Bildungswert besteht in dem konsequenten Ablegen esoterischer Vermessenheiten und Inanspruchnahmen.“1

Mehr Diskursbeiträge wie der des vorliegenden Bandes sind indes nicht nur für die fachliche Entwicklung des anthroposophischen Sozialwesens wichtig, sondern für alle von der Anthroposophie inspirierten Praxisfelder.

Benjamin Andrae und Manfred Trautwein

Benjamin Andrae war als Pädagoge, Dozent, Einrichtungsleiter, Geschäftsführer und systemischer Organisationsberater viele Jahre im anthroposophischen Sozialwesen tätig. Von 2020 bis 2024 war er Mitglied des Vorstands von Anthropoi Bundesverband.

Manfred Trautwein war ebenfalls langjährig als Pädagoge, Lehrer, Kunsttherapeut, Einrichtungsleiter, Berater und Geschäftsführer im anthroposophischen Sozialwesen beschäftigt. Seit 2002 ist er Geschäftsführer von Anthropoi Bundesverband.

Anthropoi Bundesverband ist die Kurzbezeichnung für: Bundesverband anthroposophisches Sozialwesen e.V.

1. Einführung

1.1 Schärfer trennen und inniger verbinden

„Reifer werden heißt, schärfer trennen und inniger verbinden.“ Dieses Zitat von Hugo von Hofmannsthal verweist auf einen Entwicklungsprozess, der in den letzten Jahren auch in der anthroposophischen Bewegung deutlicher sichtbar wird. Publikationen wie Die Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie (Schieren, 2011), In okkulter Gefangenschaft? (Kiersch, 2015), Zumutung Anthroposophie (Müller, 2021), Nachgefragt: Anthroposophie (Müller, 2021) oder auch die Veröffentlichung des kritischen Aufsatzes Schattenseiten. Anthroposophen in der Corona-Krise des Philosophen Roland Kipke in der Zeitschrift Sozialimpulse (Kipke, 2021) zeugen von einem zunehmenden Anliegen der Anthroposophie, einen kritischen Blick auf sich selbst zu werfen – schärfer trennen – und dabei zugleich eine mehr realistische und echte Selbstwahrnehmung zu entwickeln: inniger verbinden. Gleichzeitig weitet sich in diesem Prozess der Blick auf sich selbst, und Anthroposophie wird damit auch für Außenstehende greifbarer, verständlicher und zugänglicher.

Einen ähnlichen Weg versuche ich mit dem vorliegenden Text einzuschlagen. Während die oben genannten Autoren sich mit der Anthroposophie im Allgemeinen und sich daraus heute ergebenden Fragestellungen auseinandersetzen, geht es im Folgenden um eines der auch durch die Anthroposophie in den letzten Jahrzehnten maßgeblich mit entwickelten Lebens- und Berufsfelder, nämlich die professionelle Arbeit mit Menschen jedweden Lebensalters, die eine Behinderung oder sonstige erschwerende biographische Bedingungen – wie z. B. eine Traumatisierung mit anschließender seelischer Behinderung – erleben.

Um dieses Feld zu verstehen, sind zunächst einige Begriffsklärungen notwendig: Ich werde im Text weitestgehend den Begriff „Heil- und Inklusionspädagogik“ verwenden, bei fachlichen oder historischen Referenzen, z. B. auf den Heilpädagogischen Kurs Rudolf Steiners, auch den Begriff „(heil)pädagogisch“. Damit möchte ich verdeutlichen, dass Menschen in bestimmten Lebenssituationen durchaus von heilpädagogischer Haltung, heilpädagogischen Kontexten und heilpädagogischen Förderansätzen profitieren können, dass diese aber nicht in eine dauerhafte „Sonderwelt“ führen dürfen, sondern letztlich nur in einer auf Inklusion verpflichteten Gesellschaft Sinn machen. Dass dies ein Kapitel für sich ist, dem dieser Text nicht gerecht werden kann, ist mir sehr bewusst. Ebenso ist mir bewusst, dass der Begriff „Pädagogik“ für die Arbeit mit erwachsenen Menschen problematisch ist. Da das staatlich anerkannte Berufsbild von Heilpädagog:innen in Deutschland jedoch nicht auf die Arbeit mit Kindern beschränkt ist, habe ich mich für diese Unschärfe entschieden und meine in diesem Text mit Heil- und Inklusionspädagogik immer auch die Arbeit mit betroffenen Erwachsenen, also die Tätigkeit im Sozialwesen.2

Mit diesem Versuch einer Begriffsklärung bin ich zugleich schon mitten im Thema. Denn zwar lässt sich innerhalb bestimmter Kategorien, z. B. medizinisch, psychologisch oder rechtlich, definieren, ob ein Mensch von einer Behinderung oder auch einer psychischen Erkrankung betroffen oder bedroht ist; die tatsächlichen Zusammenhänge sind aber häufig weit komplexer und können durch eine Kategorisierung nicht zufriedenstellend beschrieben werden. Durch die 2008 in Kraft getretene UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung (Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2008) sowie die beginnende Aufarbeitung von Sekundärtraumata der Nachkriegsgeneration (vgl. Bode, 2016; Reddemann, 2018) hat in der Gesellschaft das Bewusstsein zugenommen, dass Einteilungen wie „behindert“ vs. „nicht behindert“ oder auch „psychisch gesund“ vs. „psychisch krank“ zwar z. B. zum Herstellen eines Rechtsanspruchs auf Unterstützung, Therapie oder Pflege nötig sind, aber letztlich nicht zufriedenstellend sein können. Im Sinne des heutigen inklusiven Paradigmas lassen Menschen sich nicht einfach in solche mit oder ohne Behinderung, Erkrankung etc. einteilen, sondern es geht immer um eine möglichst genaue, stets fragende und kontinuierlich zu aktualisierende Wahrnehmung eines konkreten, einzigartigen Individuums.

Auf die Unmöglichkeit einer kategorialen Unterscheidung zwischen Menschen mit und Menschen ohne Behinderung hat Rudolf Steiner bereits in den ersten Minuten seines Heilpädagogischen Kurses hingewiesen, indem er äußerte: „Man möchte sagen, irgendwo in einer Ecke sitzt bei jedem Menschen im Seelenleben zunächst eine sogenannte Unnormalität.“ (Steiner, 1995, GA 317, S. 11)3 Es ist also möglich, dass Steiner – der im Heilpädagogischen Kurs auch stets von „Erziehern“ und nicht von Heil-, Spezial- oder Sonderpädagogen sprach – das Punkt-Kreis-Motiv, um das es in diesem Text gehen soll, als ein universales Motiv jeglicher Pädagogik sah, auch wenn er es in dieser speziellen Form (vgl. Kapitel 3.2) erst während des Heilpädagogischen Kurses entwickelte. Entsprechend richtet sich der vorliegende Text keineswegs nur an Menschen, die in der Heil- und Inklusionspädagogik tätig sind, sondern grundsätzlich an alle diejenigen, die sich für die Begegnung mit dem Mensch-Sein an sich interessieren.

1.2 Hinweis zur Entstehungsgeschichte des Textes

Im Sommer 1924, zwischen dem 25. Juni und dem 7. Juli, hielt Rudolf Steiner in Dornach zwölf Vorträge, die seitdem als Heilpädagogischer Kurs bekannt sind. Dem vorausgegangen waren eine Anfrage der drei Erzieher Franz Löffler, Siegfried Pickert und Albrecht Strohschein sowie ein Besuch Steiners in deren heilpädagogischer Initiative Lauenstein bei Jena. Basierend auf dem Heilpädagogischen Kurs entwickelte sich eine weltweite anthroposophisch inspirierte Tätigkeit in der heil- und inklusionspädagogischen sowie sozialen Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinderungen (Frielingsdorf et al., 2013).

Im Zentrum des Heilpädagogischen Kurses steht der Punkt-Kreis-Gedanke, der zum einen im 3., 4. und 5. Vortrag der Reihe als Beschreibung eines dynamischen Wesensgliedergefüges erscheint, zum anderen - und eng damit zusammenhängend – im 10. Vortrag als Punkt-Kreis-Meditation. Zum Punkt-Kreis-Gedanken gibt es bereits etliche Publikationen. Den ursprünglichen Ausgangspunkt des vorliegenden Textes stellte eine Zusammenfassung dieser Publikationen sowie deren Einordnung in das Gesamtwerk Steiners und in aktuelle Paradigmen und Diskurse für einen Beitrag zur Punkt-Kreis-Meditation in einem Sammelband anlässlich des 100-jährigen Bestehens des Heilpädagogischen Kurses dar.

Im Verlauf meiner ersten Recherchen wurde mir jedoch bewusst, dass ich die Thematik der Punkt-Kreis-Meditation nicht ohne Bezug zur Situation des während der Vortragsreihe vorgestellten Kindes, Willfried Immanuel Kunert, würde bearbeiten können. Denn Steiner stellte im Heilpädagogischen Kurs einen Bezug zwischen der schweren Erkrankung von Willfried4 und der Situation seiner Mutter Theodora Kunert einerseits sowie dem Punkt-Kreis-Motiv andererseits her. Dieser Bezug verleiht der Situation der Familie Kunert meines Erachtens eine Schlüsselfunktion für die Analyse der Punkt-Kreis-Meditation. Überdies ist die damalige „therapeutische“ Anweisung Steiners, Willfried als sieben Monate altes Baby sofort abzustillen und möglichst große Zeiträume in einen dunklen Raum zu legen (Steiner, 1995, S. 135f.; Krück von Poturzyn, 1968), mindestens befremdlich. Aus dieser Ausgangssituation ergab sich für mich die Notwendigkeit, die von Steiner mit Verweis auf den Punkt-Kreis-Gedanken erstellte Diagnose und Therapie für Willfried einer gründlichen Analyse zu unterziehen.

Die Auseinandersetzung mit der Thematik führte mich letztlich weiterführend zu einer kritischen Analyse von Steiners Einschätzung der Situation von Willfrieds Mutter Theodora Kunert sowie der größtenteils aus dieser Einschätzung abgeleiteten Diagnose und Therapie. Mit dem hier vorliegenden Text nehme ich daher nicht nur, wie ursprünglich geplant, eine Darstellung und Einordnung der Punkt-Kreis-Meditation vor, sondern entwickle auch eine kritische Perspektive auf die konkrete Situation von Menschen, die während des Heilpädagogischen Kurses vorgestellt wurden. Ziel ist es, die enge Verbindung dieser beiden Themen sowie die dabei sichtbar werdende Notwendigkeit einer kritischen Auseinandersetzung der heutigen anthroposophischen Heil- und Inklusionspädagogik mit ihren eigenen Wurzeln herauszuarbeiten.

Ehe ich nun in die Thematik einsteige, möchte ich noch darauf hinweisen, dass die Arbeit am vorliegenden Text aufgrund meiner tiefen biographischen Verbindung mit der anthroposophischen Heil- und Inklusionspädagogik für mich auch eine sehr persönliche war, die mich an Grenzen geführt und außerordentlich herausgefordert hat. Daher war es mir von Anfang an ein zentrales Anliegen, den eingangs beschriebenen Weg des schärferen Trennens bei gleichzeitig innigerer Verbindung so klar wie möglich zu gehen. Auch deshalb, und um den inneren Prozess zumindest im Ansatz transparent zu machen, habe ich immer wieder die Ich-Form gewählt und versuche im Text, auch meine subjektive Bedingtheit im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit der Thematik zu reflektieren.

1.3 Hintergrund, Zielrichtung und Gliederung des Textes

Die zwischen dem 25. Juni und dem 7. Juli 1924 gehaltenen Vorträge zur Heilpädagogik enthalten einige der rätselhaftesten Äußerungen Rudolf Steiners, und folglich hat sich über die seitdem vergangenen 100 Jahre eine ganze Reihe von Autor:innen mit deren Interpretation auseinandergesetzt. Dabei ging es jeweils darum, die komplexen von Steiner beschriebenen Zusammenhänge zu explizieren, mit aktuellen Fragestellungen oder Erkenntnissen in Beziehung zu setzen oder auch in eine heutige Sprache zu bringen und damit leichter zugänglich zu machen. Allerdings scheint mir das Anliegen dieser Darstellungen primär eine Auslegung, Verdeutlichung oder zeitgemäße Aktualisierung des von Steiner Gesagten zu sein und eher nicht eine stärkere Differenzierung oder gar kritische Weiterentwicklung. Dies ist ein bemerkenswerter Unterschied im Vergleich zu anderen, und ungefähr zeitgleich zur Anthroposophie entstandenen Denkrichtungen, z. B. in der Psychologie.

Ohne hier auf deren Geschichte und Entwicklung genau eingehen zu können, lässt sich zumindest feststellen, dass kritische Stimmen innerhalb dieser Ansätze in der Regel wesentlich schneller und deutlicher laut wurden. So kritisierten und differenzierten die Schüler:innen Siegmund Freuds dessen Ansatz relativ zügig und entwickelten ihn letztlich so stark weiter, dass der heutige psychodynamische Ansatz sich zwar auf seine Wurzeln zurückverfolgen lässt, jedoch auch eine deutliche Absetzung von den ersten Grundgedanken aufweist. In den letzten Jahrzehnten gelang hier sogar eine fruchtbare Auseinandersetzung der zunächst als einer ihrer Kontrapunkte entstandenen Bindungstheorie mit der Psychoanalyse (Fonagy, 2001). Etwas länger dauerte die Differenzierung im Fall des Behaviorismus, der in seinen Wurzeln in das Jahr 1913, also ebenfalls in die Zeit Steiners, zurückgeht. Mittlerweile sind die seit den 1980er Jahren als „dritte Welle der Verhaltenstherapie“ entwickelten Ansätze stark von buddhistischen Gedanken geprägt (Heidenreich & Michalak, 2013), und ihr Zusammenhang mit den ersten behavioristischen Überlegungen wird erst bei genauerem Hinsehen sichtbar.

Demgegenüber waren, wie Johannes Kiersch (2015) eingehend dargestellt hat, kritische Stimmen in der Anthroposophie im Allgemeinen eher leise, wenn überhaupt, zu hören. Ein Grund für diesen wesentlichen Unterschied in der Herangehensweise an die Aussagen der jeweiligen Begründer einer Denkrichtung könnte daran liegen, dass die von Steiner geschilderten Zusammenhänge einen anderen Zugang brauchen als z. B. die in der damaligen Psychologie entstandenen Schulen der Psychoanalyse oder des Behaviorismus. Dies ergibt sich schon aus der Tatsache, dass Steiner versuchte, Aussagen zu einer nichtsinnlichen Welt zu machen. Hier bewege ich mich in einem Wahrnehmungsfeld, das nur individuell erfasst werden kann, was die Beurteilung von Aussagen zu den so gewonnenen Erkenntnissen erheblich erschwert (vgl. Schieren, 2011). Die Tatsache, dass Steiner diese Welt nicht als dual ansah – also nicht als getrennt von der psycho-physischen Welt, sondern als mit dieser in wechselseitiger Beeinflussung stehend (Steiner, 2013, GA 9, 1. Kapitel) – kommt erschwerend hinzu.

Es wäre jedoch bei weitem zu einfach und auch Ausdruck einiger Arroganz, die Ursache für die eher unkritische Herangehensweise der anthroposophischen Bewegung an die Aussagen ihres Begründers alleine deren teilweiser „Unsichtbarkeit“, „Komplexität“ oder gar grundsätzlichen „Richtigkeit“ zuzuschreiben. Letzten Endes führt eine solche Haltung in eine Sackgasse. Dabei geht es zum einen um den fehlenden kritischen Diskurs der Anthroposophie mit sich selbst, zum anderen um die teils mangelnde Bereitschaft der Anthroposophie zu einer Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen anderer Disziplinen aufgrund der fehlerhaften Wahrnehmung, man wisse doch schon alles, denn Steiner habe aufgrund seiner „Hellsichtigkeit“ ja alles umfassend beschrieben (Schieren, 2011; Kipke, 2021). In seiner Erörterung zur Wissenschaftlichkeit der Anthroposophie wies Jost Schieren bereits 2011 darauf hin, dass „von Vertretern der akademischen Wissenschaft ein engagierter Diskurs mit der Anthroposophie eröffnet worden“ sei, während „von Vertretern der Anthroposophie selbst ein solcher Diskurs bisher in nur geringfügigem Maße geführt worden“ sei. Schieren kritisiert eine „unkritische Übernahme von Steiners Aussagen ohne eigenständige Überprüfung, ohne eigenständige Beobachtungfähigkeit“ und konstatiert meiner Erfahrung nach zurecht: „Hier zählt der Glaube mehr als die eigene Erkenntnisbemühung.“ (Schieren, 2011, S. 102). Auch wenn Schieren dabei feststellt, dass „in den vergangenen zehn Jahren in manchen Feldern (bspw. der Waldorfpädagogik) schon ein erheblicher Wandel zu einer sachlich-kritischen Auseinandersetzung zu verzeichnen“ sei (Schieren, 2011, S. 106) – der Alltagsdiskurs innerhalb des mir bekannten Feldes der anthroposophischen Heil- und Inklusionspädagogik hat sich meiner Wahrnehmung nach bisher nur ansatzweise verändert.

Folge ich der Analyse von Kiersch, so speist sich die beschriebene unkritische und durchaus auch naive Haltung aus dem Bedürfnis einer zunächst jungen Bewegung, sich mit sich selbst wohl zu fühlen und dadurch Identität zu entwickeln. Kiersch zitiert den anthroposophischen Arzt Jürgen Schürholz: „‚Wir waren die Eigentlichen … Das war ein herrlich warmes Wir-Gefühl. In dem Maße, in dem wir begriffen, dass Anthroposophie nicht für die eigene Wärmebildung da ist, sondern für die Welt, konnte sich das nicht erhalten. Um sich zu finden, war es sicher nötig.‘“ (Kiersch, 2015. S. 95 f.). Auch ich erinnere mich an dieses Gefühl aus meiner frühen Zeit in einer Camphill-Einrichtung. Nun mag eine solche Haltung jeweils auch der persönlichen Psychodynamik geschuldet sein und tritt in dieser Form sicherlich nicht bei allen Menschen auf, die sich in anthroposophischen Kontexten bewegen. Ich weiß jedoch aus Gesprächen, dass derartige Gefühle damals von Vielen innerhalb der anthroposophischen Bewegung geteilt wurden, und sich teils auch bis heute noch halten. Selbstverständlich soll mit dieser Beschreibung keinesfalls gesagt sein, dass eine derartige Wahrnehmungsvereinfachung nicht an anderen, „nicht-anthroposophischen“ Orten genauso geschieht. Jedoch ist dies nicht Gegenstand des hier vorgelegten Textes. In jedem Fall hat die beschriebene Vereinfachungs-Dynamik, in welchem Zusammenhang auch immer sie auftritt, eine identitätsstiftende Wirkung. Kiersch trifft es ziemlich genau, wenn er schreibt: „Nie wären die ersten Schüler Steiners so unbefangen und energisch an die Arbeit gegangen, wie sie es unter armseligen Lebensverhältnissen erfolgreich getan haben, nie hätten sie auf allen Lebensfeldern so fruchtbare Institutionen begründet und Reformgedanken ausgebreitet, wenn sie allein aus der Perspektive kritischer Distanz, die inzwischen unentbehrlich geworden ist, hätten handeln müssen.“ (Kiersch, 2015. S. 96)

Der Preis für diese Art der Identitätsbildung ist jedoch hoch. Kiersch weist darauf hin, dass eine differenzierte, sich nach und nach entwickelnde Wahrnehmung der Welt in einem solchen Prozess durch eine Art religiösen Glauben ersetzt wird. Dies jedoch, so Kiersch, läuft dem zentralen Anliegen Steiners nach einer durch ein Individuum in einem möglichst freien Prozess gewonnenen Erkenntnis zuwider. Kiersch arbeitet zudem heraus, dass Steiner selbst vor ebendiesen Tendenzen, Anthroposophie einfach zu glauben statt als individuellen Erkenntnisprozess aktiv zu gestalten, deutlich warnte. Er zitiert Steiner wie folgt: „Und wenn der oder jener gesagt hat: Der Doktor hat gesagt, dass es gemacht werden soll –, dann bedeutet das, dass ein solcher den freien Willen fremden Einflüssen überliefern wollte, dass er ihn nicht durch sich, sondern durch etwas anderes bestimmen lassen wollte.“ (Steiner, 1986, S. 98)

Vor diesem Hintergrund scheint es mir, 100 Jahre nach der Entstehung der anthroposophischen Heil- und Inklusionspädagogik auf Grundlage des Heilpädagogischen Kurses, mehr als geboten, deutlich kritisch zu benennen, wo während dieser Vortragsreihe getätigte Aussagen Steiners zur Situation konkreter Menschen bei genauerem Hinsehen problematisch sind. Mit dem vorliegenden Text versuche ich dies anhand des besonders eindeutigen Beispiels der Situation der Familie Kunert. Damit stelle ich, das sei gleich deutlich gesagt, keineswegs die einzigartigen und hilfreichen Elemente des Heilpädagogischen Kurses in Frage. Wie eingangs dargestellt, geht es mir vielmehr darum, schärfer zu trennen, um eine innigere Verbindung zu ermöglichen. Wie zu zeigen sein wird, ergeben sich aus meiner Analyse weiterführend eine Reihe von Fragestellungen für die gegenwärtige und zukünftige anthroposophisch inspirierte Heilpädagogik. Denn die Analyse verdeutlicht nicht nur, dass die Punkt-Kreis-Meditation bestimmter Voraussetzungen bedarf, um sinnvoll wirken zu können, sondern sie verweist auch auf die Notwendigkeit einer proaktiven und kritischen Auseinandersetzung mit historischen sowie gegenwärtigen Diskursen und Alltagspraktiken der anthroposophischen Heil- und Inklusionspädagogik.

Im Einzelnen ist der Text folgendermaßen aufgebaut: Nach einführenden Gedanken in die Punkt-Kreis-Meditation in diesem ersten Kapitel fasse ich in Kapitel 2 das Punkt-Kreis-Motiv im Heilpädagogischen Kurs und in anderen Werken Steiners zusammen und lege in Kapitel 3 Zielsetzung und Praxis der Punkt-Kreis-Meditation dar; dabei beziehe ich mich insbesondere auf die für die Thematik zentralen Ausführungen Rüdiger Grimms (Grimm, 2005, 2017) zur Punkt-Kreis-Meditation als Instrument zur Entwicklung von Achtsamkeit und Intuition.

Kapitel 4, 5 und 6 sind der Familie Kunert und ihrer Situation in den Jahren 1923 und 1924 gewidmet. Dabei stelle ich in Kapitel 4 anhand der vorliegenden Quellen zunächst die Situation von Theodora Kunert und ihrem Sohn Willfried dar. Meine Analyse dieser Quellen führt in Kapitel 5 zu einer kritischen Perspektive auf die 1924 von Steiner erstellte Diagnose und seine Therapieverordnungen. In Kapitel 6 wende ich mich dann der Frage zu, auf welcher Grundlage Steiner zu seiner damaligen Diagnose und seinem Therapieansatz kam und welche Rolle dabei eine „übersinnliche Wahrnehmung“ gespielt haben könnte.

Zusammenführend befasse ich mich in den Kapiteln 7 und 8 mit der Frage, wie wir heute mit unserem „Erbe“ umgehen können. Vor dem Hintergrund von Aussagen Steiners, dass jeder Versuch einer übersinnlichen Wahrnehmung auch zu Wahrnehmungsverzerrungen führen kann (Steiner, 2017a, GA 69e, S. 140) und eine stabile seelische Basis braucht, um dieses Risiko zu minimieren, wende ich mich in Kapitel 7 wieder der Punkt-Kreis-Meditation zu. Ich argumentiere, dass die Praxis der Punkt-Kreis-Meditation bestimmte Voraussetzungen braucht, um sinnvoll wirken und ihr volles Potential entfalten zu können. Dabei stelle ich einen möglichen Ansatz sowie dessen Umsetzung innerhalb anthroposophisch inspirierter heil- und inklusionspädagogischer und sozialer Ausbildungen vor. Daran anschließend werde ich das meines Erachtens für die Praxis durchaus relevante Potential der Punkt-Kreis-Meditation im Hinblick auf Bewusstseinsbildung in herausfordernden pädagogischen und kollegialen Situationen herausarbeiten.

Das abschließende Kapitel 8 entstand – sozusagen im Nachgang –, als mir bewusst wurde, dass sich aus meiner Analyse weiterführende Fragestellungen und Forschungsthemen im Hinblick auf Diskurse und Alltagspraktiken der anthroposophischen Heil- und Inklusionspädagogik ergeben. Dass ich die in diesem Kapitel sichtbar werdenden Themen im Rahmen dieses Textes nur sehr skizzenhaft anreißen kann, mögen mir die Leser:innen nachsehen. Für eine zukünftige, und hoffentlich weiterhin anthroposophisch inspirierte, Heil- und Inklusionspädagogik liegt hier ein Forschungsfeld offen, das einer konstruktiv-selbstkritischen Auseinandersetzung der gesamten Community, d.h. sowohl der in diesem Bereich Forschenden als auch der in diesem Feld Handelnden, bedarf.

1.4 Der Kreis ist ein Punkt, der Punkt ein Kreis: Die Einführung der Punkt-Kreis-Meditation am 5. Juli 1924

Am 5. Juli 1924, dem zehnten Tag des Heilpädagogischen Kurses, gibt Rudolf Steiner eine Darstellung, die später als Punkt-Kreis-Meditation bekannt geworden ist. Wohl die meisten Menschen, die eine anthroposophisch inspirierte heilpädagogische Ausbildung absolviert haben, kennen die dazugehörige Tafelzeichnung Steiners mit den beiden Kreisen: einer gelb mit blauem Punkt, der andere blau mit gelbem Punkt. Die Punkt-Kreis-Meditation gilt in der anthroposophisch inspirierten Heil- und Inklusionspädagogik als zentrales Instrument zur Schulung von Wahrnehmung, Einfühlungsvermögen und Intuition. Sie ist keine statisch anzuwendende Methode zur Erreichung eines vordefinierten Ziels, sondern vielmehr eine durch ihre Praxis sich entwickelnde, stets bewegliche Wahrnehmungsschulung, die durch ein Individuum vollzogen wird. Grundlage ist das Bild von Punkt und Kreis bzw. deren bewegliche, spannende und rätselhafte Dynamik.

Obwohl das Punkt-Kreis-Motiv eine gewisse Kulmination im Heilpädagogischen Kurs findet, schließt es stringent an frühere Darstellungen Steiners an. So steht es in tiefer Verbindung mit bereits früher von Steiner entwickelten Bildern zum Menschsein, z. B. in der Allgemeinen Menschenkunde (vgl. Kapitel 2.2). Innerhalb des Heilpädagogischen Kurses steht die Meditation in direktem Zusammenhang mit dem im 5. Vortrag entwickelten Menschenverständnis. Dieses stellt menschliches Sein in vier Dimensionen dar: Materie (physischer Leib), Lebens- und Bildeprozesse („Ätherleib“), Wahrnehmung und Kommunikation mit der Umwelt („Astralleib“) sowie geistige Aktivität (Ich). Dabei sieht Steiner das Ich als einerseits im Kopf innenliegend zentriert sich selbst zugewandt und andererseits in den Gliedmaßen außenliegend der Umwelt verbunden.

Abb. 1: Tafelzeichnung Heilpädagogischer Kurs, 5. Vortrag