Krisen des Kapitalismus - Joris Alexander Steg - E-Book

Krisen des Kapitalismus E-Book

Joris Alexander Steg

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Beschreibung

Kurz nach Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2007 überwog vielerorts die Vorstellung, dass die westlichen Gesellschaften vor tiefgreifenden Umbrüchen stünden. Finanzkapitalismus und Neoliberalismus schienen diskreditiert zu sein, starke staatliche Eingriffe standen wieder auf der Agenda. Mehr als ein Jahrzehnt später ist davon wenig zu spüren; ein substanzieller Kurswechsel ist ausgeblieben. Warum leiten manche Krisen große Veränderungen ein und andere nicht? Und wie hängt die jüngste Krise mit dem Erstarken nationalistischer Kräfte zusammen?

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Joris Alexander Steg

Krisen des Kapitalismus

Eine historisch-soziologische Analyse

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Kurz nach Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2007 überwog vielerorts die Vorstellung, dass die westlichen Gesellschaften vor tiefgreifenden Umbrüchen stünden. Finanzkapitalismus und Neoliberalismus schienen diskreditiert zu sein, starke staatliche Eingriffe standen wieder auf der Agenda. Mehr als ein Jahrzehnt später ist davon wenig zu spüren; ein substanzieller Kurswechsel ist ausgeblieben. Warum leiten manche Krisen große Veränderungen ein und andere nicht? Und wie hängt die jüngste Krise mit dem Erstarken nationalistischer Kräfte zusammen?

Vita

Joris Alexander Steg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Universität Wuppertal.

Inhalt

Vorwort

1Einleitung

1.1Problemaufriss und forschungspraktische Relevanz

1.2Erkenntnisinteresse und zentrale Fragestellung

1.3Struktur und Aufbau der Arbeit

2Ein kompliziertes Paar: Demokratie und Kapitalismus

2.1Kapitalismus

2.1.1Die politische Regulierungsbedürftigkeit des Kapitalismus

2.1.2Smith, Marx, Weber, Sombart und Schumpeter – Die klassischen Kapitalismusanalysen

2.1.3Exkurs: Marktwirtschaft statt Kapitalismus – Der Ordoliberalismus und die paradigmatische Wende in der Soziologie

2.1.4Kapitalismus als gesellschaftsstrukturierendes System ökonomischer, sozialer und politischer Beziehungen

2.2Demokratie

2.2.1Exkurs: Die historischen Ursprünge der Demokratie im antiken Athen und der römischen Republik

2.2.2Der Durchbruch der modernen Demokratie: Demokratiegeschichte als Revolutionsgeschichte

2.2.3Demokratie: eine krisenhafte und fragile gesellschaftliche Ordnung

2.2.4Demokratie als selbstbestimmte Gestaltung politischer, sozialer und ökonomischer Verhältnisse

2.3Demokratie und Kapitalismus

2.3.1Demokratie und Kapitalismus: Komplementär oder inkompatibel?

2.3.2Freiheit, Gleichheit, Krisen und Kritik: Affinitäten und strukturelle Ähnlichkeiten von Demokratie und Kapitalismus

2.3.3Gleichheit und Ungleichheit: Der fundamentale Widerspruch zwischen Demokratie und Kapitalismus

2.3.4Zwischen Marktexpansion und Marktintervention: Der intervenierende Wohlfahrtsstaat im Spannungsfeld zwischen Demokratie und Kapitalismus

2.4Konfigurationen im Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus

2.4.1Entwicklungsmodelle als Analyseeinheit gesellschaftlichen und polit-ökonomischen Wandels

2.4.2Prozessstruktur, Indexstruktur und Applikationsstruktur: Strukturebenen polit-ökonomischer Entwicklungsmodelle

2.4.3Interventions- und Regulierungsfelder polit-ökonomischer Entwicklungsmodelle

2.5Zwischenfazit

3Krisenbegriff und Krisentheorien

3.1Die Krise als Leitmotiv moderner Gesellschaften

3.1.1Krisen als nicht-intendierte Abweichung von der Normalität

3.1.2Sozialwissenschaftliche Krisendefinitionen: Der systemische und der entscheidungstheoretische Krisenbegriff

3.1.3Krisen als gesellschaftstheoretische Kategorie und Element polit-ökonomischen Wandels

3.2Krisen im Kapitalismus: Die Krisentheorie und der Krisenbegriff von Marx

3.2.1Krisentheorie oder Krisenteleologie? Kontroversen um die Krisentheorie und den Krisenbegriff von Marx

3.2.2Der tendenzielle Fall der Profitrate und entgegenwirkende Ursachen

3.2.3Überakkumulationskrisen als systemischer Eklat kapitalistischer Widersprüche

3.2.4Organische Krisen und Große Krisen des Kapitalismus: Die Krisentheorie von Gramsci und der Regulationsschule

3.3Transformation und Transformationskrisen

3.3.1Polanyis Konzept der Great Transformation

3.3.2Transformation als spezifischer Typ polit-ökonomischen Wandels

3.3.3Reproduktion, Reform und Transformation: Eine Krisentypologie

3.4Zwischenfazit

4Polit-ökonomische Entwicklungsmodelle und Große Krisen: Eine historisch-soziologische Analyse

4.1Das liberale Entwicklungsmodell und die Great Depression 1929ff.

4.1.1Exkurs: Das ultra-liberale Entwicklungsmodell und die Große Depression 1873–1895

4.1.2Das liberale Entwicklungsmodell: Konturen und Charakteristika

4.1.3Die Great Depression 1929ff.: Ursachen und Verlauf

4.1.4Die Great Depression als Anstoß zur Transformation

4.2Das sozialliberale Entwicklungsmodell und die Stagflationskrise 1973ff.

4.2.1Das sozialliberale Entwicklungsmodell: Konturen und Charakteristika

4.2.2Die Stagflationskrise 1973ff.: Ursachen und Verlauf

4.2.3 Die Stagflationskrise als Anstoß zur Transformation

4.3Das neoliberale Entwicklungsmodell und die globale Finanz- und Wirtschaftskrise 2007ff.

4.3.1Das neoliberale Entwicklungsmodell: Konturen und Charakteristika

4.3.2Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise 2007ff.: Ursachen und Verlauf

4.3.3Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise als Anstoß zur Transformation?

5Zwischen Reproduktion und Transformation: Krisen als dialektische Doppelinstanz

5.1Weder Automatismus noch Teleologismus: Krisen als komplexe und kontingente Phänomene

5.2Transformations- und Stabilisierungseffekte von polit-ökonomischen Krisen: eine Heuristik

5.3Doppelte Dialektik: Krisen zwischen Reproduktion und Transformation und zwischen Regression und Progression

5.4An der Schwelle vom neoliberalen zum nationalistisch-neoliberalen Entwicklungsmodell?

6Theoretisch-konzeptionelles Fazit und Ausblick

Literatur

Vorwort

Dieses Buch ist die gekürzte und überarbeite Fassung meiner im Dezember 2017 unter dem Titel »Zwischen Reproduktion und Transformation. Eine historisch-soziologische Analyse von Krisen in modernen kapitalistischen Gesellschaften« an der Friedrich-Schiller-Universität Jena eingereichten und am 6. Juni 2018 verteidigten Dissertation.

Das Buch handelt von Krisen und den Folgen von Krisen. Wie Krisen entstehen, welche gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Folgen Krisen haben – diese Fragen beschäftigen mich gesellschaftspolitisch und wissenschaftlich, speziell seit der vor mehr als zehn Jahren ausgebrochenen globalen Finanz- und Wirtschaftskrise. Unmittelbar nach Ausbruch der Krise hatte es noch den Anschein, als stünden die demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften des Westens vor tiefgreifenden Umbrüchen. Finanzmarktkapitalismus und Neoliberalismus waren scheinbar hoffnungslos diskreditiert. Forderungen nach einem starken Staat und eine Renaissance keynesianischer Wirtschaftspolitik standen wieder auf der politischen Agenda. Die Große Krise schien einen Wendepunkt zu markieren und auf einen Paradigmenwechsel zwischen Staat und Markt hinauszulaufen. Mittlerweile ist davon nur noch wenig zu spüren. Schon ab 2010 veränderten sich, speziell in Deutschland, Krisendiskurs und Krisenwahrnehmung. Es wurde kaum mehr von der Banken-, Finanz- oder Wirtschaftskrise gesprochen, sondern fast ausnahmslos von der Schuldenkrise oder der Euro-Krise. Spätestens ab 2012/13 hatte sich das Krisenbewusstsein endgültig verflüchtigt. Im Endeffekt hat die Krise bisher nicht viel verändert: Sie hat, so können wir heute konstatieren, keinen signifikanten politischen und ökonomischen Kurswechsel bewirkt.

Diese überraschende und paradox anmutende Konstellation, dass die schwerste Wirtschaftskrise seit der Great Depression 1929ff. ausgebrochen ist, diese Krise aber nicht wirklich etwas geändert hat, war die Ausgangslage und Motivation meiner Arbeit. Warum aber ist nach dieser Krise so wenig passiert? Warum hat sich die aktuelle Krise nicht zu einer Transformationskrise entwickelt? Etwas allgemeiner: Was passiert wann und warum in Krisen. Oder anders herum: Was passiert wann und warum in Krisen gerade nicht? Das waren die Ausgangsfragen meiner Arbeit und der Anlass, mich systematisch mit Krisen und Krisenfolgen auseinander zu setzen.

Wie in einer wissenschaftlichen Qualifikationsschrift, zumal einer soziologischen, nicht unüblich, ist die vorliegende Arbeit theorielastig. Ralf Dahrendorf beschreibt es so: »Wollen wir über die Gesetzlichkeiten unserer Gesellschaft mehr aussagen als unverbindliche Vermutungen und brillante Einfälle dies vermögen, dann bleibt es uns nicht erspart, den langen und beschwerlichen Umweg über allgemeine, theoretische, damit abstrakte und nicht immer leicht eingängige Formulierungen zu gehen.« Dieser Weg wird auch in diesem Buch eingeschlagen. Dahrendorf fährt fort: »Soll dieser Umweg allerdings mehr als ein planloser Spaziergang sein, dann muß er am Ende zu dem Ziel einer Befruchtung der Analyse konkreter Phänomene führen.« Auch diesem Diktum folgt meine Arbeit. So habe ich mich an Karl Marx orientiert und bin »vom Abstrakten zum Konkreten« aufgestiegen. In den ersten Abschnitten werden der theoretische Rahmen, das begriffliche Raster und das Kategorienschema entwickelt, ehe in einer Fallstudie die bisherigen Entwicklungsmodelle und die bisherigen Großen Krisen 1929ff., 1973ff. und 2007ff. in ihren konkreten Ursachen, ihrem Verlauf und ihren Folgewirkungen betrachtet werden. Auf dieser Basis wird eine Krisenheuristik entwickelt. Zum Abschluss dieses Buches wird der politisch höchst aktuellen Frage nachgegangen, wie die jüngste Krise mit dem Erstarken nationalistischer Kräfte zusammenhängt.

Diese Dissertation wäre nicht möglich gewesen ohne die Hilfe und Unterstützung zahlreicher Personen. Ich danke vor allem meinem Erstbetreuer Stephan Lessenich, der mich frühzeitig ermutigt und es mir überhaupt erst ermöglicht hat, eine Dissertation zu schreiben, sowie meiner Zweitbetreuerin Silke van Dyk – für Unterstützung, Beratung, wertvolle Anregungen und stets hilfreiche Hinweise. Ich danke meiner Familie für die uneingeschränkte Unterstützung und den aufmunternden Beistand. Besonders danke ich Lena, die mir wirklich immer und bei allem bedingungslos zur Seite stand. Ihr widme ich dieses Buch.

Berlin/Dortmund im Februar 2019

Joris Steg

1Einleitung

Wir leben in Krisenzeiten. Der Krisenbegriff ist heutzutage allgegenwärtig und omnipräsent. Es existiert derzeit wohl kaum ein anderer Begriff, der den medialen, politischen, wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs in vergleichbarer Weise prägt. Allenthalben werden Krisen konstatiert bzw. verschiedenste Ereignisse und Entwicklungen als krisenhaft qualifiziert: Flüchtlings- und Migrationskrise, Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise, Staatsschulden- und Eurokrise, Krise der Demokratie und der (Volks)Parteien, Vertrauens- und Repräsentationskrise, Krise des Sozialstaats, Armutskrise, Medienkrise, Bildungskrise, demographische Krise, Klima-, Umwelt- und ökologische Krise, Ernährungskrisen, humanitäre Krisen. Kriege werden als Krisen wahrgenommen. Darüber hinaus gibt es Krisen in sozialen Beziehungen wie die Beziehungs-, Ehe- oder Familienkrise und Krisen auf der individuellen Ebene, Krisen des Selbst wie die Depression, den Burnout oder die Midlife-Crisis. Fortwährend befinden sich einzelne Wirtschaftsbranchen oder Unternehmen in einer Krise, auch einzelne Sportler und Sportvereine befinden sich permanent in einer Form- bzw. Ergebniskrise. Bereits der kursorische Überblick über in Wissenschaft, Medien und Alltag verhandelte Krisenphänomene verdeutlicht: Der Krisenbegriff zeichnet sich durch eine erhebliche Variationsvielfalt in der Bedeutung aus und wird zur Klassifizierung und Etikettierung verschiedenster gesellschaftlicher Problemlagen verwendet.

1.1Problemaufriss und forschungspraktische Relevanz

Krisendiagnosen haben derzeit Konjunktur. Die Krisenmetapher scheint mithin die »Grundstimmung einer Epoche« (Prisching 1986: 15) zu repräsentieren. Aufgrund des geradezu inflationären Gebrauchs und der Allgegenwart des Krisen-Topos wird behauptet, dass sich die Krise »zur strukturellen Signatur der Neuzeit« (Koselleck 1982: 627) entwickelt habe. Mitunter wird gar behauptet, dass es gegenwärtig in modernen Gesellschaften eine »mediale Proliferation von immer neuen Krisen« (Nünning 2013: 119) und eine »Überdosis an Krisengerede« (Grunwald/Pfister 2007b: 8) gebe. Trotz – oder gerade wegen – dieses permanenten und vielschichtigen Gebrauchs des Krisen-Topos muss konstatiert werden, dass weder eine allgemeingültige Definition des Krisenbegriffs noch ein allgemeingültiges Verständnis über Entstehungsbedingungen, Ursachen, Abläufe und Auswirkungen von Krisen existiert. Es ist keinesfalls trivial und eindeutig, was Krisen überhaupt ausmacht, wie sie zu definieren und worauf sie zurückzuführen sind oder wie in Krisen zu handeln ist. Vor allem aber ist unklar, welche Implikationen und Konsequenzen mit Krisen verbunden sind, inwieweit Krisen grundlegenden Gesetzmäßigkeiten folgen und welche Entwicklungstendenzen sie evozieren. Umstritten ist zudem, wie Krisen zu bewerten sind, ob es sich bei Krisen ausschließlich um negative Ereignisse und dysfunktionale Entwicklungen handelt, die zwangsläufig zur Katastrophe oder zum Zusammenbruch führen, ob Krisen gewöhnliche Phänomene und normale Prozesse des gesellschaftlichen Wandels beschreiben oder ob Krisen gar ein hoffnungsfroher positiver und fortschrittlicher Impetus innewohnt. In dieser Perspektive werden Krisen als Chance angesehen, weil sie das Potenzial besitzen, eine defizitäre Situation zu überwinden.

Speziell für die Soziologie, obgleich sie sich historisch als Krisenwissenschaft konstituiert hat, sich selbst als Krisenwissenschaft versteht und Krisen ein zentrales Forschungsfeld der Soziologie darstellen, steht systematische Arbeit am Krisenbegriff weiter aus. Dieses Forschungsdesiderat ist angesichts der Geschichte, des wissenschaftlichen Selbstverständnisses sowie des funktionalen Bezugs der Soziologie auf Krisen und Krisendiagnosen überraschend. So konstatiert etwa Dörre zu Recht: »Offensichtlich verfügt die professionelle Soziologie gegenwärtig über keinen Krisenbegriff, der es ihr ermöglichen würde, die im Gange befindlichen Umbrüche zu deuten« (Dörre 2015: 89; vgl. auch Dörre/Lessenich/Rosa 2009: 10). Generell zeigt bereits ein Blick in soziologische Lexika und Handbücher, »dass die Kategorie der Krise, wenn überhaupt, so allenfalls am Rande vorkommt. Und dort, wo sie auftaucht, handelt es sich nicht um einen Schlüsselbegriff soziologischer Analyse« (ebd.: 89f.).1 Seit 2007, als die globale Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise, die ab 2010 in Europa vornehmlich unter dem Label der Staatsschulden- oder Eurokrise verhandelt wurde, in den USA als Subprime-Krise ausgebrochen war, lässt sich abermalig eine verstärkte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Krisen feststellen.

Seit Ausbruch der Krise wurden unzählige – insbesondere soziologische, politikwissenschaftliche und ökonomische – Analysen der aktuellen ökonomischen Krisenkonstellation publiziert und viele grundsätzliche theoretische Betrachtungen über ökonomische Krisen verfasst.2 Allerdings beschränkt sich die gesteigerte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Krisen nicht auf die aktuelle Krisenlage oder auf genuin ökonomische Krisen, sondern es lässt sich ein gesteigertes wissenschaftliches Interesse am Phänomen »Krise« insgesamt feststellen. Der Ausbruch der Krise hat das Interesse an wissenschaftlichen Krisenanalysen, Krisentheorien und Krisenreflexionen gesteigert. So beteiligen sich an dem Krisendiskurs nicht nur Wirtschaftswissenschaftler, Soziologen und Politikwissenschaftler, sondern auch Philosophen, Historiker, Ethnologen, Kultur-, Literatur- und Kommunikationswissenschaftler. Krisen werden aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven3 etwa als Narrativ, als Leitbegriff und Erzählmuster oder als Alarmdilemma analysiert. Darüber hinaus werden Krisen als konstruierte und kommunikative Phänomene betrachtet, hier wird die gesellschaftliche bzw. die sprachliche Konstruktion von Krisen in den Fokus gerückt. Krisen werden zudem als diskursive Phänomene und als Wahrnehmungsphänomene untersucht. In dieser Perspektive werden die perzeptive Ebene von Krisen, die Krisendiskurse selbst sowie die mediale Repräsentation und gesellschaftliche Wahrnehmung von Krisen analysiert.

Neben der genuin ökonomischen Dimension werden im aktuellen wissenschaftlichen Krisendiskurs also auch allgemeintheoretische Fragen zu Krisen und dem Krisenbegriff untersucht: Was sind Krisen überhaupt und wie entstehen sie? Welche Auswirkungen haben Krisen – sowohl in individueller als auch in gesellschaftlicher Perspektive? Sind Krisen Charakteristika der Moderne? Wodurch grenzen sich Krisenzeiten von normalen Zeiten ab? Gab es schon einmal Gesellschaften ohne Krisen, kann es sie überhaupt geben? Und generell: Ist es wissenschaftlich-analytisch überhaupt sinnvoll, den Begriff der Krise zu verwenden? Oder ist es nicht vielleicht besser, den Krisenbegriff abzulehnen und stattdessen Begriffe wie »Risiko« zu verwenden?4 Unbestreitbar indes ist: Das Phänomen der Krise steht wieder auf der wissenschaftlichen Agenda – und zwar aus unterschiedlichen Perspektiven. Um Krisen als wissenschaftliche Kategorie analytisch sinnvoll verwenden und als komplexes Phänomen moderner demokratisch-kapitalistischer Gesellschaften untersuchen zu können, ist es notwendig, den Krisenbegriff definitorisch abzugrenzen und einen konkreten Bezugs- und Untersuchungsrahmen festzulegen.

Im Fokus des sozialwissenschaftlichen Krisendiskurses steht derzeit – neben den als Krise apostrophierten Flucht- und Migrationsbewegungen – noch immer die seit 2007 virulente globale Banken-, Finanz- und Wirtschaftskrise. Diese Krise hat neben der allgemeinen Auseinandersetzung mit dem Krisenbegriff insbesondere zur Wiederaufnahme einer klassischen Frage der Soziologie und der politischen Ökonomie geführt: Es geht um das »Beziehungsmuster zwischen Markt (bzw. Eigentum) und Staat (oder Demokratie)« (Esping-Andersen 2012: 343), es geht um das Verhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus: »Democracy and capitalism is now the subject« (Streeck 2015b: 49). Genauer hat die Krise »die Fragen nach den inhärenten Widersprüchen und dem dialektischen Zusammenspiel von Kapitalismus, Staat und Demokratie« (Borchert/Lessenich 2006: 12) erneut auf die wissenschaftliche Tagesordnung gesetzt – und vor allem die Frage nach den Auswirkungen von Krisen auf die Rolle des Staates sowie auf das Zusammenspiel von kapitalistischer Ökonomie und demokratischer Politik.5 Die Frage nach dem Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus und den Auswirkungen von Krisen auf dieses Verhältnis befindet sich spätestens seit Wolfgang Streecks breit rezipierter und viel beachteter Studie Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus (Streeck 2013a) und der darauf folgenden Debatte wieder ganz oben auf der wissenschaftlichen – und vor allem der soziologischen – Agenda.

In seinem Buch, das aus dem Essay The Crises of Democratic Capitalism (Streeck 2011) und aus den Frankfurter Adorno-Vorlesungen von 2012 hervorgegangen ist, analysiert Streeck »die Finanz- und Fiskalkrise des demokratischen Kapitalismus der Gegenwart« (Streeck 2013a: 9) und kommt zu dem Schluss, dass diese Krise zu einer Transformation des polit-ökonomischen Regimes der Nachkriegszeit geführt habe. Der in den Jahrzehnten nach 1945 dominante keynesianisch inspirierte demokratische Kapitalismus habe sich seit den 1970er Jahren in einen hayekianisch inspirierten neoliberalen Kapitalismus verwandelt. Dieser Übergang markiert nach Ansicht von Streeck qualitativ »eine neue Phase im Verhältnis zwischen Kapitalismus und Demokratie« (ebd.: 117), die sich insbesondere dadurch auszeichnet, dass die kapitalistische Ökonomie – anders als im Regime der Nachkriegszeit – von demokratischen Regulierungen befreit und weitgehend sich selbst überlassen ist.6 Die aktuelle Krise hat jedoch nicht nur zu einer verstärkten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus geführt, sondern auch allgemein zu einem größeren öffentlichen und politisch-medialen Interesse an dem Zusammenspiel der beiden gesellschaftlichen Makrostrukturen und den Auswirkungen von Krisen auf dieses Verhältnis (vgl. exemplarisch Kurbjuweit 2011). Im Mittelpunkt des öffentlichen und wissenschaftlichen Interesses stehen Fragen wie: Können aus ökonomischen Krisen politische Krisen werden? Welche Konsequenzen haben kapitalistische Krisen für die Demokratie? Wie verändern Krisen das Verhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus? Untergräbt der Kapitalismus, präziser: der gegenwärtige neoliberale Finanzmarktkapitalismus die Demokratie oder gefährdet sie sogar? Noch grundsätzlicher: Wie sieht das »richtige« Verhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus aus? Inwieweit sind Demokratie und Kapitalismus überhaupt miteinander vereinbar?

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit ökonomischen Krisen und den gesellschaftlichen und polit-ökonomischen Auswirkungen dieser Krisen. Genauer befasst sich diese Arbeit mit systemischen Krisen, mit Großen bzw. organischen Krisen des Kapitalismus, die die polit-ökonomische Struktur moderner demokratisch und kapitalistisch verfasster Gesellschaften beeinflussen. Es geht also um Krisen, »die sich auf das gesellschaftliche Ganze beziehen und insbesondere strukturelle Wandlungserscheinungen ins Auge fassen« (Prisching 1986: 22). Zusammengefasst geht es um Krisen des Kapitalismus, die nicht nur die Sphäre der kapitalistischen Ökonomie selbst betreffen – also etwa ausschließlich wirtschaftliche Teilbereiche und ökonomische Kennzahlen wie das wirtschaftliche Wachstum, die Investitionen, die Profit- und Gewinnentwicklung von Unternehmen, den Schuldenstand von Konzernen und Staaten oder die Arbeitsmarktsituation und die Lohnentwicklung –, sondern um polit-ökonomische Systemkrisen und deren Auswirkungen auf das Verhältnis der gesellschaftlichen Makrostrukturen Demokratie und Kapitalismus sowie auf die historisch-konkrete Rolle des demokratisch-kapitalistischen Interventionsstaates.

Krisen sind grundsätzlich umkämpfte gesellschaftliche Prozesse. In jeder Krisenkonstellation gibt es verschiedene gesellschaftliche Kräfte und soziale Akteure, die unterschiedliche Interessen in Bezug auf die Krisendiagnose und die daraus resultierenden Therapien besitzen. Darum sind Krisenanalysen häufig Gegenstand von kontroversen Auseinandersetzungen: Art, Erscheinungsform, Ursachen sowie potenzielle Auswirkungen von Krisen unterliegen verschiedenen Deutungs- und Interpretationsmustern und insbesondere die Ansätze zur Lösung der Krisen sind zumeist hochgradig umstritten. Bei der Krisenanalyse handelt es sich stets auch um »einen hegemonialen Diskurs« (Machnig 2011: 20), in dem es darum geht, »ein bestimmtes Krisennarrativ durchzusetzen, das heißt eine spezifische Interpretation oder Sichtweise durchzusetzen« (ebd.), um die Deutungshoheit über die Krise, also über Krisendiagnose, Krisenursachen und insbesondere Krisenbewältigungsstrategien zu erlangen. In der mittlerweile ein Jahrzehnt mäandernden Krise hat sich dies eindrücklich gezeigt. Seit die Krise 2007 ausgebrochen ist, sind Art, Ursachen und Ansätze zur Lösung der Krise unter Politikern verschiedener Couleur, Wissenschaftlern, Medienvertretern, Interessenverbänden und innerhalb der Bevölkerung hochgradig umstritten.

Darüber hinaus ist auch zehn Jahre nach Krisenausbruch noch nicht endgültig ausgemacht, welche gesellschaftlichen und polit-ökonomischen Folgen diese spezifische Krise haben wird. Die Vielzahl an Krisendiagnosen, alleine schon die verschiedenen Bezeichnungen der aktuellen Krise – Immobilien-, Banken-, Finanz-, Wirtschafts-, Euro- und (Staats-)Schuldenkrise – verdeutlichen die Schwierigkeit, diese Krise terminologisch und analytisch präzise zu fassen und die mit der Krise verbundenen Implikationen und Auswirkungen zu beschreiben. Als die 2007 in den USA als Subprime-Krise ausgebrochene Krise im Jahr 2008 als globale Banken- und Finanzkrise und 2009 als Weltwirtschaftskrise den politischen, medialen und wissenschaftlichen Diskurs bestimmte – die Krise wurde zunächst also als genuin ökonomische, für kurze Zeit nach ihrem Ausbruch gar als spezifisch US-amerikanische Krise wahrgenommen – schien es noch so, als würden die modernen Gesellschaften vor tiefgreifenden Umbrüchen und Umwälzungen stehen. Unmittelbar nach Krisenausbruch wurde der Eindruck erweckt, als sollte diese polit-ökonomische Krise den Kapitalismus an sich sowie das Verhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus und die Rolle des Staates grundlegend verändern.

Zu Beginn der Krise erlebten Karl Marx und die marxistische Theorie eine Renaissance. Der Kapitalismusbegriff wurde als analytischer wie auch als wissenschaftlicher Leitbegriff rehabilitiert und grundsätzliche Kapitalismuskritik war auf einmal nicht mehr nur auf die gesellschaftliche Linke beschränkt, sondern gesellschaftliche Konvention und geradezu en vogue. Die Werke von Marx haben es sogar auf die Bestsellerlisten geschafft. Die Krise wurde gemeinhin als Krise des Kapitalismus und präziser als Krise des neoliberalen Finanzmarktkapitalismus wahrgenommen. Das allgemein dominierende Gefühl war: So geht es nicht weiter, es muss und es wird sich etwas ändern, und zwar grundlegend. Der Neoliberalismus und der durch die Politik entfesselte Finanzmarktkapitalismus schienen diskreditiert zu sein, ein starker Staat und keynesianische Wirtschaftspolitik standen plötzlich wieder auf der politischen Agenda. Proklamiert wurden die »Rückkehr des Staates« (Heinze 2009) und die »Rückkehr des Meisters« (Skidelsky 2010). Die Krise schien einen Wendepunkt zu markieren und auf einen Paradigmenwechsel im Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus hinzudeuten. Der Staat sollte wieder die gesellschaftlich dominante Steuerungsfunktion übernehmen und die demokratische Politik sollte die kapitalistischen Marktprozesse einhegen.

Doch ab 2010 veränderten sich Krisenwahrnehmung und Krisendiskurs. Zumindest in Deutschland und Europa dominierte fortan die Bezeichnung der Staatsschulden- bzw. Eurokrise. Diese Bezeichnung etablierte sich, als sich die wirtschaftliche Entwicklung nach dem Krisenjahr 2009 wieder stabilisierte und das Ausmaß der Staatsschulden, die maßgeblich auf die nach Krisenausbruch verabschiedeten Bankenrettungs- und Konjunkturprogramme zurückzuführen sind, sichtbar wurde. Weil von der Schuldenkrise vor allem Länder der Eurozone betroffen sind und mit der Krise die Gefahr eines Euro-Austritts einiger Länder und eines Scheiterns des Euro insgesamt bestand, wurde die Krise eben nicht nur als Staatsschuldenkrise, sondern auch als Euro-Krise oder als Krise des Euro-Raums bezeichnet. Es lassen sich also ein Bruch in der Kriseninterpretation, eine »Diskursverschiebung« (Mikfeld 2011: 234) und eine »Neudefinition der Krise« (Tooze 2018: 16) feststellen: Die Krise wurde nicht mehr primär als ökonomische, sondern fortan als politische Krise wahrgenommen. Damit stand nicht mehr das ökonomische System des Kapitalismus, sondern vielmehr das politische System unter Handlungs- und Rechtfertigungsdruck. Nach neoliberalem Credo lautete der gängige Lösungsweg aus der Krise: Die Staaten müssen ihre Schulden reduzieren und ihre Wettbewerbsfähigkeit stärken. Die Forderungen nach einem grundsätzlichen Paradigmenwechsel im Verhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus, die Forderungen nach einem die kapitalistische Wirtschaft weitreichend regulierenden Interventionsstaat sind ab 2010 nach und nach verklungen. Von weitreichender politischer Regulierung der Banken und Finanzmärkte ist kaum mehr die Rede. Stattdessen werden erneut die Selbstheilungskräfte des Marktes gepriesen und es wird – wie etwa in dem Jahresgutachten der Wirtschaftsweisen 2014/15 (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: 2014) – wieder »mehr Vertrauen in Marktprozesse« gefordert.

Obwohl dies 2009 noch undenkbar war und Veränderungen unvermeidbar zu sein schienen, muss konstatiert werden, dass wesentliche Veränderungen des Kapitalismus bislang ausgeblieben sind und dass die aktuelle Krise bislang nicht zu einem signifikanten Kurswechsel im Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus geführt zu haben scheint. Zwar ist »die neoliberale, marktdominante Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik mit ihrer Ideologie, sich selbst als alternativlos zu setzen, seit der Wirtschafts- und Finanzkrise ab 2007 in arge Erklärungsnöte geraten, dominant ist sie allerdings noch immer« (Kastrup 2014: 28). Es scheint gegenwärtig so zu sein, als seien die vor der Krise dominierenden Strukturen und Handlungsmuster weiterhin stabil, als gebe es ein schlichtes Weiter-So. Dies ist eigentlich überraschend, denn für gewöhnlich wird mit Krisen das Ende einer Entwicklungssequenz und das Entstehen von etwas Neuem verbunden. Besonders in der gesellschaftlichen Linken ist die Auffassung, dass Krisen als Katalysator für progressive gesellschaftliche und polit-ökonomische Veränderungen fungieren, weit verbreitet. Krisen wird umwälzendes, transformatorisches, systemveränderndes, bisweilen gar systemumstürzendes und revolutionierendes Potenzial zugeschrieben. Krisenzeitalter werden »als Zeitalter der Transformation« (Brie 2015e: 7) interpretiert. In Teilen der kritischen Sozialwissenschaft wurde und wird heute noch prognostiziert, dass Wirtschaftskrisen zwangsläufig zu einem Zusammenbruch des Kapitalismus führen müssen und werden. Doch die aktuelle Krise war – speziell in Deutschland – bislang weder eine »Stunde der Linken« noch ein nachhaltig wirkmächtiger Initiator für kritisches Bewusstsein. Die aktuelle Krise hat sich bislang nicht als Katalysator für tiefgreifende gesellschaftliche und polit-ökonomische Umwälzungen und schon gar nicht als Anstoß für revolutionäre Systemveränderungen erwiesen. Diese Diskrepanz zwischen anfänglicher begeisterter Hoffnung und den mittlerweile enttäuschten Erwartungen ist erklärungsbedürftig.

1.2Erkenntnisinteresse und zentrale Fragestellung

Es stellt sich die Frage, ob die kritische Sozialwissenschaft mit ihrem Krisenbegriff und ihrem Krisenverständnis die Folgen und Auswirkungen der aktuellen Krise angemessen beschreiben und analysieren kann. Vielleicht besitzt die kritische Sozialwissenschaft mithin ja ein falsches Verständnis davon, wodurch Krisen in der Gesellschaft ausgelöst werden und welche Folgen mit ihnen verbunden sind: Vielleicht führen Krisen ja, entgegen der weit verbreiteten Annahme, keineswegs – und schon gar nicht automatisch oder zwangsläufig – zu einer umfassenden Politisierung, zu weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen und polit-ökonomischen Transformationen, sondern es ist vielleicht vielmehr so, dass Krisen Fatalismus, Apathie und Resignation in der Gesellschaft befördern und die bestehenden Verhältnisse perpetuieren. Und wenn Krisen zu weitreichenden Veränderungen führen: Haben Krisen vielleicht eher regressive als progressive Folgen, bewirken Krisen also eher einen Rechtsruck als einen Linksruck? In Krisen scheinen verschiedene Entwicklungsvarianten möglich zu sein, wobei sich die Alternativen zwischen kontinuierlichem Weiter-So und fundamentalem Wandel, oder präziser: zwischen Reproduktion und Transformation zu bewegen scheinen. Krisen können zu transformativen Veränderungen führen, aber sie müssen es keinesfalls zwangsläufig. So scheint es in Krisensituationen sowohl transformierende Faktoren als stets auch »entgegenwirkende Ursachen« zu geben, also konter-transformierende Faktoren, die einer substanziellen Veränderung zuwiderlaufen. Daher können Krisen auch zu einer bemerkenswerten Kontinuität und Stabilität beitragen und die bestehenden Verhältnisse reproduzieren. Krisenprozesse scheinen sich also dadurch auszuzeichnen, dass in ihnen sowohl alternierende und transformierende Faktoren als auch konservierende, stabilisierende und reproduzierende Faktoren wirksam sind.

Angesichts von Ausmaß, Tiefe, Folgen und Dauer der seit 2007 virulenten Krisenkonstellation befasst sich diese Arbeit mit der Frage, warum bisher so wenig passiert ist, warum es bisher keine gravierenden Veränderungen im Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus gab. Warum ist die aktuelle Krise bislang keine Transformationskrise? Darüber hinaus stellt sich die grundsätzliche Frage, was Krisen überhaupt zu Transformationskrisen macht? Wann sind Krisen als transformative Krisen zu begreifen und wann nicht? Was ist der Maßstab für transformatorischen Wandel? Die vorliegende Untersuchung befasst sich mit den Auswirkungen von Großen Krisen in modernen kapitalistischen Gesellschaften auf das Verhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus und die Rolle des Interventionsstaates. Konkret handelt es sich um eine makrosoziale historisch-soziologische Studie, die den Einfluss von Krisen auf die widerspruchsvolle und konflikthafte Beziehung zwischen den gesellschaftlichen Makrostrukturen Demokratie und Kapitalismus sowie auf deren Entwicklung in den Blick nimmt. Die für eine gewisse geschichtliche Periode stabile, aber strukturell stets prekäre und fragile Konfiguration des Verhältnisses zwischen Demokratie und Kapitalismus bezeichne ich dabei als polit-ökonomisches Entwicklungsmodell.

Krisen sind auf der einen Seite das Produkt spezifischer Entwicklungen und auf der anderen Seite der Produzent spezifischer Entwicklungen. Untersucht werden soll in dieser Arbeit, wie Krisen entstehen und inwieweit Krisen die Entwicklung der polit-ökonomischen Ordnungsstruktur beeinflussen oder gar determinieren. Im Zentrum steht die Analyse der »Krisenbedingtheit und Krisenbedingung« (Jänicke 1973b: 15) des polit-ökonomischen Wandels. Untersucht wird, inwieweit polit-ökonomischer Wandel durch Krisen verursacht wird und wodurch polit-ökonomische Krisen selbst verursacht werden. Analysiert werden sowohl die Krisenentstehung bzw. Krisengenese wie auch die Krisenfolgen bzw. die Generierungseffekte von Krisen. Beleuchtet werden die polit-ökonomischen Effekte, die Krisen überhaupt erst verursachen, ebenso wie die polit-ökonomischen Effekte, die die Krisen selbst verursachen. Konkret besteht das Erkenntnisinteresse darin herauszuarbeiten, inwieweit und vor allem aufgrund welcher Faktoren Krisen transformativ wirken und in der Folge die bestehenden polit-ökonomischen Strukturen, also das spannungsreiche Verhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus verändern. Oder im Gegensatz dazu aufzuzeigen, aufgrund welcher Faktoren eine Krise gerade nicht transformativ wirkt und die bestehenden polit-ökonomischen Verhältnisse trotz bzw. gerade durch Krisen reproduziert werden. Die gesellschaftlichen Transformations- und Stabilisierungseffekte polit-ökonomischer Krisen sollen herausgearbeitet werden. Kurzum: Untersucht werden soll, unter welchen Voraussetzungen Krisen polit-ökonomische Transformationskrisen sind.

In historisch-soziologischer Perspektive stellt sich zudem die Frage, welche Rückschlüsse sich aus der Analyse früherer Krisen und den dadurch ausgelösten Entwicklungen für den aktuellen Krisenverlauf und für potenzielle Veränderungen im Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus ableiten lassen. Können die vorherigen Großen Krisen von 1873–1895, 1929ff. und 1973ff., ihre politischen und wirtschaftlichen Bearbeitungsstrategien und die daraus resultierten gesellschaftlichen und polit-ökonomischen Konsequenzen als Kontrastfolie bzw. als Referenz für aktuelle Krisenfolgen gelten? Welche Folgen ergeben sich aus der Analyse der Großen Krisen für das Krisenverständnis der Soziologie im Allgemeinen und die soziologische Krisenforschung im Speziellen? Welche Diagnose- und Prognosefähigkeit besitzen soziologische Krisentheorien und analysen überhaupt? Die vorliegende Arbeit bezieht sich auf das historische Selbstverständnis des Fachs als Krisenwissenschaft und behandelt eine der Grundfragen der Soziologie: Es geht um »Antworten auf die ›großen‹ Fragen der Stabilitätsbedingungen und der Transformation von Gesellschaften« (Friedrichs/Lepsius/Mayer 1998: 15). Krisen werden als gesellschaftstheoretische Kategorie und zentraler Faktor des polit-ökonomischen Wandels aufgefasst, als »zentraler Kristallisationspunkt für Erklärungsansätze, um sowohl Kontinuitäten über Brüche hinweg als auch Wandel zu begründen und zu deuten« (Meyer/Patzel-Mattern/Schenk 2013b: 11). Um darlegen zu können, wann Krisen Transformationskrisen sind, inwieweit und in welche Richtung Krisen das herrschende polit-ökonomische Ordnungssystem und damit das Zusammenspiel von Demokratie und Kapitalismus verändern, müssen die zentralen Begriffe und Konzepte geklärt sein.

Die Analyseeinheiten Demokratie, Kapitalismus, Krise sowie Transformation und Transformationskrise eint zunächst einmal die Tatsache, dass sie – wie viele andere sozialwissenschaftliche Schlüsselkategorien und Kernkonzepte – keine einheitliche und allgemeingültige Definition besitzen. Vielmehr ist der Bedeutungsinhalt dieser Begriffe oft unklar, die mit ihnen verbundenen Implikationen sind umstritten und umkämpft. Zur Annäherung an diese Konzepte werden verschiedene Aspekte betont, der Fokus der Betrachtung dieser Kategorien unterscheidet sich – oft in Abhängigkeit der theoretischen Perspektive – erheblich. Daher müssen die zentralen Begriffe und Konzepte klar und präzise definiert werden. Krisen- und Transformationsanalysen müssen klären, was genau in die Krise gerät und welcher soziale Bereich transformiert wird. Es muss zudem geklärt werden, warum eine Krise ausbricht und warum es – bzw. warum es gerade nicht – zu einer Transformation kommt, was die treibenden Kräfte der Entwicklungsdynamik sind, wie genau Krisen und transformativer Wandel ablaufen, welche handelnden Personengruppen beteiligt sind und welche Rolle die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse spielen. Nicht zuletzt müssen die konkreten Auswirkungen und Resultate von Krisen und Transformationen betrachtet werden. Anders formuliert: Krisen- und Transformationsanalysen brauchen einen konkreten Bezugsrahmen und Anwendungsbereich, sie müssen Krisenausbruch und Transformationen bzw. ausbleibende Transformationen erklären, also die entscheidenden Ursachen, Gründe und Triebkräfte der stattfindenden Entwicklungen herausarbeiten. Dabei sind die relevanten Akteurs- und Interessenkonstellationen sowie die gesellschaftlichen Macht-, Kräfte- und Hegemonieverhältnisse zu berücksichtigen. Zudem müssen Krisen- und Transformationsanalysen die konkret wirkenden Prozessdynamiken und Mechanismen beschreiben sowie die gesellschaftlichen Konsequenzen und Folgen untersuchen, also die Effekte und Implikationen von Krisen und Transformationen evaluieren und abschätzen.

1.3Struktur und Aufbau der Arbeit

Um explizieren zu können, was polit-ökonomische Krisen in der Gesellschaft auslösen, unter welchen Faktoren Krisen das herrschende polit-ökonomische Ordnungssystem transformieren bzw. reproduzieren und was eine je spezifische Krise für Auswirkungen haben könnte, ist neben einer theoretischen Krisen- und Transformationsanalyse – der theoretischen Analyse der Ursachen, Entstehungsbedingungen und potenziellen Folgen von Krisen sowie der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Konzept gesellschaftlicher und polit-ökonomischer Transformationen – eine empirische Betrachtung notwendig. Eine makrosoziale historisch-soziologische Analyse von Großen Krisen, die die gesellschaftliche und polit-ökonomische Ordnung der demokratisch-kapitalistischen Staaten transformiert haben, ist unumgänglich: Die soziale und die polit-ökomische Welt können »nur als geschichtlich sich entwickelnde« (Streeck 2014a: 147) verstanden und erforscht werden. Die vorliegende Arbeit wird von der Prämisse geleitet, dass Krisen- und Transformationsprozesse nur mit einer solchen historischen Analyse adäquat erfasst werden können.

Als systemisch hervorgerufene gesellschaftliche Phänomene gehören Krisen notwendigerweise zum Kapitalismus. Daher müssen einerseits Krisen und ihre Entstehung auf allgemein-abstrakter Ebene theoretisch analysiert und in ihrer grundlegenden systemischen Erscheinung betrachtet werden. Krisen müssen aber andererseits auch konkret auf empirischer Ebene untersucht und in ihrer Einzigartigkeit und singulären Dynamik analysiert werden. »Findet jede Krise ihre letzte Ursache im Kapitalismus selbst, so unterscheidet sich jede einzelne Krise von der ihr vorhergehenden« (Mattick 1974: 77) im Hinblick auf den konkreten Auslöser, den konkreten Verlauf und die konkreten Folgen. Für gesellschaftliche und polit-ökonomische Transformationsprozesse gilt ebenfalls, dass sie nicht nur abstrakt-theoretisch analysiert werden dürfen, sondern auch empirisch untersucht werden müssen. Da »sich Transformation als realgeschichtlicher Prozess nicht als kontinuierliche Höherentwicklung auf der Grundlage eines universellen Musters […] vollzieht, sondern ein mehrdimensionaler, diskontinuierlicher und fragiler Prozess ist, der ebenso Stagnation oder Scheitern im Sinne gesellschaftlicher Regression einschließt« (Reißig 2009: 35), ist eine Betrachtung der jeweiligen Transformationsprozesse in ihrer Einzigartigkeit und konkreten Dynamik unumgänglich.

Eine soziologisch angemessene Krisen- und Transformationsanalyse muss Theorie und Empirie verknüpfen: Die Analyse kann »weder allein mit empirie-abstinenten Theorien noch mit theoriefernen empirischen Analysen« (Merkel 2015a: 9) erfolgen. Um die gesellschaftlichen Transformations- und Stabilisierungseffekte polit-ökonomischer Krisen herauszuarbeiten, ist es nicht ausreichend, ausschließlich auf theoretischer Ebene die strukturellen Ursachen, Erscheinungsformen sowie die potenziellen Folgen und die möglichen Transformationseffekte von Krisen zu analysieren. Krisen können abstrakt durch Theorien erklärt werden, aber dabei handelt es sich um idealtypische Modelle, von der sich Krisen in der empirischen Realität stets unterscheiden. Kapitalistische Krisen besitzen grundsätzlich »einen doppelten Charakter: Sie sind Ausdruck der regulären Schwingungen des kapitalistischen Prozesses, deren jeweilige Ausformung zugleich aber immer ein konkretes, vor allem jedoch komplexes Phänomen darstellt, das sich nur sehr begrenzt konzeptionell fassen lässt« (Hesse/Köster/Plumpe 2015: 22). Es ist daher neben der grundlegenden theoretischen Analyse notwendig, Krisen jeweils empirisch-konkret auf ihre Spezifika, auf ihre tatsächlichen Ursachen und Entstehungsbedingungen sowie auf ihre Dynamiken, also auf die durch die Krise hervorgerufenen gesellschaftlichen Auswirkungen hin zu untersuchen. Es ist entscheidend, Krisen und Transformationen als komplexe und kontingente sowie als geschichtlich offene Phänomene zu fassen. Krisen haben stets einen allgemeinen und einen besonderen Charakter. Krisen haben strukturelle Gründe und Ursachen, aber der tatsächliche Ausbruch, der exakte Auslöser, der konkrete Verlauf, die jeweiligen Reaktionen auf die Krise sowie die besonderen Folgen sind historisch-spezifisch und müssen in ihrer Singularität analysiert und beschrieben werden. Gleiches gilt für gesellschaftliche und polit-ökonomische Transformationen. Diesen doppelten Charakter der Systematik und Spezifik muss eine angemessene Krisen- und Transformationsanalyse in Rechnung stellen.

Daher werden in der vorliegenden Arbeit neben einer theoretischen Analyse von Krisen- und Transformationsprozessen in einer Fallstudie die einschneidenden Großen Krisen in den modernen demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften in ihren Entstehungsbedingungen und vor allem in Bezug auf die mit den jeweiligen Krisen verbundenen Konsequenzen für die polit-ökonomische Ordnung untersucht. Namentlich handelt es sich bei den Großen Krisen um die Great Depression 1929ff., die Stagflationskrise 1973ff. und die globale Finanz- und Wirtschaftskrise 2007ff. Auf die Große Depression 1873–1895, die angesichts ihrer Dauer, Intensität und Tiefe sowie ihrer gesellschaftlichen, politisch-sozialen und wirtschaftlichen Nachwirkungen ebenfalls eine Große bzw. organische Krise des Kapitalismus darstellt, wird in der Fallstudie in einem Exkurs eingegangen. Auf eine weitergehende Analyse dieser Krise wird an dieser Stelle verzichtet, da zum Zeitpunkt der Krise nicht alle in der vorliegenden Arbeit betrachteten Länder – etwa Deutschland – sowohl kapitalistisch als auch demokratisch verfasst waren. Daher lassen sich die Auswirkungen dieser Krise auf das Verhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus nicht untersuchen. Da es sich aber um eine Große Krise handelt, die Auswirkungen auf den Kapitalismus sowie auf das Verhältnis zwischen Staat und Markt hatte, soll diese Krise Erwähnung finden.

In einem diachronen Krisenvergleich sollen die spezifischen Ursachen der jeweiligen Krisen sowie die relevanten Kriterien, Bedingungen und Voraussetzungen für den späteren Verlauf der Krisen und die daraus resultierten polit-ökonomischen Folgen und Implikationen herausgearbeitet werden. Dabei stehen lange Linien und historische Sequenzen der polit-ökonomischen Entwicklung im Vordergrund (vgl. dazu auch Streeck 2013a: 18). Historisch-soziologische Analysen mit zeitdiagnostischem Anspruch basieren auf der Annahme, dass die Analyse aktueller, »selbst historisch gewordner Verhältnisse […] auf eine hinter diesem System liegende Vergangenheit hinweisen« (Marx 2015c: 373), dass die Analyse der Gegenwart nicht ohne die Analyse der Geschichte verstanden werden kann. Eine historisch-soziologische Analyse von Großen Krisen kann helfen, aus der Vergangenheit zu lernen, anstehende Entscheidungsprozesse sowie Krisendynamiken einzuschätzen und aus den geschichtlichen Erfahrungen Entwicklungsoptionen für die zukünftige Entwicklung abzuschätzen – ohne dabei eine historisch notwendige Entwicklungstendenz zu unterstellen. Bei Krisentheorien und krisentheoretischen Analysen handelt es sich – wie Prisching rekurrierend auf Zapfs Überlegungen zu Theorien sozialen Wandels zu Recht feststellt – um komplexe »Aussagen und Interpretationen der Ursachen, Abläufe und Wirkungen gesellschaftlicher Veränderungen, um Kombinationen von Theorien, Modellen, Metatheorien und komparativen Analysen« (Prisching 1986: 34). Die vorliegende Arbeit ist als breit angelegte Literaturstudie und integrative Analyse konzipiert, neben klassisch soziologischen und polit-ökonomischen Ansätzen werden theoretische Arbeiten der Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Philosophie und Geschichtswissenschaft analysiert.

Um die Ziele der Arbeit zu erreichen und um herausarbeiten zu können, inwieweit und unter welchen Bedingungen Krisen in modernen, demokratisch-kapitalistisch verfassten Gesellschaften das polit-ökonomische System verändern, wird der methodischen Anweisung, »vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen« (Marx 2015b: 632), gefolgt. Zunächst werden in den folgenden Kapiteln auf abstrakt-theoretischer Ebene die für die Arbeit grundlegenden Begriffe, Konzepte und Theorien vorgestellt, dann erfolgt auf konkreter Ebene die empirische Analyse der historisch-spezifischen polit-ökonomischen Entwicklungsmodelle und der jeweiligen Großen Krisen. Die Marx’sche Methode, vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, wird darüber hinaus auch in den einzelnen Kapiteln zu den grundlegenden Begriffen, Konzepten und Theorien verfolgt. Im zweiten Kapitel werden zunächst die Begriffe Kapitalismus und Demokratie geklärt und untersucht, in welchem Verhältnis die beiden gesellschaftlichen Makrostrukturen stehen. Dabei wird das komplexe Verhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus auf abstrakter Ebene als widersprüchliches Wechselwirkungsverhältnis untersucht und konkret als polit-ökonomisches Entwicklungsmodell bestimmt. Als polit-ökonomisches Entwicklungsmodell bezeichne ich das historisch-spezifische Arrangement des Verhältnisses zwischen Demokratie und Kapitalismus, das durch eine spezifische Ausgestaltung der Regulierungspraxis des Interventionsstaates charakterisiert ist, die sich im Spannungsfeld zwischen der demokratisch-gesellschaftlichen Regulierung des Kapitalismus durch den Staat und der sich selbst regulierenden kapitalistischen Marktwirtschaft bewegt.

Im dritten Kapitel erfolgt eine gründliche Betrachtung des Krisenbegriffs und der relevanten Krisentheorien. Zunächst wird nach einer begriffsgeschichtlichen Einführung auf allgemein-abstrakter Ebene dargelegt, warum sich der Krisenbegriff zum Leitmotiv moderner Gesellschaften entwickeln konnte. Es wird untersucht, was den Krisenbegriff grundsätzlich auszeichnet, was ihn so attraktiv macht und zur Beschreibung so vielfältiger gesellschaftlicher Problembereiche prädestiniert. Zudem wird auf Schwierigkeiten bei der Definition und Verwendung des Krisenbegriffs eingegangen. Danach werden sozialwissenschaftliche Krisenbegriffe und -definitionen präsentiert, ehe Krisen konkret als polit-ökonomische Systemkrisen sowie als gesellschaftstheoretische Kategorie und zentraler Faktor polit-ökonomischen Wandels bestimmt werden. Darüber hinaus werden im dritten Kapitel die für die Arbeit zentralen Krisentheorien vorgestellt und dargelegt, wie die Ursachen, Entstehung und Verlauf von Krisen erklärt werden und mit welchen gesellschaftlichen und polit-ökonomischen Konsequenzen und Implikationen Krisen verbunden sein können. Dabei handelt es sich um Krisentheorien kapitalistischer Gesellschaften, die ökonomische Krisen als Systemkrisen auffassen, Krisen als gesellschaftstheoretische Kategorie interpretieren und die gesellschaftlichen sowie polit-ökonomischen Konsequenzen von Krisen analysieren. Konkret werden die Krisentheorie von Marx, die Krisentheorie von Gramsci und der Regulationsschule vorgestellt. Darüber hinaus erfolgt eine Explikation des Begriffes Transformation. Abschließend wird in diesem Kapitel eine Krisentypologie entwickelt, in der Transformationskrisen von Reproduktions- und Reformismuskrisen abgegrenzt werden. In diesem Abschnitt werden das für die Arbeit maßgebliche Verständnis von Transformation sowie die zentralen Maßstäbe für transformativen Wandel erarbeitet und definiert, welche Faktoren und Konfigurationen Krisen zu Transformationskrisen machen.

Nach der begrifflichen, konzeptionellen und theoretischen Grundlegung erfolgt im vierten Kapitel die Fallstudie mit der konkreten historisch-soziologischen Analyse der spezifischen polit-ökonomischen Entwicklungsmodelle und der Großen Krisen in den modernen kapitalistischen Gesellschaften. Die historisch-konkreten polit-ökonomischen Konfigurationen des Verhältnisses zwischen Demokratie und Kapitalismus unterscheide ich als liberales Entwicklungsmodell, als sozialliberales Entwicklungsmodell und als neoliberales Entwicklungsmodell. In diesem Kapitel werden die zentralen Ursachen und Entstehungsbedingungen der Krisen, der Krisenverlauf, die Reaktionen auf die Krisen und vor allem die Auswirkungen der Krisen auf die polit-ökonomischen Strukturen analysiert. Es wird also untersucht, inwieweit und auf welche Art und Weise sich das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus verändert hat. Zu Beginn dieses Kapitels werden – nach einem Exkurs über das von mir so bezeichnete ultra-liberale Entwicklungsmodell und die Große Depression 1873–1895 – das liberale Entwicklungsmodell und die Great Depression 1929ff. analysiert. Im zweiten Teil des Kapitels werden das sozialliberale Entwicklungsmodell und die Stagflationskrise 1973ff. betrachtet und im dritten Abschnitt erfolgt die Analyse des neoliberalen Entwicklungsmodells und der aktuellen Finanz- und Wirtschaftskrise.

Im fünften Kapitel wird auf Grundlage der Fallstudie und der theoretischen Reflexionen untersucht, aufgrund welcher Faktoren, Tendenzen und Effekte Krisen das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus verändern bzw. stabilisieren. Auf dieser Basis soll ein krisentheoretisches Modell entwickelt werden, das eine Krisenheuristik bzw. eine Krisentaxonomie umfasst. In einem krisentheoretischen Klassifikationsschema sollen die zentralen Kriterien aufgelistet werden, die dazu führen, inwieweit und in welche Richtung Krisen das polit-ökonomische System affizieren. Mit anderen Worten wird erarbeitet, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit Krisen zu Transformationen des polit-ökonomischen Systems führen und das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus verändern. Zudem wird im fünften Kapitel der Versuch unternommen, ein zeitgemäßes soziologisches Krisenverständnis zu (re-)formulieren. Dabei werden Krisen als dialektische Doppelinstanz zwischen Kontinuität und Bruch bestimmt, die eine ambivalente Wirkung entfalten können, da sie sowohl transformierend als auch reproduzierend wirken können, sowohl progressive als auch regressive Folgen haben können. Zudem soll auf Grundlage der vorangegangenen Analyse und des krisentheoretischen Modells aufgezeigt werden, wie die aktuelle Krise zu bewerten ist, also welche potenziellen Folgen und welche potenziellen Entwicklungsmöglichkeiten sich aus der aktuellen Krisenkonstellation ergeben. Abschließend erfolgen ein theoretisch-konzeptionelles Fazit und ein Ausblick. Neben einem Resümee werden krisentheoretische Rückschlüsse für die Soziologie, das soziologische Krisenverständnis und die soziologische Krisenforschung gezogen. Es wird der allgemeineren Frage nachgegangen, wie die (kritische) Soziologie mit Krisen und dem Krisenbegriff umgehen soll. Es wird herausgearbeitet, was eine Soziologie der Krise bzw. soziologische Krisentheorien und Krisenanalysen zu leisten vermögen und wo Potenziale und Grenzen soziologischer Krisenanalysen und Krisentheorien liegen.

2Ein kompliziertes Paar: Demokratie und Kapitalismus

Demokratie und Kapitalismus sind – ebenso wie der Staat, ohne den, wie noch zu zeigen sein wird, das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus nicht adäquat bestimmt werden kann – die wesentlichen makrosozialen Konstituenten moderner Vergesellschaftung. Die modernen westlichen Gesellschaften sind demokratische und kapitalistische Gesellschaften, der moderne Staat ist sowohl ein demokratischer als auch ein kapitalistischer Staat. Die vorliegende Analyse des polit-ökonomischen Ordnungssystems moderner Gesellschaften basiert zuallererst auf der Prämisse, »dass die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der reichen Demokratien immer noch eine kapitalistische und deshalb, wenn überhaupt, nur mit einer Theorie des Kapitalismus zu verstehen ist« (Streeck 2013a: 9). Das bedeutet zunächst einmal, dass die modernen Gesellschaften vor allem als kapitalistische Gesellschaften verstanden und analysiert werden müssen. Damit einher geht auch, »dass wir nicht sinnvoll über die Zukunft der Demokratie, in Europa und anderswo, sprechen können, ohne zugleich über die des Kapitalismus zu sprechen – in anderen Worten, dass wir Demokratietheorie nicht ohne politische Ökonomie betreiben können« (Streeck 2013b: 102). Umgekehrt gilt aber auch, dass der moderne Kapitalismus nicht ausschließlich ein ökonomisches Phänomen ist, sondern bereits seit seiner Entstehung »ebenso ein politischer wie auch ein ökonomischer Raum ist« (Meiksins Wood 2010: 292) und nur als solcher angemessen analysiert werden kann.

Gleiches gilt für die sozioökonomische Struktur, das Ausmaß der sozialen Ungleichheit und die Vermögens- und Wohlstandsverteilung in demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften. Ungleichheit ist zwar gewiss immer ökonomisch-materieller Natur, aber »immer auch eine durch und durch politische Geschichte« (Piketty 2015: 39). Für die modernen demokratisch-kapitalistischen Staaten, die im Zentrum der Arbeit stehen, bedeutet das, dass »die ökonomischen und politischen Entwicklungen sich so wenig voneinander ablösen lassen, dass sie auch gemeinsam untersucht werden müssen« (ebd.: 793). Demokratie und Kapitalismus können in unserem Kontext nicht separat voneinander untersucht werden, denn sie stehen in Relation zueinander; zwischen ihnen besteht ein reflexives Verhältnis. Das bedeutet nicht, dass Kapitalismus und Demokratie untrennbar zusammengehören und notwendigerweise einander bedingen, sondern schlicht, dass die Interdependenzen, die wechselseitige Bezogenheit und wechselwirkende Strukturierung zwischen Demokratie und Kapitalismus in den Blick genommen werden müssen. Moderne Gesellschaften sind durch den systemischen Konflikt zwischen Demokratie und Kapitalismus strukturiert. Eine angemessene polit-ökonomische Analyse muss von der Grundannahme ausgehen,

»dass die moderne Gesellschaft durch den Strukturkonflikt zwischen Markt und Staat, Ökonomie und Politik bestimmt ist, der sich empirisch in den (insofern ›immer schon‹ vorstrukturierten) sozialen Kämpfen zwischen Kapital und Arbeit manifestiert – deren relative Machtressourcen wiederum, im Sinne von ›mehr‹ oder ›weniger‹ staatlicher Intervention in das Marktgeschehen, über die historisch konkrete Ausgestaltung dieses strukturellen Spannungsverhältnisses bestimmen« (Lessenich 2012a: 78).

Staat, Kapitalismus und Demokratie sind nicht nur zentrale gesellschaftliche Makrostrukturen, »sondern (genauer) als Strukturbildungen der gesellschaftlichen Moderne zu verstehen« (Borchert/Lessenich 2012b: 288). Sie stellen die zentralen Instanzen dar, um Struktur und Dynamik, um Reproduktion und Transformation der sozialen, politischen und ökonomischen Verhältnisse moderner Gesellschaften analysieren zu können.

Bevor das Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus genauer untersucht wird, erfolgt zunächst eine Darlegung, was unter Kapitalismus und Demokratie zu verstehen ist. Dabei werden die Systeme Demokratie und Kapitalismus im Singular analysiert und behandelt. Damit soll allerdings nicht suggeriert werden, dass beide Systeme statisch und unveränderlich, dass sie überall und für alle Zeit identisch sind. Es soll damit auch keinesfalls behauptet werden, dass Demokratie und Kapitalismus nicht in Raum und Zeit variieren und unterschiedliche Ausprägungen annehmen können. Es gibt nicht die »eine« Demokratie und nicht den »einen« Kapitalismus. Sowohl die Demokratie als auch der Kapitalismus können verschiedene Formen annehmen, es gibt feine Unterschiede zwischen den Demokratien und den Kapitalismen (vgl. Lessenich 2003a: 69). Es lassen sich verschiedene Varianten des Kapitalismus identifizieren, und es existieren auch unterschiedliche Typen der Demokratien.7 Wissenschaftlich einflussreich war insbesondere die Analyse der unterschiedlichen Varianten des Kapitalismus. Vor allem nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus wurde »der Begriff des Kapitalismus gleichsam vom Singular in den Plural versetzt« (Offe 2006: 195). Der Kapitalismus wurde vielfach nicht mehr als einheitliches und ganzheitliches ökonomisches und soziales System betrachtet, stattdessen wurden die Unterschiede der nationalstaatlich verfassten Kapitalismen – etwa die Art und Weise der Produktion, das Verhältnis und die Konflikte zwischen Kapital und Arbeit, das Ausmaß der sozialen Sicherung sowie die Gestaltung der politischen Regulierung – hervorgehoben und verschiedene Typen des Kapitalismus identifiziert (vgl. kritisch dazu Rosa 2009: 97–101).

In der vorliegenden Arbeit wird davon abgesehen, »die institutionellen Besonderheiten des Kapitalismus auf nationaler Ebene für wichtiger zu halten als seine systemischen Gemeinsamkeiten« (Streeck 2014a: 149). Analog dazu werden auch für die Demokratie die systemischen Gemeinsamkeiten und nicht die spezifischen Besonderheiten betont. Demokratie und Kapitalismus werden im Singular, also als einheitliche gesellschaftliche Systeme analysiert. Diese ganzheitliche Perspektive wird aus forschungsstrategischen, theoretischen und empirischen Gesichtspunkten verfolgt. Forschungsstrategisch spricht für diese Perspektive, dass auf diese Weise die Effekte von Großen Krisen auf das Zusammenspiel von Demokratie und Kapitalismus herausgearbeitet werden können. In der vorliegenden makrosozialen Analyse der Auswirkungen von transnational prozessierenden Wirtschaftskrisen auf die polit-ökonomischen Ordnungsstrukturen moderner, demokratisch und kapitalistisch verfasster Gesellschaften steht nicht die nationalspezifische Entwicklung der einzelnen Staaten, sondern die allgemeine, grundlegende Entwicklungstendenz der demokratisch-kapitalistischen Staaten im Mittelpunkt des Interesses. Daher wird der Fokus auf die strukturellen Übereinstimmungen und institutionellen Gemeinsamkeiten und nicht auf die nationalspezifischen Besonderheiten und feinen Unterschiede gerichtet.

Theoretisch spricht für diese Perspektive, dass sowohl Demokratie als auch Kapitalismus eine jeweils charakteristische basale Eigenlogik besitzen und dass beide zentrale definitorische Eigenschaften, also einen funktionalen Wesenskern und spezielle Strukturmerkmale besitzen, die die Klassifizierung als demokratische bzw. kapitalistische Ordnung rechtfertigen. Die »Grundprinzipien« (Rosa 2009: 98) bzw. »Grundeigenschaften« (Bischoff/Steinitz 2016: 100), die »identitätsbildenden Kernelemente« (Merkel 2015b: 474) bzw. der »normative Kern« (Deppe 2013:70) sowohl des Kapitalismus als auch der Demokratie sind über alle historischen Epochen stabil geblieben und unverändert gültig. Das System des Kapitalismus erweist sich wie auch das System der Demokratie zwar als »flexibel in seiner Operationsweise« (Offe 1998: 361), aber »stabil und sogar rigide in seiner basalen Logik« (ebd.).8 Unterschiede zwischen einzelnen Varianten oder historischen Formen des Kapitalismus und der Demokratie lassen sich überhaupt erst voneinander unterscheiden, wenn geklärt ist, was Kapitalismus und Demokratie im Kern ausmachen. Empirisch spricht für diese Perspektive, dass in der langfristigen polit-ökonomischen Entwicklungstendenz der demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften die Parallelen die nationalspezifischen Unterschiede bei weitem überwiegen (vgl. Streeck 2013a: 13). Die polit-ökonomische Entwicklungsrichtung dieser Länder folgt dem gleichen Muster, sie ist »unverkennbar von derselben Logik geprägt« (Streeck 2014a: 148). Zudem zeigt die Entwicklungsgeschichte, dass – auch wenn es in der Realität stets Variationen und unterschiedliche Ausprägungen des Kapitalismus gegeben hat – in verschiedenen historischen Phasen jeweils ein »Typ des Kapitalismus die Tendenz eines dominanten Paradigmas angenommen hat« (Merkel 2015b: 486). Bevor das Verhältnis der beiden gesellschaftlichen Strukturbildungen in den Blick genommen wird, werden im Folgenden Grundprinzipien, elementare Logik und die zentralen Wesens- und Strukturmerkmale des Kapitalismus und der Demokratie herausgearbeitet.

2.1Kapitalismus

Kapitalismus bezeichnet als ökonomische Kategorie eine spezifische Wirtschaftsweise und als gesellschaftstheoretische Kategorie eine historisch-spezifische Gesellschaftsformation. Der Kapitalismus ist ein äußerst dynamisches Gesellschaftssystem, das sich durch seine ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Charakteristika von vorangegangen Produktionsweisen und Gesellschaftsformationen wie dem Feudalismus abgrenzt. Entscheidend ist, dass es sich beim Kapitalismus um mehr als nur ein Wirtschaftssystem und eine Wirtschaftsweise, um mehr als nur eine Marktwirtschaft handelt. Der Kapitalismus beschreibt vielmehr ein »gesellschaftliches Verhältnis« (Marx 2013: 793), einen »gesellschaftlichen Strukturzusammenhang« (Kraemer 2001: 113). Der Kapitalismus muss als Gesellschaftsordnung verstanden werden und kann nur als solche adäquat analysiert werden. Der Kapitalismus umfasst das gesamte »ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« (Marx 1981: 6), die ökonomische Struktur ebenso wie die gesellschaftlichen Konflikte sowie die politisch-sozialen Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Daher muss der Kapitalismus als ökonomisch-soziale und als politische Herrschaftsordnung, als ökonomische Produktionsweise sowie als »System sozialer Beziehungen und als politisches Terrain« (Meiksins Wood 2010: 20) verstanden und analysiert werden.9 Etymologisch geht der Terminus Kapitalismus auf den Begriff Kapital zurück. Die Bezeichnung Kapital wiederum geht auf die lateinischen Wörter caput, das übersetzt Kopf bzw. Hauptsache bedeutet, und capitalis, das übersetzt den Kopf betreffend bedeutet.

Kapital ist die zentrale Kategorie in der kapitalistischen Produktionsweise und besitzt eine spezifische Funktion. In einer Minimaldefinition bezeichnet Kapital »Geld, das investiert wird, um mehr Geld zu erhalten. Der Begriff Kapital wird häufig in einem erweiterten Sinn als Bezeichnung für Geld verwendet, welches für Investitionen verfügbar ist, oder auch für jeden Sachwert, der sich leicht in Geld für Investitionen umsetzen lässt« (Fulcher 2008: 23). Kapital als ökonomische Kategorie lässt sich definieren als »investierter oder investierbarer Reichtum« (Calhoun 2014: 170). Grundsätzlich umfasst Kapital »alle Vermögensarten, die Menschen (oder Gruppen von Menschen) gehören und von ihnen weitergegeben oder dauerhaft auf einem Markt getauscht werden können« (Piketty 2015: 71). Der Begriff Kapital bezieht sich somit nicht ausschließlich auf Geld, sondern auch auf Vermögenswerte wie Grundstücke, Immobilien, Gebäude, Werkzeuge, Maschinen und Wertpapiere. Kapital kann also verschiedene Formen annehmen – etwa Boden-, Immobilien-, Industrie- oder Finanzkapital. Von zentraler Bedeutung für den Kapitalismus ist, dass Kapital investiert wird, also mit dem Ziel eingesetzt wird, sich zu vermehren und einen Profit zu erzielen. Im Kapitalismus bezeichnet Kapital jedoch mehr als nur eine rein ökonomische Kategorie.

Das Kapital besitzt vielmehr »einen spezifischen gesellschaftlichen Charakter« (Marx 2008: 822), es »ist kein Ding, sondern ein bestimmtes, gesellschaftliches, einer bestimmten historischen Gesellschaftsformation angehöriges Produktionsverhältnis« (ebd.). Marx betont, »daß das Kapital nicht eine Sache ist, sondern ein durch Sachen vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen« (Marx 2013: 793), und zwar zwischen Personen, die sich durch ihre verschiedene Stellung im kapitalistischen Produktionsprozess und damit durch eine asymmetrische Macht- und Herrschaftsbeziehung, durch eine Ausbeutungsbeziehung auszeichnen. Das Kapital »ist eine gesellschaftliche Macht« (Marx/Engels 1990: 476; vgl. auch Marx 2008: 274). Insofern lässt sich der Begriff Kapital nur als ökonomische und gesellschaftliche Kategorie angemessen erfassen. Die Begriffsgeschichte des Kapitalismus zeigt, dass dieser Terminus »nicht so alt ist wie die real existierende Gesellschaftsformation« (Altvater 2011a: 34).10 Während der Begriff Kapital teilweise bereits im Mittelalter verwendet wurde und seit dem frühen 16. Jahrhundert in der Kaufmannssprache fest verankert war – auch der Begriff Kapitalist existierte bereits vor der Etablierung der Bezeichnung Kapitalismus –, setzte sich der Begriff Kapitalismus erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert zunächst im Französischen, dann im Deutschen und im Englischen durch.

In Deutschland entstammt der Begriff Kapitalismus »der sozialdemokratischen Publizistik und sozialistischen Gesellschaftskritik« (Hilger 1982: 443), er wurde zuerst vom Ökonomen und Sozialisten Karl Rodbertus und vom Sozialisten und Gründervater der Sozialdemokratie Wilhelm Liebknecht verwendet (vgl. ebd.: 443f.; vgl. auch Kocka 2013: 6–9; Altvater 2011a: 34f.). Liebknecht sprach 1872 in einer Rede vom »Moloch des Kapitalismus« (Liebknecht 1891: 37), der sich mit der Industrialisierung herausgebildet habe. Rodbertus behauptete schon 1869, dass sich »ein System der Capitalpräponderanz ausbildet, das mit Recht das System des Capitalismus heisst« (Rodbertus 1876: XV). Wie Marx verweist Rodbertus darauf, dass es sich beim Kapitalismus nicht ausschließlich um ein ökonomisches Phänomen, sondern um »ein sociales System« (ebd.) und ein gesellschaftliches Verhältnis handelt. Die Einführung des Begriffs Kapitalismus als wissenschaftliche Analysekategorie ist insbesondere auf die Arbeiten von Werner Sombart und Max Weber zurückzuführen (vgl. Hilger 1982: 442ff.).11 Die bis heute einflussreichste wissenschaftliche Analyse und Kritik des Kapitalismus und der kapitalistischen Gesellschaft stammt jedoch von Karl Marx – obwohl er in seinen Abhandlungen nicht explizit vom Kapitalismus, sondern vom Kapital, der kapitalistischen Produktionsweise und der bürgerlichen Gesellschaft sprach.12

Insgesamt zeigt die Begriffsgeschichte: Der Terminus Kapitalismus »entstand aus dem Geist der Kritik und der Perspektive des Vergleichs« (Kocka 2013: 9) und zeichnet sich bis heute durch eine »Doppelfunktion« (ebd.) aus. Einerseits handelt es sich um einen politisch-sozialen Kampfbegriff (vgl. Hilger 1982: 442–445), andererseits handelt es sich um eine wissenschaftliche Analysekategorie. Der Kapitalismus ist seit seiner Etablierung ein kontroverser Begriff, viele Wissenschaftler, aber auch Politiker und Journalisten vermeiden die Bezeichnung zur Charakterisierung des Wirtschafts- und Gesellschaftssystems bzw. waren bis zum Ausbruch der aktuellen Krise darum bemüht. Gleiches gilt für den öffentlichen Sprachgebrauch. Stattdessen wird – vor allem in Deutschland – häufig von (sozialer) Marktwirtschaft gesprochen, um das herrschende Wirtschaftssystem zu beschreiben (vgl. Kocka/Merkel 2015: 309; Kocka 2013: 6; Kocka 2011: 307ff.; Altvater 2011a: 42–48). Die gesamte Geschichte des Kapitalismusbegriffs ist geprägt von Auseinandersetzungen um seine Definition und seinen Bedeutungsinhalt. Speziell die Frage nach den ökonomischen, politischen und sozialen Implikationen des Kapitalismus ist seit jeher umstritten und umkämpft.

2.1.1Die politische Regulierungsbedürftigkeit des Kapitalismus

Der Kapitalismus ist mehr als nur eine wirtschaftliche Produktionsweise. Die Wirtschaft im Allgemeinen und der Kapitalismus im Speziellen können nicht adäquat analysiert werden, wenn allein Marktprozesse und rein ökonomische Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise betrachten werden. Der Kapitalismus ist eben »nicht nur eine Marktwirtschaft […], sondern auch eine politische Ökonomie« (Wallerstein et al. 2014: 8). Generell existiert »keine unpolitische Ökonomie« (Krämer 2015: 13), die Wirtschaft stellte »niemals, weder im Kapitalismus noch in anderen (vorkapitalistischen) Produktionsweisen, eine hermetische und abgeschlossene Ebene dar« (Poulantzas 2002: 45). Um den Kapitalismus als komplexes Wirtschaftssystem sowie als Gesellschafts- und Herrschaftsordnung angemessen analysieren zu können, müssen daher neben genuin ökonomischen Mechanismen stets auch außerökonomische Felder, insbesondere Rolle und Funktion des Interventionsstaates berücksichtigt werden. Der moderne Kapitalismus ist – und das bereits seit seiner Entstehung – »ein durch und durch politischer Kapitalismus« (Lessenich 2012b: 58), eine vollständig »von der politischen Sphäre getrennte Marktwirtschaft ist nicht möglich« (Polanyi 2013: 266), die vollständige »Trennung von Markt und Staat ist eine Fiktion« (Herrmann 2016a: 85). Der Kapitalismus als ökonomische Produktionsweise und als politisch-soziale Ordnung ist interventions- und regulierungsbedürftig, er ist abhängig von und strukturiert durch politische Eingriffe des Staates.

Die Wirtschaftsgeschichte zeigt, dass bereits die Herausbildung des marktförmigen Kapitalismus »keineswegs die Folge der langsamen und spontanen Emanzipation des ökonomischen Bereichs von staatlichen Kontrollen war« (ebd.: 329). Polanyi betont den funktional notwendigen Charakter staatlicher Interventionen bei der Entstehung und Erhaltung des Kapitalismus. Der Kapitalismus und »freie Märkte wären niemals bloß dadurch entstanden, daß man den Dingen ihren Lauf ließ« (ebd.: 192). Sie konnten sich nur etablieren, weil sie »vom Staat durchgesetzt« (ebd.) wurden. Kapitalistische Märkte sind eben »keine Naturphänomene, sondern politisch-institutionell […] hergestellte Verhältnisse« (Hirsch 2005: 150), sie sind »das Resultat einer bewußten und oft gewaltsamen Intervention von seiten der Regierung« (Polanyi 2013: 329). Ohne politische Interventionen des Staates hätte weder der Feudalismus beseitigt werden noch sich der moderne Kapitalismus herausbilden können – und ohne staatliche Interventionen könnte der Kapitalismus auch nicht fortbestehen: »In historisch wechselnder Gestalt ist es niemand anderes als der Staat, der als Ermöglichungsagentur kapitalistischer Bewegung auftritt« (Lessenich 2009: 134). Auf die Bedeutung politischer Interventionen des Staates als conditio sine qua non für die Entstehung, Etablierung, Stabilisierung und das Fortbestehen des Kapitalismus wurde bereits in den klassischen Kapitalismusanalysen hingewiesen.

Marx hat den oft gewaltsamen Prozess der Herstellung kapitalistischer Märkte sowie der Etablierung kapitalistischer Eigentumsverhältnisse und kapitalistischer Lohnarbeit in dem berühmten Abschnitt über die »ursprüngliche Akkumulation« (vgl. Marx 2013: 741–791) plastisch beschrieben und die Rolle des Staates bei der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise hervorgehoben: »Die aufkommende Bourgeoisie braucht und verwendet die Staatsgewalt« (ebd.: 765). Nötig war »die Staatsmacht, die konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft, um den Verwandlungsprozeß der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig zu fördern und die Übergänge abzukürzen« (ebd.: 779). Die staatlich unerlässlichen Interventionen zur Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise und Etablierung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse – speziell die Garantie des Privateigentums an Produktionsmitteln – können auch als »staatliche Intervention erster Ordnung« (Lessenich 2015: 117) bezeichnet werden. Gramsci verweist ebenfalls auf die Notwendigkeit staatlicher Interventionen, die er als »vorgängige Bedingung jeglicher kollektiver ökonomischer Aktivität« (Gramsci 1994: 1271) auffasst. Sombart zählt den Staat und die bewussten politischen Interventionen des Staates zu den »Grundbedingungen der kapitalistischen Entwicklung« (Sombart 1924a: 332). Für Weber ist es gleichfalls der geschlossene Nationalstaat, »der dem Kapitalismus die Chancen des Fortbestehens gewährleistet« (Weber 1985: 815).

Der Kapitalismus ist also – und das bereits von Anfang an – »eine politisch veranstaltete Form der Vergesellschaftung, die in dieser Weise nur im staatlichen Rahmen denkbar ist und nur unter Bedingungen permanenter Staatsintervention von Dauer sein konnte« (Borchert/Lessenich 2012b: 289). Der Staat schafft und sichert mit seinen Interventionen die elementaren »Grundlagen für den Kapitalismus« (Calhoun 2014:167). Es obliegt dem Staat, die für die kapitalistische Marktwirtschaft notwendigen »institutionellen Rahmenbedingungen« (Wallerstein et al. 2014: 8) – Privateigentum, Lohnarbeitsverhältnis, Rechtssicherheit, Vertragsfreiheit, Märkte – aktiv herzustellen, zu garantieren und permanent aufrechtzuerhalten. Der Kapitalismus ist daher »logisch wie historisch an die Existenz und Effektivität staatlicher Apparate bzw. staatsbürokratischer Rationalität gebunden« (Borchert/Lessenich 2012b: 294). Nicht nur der Kapitalismus selbst ist auf politische Interventionen des Staates angewiesen, es besteht auch ein gesellschaftliches bzw. ein demokratisches Bedürfnis, den Kapitalismus zu regulieren. Diese beiden Aspekte der Regulierungsbedürftigkeit – sowohl die des Kapitalismus als auch die der Gesellschaft bzw. der Demokratie – hat Polanyi (vgl. 2013) in seiner Analyse über den Ursprung und die Entwicklung der liberalen Marktwirtschaften seit dem 18. Jahrhundert sowie deren Zusammenbruch zu Beginn der 1930er Jahre mit dem Konzept der fiktiven Waren Arbeit, Boden und Geld herausgearbeitet.

Die Grundannahme von Polanyi ist, dass kapitalistische Ökonomien strukturell expansiv sind, der Kapitalismus also dazu tendiert, sämtliche gesellschaftliche Bereiche zu kommodifizieren und sie der kapitalistischen Logik zu unterwerfen. Diesen Gedanken Polanyis hat Streeck aufgenommen: »Markets, however, have an inherent tendency to expand beyond their original domain, the trading of material goods, to all other spheres of life, regardless of their suitability for commodification – or, in Marxian terms, for subsumption under the logic of capital accumulation« (Streeck 2014b: 51). Im Endeffekt zielt der Kapitalismus auf die »Errichtung eines selbstregulierenden Marktsystems« (Polanyi 2013: 54), auf eine Gesellschaft also, in der die Märkte frei sind von staatlichen Eingriffen und die Produktion und Distribution von Waren ausschließlich über den Marktmechanismus erfolgt. Vor allem bedeutet ein selbstregulierendes Marktsystem, dass es nicht nur für Waren und Dienstleistungen Märkte gibt, sondern für alle Wirtschaftsfaktoren. Als Waren werden grundsätzlich »Objekte definiert, die für den Verkauf auf dem Markt erzeugt werden« (ebd.: 107). In einer sich selbst regulierenden Marktwirtschaft werden jedoch auch Arbeit, Boden und Geld als Waren behandelt, mit Preisen – Löhne, Grund- bzw. Bodenrente und Zins – besehen und auf Märkten gehandelt (vgl. ebd.: 102f.). Arbeit, Boden und Geld allerdings sind für Polanyi – auch wenn es sich bei diesen Produktionsfaktoren um zentrale Elemente der kapitalistischen Wirtschaft handelt – »ganz offensichtlich keine Waren: die Behauptung, daß alles, was gekauft und verkauft wird, zum Zwecke des Verkaufs produziert werden mußte, ist in bezug auf diese Faktoren eindeutig falsch. Mit anderen Worten, nach der empirischen Definition der Waren handelt es sich nicht um Waren« (ebd.: 107). Die Bezeichnung von Arbeit, Boden und Geld als Waren ist vielmehr »völlig fiktiv« (ebd.: 108), weil sie eben nicht zu Verkaufszwecken produziert werden.

Letztlich bedeutet ein sich selbst regulierendes Marktsystem die totalitäre Dominanz der kapitalistischen Ökonomie als gesellschaftliches Steuerungsmedium, sodass »die menschliche Gesellschaft zu einem Beiwerk des Wirtschaftssystems« (ebd.: 111) verkommt. Dies allerdings provoziert »Selbstschutzmaßnahmen« (ebd.: 271) der Gesellschaft, denn eine sich selbst regulierende Marktwirtschaft kann nicht über längere Zeiträume bestehen, ohne dass »dies zur Zerstörung der Gesellschaft führen« (ebd.: 108) würde. Polanyi beschreibt die Wirkung des unregulierten Kapitalismus als einen »selbstzerstörerischen Mechanismus« (ebd.: 112), als gesellschaftszerstörende »Teufelsmühle« (ebd.: 59).13 Diese destruktiven und dysfunktionalen Folgen liberalkapitalistischer Marktwirtschaften rufen gesellschaftliche »Gegenströmungen« (ebd.: 112) hervor, die Gesellschaft schützt »sich selbst gegen die einem selbstregulierenden Marktsystem innewohnenden Gefahren« (ebd.) – und zwar durch die »Einschränkung der Freiheit des Marktes« (ebd.: 183). Dies geschieht »mit politischen Mitteln« (ebd.: 292), genauer mit »politischer Regulation« (Fraser 2015: 101) durch das administrative System, also indem mit staatlichen Interventionen in den Kapitalismus, in die kapitalistischen Marktprozesse und -ergebnisse eingegriffen wird. Staatliche Interventionen, die dazu dienen, kapitalistische Wirtschaftsprozesse zu regulieren und Marktergebnisse zu korrigieren, können auch als »Staatsinterventionismus zweiter Ordnung« (Lessenich 2015: 118) bezeichnet werden.

Als konkrete Maßnahmen des Selbstschutzes der Gesellschaft vor den Folgen der Warenfiktion führt Polanyi die Einführung von Fabrikgesetzen und Sozialgesetzen als Beispiel für die fiktive Ware Arbeit, die Einführung von Bodengesetzen und Agrarzöllen als Beispiel für die fiktive Ware Boden sowie die Einführung des Zentralbankwesens und die Steuerung des Geldwesens als Beispiel für die fiktive Ware Geld an (vgl. Polanyi 2013: 185). Polanyi bezieht sich vor allem auf das gesellschaftliche Bedürfnis, den Kapitalismus zu regulieren und den kapitalistischen Expansions- und Kommodifizierungsdrang zu begrenzen, um die für die Gesellschaft zerstörerischen Wirkungen, insbesondere für Mensch und Natur, zu begrenzen. Vor Polanyi hatte bereits Marx auf die zerstörerischen Folgen des Kapitalismus für Mensch und Natur hingewiesen. Während die kapitalistische Produktionsweise einerseits zwar, wie Marx betont, die geschichtliche Bewegungskraft der Gesellschaft häufe,

»stört sie andrerseits den Stoffwechsel zwischen Mensch und Erde, d. h. die Rückkehr der vom Menschen in der Form von Nahrungs- und Kleidungsmitteln vernutzten Bodenbestandteile zum Boden, also die ewige Naturbedingung dauernder Bodenfruchtbarkeit. Sie zerstört damit zugleich die physische Gesundheit der Stadtarbeiter und das geistige Leben der Landarbeiter« (Marx 2013: 528).

Dieser durch die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten bedingte »Zerstörungsprozeß« (ebd.: 529) zeichnet sich dadurch aus, dass die kapitalistische Produktionsweise »zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter« (ebd.: 530).

Polanyi verweist am Beispiel der fiktiven Ware Geld zudem darauf, dass auch der Kapitalismus selbst das Bedürfnis hat bzw. darauf angewiesen ist, gesellschaftlich reguliert und in seinem Wirken eingeschränkt zu werden: Es herrscht »in bezug auf das Geschäftsleben eine ähnliche Situation wie in bezug auf die natürliche und menschliche Substanz der Gesellschaft. Der selbstregulierende Markt war für sie alle eine Bedrohung« (Polanyi 2013: 184) – vor dem »sogar die kapitalistische Geschäftswelt selber geschützt werden« (ebd.: 260, vgl. auch 109) musste. Für die kapitalistische Marktwirtschaft liegt die Bedrohung in der periodischen Zerstörung von Wirtschaftsunternehmen, oder präziser: im Teufelskreis der Wirtschaftskrisen: Unternehmen machen Verluste und schränken die Produktion ein, die Einkommen der Arbeiter sinken und die Arbeitslosigkeit steigt, dadurch sinkt die Kaufkraft und Unternehmen gehen Konkurs. Polanyi kommt zu der Schlussfolgerung: »Paradoxerweise mußten nicht nur die Menschen und die natürlichen Ressourcen, sondern auch die Organisation der kapitalistischen Produktion an sich vor den verheerenden Auswirkungen eines selbstregulierenden Marktes geschützt werden« (ebd.: 185). Diese Polanyi’sche Denkfigur greift Streeck (vgl.2014b) in einer zeitdiagnostischen Analyse über das Ende des Kapitalismus auf.