Krise. Macht. Arbeit. - Hans-Jürgen Urban - E-Book

Krise. Macht. Arbeit. E-Book

Hans-Jürgen Urban

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Beschreibung

Klima, Globalisierung, Digitalisierung, dazu Ausbeutung und Krieg: Wohin man schaut, herrscht Krise. Aber wie hängen diese Phänomene miteinander zusammen? Wie lassen sie sich als Vielfachkrise des Gegenwartskapitalismus beschreiben? Und vor allem: Was können Gesellschaften, was können Gewerkschaften tun, um sie zu überwinden? Hans-Jürgen Urban, Vorstandsmitglied der Industriegewerkschaft Metall und profilierter Gesellschaftswissenschaftler, erläutert im Gespräch mit dem Journalisten Stephan Hebel seine Thesen zur Rolle der organisierten Arbeit im Kampf um Demokratie, globale Gerechtigkeit und Erhaltung unserer Lebensgrundlagen.

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Cover for EPUB

Hans-Jürgen Urban, Stephan Hebel

Krise. Macht. Arbeit.

Über Krisen des Kapitalismus und Pfade in eine nachhaltige Gesellschaft

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Klima, Globalisierung, Digitalisierung, dazu Ausbeutung und Krieg: Wohin man schaut, herrscht Krise. Aber wie hängen diese Phänomene miteinander zusammen? Wie lassen sie sich als Vielfachkrise des Gegenwartskapitalismus beschreiben? Und vor allem: Was können Gesellschaften, was können Gewerkschaften tun, um sie zu überwinden? Hans-Jürgen Urban, Vorstandsmitglied der Industriegewerkschaft Metall und profilierter Gesellschaftswissenschaftler, erläutert im Gespräch mit dem Journalisten Stephan Hebel seine Thesen zur Rolle der organisierten Arbeit im Kampf um Demokratie, globale Gerechtigkeit und Erhaltung unserer Lebensgrundlagen.

Vita

Hans-Jürgen Urban ist Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall und Honorarprofessor am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Stephan Hebel ist Autor, Journalist und ehemaliger Redakteur der Frankfurter Rundschau.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Vorwort

1

Gesellschaft in der Krise: Diagnosen und Debatten

2

Krise als Alltagserfahrung und Wege zur Transformation

3

Der fossile Wohlfahrtsstaat: Ein Erfolgsmodell stößt an seine Grenzen

4

Kooperation statt Konkurrenz: Aspekte einer alternativen Globalisierung

5

Das politische Mandat der Gewerkschaften und der komprimierte Öko-Reformismus: Betrieb, Gesellschaft und Politik zusammendenken

6

Die öko-soziale Wirtschaftsdemokratie: Polarstern einer transformativen Reformpolitik

7

Der Vielfalt von Diskriminierungen entgegentreten: Klassen- und Identitätsfragen als essenzielle Felder linker Wissenschaft und Politik

8

Die Mosaiklinke: Abstrakte Utopie für akademische Diskurse oder regulative Idee für die politische Praxis?

9

Die Utopie-Lücke schließen, oder: »Es fehlt uns was, das keinen Namen mehr  hat« (Volker Braun)

Literatur

Auswahl eigener Publikationen:

Veröffentlichungen weiterer Autor:innen:

Vorwort

»Die Zeit ist aus den Fugen.« Wohl nie wurde dieses Zitat aus Shakespeares Hamlet so oft strapaziert wie in der Gegenwart, und nur selten war es zugleich so passend wie heute. Unwägbarkeiten und Unsicherheit allerorten. Die Überlappung und Verschränkung von bekannten und unerwarteten Krisen schafft für alle Akteure in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik eine mehr als unübersichtliche Lage. Das gilt auch für die Soziologie, die Politik und die Gewerkschaften. Von allen drei Feldern soll im vorliegenden Gesprächsband die Rede sein, allerdings mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Fragen linker Politik und gewerkschaftlicher Strategiebildung. Dabei wird mit der dialogischen Problembearbeitung ein Format erprobt, das sich von üblichen akademischen Monografien oder Sammelbänden unterscheidet. Zugleich soll es einen lockereren Umgang mit den ansonsten unverzichtbaren Regeln exakten wissenschaftlichen Zitierens ermöglichen. Dass dennoch wissenschaftliche Diskussionsstände nicht gänzlich ignoriert werden sollen, wird an den bewusst spärlich gehaltenen Anmerkungen und Literaturhinweisen deutlich.

Den Leser:innen dieses Bandes wird nicht verborgen bleiben, dass der Antwortende in zwei Welten lebt, in der Welt der Soziologie und der Gewerkschaften. Mal antwortet der soziologisch informierte Gewerkschafter, mal der gewerkschaftsnahe Soziologe; mal dominiert der wissenschaftliche Blick und stützen sich Analysen und Antworten auf sozialwissenschaftliche Diagnosen; mal beruhen die Einschätzungen auf Erfahrungen, die aus einer jahrzehntelangen Mitwirkung an gewerkschaftlicher Praxis und Strategiedebatte hervorgehen. Ich hoffe, dass beide Sichtweisen voneinander profitieren und sich wechselseitig inspirieren.

Jedenfalls wollen die präsentierten Gedanken zwei Entwicklungen zusammenführen, an denen sich der Autor aktiv beteiligt. Einmal die erfreulicherweise wieder zunehmende Bereitschaft der Gewerkschaften, in ihren Strategiedebatten stärker den Dialog mit der kritischen Wissenschaft zu suchen und die angebotene Expertise der vielen dialogbereiten (oftmals erfreulich jungen) Wissenschaftler:innen als Bereicherung der eigenen Strategiebemühungen anzuerkennen. Zugleich wollen die Überlegungen an jener Debatte um eine öffentliche Soziologie (public sociology) anknüpfen, die die soziologische Forschung wieder näher an die gesellschaftlichen Problemlagen heranführen will, ohne die Standards guter wissenschaftlicher Praxis zu vernachlässigen. Es geht um eine Soziologie, die mit wissenschaftlichen Methoden erarbeitetes, sogenanntes evidenzbasiertes Wissen einer Politik zur Verfügung stellen will, die sich – allgemein gesprochen – dem Ziel einer gerechten Krisenbewältigung und einer besseren Gesellschaft verpflichtet weiß. Dass der Band auch ein Orientierungsangebot für die vielen Kolleg:innen aus dem gewerkschaftlichen Bereich offerieren will, die in der Tradition gewerkschaftlicher Bildungsarbeit die Theorie vor allem als Kompass für die Praxis verstehen, sei ebenfalls nicht verschwiegen.

Die Liste der Themen, über die ich mit meinem Co-Autor Stephan Hebel sprach, folgte zunächst einem vorformulierten Plan. Dieser wurde im Laufe der Gespräche freilich erweitert und modifiziert. Ziel war es, einige der zentralen Probleme zu erörtern, mit denen sich kritische Sozialwissenschaften sowie fortschrittliche Politik und Gewerkschaftsarbeit konfrontiert sehen. Dabei werden weder allgemeine Wahrheiten verkündet noch schnelle Antworten auf komplexe Sachverhalte angeboten. Stattdessen geht es um informierte und differenzierte Problemerörterungen sowie wissenschaftlich oder normativ begründete Politikvorschläge. Nicht mehr, aber auch nicht weniger ist Absicht der hier angebotenen Sicht der Dinge.

Auch dieser Band ist, wie andere Bücher, Resultat einer kollektiven Anstrengung. Allen Beteiligten sei gedankt. Immer wieder profitiere ich von den Debatten mit ehren- und hauptamtlichen Kollege:innen innerhalb und außerhalb der IG Metall und von den Begegnungen mit Studierenden, mit denen ich als Privatdozent und als Honorarprofessor am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeiten darf. Danken möchte ich auch Catharina Heppner und Eva Janetzko vom Campus-Verlag, die das Projekt von Beginn an engagiert begleitet haben. Besonderer Dank gilt aber Klaus Pickshaus und Stephan Hebel. Gemeinsam entwickelten sie die Idee, Probleme zeitgenössischer Politik nicht, wie so oft schon praktiziert, in Form einer akademischen Schrift, sondern in einem leichter zugänglichen Dialog zu bearbeiten. Eine Idee, der ich mich ohne Zögern anschließen konnte. Dabei hat Klaus Pickshaus das Projekt durch die kontinuierliche Kooperation mit dem Verlag und stets inspirierende inhaltliche Inputs vorangetrieben. Sein Beitrag zum Gelingen des Bands ist kaum zu überschätzen. Besonderen Dank schulde ich natürlich auch Stephan Hebel. Mit gelassener Souveränität führte er durch die Gespräche. Zugleich forderte er mir mit seinen stets konstruktiv-kritischen Fragen immer wieder ab, eigene Einschätzungen zu überprüfen sowie Gedanken neu zu ordnen und zu konkretisieren. Dass der Band nicht wenig von seiner redaktionellen Kompetenz und seiner beeindruckenden journalistischen Professionalität profitiert hat, sei ebenfalls hinzugefügt.

Bleibt zu hoffen, dass wir mit dem vorliegenden Produkt ein Format gefunden haben, das interessierten Leser:innen einen leicht zugänglichen Weg zu den diskutierten Fragen offeriert. Sollte der Band vor allem bei Studierenden und meinen gewerkschaftlichen Kolleg:innen das Interesse an Debatten dieser Art befördern, und sollte er gar den einen oder anderen Impuls für praktisches Handeln freisetzen, hätte sich das Ganze mehr als gelohnt. Bliebe noch festzuhalten, dass eventuelle Unzulänglichkeiten selbstredend alleine auf mein Konto zu verbuchen sind.

Hans-Jürgen Urban

Frankfurt/M., April 2023

1Gesellschaft in der Krise: Diagnosen und Debatten

Die Rechte kann sich auf die Welt, so wie sie ist, und auf Tendenzen stützen, die sich in der Krise ohnehin verstärken. Aber die Linke muss die gesellschaftliche Welt neu erfinden und das Wagnis von Politikangeboten eingehen, für die es keine Erfolgsgarantien gibt. Sie liefert ein Stück Unsicherheit in Zeiten, in denen bei vielen Menschen Sicherheit gefragt ist. Ein unfairer Wettkampf mit sehr ungleich verteilten Chancen, gewiss. Aber einfacher wird die Rückgewinnung linker Hegemonie nicht zu haben sein.

Stephan Hebel: Wir werden in diesem ersten Kapitel noch auf strukturelle Merkmale der »Vielfachkrise« kommen, in der sich der Kapitalismus gegenwärtig befindet. Aber mich würde zunächst interessieren, wie sich dieser Krisenzustand aus Deiner Sicht in der Gesellschaft spiegelt, vor allem auch in den Betrieben. Krise sei das neue Normal, sagt zum Beispiel Malu Dreyer, die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz. Gibt das aus Deiner Sicht die Stimmung in der Gesellschaft wieder?

Hans-Jürgen Urban: Die Formulierung vom »neuen Normal« hat sich mittlerweile eingebürgert, und das zunächst aus guten Gründen. Sie verweist darauf, dass es keine Rückkehr in die Vorkrisennormalität gibt. Insofern hat sie durchaus ihre Rationalität. Ich weiß aber nicht, ob der Begriff wirklich die Stimmungslage in der Gesellschaft einfängt. Schon 2012 hat das Institut für Demoskopie Allensbach aufgrund einer Umfrage die allgemeine Stimmung in der Gesellschaft als »entspannten Fatalismus« beschrieben. Die Studie entstand kurz nach der großen Finanzmarktkrise der Jahre 2008 und folgende. Auch damals tat Europa sich schwer, die Probleme zu lösen. In der Gesellschaft herrschte Krisenstimmung. In der Diagnose des »entspannten Fatalismus« waren schon Elemente angelegt, die sich heute verstärkt haben: Viele Menschen hatten den Eindruck, nicht mehr durchzublicken und die gesellschaftliche Entwicklung nicht mehr zu verstehen. Sie fühlten sich nicht wirklich gut aufgehoben bei denen, die politische Verantwortung im Land trugen.

Es waren also bereits Elemente von Resignation gegenüber den politisch Agierenden zu beobachten, die ja durch Wahlen beauftragt sind, aus Veränderungen ein »neues Normal« im positiven Sinne zu formen. Diese resignativen Momente haben sich inzwischen verstärkt, ja radikalisiert. Heute würde ich nicht mehr von entspanntem Fatalismus, sondern von einer »zornigen Resignation« sprechen. Die Aggression, die Wut und auch die Gewaltbereitschaft von Menschen, sowohl gegenüber »normalen« Mitmenschen als auch gegenüber politischen Eliten, haben sich erheblich verschärft. Das gilt auch für das damals schon angelegte Gefühl, dass »die da oben« sich nicht wirklich um »uns« kümmern. Relevante Teile der Bevölkerung, unter ihnen auch betriebliche Kolleginnen und Kollegen, signalisieren sehr deutlich, dass sie bei denjenigen eine Verletzung der Fürsorgepflicht empfinden, die sie eigentlich damit beauftragt haben, die allgemeinen Dinge so zu regeln, dass die eigene Zukunft berechenbar bleibt und die Gesellschaft sich insgesamt gut entwickelt.

Hebel: Wie drückt sich das bei den Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben aus?

Urban: Viele fühlen sich durch das, was sie an Politik wahrnehmen, mit ihren Interessen, mit ihren Ängsten und mit ihren Zukunftssorgen nicht aufgehoben, jedenfalls nicht gut. Sie haben den Eindruck, dass kein Bemühen vonseiten der politisch Handelnden erkennbar ist, sich näher an das heranzubewegen, was den Menschen im Alltag besonders auf den Nägeln brennt. Ich glaube allerdings, dass hier ein gewisser Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland festzustellen ist. In Ostdeutschland ist dieses Gefühl deutlich stärker ausgeprägt. Ich vermute, das hat damit zu tun, dass die Menschen in Ostdeutschland sich nicht nur von den politischen Repräsentant:innen allein gelassen fühlen, sondern sich auch um eine Hoffnung betrogen sehen. Zu Zeiten der Systemkonkurrenz hofften viele auf den umfassend guten D-Mark-Kapitalismus, der Freiheit und Wohlstand für alle, ich betone: für alle, bereithält. Diese Hoffnung hat sich als Illusion erwiesen, und offenbar empfinden es viele als sehr schmerzhaft, sich ihr hingegeben zu haben. Viele Menschen in Ostdeutschland haben zu DDR-Zeiten den alten Eliten nicht geglaubt, wenn sie schlecht vom Kapitalismus geredet haben. Sie sind vielmehr davon ausgegangen, dass dieser Kapitalismus gerade deshalb himmelblau ist, weil die SED ihn in schwarzen Farben malt. Diese Erwartung wurde bitter enttäuscht. Viele Ostdeutsche fühlen sich zusätzlich um die Errungenschaften der friedlichen Revolution betrogen, für die sie doch in der akuten Phase der Wiedervereinigung so gelobt worden sind. Die Anerkennung, die es damals gab, ist dahin. Das wird als große Enttäuschung, ja als kollektive Kränkung empfunden. In Westdeutschland liegen die Dinge meines Erachtens etwas anders. Hier dominiert die Furcht vor dem Abrutschen in materielle Armut oder vor dem sozialen Statusverlust. Und hier scheint mir das Gefühl vorzuherrschen, dass die politisch Handelnden es nicht aus bösem Willen versäumen, die kumulierenden Probleme zu lösen, sondern aus Unfähigkeit. Vor allem das Misstrauen mit Blick auf die Problemlösungskompetenz der Politik ist ausgeprägt. Aber auch das läuft am Ende darauf hinaus, dass man sich alleingelassen und den vielfältigen Krisen ausgeliefert fühlt. Es führen also zwei Erfahrungswelten und Gefühlszustände zu einer gemeinsamen Grundstimmung.

In Betrieben, sprich: bei unseren Funktionär:innen, bei den Betriebsrät:innen und Vertrauensleuten, verhält es sich noch ein bisschen anders: Da würde ich von einem »angespannten Interventionismus« sprechen. Was meine ich damit? Vor einiger Zeit ist ein Team um Dieter Sauer und Richard Detje in einer Studie der Frage nachgegangen, warum sich nach der Finanzkrise der Jahre 2008 und folgende keine Radikalisierung des Widerstands in den Betrieben ergeben hat, obwohl das Krisenerlebnis manifest war. Nach Befragungen von ehrenamtlichen Funktionär:innen kamen sie zu der These, dass man diese Krise durchaus als tiefgreifend, aber nicht als etwas grundsätzlich Neues empfand.1 Man sah sich schon damals seit 15 Jahren in einem anhaltenden Krisenmodus. Bis heute verorten sich viele Betriebsräte seit mehr als drei Jahrzehnten in einer Krise in Permanenz. Die Ausschläge der Krisen sind mal heftiger und mal weniger heftig, aber als prinzipiell neues Phänomen werden krisengeschüttelte Entwicklungsphasen nicht wahrgenommen. Vielleicht führte das zu einer gewissen Gelassenheit. »Wir können Krise«, so bringen es viele auf den Punkt. Gleichwohl handelt es sich dabei nicht um eine passive, sondern um eine aktive Gelassenheit. Die Krisenausschläge wurden nicht einfach hingenommen oder erduldet. Sie führten zu einer eingreifenden Interessenpolitik. Permanente Konflikte um den Erhalt von Arbeitsplätzen, Einkommen und einigermaßen akzeptablen Arbeitsbedingungen begleiteten die permanenten Krisen. Diese Interessenpolitik, die in die betrieblichen Umbrüche eingriff, war der rote Faden, der alle bisherigen Krisenphasen durchzog. Diese kräftezehrende Krisenpolitik zum Schutz der Beschäftigten war sicherlich nicht immer von Erfolgen gekrönt. Aber sie steht für eine Haltung der aktiven Gegenwahr, die ich mit dem Begriff des »angespannten Interventionismus« zum Ausdruck bringen möchte.

Natürlich stellt sich hier sofort die Frage nach den Ursachen der permanenten Krise und den darauf fußenden Erfahrungen. Einige Krisentreiber sind schnell benannt. So ist jeder wirtschaftliche Strukturwandel für die negativ betroffenen Betriebe und Branchen mit Profitkrisen für die Unternehmen und damit auch mit Beschäftigungs- und Einkommenskrisen für die Beschäftigten verbunden. Gleiches gilt in der Regel für den Einzug technischer Innovationen, Stichwort Digitalisierung. Und dass die verschärfte Globalisierung mit der Bedrohung von Arbeits- und Sozialstandards einhergeht, hat sich auch herumgesprochen. Doch ein kapitalismustheoretisch informierter Blick geht tiefer. Die tiefer liegende Ursache der permanenten Krisenanfälligkeit der Wirtschaft ist in dem Formationswechsel des Kapitalismus, kurz zusammengefasst, in der Herausbildung des Shareholder-Value-Kapitalismus zu suchen. Der Shareholder-Value-Kapitalismus, oder besser: der Finanzmarkt-Kapitalismus, stellt – vereinfacht gesagt (!) – eine Formation dar, in der die gesamte Ökonomie und oftmals auch wesentliche Teile der Gesellschaft und der Politik durch die strategischen Akteur:innen und die Spielregeln der Finanzmärkte dominiert werden. Das hat auch für die Sphäre der Realakkumulation, also die sogenannte Realwirtschaft, erhebliche Auswirkungen. Der Wert etwa eines Industrie-Unternehmens bemisst sich nicht nach der Qualität oder der Nützlichkeit von Produkten, auch nicht nach dem technologischen Stand der Produktionsverfahren, sondern nach dem Aktienkurs und der Wertigkeit, die dem Unternehmen auf den Finanzmärkten zugeordnet wird. Gute, in diesem Sinne: wertorientierte Unternehmensführung bedeutet unter diesen Bedingungen, die Unternehmen zu einer Rendite zu treiben, die mit den Profiten von Finanzgeschäften mithalten kann. Und Unternehmen, die dies in Gegenwart oder Zukunft realisieren können, geraten dann ins Visier der Finanzmarktakteure, die bekanntlich seit dem Ausspruch des Sozialdemokraten Franz Müntefering auch Heuschrecken genannt werden. In diesem Kapitalismus werden Arbeitnehmerstandards nicht nur in Zeiten roter Zahlen infrage gestellt. Mitunter ereignen sich die größten Angriffe auf Beschäftigung, auf Einkommen und Sozialstandards, wenn die Betriebsergebnisse besonders gut sind. Gerade dann werden Betriebe oft zum Objekt sogenannter aktivistischer Finanzinvestoren, die durch kurzfristige und zumeist auch kurzsichtige Restrukturierungsoffensiven Kosten minimieren und Profite maximieren. In der Regel zum Nachteil der Zukunftsperspektiven von Unternehmen, vor allem aber der Beschäftigten. Insofern ist die permanente Infragestellung von Sozialstandards die neue Normalität im Finanzmarkt-Kapitalismus. Das ist der objektive Hintergrund dieser permanenten Krisenerfahrung.

Hebel: Ich möchte trotzdem noch einmal auf den »entspannten Fatalismus« und das »neue Normal« zurückkommen, in dem für mich ebenfalls etwas Fatalistisches steckt. Wir haben eineinhalb Jahrzehnte hinter uns, in denen Angela Merkel wie eine Schutzpatronin am Himmel schwebte und verkündete: Deutschland geht es gut. Haben wir nicht trotz aller Krisenerfahrung viel zu lange geglaubt, die Lebensweise, die wir im fossilen Kapitalismus gewohnt sind, könnte auf ewig fortgeschrieben werden? Waren nicht die Lüge und der bequeme Irrtum, dass alles im Großen und Ganzen so weitergehen könne, in der Gesellschaft viel zu tief verankert?

Urban: Ja, das spielt sicherlich auch eine Rolle, aber ich sehe noch ein anderes, längerfristiges Phänomen, das wir dringend thematisieren sollten: Ich glaube, 20, 30 Jahre neoliberale Sachzwang-Rhetorik haben dazu geführt, dass es in der Gesellschaft und auch in den Medien eine eigentümliche Bescheidenheit mit Blick auf den Wunsch gibt, durch eigenes Handeln die Dinge zu verändern. Anpassungsfähigkeit ist zur Tugend der Gegenwart geworden und nicht die Fähigkeit, einzugreifen und die Dinge zum Guten zu verändern.

Hebel: Das ist genau die schwarze Seite dieses Fatalismus.

Urban: So ist es, und der Begriff der neuen Normalität suggeriert im Grunde trotz Veränderung die Möglichkeit zur ersehnten Kontinuität. In der neuen Normalität steckt das Neue, aber auch das Normale, das mit dem Bekannten gleichgesetzt wird. Neue Normalität bedeutet dann: Anpassung an das, was sich aus der Verlängerung der Krisentendenzen ergibt. Eine Grundhaltung, die in der Wirtschaft durch die Anpassungszwänge kapitalistischer Konkurrenz immer wieder abgefordert und gesellschaftlich eingeübt wird und die sich in der gegenwärtigen Krise als soziale Mentalität wiederholt. Es wird nicht gefragt: Wie greifen wir proaktiv ein? Wie bestimmen wir, welche neue Normalität kommen wird? Politik nimmt sich zurück auf das Ziel, vor den krassesten Krisenfolgen zu schützen, in der Hoffnung, bald zum guten Bekannten zurückzukehren. Das zeigt sich jetzt in der Vielfachkrise besonders deutlich: Die Anpassung an vermeintlich nicht zu verändernde Dinge wird zur zentralen gesellschaftlichen Tugend, und es verkümmert der traditionelle Anspruch von sozialreformerischer Politik, von sozialdemokratischer oder auch sozialistischer Politik, die Dinge nicht laufen zu lassen, sondern einzugreifen, um sie im Sinne von Werten wie sozialer Gerechtigkeit oder gesellschaftlichem Gemeinsinn zu gestalten.

Doch dieser Gehorsam gegenüber vermeintlich unentrinnbaren Sachzwängen verblasst allmählich. In Teilen der Bevölkerung ist seit einigen Jahren das Gefühl herangewachsen, dass irgendetwas nicht stimmt mit unserer Lebensweise, mit der Art, wie wir wirtschaften und nicht zuletzt mit dem so gepriesenen »Exportweltmeister-Modell Deutschland«; dass irgendetwas nicht stimmen kann, wenn es »uns« – in Anführungszeichen, weil ich dieses kollektive »wir« gar nicht mag – trotz mannigfacher Probleme doch relativ gut geht, während in der Welt sich die Krisen immer weiter zuspitzen. Was aber fehlt, sind Fähigkeit und Bereitschaft, dieses Gefühl zu intellektualisieren und es konsequent zu durchdenken. Ich glaube wie Du, dass in großen Teilen der Gesellschaft lange die Hoffnung vorherrschte, man könnte die Krisenphasen aussitzen, sozusagen überwintern. Diese Hoffnung scheint mir immer mehr zu schwinden. Ich würde nicht behaupten, dass die strukturellen Defizite unserer zukunftsunfähigen Produktions- und Lebensweise, die offensichtlich schon aus ökologischen Gründen nicht globalisierbar ist, schon auf dem Tisch lägen. Aber das Gefühl von der »nachhaltigen Nichtnachhaltigkeit« des Gegenwartskapitalismus, wie es der Soziologe Ingolfur Blühdorn formuliert hat, ist tief in die Gesellschaft, auch in viele Betriebe, eingesickert. Da hat sich gegenüber der Vergangenheit viel verändert.

Hebel: Das allerdings kann auch den Verkünder:innen von Scheinlösungen in die Hände spielen, wenn es nicht gelingt, eine breite Öffentlichkeit mit den strukturellen Ursachen vertraut zu machen. Wir kommen ja später im Gespräch noch auf die Rechtstendenzen, aber vielleicht sagst Du schon hier ein paar Sätze zu dieser Gefahr.

Urban: Der Hinweis ist richtig, leider sehr richtig. Der Konfliktforscher Wilhelm Heitmeyer hat auf der Grundlage seiner Forschungen darauf verwiesen, dass die Krisenwallungen der Gegenwart eine Gelegenheitsstruktur für autoritäre Bewegungen liefern. Und der Jenaer Soziologe Klaus Dörre stellt fest: In Situationen gesellschaftlicher Weichenstellungen herrscht zunächst allgemein Verunsicherung, und die führt oftmals zu massiven Kontrollverlust-Ängsten. Das ist auf der einen Seite nicht immer negativ, weil es die Bereitschaft hervorbringt, alte Denkmuster, die sowieso nicht mehr funktionieren, gegebenenfalls infrage zu stellen. Aber wenn Denkmuster und Denkstrukturen in Bewegung geraten, beginnt der Kampf, in welche Richtung sie sich neu strukturieren. Das ist letztlich ein Kampf um gesellschaftliche Deutungsmacht, um Hegemonie, wie man mit dem italienischen Marxisten Antonio Gramsci sagen würde. Gegenwärtig scheinen diejenigen, die das Ganze in Richtung von autoritären, antidemokratischen, rassistischen, sexistischen Deutungsmustern strukturieren wollen, besser aufgestellt als diejenigen, die das Denken solidarischer, humanistischer, universalistischer, meinetwegen auch kosmopolitischer gestalten wollen. Dieser Kampf ist in vollem Gange, und die politische Rechte stellt sich entsprechend auf. Dabei ist die rechte Bewegung keineswegs nur eine Bewegung von Deklassierten oder von Besitzbürgern, die Angst um ihren sozialen Status haben. Sie ist eine gesellschaftlich heterogene Kraft, mit intellektuellen Zentren, mit Politprofis, die den ganzen Unmut organisieren und zielgerichtet kanalisieren. Gerade die Rolle dieser Profis, die vielfach aus Westdeutschland kommen, aber in Ostdeutschland ihr Unwesen treiben, wird oft übersehen, oder vielleicht sogar unterschlagen. In der sogenannten Neuen Politischen Ökonomie, ein Zweig der herrschenden Wirtschaftswissenschaften, oder der sogenannten Ökonomischen Theorie der Politik, ein Zweig der etablierten Politikwissenschaft, existiert die Figur des politischen Unternehmers. Gemeint sind damit nach offizieller Lesart Akteure, also Persönlichkeiten oder auch Parteien, die zum Zwecke der Steigerung ihrer Wahlchancen Unzufriedenheit unter vernachlässigten Wählergruppen aufspüren und deren Interesse, Wünsche oder Vorstellungen in die eigenen Politiken oder Programme aufnehmen. Im Unterschied zu Unternehmern in der Wirtschaft verfolgt der politische Unternehmer nicht Gewinnmaximierung, sondern Stimmenmaximierung als Ziel. Zu solchen politischen Unternehmern würde ich etwa Alexander Gauland zählen, einst Mitglied der CDU und der Hessischen Staatskanzlei und später einer von zwei AfD-Bundesprechern. Im weiteren Sinne gehören aber auch rechte Intellektuelle dazu. Etwas Götz Kubitschek, Mit-Gründer des neurechten Instituts für Staatspolitik oder auch Jürgen Elsässer, der einst Redakteur in radikal-linken Magazinen war und heute, laut Wikipedia, als Gründer und Chefredakteur des rechten Monatsmagazins Compact sowie als Mitgründer des rechtsextremen Kampagnennetzwerks Ein Prozent und als enger Kooperationspartner von Götz Kubitschek, dem Institut für Staatspolitik und dem Verlag Antaios im rechtsextremen Spektrum aktiv ist.

Wie gesagt, diese Polit-Profis kommen alle aus Westdeutschland, und ohne sie hätten sich die rechten Zentren in Ostdeutschland vermutlich nicht so rasch und besorgniserregend entwickelt. Wie dem auch sei, zum gegenwärtigen Zeitpunkt lässt sich leider kaum leugnen, dass die gesellschaftliche und politische Rechte einen organisationspolitischen, vielleicht sogar einen ideologischen Vorsprung bei der Neustrukturierung gesellschaftlicher Denkmuster und im Kampf um diejenigen hat, die nach neuer Orientierung suchen.

Hebel: Kann das daran liegen, dass die linken Erklärungsmuster und Lösungsvorschläge schlicht und einfach komplizierter sind, vielleicht notwendigerweise? Womit wir dann fast schon übergehen zu den strukturellen Ursachen der Vielfachkrise.

Urban: Da rate ich zur Differenzierung. Sozialwissenschaftliche Analysen und daraus abzuleitende Politikempfehlungen dürfen keinesfalls hinter die Komplexität der sozialen Phänomene zurückfallen. Sie müssen sich dieser Komplexität stellen, wollen sie nicht an der gesellschaftlichen Oberfläche verharren. Aber für politische Organisationen oder Bewegungen oder für die Intellektuellen der Linken im weiteren Sinne…

Hebel: …auch für Gewerkschaften?

Urban: …und ja, auch für Gewerkschaften reicht das natürlich nicht aus. Für sie muss die Benennung der Komplexität sozialer Phänomene Ausgangspunkt einer ebenfalls komplexen Übersetzungsarbeit sein, um mit Blick auf eine problemadäquate Rhetorik, Metaphorik und auch mit den Denkfiguren und Politikempfehlungen näher an diejenigen heranzukommen, um deren Weltdeutungen man kämpft. Und da stimme ich Dir zu, dass die Rechten es einfacher haben, denn sie haben einen vermeintlich unschlagbaren Vorteil: Rechte populistische Mobilisierung setzt in der Regel an Wahrnehmungen und Denkfiguren an, die in der Gesellschaft latent oder manifest vorhanden sind. Ich spreche hier von Denkmustern, in denen mentale Strukturelemente eines latenten Rassismus, eines latenten Standortchauvinismus oder auch eines ausgeprägten Patriarchats schlummern. Diese Denkmuster und mentalen Strukturelemente sind bekanntlich seit Jahrhunderten tragende Säulen des Kapitalismus. Der Rassismus begründete koloniale und heimische Ausbeutung von Menschen, die aufgrund von Hautfarbe und ethnischer Herkunft abgewertet wurden; auf dem Patriarchat basierten Familienmodelle, die die unentgeltliche Sorgearbeit von Frauen zur Quelle privaten Profits werden ließ. Und Standortchauvinismen blockieren bis heute stabile Solidaritätsbeziehungen der Arbeitenden verschiedener Länder. Zweifelsohne sind diese Phänomene in den historischen Entwicklungsphasen des Kapitalismus unterschiedlich stark ausgeprägt und haben unterschiedliche Auswirkungen auf das individuelle und gesellschaftliche Leben. Aber in Zeiten, in denen sich der Kampf um knapper werdende Ressourcen in der Gesellschaft verschärft, werden sie in der Regel aktiviert. Entweder in der Orientierung der Einzelnen, oder durch die gezielte Anrufung mittels politischer und kultureller Strategien, etwa durch die erwähnten politischen Unternehmer. Der gegenwärtige Autoritarismus, den Heitmeyer und andere beschreiben, ist ein Paradebeispiel dafür. Da der Kampf um die soziale Zukunft härter wird und die sozialstaatlichen Ressourcen knapper, gewinnen ethnische Herkunft, Nationalität und Geschlecht bei der Formulierung von scheinbar legitimen Zugriffsrechten auf die knapper werdenden Güter wieder an Bedeutung. Die Rechte kann die damit verbundenen Konflikte zuspitzen, kann sie in andere Kontexte stellen. Sie kann, in klassischer Terminologie gesprochen, affirmativ intervenieren, also scheinbar gerechte Veränderung versprechen, ohne die sozioökonomischen Kernstrukturen der gesellschaftlichen Verhältnisse wirklich antasten zu müssen.

Ich habe einmal mit Blick auf die Rechte von einer regressiven und inszenierten Rebellion gegen die sozialen, politischen und kulturellen Folgeschäden des neoliberalen Kapitalismus gesprochen.2 Regressiv, weil die Narrative des Rechtspopulismus den Weg in einen Gesellschaftszustand skizzieren, der hinter die erreichten Standards an politischer Demokratie und kultureller Diversität zurückfällt. Inszeniert, weil die Rebellion die kapitalistischen Machtstrukturen und ihre Verteilungsverhältnisse weder ankratzt noch gar grundlegend infrage stellt. Stattdessen werden soziale Unsicherheit und fehlende kulturelle Anerkennung als Sprungbretter der populistischen Anrufung genutzt, die mit den kapitalistischen Besitz- und Verteilungsverhältnissen sehr gut vereinbar sind. Daher auch die Leichtigkeit, mit der etwa »AfD-Größen« reaktionärste Werte und Weltbilder mit »moderner«, neoliberaler Wirtschaftspolitik verbinden.

Linke Aufklärung mit dem Ziel progressiver Gegenhegemonie muss genau das Gegenteil leisten. Sie muss diese latenten Stützen von Kapitalismus, Rassismus usw. infrage stellen und zugleich das Angebot alternativer Denkmuster und Weltdeutungen liefern. Sie muss, ebenfalls in klassischer Terminologie formuliert, kritisch und transformativ wirken. Sie muss eine neue Erzählung liefern, die mit Blick auf die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nicht allzu utopisch anmutet und trotzdem eine Perspektive auf die Verbesserung der eigenen Lebenslage und der gesellschaftlichen Verhältnisse bietet. Also, die Rechte kann sich auf die Welt, so wie sie ist, und auf Tendenzen stützen, die sich in der Krise ohnehin verstärken. Aber die Linke muss die gesellschaftliche Welt neu erfinden und das Wagnis von Politikangeboten eingehen, für die es keine Erfolgsgarantien gibt. Sie liefert ein Stück Unsicherheit in Zeiten, in denen bei vielen Menschen Sicherheit gefragt ist. Ein unfairer Wettkampf mit sehr ungleich verteilten Chancen, gewiss. Aber einfacher wird die Rückgewinnung linker Hegemonie nicht zu haben sein.

Diese ungleiche Aufgabenstellung ist auch der Grund, warum sich die Hoffnung auf eine linke Bildzeitung, die auch den Gewerkschaften nicht auszutreiben ist, nicht erfüllen wird. Mit Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse ist der Boulevardjournalismus meiner Auffassung nach genauso gestrickt wie der Rechtspopulismus: Er setzt ebenso an Vorurteilen und fragwürdigen Vorbehalten an. Und er denkt gar nicht daran, das Gegenteil von dem glaubwürdig zu machen, was viele meinen erfahren zu haben und was in Wahrheit von rechts ideologisch aufgeladen wird. Insofern verhält sich gesellschaftliche Aufklärung zum Boulevardjournalismus wie Wasser zu Feuer.

Hebel: Da Du die Bildzeitung ansprichst, erlaube ich mir einen kleinen Exkurs, auch wenn ich als Journalist wie ein Nestbeschmutzer dastehe: Teilst Du mit mir die Auffassung, dass das, was Du über den Boulevardjournalismus sagst, die Medienlandschaft weit über den Boulevardjournalismus hinaus ergriffen hat?

Urban: Ja, es gab vor einiger Zeit eine aufgeregte Diskussion anlässlich des Buchs Die vierte Gewalt von Harald Welzer und Richard David Precht. Mir sind die Thesen, die Welzer und Precht entwickelt haben, sehr sympathisch. Sie sind im Untertitel Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist prägnant zusammengefasst. Ich habe in einigen Beiträgen, zum Beispiel anlässlich des Ukrainekriegs, ebenfalls vom Versagen der Qualitätsmedien gesprochen, und ohne dass ich jetzt für mich eine ausgeprägte Expertise in Medienwissenschaft oder in der Analyse der Mediengesellschaft reklamieren würde, glaube ich, dass da ein paar Dinge auf der Hand liegen.

Hebel: Zum Beispiel?

Urban: Eigentlich müsste in Zeiten der Krise die Stunde der Qualitätsmedien schlagen. Sie müssten aber genau das tun, was der Rechtspopulismus und der Boulevardjournalismus, die ich in der gleichen Logik befangen sehe, nicht tun, nämlich Gegenaufklärung leisten oder wenigstens befördern. Gegenaufklärung zu leisten bedeutet erstens, diejenigen Facetten der Wirklichkeit in die Debatte hereinzuholen, die im Alltagsbewusstsein der Menschen nicht automatisch vorhanden sind und die der Rechtspopulismus willentlich und bewusst verschweigt, um seine falsche Interpretation der Wirklichkeit aufrechterhalten zu können. Zweitens, es mit der Personalisierung von strukturellen Fragen nicht zu übertreiben. Drittens, mit Moralurteilen sorgfältig umzugehen und nicht soziale und ökonomische Probleme mir nichts, dir nichts mit einer Übermoralisierung auf eine Ebene zu heben, wo sie eigentlich nicht hingehören, weil im Moralnebel schnell die ökonomischen Interessen sowie die Macht- und Herrschaftsstrukturen verschwinden. Und, letzter Punkt, einfach mal wieder sorgfältig zu recherchieren oder nach der Geschichte hinter der Geschichte zu suchen. Das sind alles Dinge, die den Qualitätsjournalismus auszeichnen, die aber in unserer stark ökonomisierten Medienlandschaft nicht goutiert werden.

Auch ich will mich bei meiner Bewertung der Medienlandschaft mit der Moralisierung oder mit individuellen Schuldzuweisungen zurückhalten und eher nach den ökonomischen und sozialen Verursachungszusammenhängen fragen. Ich weiß um die erheblich erschwerten Arbeitsbedingungen von Journalist:innen und um den ökonomischen Druck, der auf Zeitungen und Verlagen lastet. Aber ich vermisse dennoch gerade in den sogenannten seriösen Medien wie der FAZ, der Süddeutschen Zeitung, dem Spiegel oder der Zeit mitunter die Fachjournalist:innen, die sich in ihren Feldern auskennen und die dortigen Ereignisse mit Expertise und Hintergrundneugier beobachten. Die hat es früher durchaus gegeben: Ich erinnere nur an den ehemaligen Chefredakteur des Handelsblatts, Hans Mundorf. Er war eine Galionsfigur einer eher wirtschaftsliberalen und unternehmensorientierten Berichterstattung über die Gewerkschaften, aber er war ein intimer Kenner der Materie. Ich will keine Einzelpersonen bewerten oder Schulnoten verteilen, aber diese Art von Journalismus, der auf einem profunden Sockel von Kenntnissen, Erfahrungen und analytischen Fähigkeiten aufbaute, die findet man heute kaum noch. Die heutigen Tendenzen der Personalisierung, Simplifizierung und Moralisierung in der medialen Berichterstattung halte ich für ausgesprochen schädlich. Man muss kein Habermasianer sein, um zu konstatieren: Ohne eine funktionsfähige, auch zur Gegenaufklärung fähige Öffentlichkeit funktionieren Demokratien nicht. Wenn die »vierte Gewalt« einer pluralen, kritischen Öffentlichkeit ihre Leistungen zu einer kritischen Zivilgesellschaft nicht beisteuern kann, nimmt der demokratische Meinungsbildungsprozess früher oder später Schaden. Und exakt das erleben wir gegenwärtig.

Hebel: Noch kurz zu Precht und Welzer: Hätten sie bei aller berechtigten Medienkritik nicht eigentlich wissen müssen, dass sie Leuten in die Karten spielen, die glauben oder glauben machen wollen, dass es sich dabei um eine strategisch orchestrierte, von willigen Journalist:innen exekutierte Strategie »von oben« handelt, als bekämen wir im Morgenappell von der Nato mitgeteilt, was wir vom Krieg in der Ukraine zu halten haben?

Urban: Da machst Du mit Deinem journalistischen Hintergrund einen Punkt, den ich so gar nicht gesehen habe, der aber völlig korrekt ist. Vielleicht hätten sie diese Gefahr deutlicher benennen und sich gegen Vorwürfe dieser Art stärker immunisieren sollen. Ich habe in ihrem Buch vor allem eine Parallele zu meiner Gedankenwelt gesehen, die mir gefallen hat. Ich habe nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine in einem Artikel in den Blättern für deutsche und internationale Politik im Juli 2022 natürlich bestätigt, dass auch für mich die russische Regierung und die Putin-Clique die Aggressoren sind, dass es sich um einen völkerrechtswidrigen Angriff handelt und dass umfassende Solidarität mit der ukrainischen Bevölkerung geboten ist. Ich habe aber hinzugefügt, dass die öffentliche Debatte hinter eine Erkenntnis zurückfällt, die in der Wissenschaft wie in den Medien eigentlich als Selbstverständlichkeit gelten sollte: dass soziale und politische Ereignisse und Entwicklungen nicht mono-, sondern multikausale Phänomene sind. Es gibt in der Regel nicht »die eine« Ursache, sondern ein Geflecht von Strukturen und sozialem Handeln als Verursachungszusammenhang. Im Fall des Ukrainekrieges bedeutet das: Bei Putin und seiner Entourage mag es sich um unmoralische Menschen handeln. Aber um Menschen, die in bestimmte nationale und globale Kontexte, Machtstrukturen und Interessenlagen eingebunden sind. In meinem Artikel habe ich darzulegen versucht, dass dieser Krieg nur begriffen werden kann, wenn man ihn in die – grob zusammengefasst – Neuaufteilung von ökonomischen und politischen Machtsphären zwischen den mächtigen Playern im globalen System (also Nordamerika mit Europa sowie China, Russland und vielleicht Indien) einordnet; und dass man, ohne irgendetwas am russischen Vorgehen zu entschuldigen, auch den Expansionsdrang der Nato mit in die Überlegungen einbeziehen muss. Das bedeutet keineswegs, dass die offensive Nato-Osterweiterung den Krieg ursächlich erklären oder gar rechtfertigen könnte. Aber es mahnt zur Vorsicht mit Blick auf vorschnelle und zu einseitige Erklärungen.

Hebel: Diese globalen Umbrüche sind doch mehr als undurchsichtig. Seriöserweise kann doch niemand vorhersagen, wohin sie sich entwickeln.

Urban: Nun ja, wir wissen natürlich nicht, wohin sich das System der Weltwirtschaft und mit ihm die Beziehungen der Staaten zueinander bewegen. Aber Wissenschaftler:innen, die sich intensiver mit globalen Umbrüchen beschäftigen, diagnostizieren grundlegende Umbrüche in den Wirtschafts- und Staatsbeziehungen, ja einen Epochenwechsel. Das trifft nicht nur auf kritische oder gar kapitalismuskritische Geister zu. So sprechen etwa die Ökonom:innen des Internationalen Währungsfonds von einer geo-ökonomischen Fragmentierung, die die forcierte wirtschaftliche Integration und die voranschreitende Globalisierung ablöse. Das diagnostizieren sie durchaus mit Sorge, denn es sei mit erheblichen wirtschaftlichen Kosten, sozialen Wohlfahrtsverlusten und politischen Spannungen verbunden. Und: globale Herausforderungen wie die Bekämpfung des Klimawandels oder einer Pandemie seien in funktionierenden multilateralen Systemen viel besser zu lösen als in einer Welt des Rückfalls in nationalstaatliche Optionen.

Marxistisch orientierte Analytiker:innen wie der schwedische Soziologe Göran Therborn gehen noch weiter.3 Sie sehen die Welt auf dem Weg in eine Welt der imperialen Geopolitik, und sie sprechen von einer beginnenden Ära globaler Kriegspolitik. Neben der sich abzeichnenden Klimakatastrophe und der abgrundtiefen wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit in einer vernetzten Menschheit sei dies, so Therborn, die dritte große Herausforderung, auf die nicht nur die Linke, sondern die Menschheit insgesamt Antworten suchen müsse. Die Weltordnung, so die zentrale These, wandle sich von der Macht globaler kapitalistischer Märkte zur Geopolitik rivalisierender Staaten. Vor allem die USA hätten angesichts der rasant zunehmenden Macht Chinas ihre außenwirtschaftlichen und politischen Strategien geändert. Nicht mehr der Vorrang von Freihandel und ausländischen Investitionen, sondern nationale Interessen, nationale Sicherheit und imperiale Staatshierarchien seien die Leitlinien der Politik. Ob diese zugespitzten Analysen die Wirklichkeit umfänglich treffen, sei dahingestellt. Kaum zu übersehen ist aber: Die Welt wird zunehmend durch den Kampf von großen Mächten um die Neuaufteilung von wirtschaftlichen, politischen und militärischen Einflusszonen geprägt. Die USA und China kämpfen dabei zweifelsohne in vorderster Front, die Rolle der Europäischen Union, der anderen sogenannten BRICS-Staaten (steht für Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) scheint noch nicht ausgemacht. Von anderen Teilen des verbliebenen sogenannten globalen Südes ganz zu schweigen.

Kein Zweifel, die neuen aggressiven Weltverhältnisse, von denen Göran Therborn spricht, bergen erhebliche Risiken in sich, für die Wirtschaft, die Wohlstandsentwicklung und nicht zuletzt für Formen der friedlichen Konfliktaustragung. Die Befürchtung, wir stünden vor einer Ära globaler Kriegspolitiken, mag zutiefst pessimistisch sein, ohne Anhaltspunkte in der realen Entwicklung ist sie gewiss nicht. Und das würde die Frage von Krieg und Frieden zur Frage des Jahrhunderts machen.

Hebel: Zu Fragen der globalen Ordnung oder Unordnung kommen wir später noch, lass uns zunächst den kleinen Exkurs zum Journalismus abschließen. Zu welchem Fazit kommst Du?

Urban: Zusammenfassend würde ich sagen: Für die Wissenschaft wie für einen wirklichen Qualitätsjournalismus sollte die Maxime gelten: Die Komplexität von sozialen Ereignissen und Entwicklungen ist ernst zu nehmen und die Phänomene müssen analysiert und durchdrungen werden, bevor man sie bewertet. Leider tun sich Wissenschaft wie Journalismus gegenwärtig sehr schwer damit. Du hast recht: Zwei so erfahrene und journalistisch so profilierte Menschen wie Precht und Welzer hätten die Dynamik, von der Du gesprochen hast, vorweg ahnen müssen. Aber ich frage: was wäre die Konsequenz gewesen? Sich deutlicher von der Gefahr der Vereinnahmung zu distanzieren? Oder dieses Buch so nicht zu schreiben? Hoffentlich nicht, auf die Thematisierung der analysierten Fehlentwicklungen im heutigen Journalismus zu verzichten. Diese benannt zu haben, bleibt ein Verdienst dieser Analyse.

Hebel: Ich würde klar für die Distanzierung von einer drohenden Vereinnahmung plädieren, und zusätzlich dafür, die strukturellen Gründe für die kritisierten Entwicklungen genau zu benennen.

Urban: Aber vielleicht wird an diesem Thema eine generelle Schwierigkeit deutlich, vor der die Linke insgesamt steht: Es gibt offenbar Argumentationsfiguren, Denk- und Deutungsmuster, die mittlerweile sowohl rechts als auch links zu finden sind. Um ein Beispiel zu nennen: Vor 50 Jahren, 1973, erschien das Buch Die da oben – wir da unten