Kristallhart - Das verborgene Land - Joachim Rürup - E-Book

Kristallhart - Das verborgene Land E-Book

Joachim Rürup

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Beschreibung

Im Jahr 2044 arbeitet eine Gruppe Jugendlicher für mehrere Monate auf der Neumayer-Forschungsstation in der Antarktis. Sie alle besitzen ein außergewöhnliches Immunsystem, das sie Pandemie und Weltkrieg überleben ließ. Die Ereignisse überschlagen sich, als Anna, eine von ihnen, mit dem Transport eines gefährlichen Mikroorganismus beauftragt und in eine internationale Verschwörung verwickelt wird. Als die Sechszehnjährige mit ihrem Roboter Pumpernickel auf der höchsten Stelle des Kontinents strandet, ahnt sie nicht, was sich unter der dicken Eisschicht verbirgt. Dass man ihr dicht auf den Versen ist und dass nicht alle ihre Verfolger Gutes im Sinne führen, ahnt Anna noch nicht...

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Inhalt

Kurzinhalt

Teil I: Antarktische Mysterien

1. Kapitel – Millionen Jahre Eis

2. Kapitel – Portalsprung

3. Kapitel – Kolossal

4. Kapitel – Wostoksee

5. Kapitel – Kunlun

6. Kapitel – Der Krieg der Androiden

7. Kapitel – Alientag

8. Kapitel – Neutrinorauschen

9. Kapitel – Bills Alptraum

10. Kapitel – Schocktherapie

Teil II Kristallhart

11. Kapitel – Eine Gitarre für Mt. Erebus

12. Kapitel – Outbreak

13. Kapitel – Gallaghers Pub

14. Kapitel – Endlose Stimmungen

15. Kapitel – Jang Bogo

16. Kapitel – Expeditionen ins Ungewisse

17. Kapitel – Yeqr22

Epilog

Anhang 1

Anhang 2

Kurzinhalt

Plötzlich finden sich Anna und ihr Roboter Pumpernickel mitten in der Antarktis wieder. Etwas Fremdartiges hat sie, kraft eines Portalsprungs, in unmittelbarer Nähe von Dom Argus stranden lassen, der höchsten Stelle des geheimnisvollen Kontinents. Eine viele Millionen Jahre alte und bis zu vier Kilometer dicke Eisschicht bedeckt ein verborgenes Land.

Im Jahr 2044 arbeitet eine Gruppe Jugendlicher für mehrere Monate auf der Neumayer-Forschungsstation. Sie alle besitzen ein außergewöhnliches Immunsystem, das sie Pandemie und Weltkrieg überleben ließ. Anna, eine von ihnen, wird in eine internationale Verschwörung verwickelt und gerät in tödliche Gefahr. Mitten in einer faszinierenden wie lebensfeindlichen Umgebung, die gleichzeitig ein Zentrum wissenschaftlicher Forschung ist, wird sie zum Spielball einer unbekannten Macht.

Anna ahnt nicht, dass sie einen gefährlichen Mikroorganismus transportieren soll, den Sazikov, der Leiter der russischen Wostok-Station, die sich oberhalb des gleichnamigen subglazialen Sees befindet, für ihre Tante Karen bestimmt hat. Gleichzeitig sucht in politischer Mission Liu Wei, ein hoher Parteifunktionär aus Peking, die verlassene chinesische Forschungsstation Kunlun am Dom A auf und wird, mit amerikanischer Unterstützung, zum Südpol geflogen. Der Copilot Bill, der von schrecklichen Alpträumen heimgesucht wird, versucht die junge Frau zu warnen. Aber da ist es schon zu spät. IceCube, der gigantische im gefrorenen Boden installierte Neutrinodetektor, hat ein deutliches Signal aufgezeichnet und sogleich erscheinen am Himmel die unheimlichen Doppellinsen wieder, die mit ihren waghalsigen Flugmanövern über der Antarktis ihr Unwesen treiben.

Besorgt um den Verbleib der Bioprobe versucht Karen, die Situation zu retten. Zusammen mit dem ukrainischstämmigen Geophysiker Mowtschan bieten sie den Amerikanern ihre Hilfe an.

Eine Gruppe von Wissenschaftlern macht sich zum McMurdo-Sund auf, als man dort rätselhafte Aktivitäten im Vulkan Mt. Erebus registriert. Im legendären Gallaghers Pub lernen sie Down kennen, die südkoreanische Spezialistin für künstliche Intelligenz, die ihnen wertvolle Unterstützung anbietet. Unter Einsatz eines hochentwickelten Androiden, der vom koreanischen Unternehmen Ingan Industries in der antarktischen Jang-Bogo-Zentrale entwickelt wurde, gelangen die Wissenschaftler in ein weitverzweigtes unterirdisches Höhlensystem.

Hier erwarten sie eine überraschende Erkenntnis und das kybernetische Wesen Yeqr22, das viele Millionen Jahre lang im ewigen Eis existierte und für das Überleben der menschlichen Zivilisation von enormer Bedeutung ist.

TEIL I

ANTARKTISCHE MYSTERIEN

1. KAPITEL

Millionen Jahre Eis

„Es ist Sommer!”

Anna war sich bewusst, dass diese Aussage der Wahrheit entsprach. Doch sie wehrte sich emotional dagegen. Für sie hatte Sommer bisher eine völlig andere Bedeutung gehabt. Er war heiß und man sehnte sich nach einer Erfrischung. Glücklich war der, der im Meer baden konnte und nicht drohte zu ertrinken, weil er in Minutenschnelle im Wasser erfror. Zwar strahlte heute die Sonne hoch am Firmament, aber nach Sommer fühlte es sich nun wirklich nicht an, ganz im Gegenteil. Da konnte man zufrieden sein, wenn man nicht von einem Schneesturm erstickt oder von einem Orkan hinweggefegt wurde.

Anna tat ein paar Schritte. Immer wenn sie sich bewegte, erklang ein schrilles, kreischendes Geräusch. Der harsche Untergrund sorgte für eine ungewollte akustische Begleitung, die für ihre Fortbewegungsart charakteristisch war. Millionen kleiner Eiskristalle schienen unter ihren Boots zu protestieren, um nicht zerquetscht zu werden. Jeder Fußgänger musste sich daran gewöhnen, wenn er unterwegs war. So hörte sich die Antarktis an. Hier draußen war es fast unheimlich klar, als hätte der Frost allen Schmutz der Welt beseitigt. Erwartungsvoll atmete sie tief ein und bereute es im gleichen Moment schon wieder. Die eisige Luft gelangte in ihre Lungen und löste einen quälenden Schmerz aus, weil ihre Bronchien sich heftig zusammenzogen. Es erschien ihr, als würde sie augenblicklich erstarren müssen, so tief drang die Kälte in sie ein. Hier konnte man plötzlich aufhören zu existieren, immer das gleiche Bild vor Augen, bis in alle Ewigkeit.

Die junge Frau versuchte im Gegenlicht der blendenden Sonne eine Gestalt auf dem Eis zu erkennen, aber ihre Lider blinzelten unaufhörlich und Tränen schossen ihr in die Augen. Sie versuchte die Schutzbrille aufzusetzen, was mit den dicken Handschuhen kaum möglich war. Prompt fielen sie ihr auf den harschen Boden, so dass sie lautstark fluchte. Peinlich berührt schaute sie sich um und wollte feststellen, wer sie vielleicht bei ihrem Missgeschick beobachtet hatte. Doch da war eigentlich niemand außer ihrem kleinen, dürren Begleiter, der nicht zählte, weil er kein menschliches Lebewesen war.

Anna befand sich im Queen-Maud-Land, einem Teil der Antarktis, der im Norden des rätselhaften Kontinents lag. Die Norweger hatten dieses Gebiet nach ihrer Königin benannt. War die Monarchin jemals hier gewesen?

Wohl kaum. Denn vor Ort war es lebensfeindlich und nicht selten stürzte jemand in der vereisten Landschaft und brach sich die Knochen. Das hielten dauerhaft nur Pinguine und Robben aus. Ihre Kolonien konnte man an der Schelfeisgrenze beobachten, einen halben Tagesausflug mit dem Motorschlitten entfernt von dem Ort, an dem sie nun zuhause war.

Man gelangte recht einfach zu diesen komischen Tieren, die überall auf der Welt Sympathie genossen, weil sie lustige Bewegungen vollzogen und trotzdem in der Lage waren, den ungeheuren Naturgewalten zu trotzen. Tourismus war hier verboten, denn Menschen waren unwissend und gleichsam rücksichtslos, was den dauerhaften Umgang mit einem noch intakten Ökosystem betraf. Sie besaßen kein Gefühl für elementare Fehler, die sie unzweifelhaft begehen würden, wenn man sie unbeaufsichtigt machen ließe, was sie wollten. Die Antarktis sollte möglichst sauber bleiben und so lebten hier nur etwa 5000 Wissenschaftler, abgesehen von dem einen oder anderen militärischen Stützpunkt, der in der Regel vom jeweiligen Land, das ihn errichtet hatte, geleugnet wurde.

Anna gehörte also offiziell zu einer wissenschaftlichen Expedition und so galt es als Ausnahme, an dem steinigen Strand spazieren gehen zu dürfen, der von den besagten komischen Tieren bevölkert war. Ungeheure Massen hielten sich hier auf und einige Individuen verfolgten die wenigen menschlichen Fußgänger, um sie ebenfalls zu studieren. Man konnte sogar Kontakt zu ihnen aufnehmen, falls man dafür den entsprechenden Gleichmut entwickelt hatte und akzeptierte, dass man hier Gast und in der Minderheit war.

Doch so mancher Küstenabschnitt fiel steil ins Meer ab und eine unüberwindliche weiße Mauer aus Eis verbot die sichere Landung mit einem Boot. Hier schoben sich breite Gletscherströme ins Meer, kaum wahrnehmbar, so langsam und doch stetig verlief dieser Vorgang. Als spektakulär konnte man den Geburtsort der frostigen Giganten bezeichnen, die sich von hier aus auf eine lange Reise machten. Riesige Trümmer stürzten ins Meer und ließen den Aufenthalt an der Schelfeiskante lebensgefährlich werden. Begleitet von einer bedrohlichen Geräuschkulisse wagten sich nur verwegene Dokumentarfilmer in die Nähe dieser Gletscherzungen, die unaufhörlich kalbten und doch nie versiegten.

Es war faszinierend, wie groß die Eisberge wirklich waren. Sie trieben vor der Küste, die ihre Topographie jahreszeitlich änderte, dahin und begrüßten die Menschen, die nicht eingeflogen wurden, sondern eine zumeist wilde Seereise hinter sich gebracht hatten. Eine seltsame Melancholie überkam den Betrachter beim Anblick der gefrorenen Berge, jeder in seiner Gestalt einzigartig. Handelte es sich doch um einen eisigen Gruß an die Welt und gleichzeitig, aufgrund ihrer Vergänglichkeit, um eine kaum zu übersehende Warnung. Mit der Entdeckung des Südpols 1911 durch den berühmten Amundsen war nicht nur Geschichte geschrieben worden, sondern die Welt hatte auch erfahren, wie gefährlich groß und fürchterlich einsam es in der Antarktis war. Gab es hier trotzdem etwas zu holen?

Vor mehr als einem Jahrhundert hatten in den 1920er Jahren mehrere nach dem Transportschiff Norvegia benannte und vom Schiffseigner Lars Christensen finanzierte Expeditionen stattgefunden. Sie dienten zunächst der Erkundung aussichtsreicher Walfanggründe, aber später auch der Inbesitznahme neuer Gebiete auf dem geheimnisvollen Kontinent. Man war an Rohstoffen interessiert und wollte sich die potentiellen Schürfrechte sichern.

Anfang der 1930er Jahre wurde eine Operation unter Führung von Hjalmer Riiser Larsen gestartet, die als Aufgabe hatte, das neue antarktische Land mit dem Flugzeug zu erkunden und zu kartieren. Als Pilot Amundsens bekannt und zu den Männern an Bord der Norge gehörend, jenes berühmten Luftschiffs, dem nachweislich der erste Nordpolüberflug gelungen war, war er der richtige Mann für diese Aufgabe. Doch erst am 14. Januar 1939 annektierte Norwegen offiziell das bezeichnete Gebiet in der Antarktis. Gerade noch rechtzeitig, denn fünf Tage später erreichte die deutsche Expedition der Schwabenland Queen-Maud-Land. Unter der Leitung von Alfred Ritscher wurde in den folgenden Wochen mit den Flugbooten, mittels Dampfkatapult vom Schiff aus gestartet, eine riesige Fläche von 600 000 Quadratkilometern durch 11 000 detaillierte Luftaufnahmen dokumentiert und später „Neuschwabenland” getauft.

Folglich beanspruchte das Deutsche Reich diesen Teil der Antarktis, erkannte Norwegens Rechte über das Gebiet nicht an und verlor schließlich alles wieder nach dem Zweiten Weltkrieg. Trotzdem blieb das Recht der Namensgebung und so verewigte sich Ritscher mit einem nach ihm benannten Hochplateau.

Viele Jahrzehnte später, Anfang der 1980er Jahre, beschloss die Regierung der Bundesrepublik Deutschland, eine ständige Forschungsstation zu errichten, deren Nachfolger immer weiter ausgebaut wurden. Man hatte gelernt, im ewigen Eis zu leben und selbst die düsteren Monate mental zu überstehen, zu denen am 70. südlichen Breitengrad neun Wochen Nacht, also völlige Lichtlosigkeit, zählten. Auch andere Staaten ließen sich im Queen-Maud-Land nieder und so entstanden 1957/58 anlässlich des Internationalen Geophysikalischen Jahres neben Japans Showa und der belgischen Station namens König Baudouin im Laufe der Zeit Norwegens Troll- und Tor-Station, die südafrikanische SANAE-, die russische Novalazarevskaya-, Schwedens Wasa-, Finnlands Aboa- und Indiens Maitri-Station.

Die deutsche Neumayer IV lag unweit der Atka-Bucht auf dem Ekström-Schelfeis, nah der Küste. Sie driftete, wie schon ihre Vorgänger I bis III, innerhalb eines Jahres ungefähr 150 Meter Richtung Meer und würde so irgendwann auch nicht mehr bewohnbar sein. Von Neumayer IV rund 220 Kilometer südöstlich entfernt befand sich die SANAE-Station Südafrikas, erbaut auf einem sogenannten Nunatak, einem isolierten, über der Oberfläche eines Gletschers aufragenden Berg, dem Vesleskarvet, an der Westseite des Ahlmann-Ridge.

Die Troll-Station der Norweger war fast 400 Kilometer entfernt und auf einem schneefreien Hang aus massivem Fels, dem Jutulsessen, errichtet, der zu den Gjelsvik-Bergen gehörte, einer 50 Kilometer langen Berggruppe westlich des Mühlig-Hofmann-Gebirges in Fimbulheim. Manchmal wurde Anna ganz schwindlig von den merkwürdigen Namen, die auf die norwegischen, aber auch auf die deutschen Entdecker zurückzuführen waren. So nahm Fimbulheim Bezug auf den Fimbulwinter aus der nordischen Mythologie, der besonders lang und kalt war und eines der vier apokalyptischen Ereignisse vor Ragnarök, dem Untergang der Götter, darstellte.

Die vielen deutschen Bezeichnungen auf der Landkarte, wie das Wohlthatmassiv, kamen ihr hingegen komisch vor. Irgendwie passten sie nicht zusammen. Die zweite norwegische Einrichtung, die Tor-Station im Mühlig-Hofmann-Gebirge, lag am Svarthamaren in einem eisfreien Bereich des Berges, der bei Ornithologen für seine weltweit größte Brutkolonie von Antarktissturmvögeln bekannt war. Queen-Maud-Land war mächtig. Viel weiter im Osten, über 700 Kilometer von Neumayer IV entfernt, befanden sich indische und russische Forschungseinrichtungen. Wie ein UFO aus einem Science-Fiction-Roman, einer silbrig schimmernden Untertasse gleich, lag die belgische Princes-Elisabeth-Station an einer Felskante. Sie wurde während des Internationalen Polarjahres 2007–2008 gebaut und 2009 in Betrieb genommen.

Auf einem Granitrücken in der Nähe des Nunatak Utsteinen errichtet, war sie die erste emissionsfreie Basis, die mit Solar- und Windenergie betrieben wurde. Konstante Windgeschwindigkeiten von 125 km/h und Böen von über 300 km/h erforderten robuste Windanlagen. Insgesamt neun wurden verbaut. Wie die 380 Quadratmeter Solarmodule erzeugten sie um die 50 kWh. Das war beeindruckend und zukunftsweisend.

Heute war dieses 35 Jahre alte Gebäude fast ein Museum und Bestandteil einer viel größeren Einrichtung. Beim Orvinfjella, zwischen Mühlig-Hofmann-Gebirge im Westen und Wohlthatmassiv im Osten gelegen, handelte es sich um eine in Nord-Süd-Richtung verlaufende, bis zu 35 Kilometer lange Gruppe von Gebirgszügen. Im Westen waren das die Filchner- und Drygalskiberge, im Osten das Kurze- und das Conradgebirge. Die Fotos und Videoaufnahmen, die Expeditionen im Fundus der geographischen Fortbildungskurse hinterlassen hatten, waren absolut fantastisch. Beeindruckend ragten Türme, Pfeiler und Zacken aus dem Eispanzer.

Als wären es die gigantischen Zähne eines riesigen versteinerten prähistorischen Raubtiers, durchbohrten die Gipfel eines untergegangenen Reichs das kilometerdicke Inlandeis. Blassrötlich bis rotbraun waren die imposanten Felsformationen, die man so schnell nicht wieder vergaß und die in Anna eine unerklärliche Sehnsucht entstehen ließen, einen Drang, sich dorthin aufzumachen, um eine längst verlassene Welt zu erkunden. Doch es hatte noch keine Gelegenheit dazu gegeben. Anna hatte sich eingehend mit den geographischen Verhältnissen auseinandergesetzt, mehrere kurze Ausflüge mit dem Motorschlitten gemacht und den Wissenschaftlern bei ihrer Arbeit assistiert.

Die Kälte hatte sie ständig geplagt, doch sie war standhaft geblieben und dafür jedes Mal mit einem kleinen Abenteuer belohnt worden. In eine reale Gefahr war sie bisher nie geraten. Doch diesmal war alles anders, nämlich unerträglich langweilig. Von Neumayer IV rund 550 Kilometer in südöstlicher Richtung entfernt lag die zweite deutsche Station, Kohnen, fast genau auf dem Schnittpunkt des Nullmeridians von Greenwich mit dem 75. südlichen Breitengrad. Sie war zu Beginn des neuen Jahrtausends als logistische Basis für Eiskernbohrungen im Rahmen des European Ice Core Drilling Projects (EPICA) sowie für Flugzugexpeditionen zum Inlandeisplateau errichtet worden.

Kohnen war jetzt im Sommer mit einer kleinen Gruppe besetzt und wurde mit einem Konvoi versorgt, der bei akzeptablen Witterungsverhältnissen gut eine Woche für den Transport benötigte. Entlang dieser Versorgungslinie waren sie auch heute unterwegs und hatten immerhin bald 70 Kilometer zurückgelegt, was schon viel war. Aber das markante Ritscherhochland, das westlich des Gletschers Jutulstraumen lag, hatten sie noch lange nicht erreicht.

Ihre Karte zeigte im Westen die Kraulberge, im Südwesten die Heimefrontfjella, im Süden Kirwanveggen und im zentralen Teil den Ahlmannrücken und das Borgmassiv. Das Ritscherhochland erstreckte sich bis zum Kirwanveggen, der Kirwanwand, einer markanten Geländestufe von 140 Kilometern Länge, gekennzeichnet durch Klippen und Felsvorsprünge, die von Gletschern und steilen Eishängen durchsetzt waren. Ein unwegsames Gebiet.

Anna kannte diese geologischen Formationen nur aus dem Bildmaterial diverser Schulungsprogramme. In der Regel waren Expeditionen dorthin für die Jugendlichen verboten. Bisher war noch niemand von ihnen auch nur bis zum nördlichen Ende des Ritscherhochlandes gelangt, wo sich eine auffällige Geländestufe, die Neumayersteilwand, befand. Es war auch heute nicht ihr Ziel, sondern sie mussten irgendwo weit vorher eine im frostigen Eis schwer zu findende Messstation erreichen.

„Natürlich, es ist Sommer! Die Kriterien für die jahreszeitliche Einteilung sind die astronomischen Verhältnisse, die vorliegen, und nicht allein die Temperaturen!”

Die künstliche Stimme war klar und deutlich zu vernehmen, obwohl ein schnarrendes Nebengeräusch sie begleitete. Ein defekter von insgesamt drei aktiven Lautsprechern war daran schuld. Die Reparatur wurde seit geraumer Zeit wegen fehlender Ersatzteile ausgesetzt. Wäre es die Hydraulik gewesen, die hätte erneuert werden müssen, hätte man umgehend reagiert. Doch so war man von dem Nachschub aus Chile oder Argentinien abhängig; eine Versorgungsroute, die nicht immer verlässlich war.

Jenseits des Polarkreises wurde es niemals „Sommer”. Heute herrschten angenehme Temperaturn um –12 °C. Eine Ausnahme, die durchschnittlichen Werte waren um die –20 °C oder tiefer. Es war eigentlich immer kalt und man gewöhnte sich nicht daran. Anna konnte ein Lied davon singen, denn sie hatte sich in der Eiswüste notgedrungen einleben müssen.

Sie schaute sich um. Jetzt, nachdem sie die Sicherheitsbrille trug, hatte sie einen klaren, tränenfreien Blick. Die merkwürdige Gestalt, die sie vorher nur unscharf gesehen hatte, war ein Roboter, der sie begleitete. Er war glücklicherweise darauf programmiert, ihr das Leben in der Ödnis zu erleichtern. Trotzdem ging er ihr manchmal gehörig auf die Nerven.

Sie sah ihn missbilligend an und schüttelte mit dem Kopf. Wie er da wieder vor ihr stand, ein metallisches Rieseninsekt in einem gelbschwarzen Panzer, übersät mit Schrammen und Beulen. Er trug deutliche Spuren von Beschädigungen, die auf sein Alter hindeuteten. Es mussten jetzt bald zwei Dutzend Jahre sein. Er hatte leichte Schwierigkeiten, auf dem eisigen Untergrund zu gehen. Einer seiner vier Füße rutschte immer wieder weg. Schnee allein stellte für seine Bewegungsalgorithmen kein Problem dar, es sei denn, er war zu tief. Doch Eis war noch immer eine Herausforderung. Ein Blick in die Geschichte genügte, um festzustellen, dass es eine Generation von Wissenschaftlern erfordert hatte, die notwendige Software für eine effektive Fortbewegung zu entwickeln.

Fast 30 Jahre hatte es in Anspruch genommen, einen selbstständig agierenden Roboter zu konstruieren, der problemlos Treppen steigen und sich im unwegsamen Gelände sicher und schnell fortbewegen konnte. Immer wieder hatte man vielversprechende Kandidaten einer strengen Auswahl und weiteren harten Prüfungen unterworfen, die sie fast zerstört hätten. Kostspielig waren die Versuche verlaufen und vielfacher Schaden war entstanden, aus dem man schlussendlich klug geworden war.

„Die Antarktis ist Scheiße!”

Der Trotz sprach aus ihrer Stimme. Mit ihren 16 Jahren stand sie an der Schwelle zum Erwachsenwerden, war kein Kind mehr und hatte als Jugendliche viele schreckliche Dinge erlebt. Die Welt, so wie sie sie einst gekannt hatte, war Vergangenheit, ihre Familie hatte sie verloren.

Oft war es ihr erschienen, als würde es keine Zukunft geben. Verlassene Städte, ausgebrannte Wohnhäuser waren nur einige Beispiele einer teilweise kollabierten Zivilisation, die im allerletzten Moment noch Rettung erfahren hatte. Viele nahezu ausweglose Situationen hatte sie durchgemacht, war für Wochen allein in einer sterbenden Welt gewesen. Trotzdem hatte sie nie aufgegeben und zählte damit zu den Überlebenden.

„Ich kann keine tierischen Exkremente erkennen, lediglich das für die Antarktis typische Landschaftsbild und bekannte geologische Strukturen. Wir befinden uns exakt auf den gewünschten Koordinaten.”

„Pumpernickel, sei ruhig!”

Anna hatte ihrem „Begleiter”, wie man ihn auf der Akademie bezeichnet hatte, einen eigenwilligen Namen verliehen. Sie wusste nicht einmal, wie diese besondere Brotsorte wirklich schmeckte. Sie hatte Pumpernickel nie probiert. Trotzdem empfand sie den Namen als irgendwie geeignet. Auf den ersten Blick sah ihr kleiner Freund abstoßend aus, war unattraktiv wie das merkwürdige, harte Nahrungsmittel aus ihrer Heimat. Pumpernickel war ein hässliches Insekt mit sechs Extremitäten, vier dürren Beinen und zwei am Kopf lokalisierten kürzeren Greifarmen. Roboter seiner Baureihe sahen nicht gerade gefällig aus, hatten sogar etwas Gefährliches an sich, was durchaus beabsichtigt war. Sie wurden zunächst für diverse Arbeiten unter schwierigen Bedingungen eingesetzt, waren im industriellen Umfeld beim Bau und der Wartung von Industrieanlagen geschätzt, doch begleiteten ihre Herren auch als eine Art Bodyguard oder Schutzengel und waren als Baureihe G, für Guardian, bekannt. Die vierbeinige Alternative hingegen war vielerorts erfolgreicher, allen voran „Spot”, einer der ersten Roboter, die Geschichte geschrieben hatten.

Spot stammte aus der Roboterschmiede Boston Dynamics, deren Videos im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts das gesamte Internetpublikum begeisterten und regelmäßig viral gingen. Seine beeindruckenden Bewegungsabläufe ließen ihn sogar zum Tänzer avancieren, so gut waren seine Koordinationsfähigkeiten und so elegant sah es aus, wenn er loslegte. Spot war aber auch deshalb so beliebt, weil er an einen großen, treuen Hund erinnerte.

Ursprünglich hatte Boston Dynamics für das amerikanische Militär Entwicklungsarbeit geleistet. Schließlich wurde es zwar von Google erworben, sein Management entwickelte aber nie ein wirtschaftlich lukratives Konzept, so dass man es einige Zeit darauf zunächst an ein japanisches Unternehmen und schließlich an den koreanischen Industrieriesen Hyundai veräußerte, der auch eine geeignete Aufgabe für Spot finden sollte.

Der in Großproduktion gegangene mechanische Menschenfreund blieb seinem Hundecharme zwar treu, wurde aber zum „Inspektor” befördert. So konnte er als Sicherheitsarbeitskraft in gefährlichen Bereichen von Industrieanlagen eingesetzt werden. Spot hatte viele Konkurrenten, allen voran freundlich aussehende Äquivalente aus Japan und den schwarzen Robodog aus China. Entscheidend für seinen Erfolg waren Herstellung und Verkauf, die immer am Ende einer technischen Neuentwicklung stehen mussten, damit diese sich rentierte.

Die ersten Modelle der insektenartigen Roboter waren schon zu Beginn bis Mitte der 20er Jahre des zweiten Jahrtausends in einer Zeit zunehmender internationaler Konflikte entwickelt und noch vor der großen Pandemie Ende der 30er Jahre gebaut worden. Die Welt war damals von Monat zu Monat bedrohlicher geworden. Nach jahrzehntelanger Entspannung wurde wieder aufgerüstet und zu den Waffen gegriffen, nachdem man lange mit deren Einsatz nur gedroht hatte. Diese Jahre wurden historisch als Phase des Niedergangs betrachtet, gekennzeichnet durch die großasiatische Zentralmacht China und ihren Verbündeten, die Russische Konföderation. Sie waren in einen erbarmungslosen Konkurrenzkampf gegen den Westen, gebildet aus USA, Kanada und den europäischen Staaten, getreten. Der erbitterte Kampf um die knappen Ressourcen des blauen Planten war offen entbrannt und Krieg bedeutete primär Annexion neuer Gebiete mit Waffengewalt. Darüber hinaus drohte die Erde zu vermüllen, so dass ihre Bevölkerung in immer größer werdender Armut lebte. Es war aber auch die Zeit bedeutender Visionäre, wie des charismatischen Elon Musk. Sie leiteten gewaltige technische Revolutionen ein, wie die Raumfahrt mit wiederverwendbaren Raketen, die Besiedelung von Mond und Mars, erste Habitate oder die Erfindung leistungsstarker Akkumulatoren für Elektrofahrzeuge. Die Mensch-Maschine-Interface-Revolution mit Bioimplantaten erzielte gewaltige Fortschritte; nicht zu vergessen die Konstruktion humanoider Roboter.

Mit einer effektiven KI ausgestattet hatten sie stabil zu laufen gelernt und erzielten ebenfalls gewaltige Fortschritte. Gleichzeitig wurden Roboter konstruiert, die an große vierbeinige Lastentiere erinnerten. Bald existierten auch insektenartigen Einheiten, die flink und flexibel einsetzbar waren. Sie alle waren bedrohlich und erzeugten Angst im Auge des Betrachters. Der Schritt zu militärischen Kampfeinheiten war dann nicht weit und deren Einsatz logisch zwingend. So zogen im Herbst 2036, nur wenige Monate, bevor die schreckliche Pandemie zu wüten begann, erste Robotersoldaten in die umkämpften Kriegsgebiete, immun gegen die biologischen Waffen, die bereits zum Einsatz gekommen waren. Zum Entsetzen aller brach dann eine der schrecklichsten und tödlichsten Krankheiten der Menschheitsgeschichte aus, deren zielgerichtete Mutation sich schließlich zu einer weltweiten Geißel entwickeln sollte. Ihr gegenüber wirkten die saisonal immer wieder auftretenden Covidvirus-Epidemien regelrecht harmlos. Die Rote Pest vernichtete fast 20 % der Weltbevölkerung und stoppte schließlich sogar das Machtstreben der ausgezehrten militärischen Machtblöcke.

Der Große Friede von Moskau, der am 23. Mai 2039 besiegelt wurde, beendete den Dritten Weltkrieg. Die Infrastruktur vieler Landstriche war komplett zerstört worden. Viele verlassene oder ausgestorbene Orte befanden sich nun auf der Landkarte, in denen nicht nur die Viren gewütet hatten. Im Jahr darauf gelang es dann endlich einem internationalen Konsortium aus vereinten Forschungslaboratorien, ein neuartiges Medikament zu entwickeln, mit dem jede Virusinfektion beherrschbar wurde, so dass man langfristig den Sieg über die Rote Pest davontrug.

Man hatte diese Bezeichnung gewählt, weil der Erreger zu starken Blutungen führte. Eigentlich hätte Anna glücklich sein müssen. Sie hatte die Pandemie überlebt, war nicht wie ihre Eltern, Freunde und Verwandten verstorben, sondern zählte zu den 0,005 % der Menschheit, die eine natürliche Immunität besaßen. Das hatte sie für die Forschung wichtig werden lassen, denn sie verfügte über ein ausgesprochen effektives Immunsystem, weitaus leistungsfähiger als das normaler Menschen. Heranwachsende mit ihren genetischen Vorteilen waren vom Deutschen Bund gesucht und kaserniert worden. Man wollte sich eingehend mit ihnen beschäftigen. Da es sich bei den Jugendlichen ausnahmslos um Waisen handelte und sie nicht volljährig waren, fanden sie so zwangsweise eine neue Heimat unter behördlicher Kontrolle.

Sie lebten fortan in der Nähe wissenschaftlicher Einrichtungen, hauptsächlich aus dem medizinischen und biochemischen Bereich, und standen für Untersuchungen mehr oder minder freiwillig zur Verfügung. Außerdem hatte Annas Tante, eine einflussreiche Wissenschaftsmanagerin, ihre Finger mit im Spiel, als man Anna eine einmalige Gelegenheit bot, die sie kaum hätte ausschlagen können: die Antarktis und der Einsatz in der Spitzenforschung. Das bedeutete eine sichere Zukunft für Anna, falls es ihr gelang, sich auf der Neumayer-Station zu profilieren, auf der sie nun zumindest vorübergehend leben musste. Zusammen mit elf Leidensgenossen war sie reichlich unbequem untergebracht worden und hatte viel zu lernen.

Doch wo war sie gerade in diesem Moment?

Sie sah sich verzweifelt um. Am Ende der Welt oder besser „in der Mitte von Nirgendwo” im Jahr 2044. Und es war Sommer. Helle Nächte, unendliche Tage, eisige Kälte. Pumpernickel nervte.

Die Rote Pest hatte die erwachsene Bevölkerung erschreckend stark dezimiert, so dass der nachfolgenden Generation die geeigneten Familienbande fehlten, die ihnen Schutz boten und sie auf Schritt und Tritt durchs Leben begleiten konnten. Auf der anderen Seite waren die technologischen Fortschritte in der Konstruktion von Robotern im letzten Jahrzehnt bemerkenswert erfolgreich gewesen. Ihre Anzahl auf Erden war durch die beschleunigte industrielle Produktion überproportional stark vorangeschritten, so dass ab 2034 sogar die Herstellung menschenähnlicher und aufrecht gehender sogenannter Androiden für den Einsatz im zivilen Sektor möglich geworden war. Es existierten bereits weltweit über 8000 Individuen, mehr als ein Fünftel waren Kriegsveteranen, für die man nun neue Aufgaben zu finden gezwungen war.

Hinzu kamen nahezu hunderttausend mehr oder minder einsatzfähige autarke Einheiten, die vielen Spots und Pumpernickels dieser Welt, die nicht mehr in Industrieanlagen herumkrabbeln konnten, will diese zerstört waren. Die meisten Roboter halfen bei der Urbanisierung und dem Wiederaufbau, wurden zur Räumung von Trümmern und zur Sicherung gefährlicher Gebiete eingesetzt, denn ganz ohne radioaktive Verseuchung war der Krieg nicht verlaufen.

Es verblieben aber immer noch weltweit gut zwanzigtausend teilweise herrenlose Maschinen, die man umprogrammierte und mit einer hinreichenden KI versorgte, so dass sie wieder Bodyguard-Funktionen erfüllen konnten. Doch auch diese große Masse konnte die fehlenden Erwachsenen nicht ersetzen, weil es bezogen auf die Waisen immer noch viel zu wenige Beschützer gab und diese viel zu kostspielig waren. Trotzdem hatte man aufgrund großzügiger Spenden und staatlicher Unterstützung einige der Androiden für die Betreuung von Vollwaisen, insbesondere als Koordinatoren für den Betrieb der Sammel- und Schulungszentren, hergestellt, die sich auch der jungen Erwachsenen annahmen, deren Immunsystem so überaus interessant war.

Anna war an der Akademie, wie man die ATWH, die Akademie für Technik- und Wissenschaftslehre in Hamburg, kurz bezeichnete, dreien von ihnen begegnet, bevor man sie in Richtung Antarktis verschifft hatte. Diese Androiden waren mit einer revolutionären künstlichen Intelligenz ausgestattet worden, so dass sie eigenständig denken und situationsbedingt handeln konnten.

Einer von ihnen, der als Lehrer eingesetzt wurde, hatte sie zwangsweise auf den siebten Kontinent begleitet. ACSOI 25 (Artificial Completely Self-Organized Individual No. 25) war ihnen eine große Hilfe in vielen Lebensfragen und die Jugendlichen akzeptierten ihn sogar als ihren Mentor. ACSOI 25 lebte jetzt mit den Gestrandeten in der Neumayer-Station zusammen, die man wieder voll in Betrieb genommen und als spartanisches Wohnheim für Heranwachsende ausgebaut hatte. Daneben existierte vor allen Dingen der naturwissenschaftliche Betrieb, der auch während der Pandemie nie ganz eingestellt worden war. Mit anderen Worten, Forschung und Lehre waren hier eine neue Symbiose eingegangen.

„Ich möchte gern wissen, was wir an diesem Ort wirklich zu suchen haben!”

Pumpernickel ging mit Hilfe seiner spinnenartigen Beine ein Stück vor und zurück, was im Auge des Betrachters so wirkte, als wäre der Roboter um eine Antwort verlegen. Doch tatsächlich verschaffte sich seine KI nur etwas Zeit für gezielte Überlegungen. Er konnte zwar nicht so schnell denken wie ein Android, war aber immer noch fix genug, dass er seine Aufgaben zum Schutz der Jugendlichen erfolgreich wahrnehmen konnte.

„Hier befindet sich irgendwo die Messeinrichtung, deren Daten wir auszulesen haben!”

Die Antarktika besaß eine Fläche von etwa 14 Millionen Quadratkilometern und war fast vollständig von einem Eispanzer bedeckt, der an der dicksten Stelle nahezu fünf Kilometer maß und ein Eisvolumen besaß, das etwa neunmal so groß war wie das des grönländischen Eisschilds. Aufgrund der weltweiten Erwärmung war sein Abschmelzen in der Lage, den Meeresspiegel über 50 Meter ansteigen zu lassen, was eine schreckliche Bedrohung für die Menschheit darstellte. Gemittelte Daten von Satellitenbeobachtungen aus 25 Jahren lieferten erschreckende Zahlen von bis zu 4000 Tonnen pro Sekunde an geschmolzenem Eis. Diese riesigen Mengen Wassers nahmen beständig zu und betrugen in den 20er Jahren bereits kaum vorstellbare 7000 Tonnen pro Sekunde. Doch es wurde immer dramatischer. Ein massives Problem, das in den fast hundert Forschungs- und Messstationen akribisch untersucht wurde. Einrichtungen dieser Art waren über den gesamten Kontinent verteilt, den man in zwei große Regionen teilte: West- und Ostantarktika.

Geographisch wurden beide durch das Transantarktische Gebirge getrennt. Bis zu 350 Kilometer lange Talsenken lagen im Süden der Weddell-Ross-Gletscherscheide. Der Westen besaß eine zerklüftete und in mehrere Halbinseln gegliederte Küstenlandschaft.

Sein Klima war vom Meer geprägt, weshalb die Temperaturen nicht so niedrig wie im Osten fielen, was im Winter zu extremen Werten von unter –80 °C führte. Neben Pinguinen und Robben waren lediglich Wissenschaftler ständige Bewohner. Nun hatte die Akademie eine Gruppe Jugendlicher hierher verfrachtet, die die einsamen Geister bei ihrer wichtigen Arbeit unterstützen sollten. So hieß es jedenfalls offiziell. Man konnte annehmen, dass es schönere Orte für sie hätte geben können, doch die menschliche Zivilisation hatte stark gelitten und gerade die globalen Zentren mit ihren ehemals dichtbevölkerten Gebieten waren vom Krieg gezeichnet, vielfach bombardiert, verfallen und teilweise verwahrlost. Sie konnten von den spärlich gesäten Sicherheitskräften nur notgedrungen unter Kontrolle gehalten werden. Mit anderen Worten, es waren erbärmliche Zeiten. So waren die USA in drei Teilbereiche gegliedert, die nahezu unabhängig voneinander verwaltet wurden.

Grob gesagt gab es den industriell starken Nordwesten und Norden, der sich bis Washington am Pazifik entlang der kanadischen Grenze erstreckte, den Mittleren Westen mit den pazifischen Staaten einschließlich Kalifornien, Arizona und New Mexico sowie den Süden und Südwesten von North Carolina bis Oklahoma und Texas. Sie alle bildeten eine gewisse Balance, die sich auch in der Bundesregierung in Washington D. C. widerspiegelte, die kein einzelnes Staatsoberhaupt mehr kannte.

Die drei einzelnen Sektoren wählten eine Art Präsidenten-Triumvirat und lagen wirtschaftlich hinter dem autokratisch regierten Russland und dem kommunistischen China, gefolgt vom Vereinten Korea, dem kaiserlichen Japan und dem arabisch-mohammedanischen Konglomerat, zurück. Australien und Neuseeland hatten eine ozeanische Union gebildet, die daran arbeitete, Teile Südostasiens und seiner Handelszentren, wie Singapur und Malaysia, einzugliedern.

Eine europäische Union existierte nur noch auf dem Papier. Frankreich und England waren wirtschaftlich geschwächt. Der Deutsche Bund betrachtete sich als legitimer Nachfolger der ehemaligen Republik und bestand jetzt aus vier lokalen Regierungen. Sie zu einer gemeinsamen politischen Haltung zu bewegen, war schwierig. Multinationale Strukturen waren größtenteils zerfallen, so auch ehemalige riesige Wirtschaftsunternehmen und Banken. Die Handvoll, die verblieben waren, besaßen hingegen fast uneingeschränkte politische Macht.

Zu ihnen zählte Ingan (인간) Industries, ursprünglich ein amerikanisch-südkoreanisches Unternehmen, im Solarenergiesektor tätig und schließlich als Know-how-Führer in der Robotik und der KI-Systementwicklung. Nach dem großen internationalen Kollaps hatte sich Ingan Industries aufgrund seines riesigen Kapitalvermögens besonders schnell am Weltmarkt erholt. Das Logo I2, das auch für intelligence increase stand, kannte jedes Kind.

„Hier irgendwo muss die technische Einrichtung liegen.” Pumpernickel fuhr seine Sensoren aus und hatte plötzlich Kontakt. Keine zehn Meter von ihnen entfernt lag ihr Ziel im Eis verborgen. Die Fahne, die ursprünglich die Stelle markiert hatte, war längst verschwunden. Wind und Witterung hatten sie wahrscheinlich vernichtet. Anna hatte von ihrem Ausflug bereits die Nase voll.

Nicht dass es ihr in der Station besser gefallen hätte, aber die Enge dort nahm sie gern in Kauf anstelle dieser deprimierenden Ödnis, die sie gerade zu durchqueren hatten. Sie hatte sich etwas Faszinierendes erhofft.

Dabei besaß Neumayer IV keine schlechte Lage. Ausflüge an die Schelfeisgrenze waren für die Jugendlichen ein anfänglicher Spaß gewesen, ein Unternehmen, das sie ausnahmslos alle fasziniert hatte. Doch als im Zuge der Eingliederung die ersten Aufgaben verteilt wurden und sie sich nützlich machen sollten, begehrte der eine oder andere auf, hatte keine Lust mehr oder machte abfällige Bemerkungen. Die Wissenschaftler störte diese Verhaltensweise natürlich. Sie waren ein interessiertes Publikum und Anerkennung gewöhnt und mussten sich nicht einer Bande von Ignoranten gegenüber behaupten.

„Ich rufe die Daten ab.”

Die Forscher waren erbost über ihre zusätzlichen Aufgaben der Betreuung und Ausbildung der Jugendlichen und über die damit verbundenen aufwendigen Lehrtätigkeiten gewesen. Sie hatten an höchster Stelle der Akademie Einspruch erhoben, waren jedoch letztendlich gescheitert. Man hatte ihnen sogar damit gedroht, die Mittel zu streichen, ohne die sie ihren Job hätten an den Nagel hängen können. So war das Einleben in die neue Ordnung mit ihren täglichen Routinen die vornehmliche Aufgabe, der sich die gesamte Mannschaft zu widmen hatte.

Über die ersten Wochen hinweg gab es viele Wortgefechte und verbale Anfeindungen, bis es tatsächlich gelang, alle zwölf Jugendlichen an mehrere Projekte zu binden.

Auch Oleksandr Petrowytsch Mowtschan, der ehemalige Leiter der Wernadski-Station auf der argentinischen Galindez-Insel, ein international bekannter Polarforscher und jetziger Chef von Neumayer IV, hatte sich der Entscheidung zu fügen. Er war länger als jeder andere auf der erweiterten deutschen Forschungsstation ansässig gewesen und hatte sich um deren Erhalt verdient gemacht. Es ging um weitaus mehr als um eine lästige und scheinbar unnötige Aufgabe, das wusste er. Das Programm sah vor, dass die Schar seiner Hilfskräfte deutlich anstieg, aber er musste für ihre Disziplinierung und Schulung selbst sorgen.

Und dann war da noch dieses Sonderauftrag, heikel und geheim zugleich. Aber davon sprach er nicht.

„Es dauert nur wenige Minuten.”

Der gelb-schwarze Käfer vollführte einige provozierende Bewegungen zur Belustigung seiner Schutzbefohlenen, doch Anna war gar nicht komisch zumute. Sie sah zu dem großen Schneefahrzeug hinüber, das auf Ketten lief und in sichtbarer Entfernung stand. Es hatte sie bis hierher gebracht und sein Fahrer wartete im Schutz der Kabine.

„Hoffentlich sind wir bald fertig. Ich friere!”

Tatsächlich lagen die Temperaturen um die Mittagszeit nicht weit unter dem Gefrierpunkt; durchaus akzeptabel für ihren Standort, der tagsüber einen Durchschnittswert von –15 °C verzeichnete, die Polarnacht ausgenommen. Bevor man einen Ausflug oder sogar eine Expedition unternehmen konnte, musste man mindestens 48 Stunden in einem Zelt auf dem Übungsgelände verbracht und eine Schulung in Erster Hilfe mit Überlebenstraining absolviert haben. Wer Glück hatte, den erwischte dann gerade ein Sturm, so dass er in relativer Sicherheit eine unvergessliche Zeit verbringen durfte. In der freien Natur waren Orkane nicht selten und während man unterwegs war, konnte es immer geschehen, dass man mehrere Tage an einen Ort gefesselt blieb, bis der Wind sich beruhigt hatte. Dann rappelte es so laut im Zelt, dass man sein eigenes Wort nicht verstehen konnte. Das machte sogar den alten Hasen Angst und Bange.

„Darf ich dich daran erinnern, dass wir wertvolle Klimaanalysen betreiben.”

Das Mädchen konnte sich in ihrem knallroten Expeditions-Daunenanzug kaum rühren. Doch er war die richtige Wahl, da in den antarktischen Gefilden das Leben von der Wärmeisolierung der Bekleidung abhing. Für den Einsatz in sehr kalten Klimazonen entworfen, bot der Daunenanzug einen unschlagbaren Schutz, wenn die Temperaturen auf extreme Werte absanken. Eine feste Kapuze und diverse Verstärkungen an Oberarmen und Handgelenken sowie an Knien, Gesäß und Beinabschlüssen erhöhten die Stabilität.

Das strapazierfähige Außenmaterial war winddicht und stark wasserabweisend. Trotzdem hatte Anna ihre Probleme damit. Sie fühlte sich in ihren gewohnten Bewegungsabläufen gehemmt. Die dicke Thermounterwäsche verbesserte die Situation auch nicht gerade.

„Hörst du, ich friere!”

Pumpernickel vernahm den Stress in ihrer Stimme und beschwichtigte sie: „Dauert nicht lange. Ein bisschen an der frischen Luft kann dir nicht schaden.”

„Jaja, war klar, dass so ein Spruch kommen musste.”

Anna grummelte ein paar unverständliche Worte. Heute Abend, nach diesem Tagesausflug, würden sie wieder in der Station zurück sein. Die wissenschaftlichen Aufgaben waren zeitaufwendig, aber sinnvoll. Vor allen Dingen das Leben in der Antarktis erforderte ständige Aufmerksamkeit. Man konnte sich nicht leisten, faul zu sein. Trotzdem gab es Grenzen und dazu gehörte der Aufenthalt im Freien. Sie hasste nun mal die Kälte und sie hatte auch erlebt, wie sich die Forscher unter Extrembedingungen verhielten. Der eine oder andere war nicht besser als sie und versuchte lästige Aufgaben im Freien auf die Praktikanten, wie die Jugendlichen genannt wurden, abzuwälzen.

Der Forschungsstab bestand aus Biologen, Chemikern, Geophysikern und Meteorologen. Außerdem gab es einige Spezialisten für marine Akustik und Infraschall. Sie alle waren auf Messdaten angewiesen. Um ihre Analysen nicht zu beeinflussen, existierten kleinere Plattformen in ein bis zwei Kilometern, aber auch in weitaus größerer Entfernung zur Neumayer IV. Diese Außenstationen wurden als Langzeitobservatorien bezeichnet, deren Personal Magnetik- und Akustikforschungen betrieb oder seismische Erschütterungen untersuchte. Daneben gab es ein Luftchemie-Observatorium zur Bestimmung der Dicke der Ozonschicht sowie meteorologischer Einflussgrößen, denn trotz der weltweiten Katastrophen wurde noch immer emsig zum Thema Klimawandel geforscht. Es war noch nicht zu spät.

„Fertig, wir können wieder zurück ins Warme.”

Die junge Frau produzierte einen lautstarken Seufzer. „Wenn es nur wirklich warm wäre, aber im Fahrzeug ist scheinbar die Heizung ausgefallen.”

Anna wäre jetzt lieber bei ihren Freundinnen gewesen. Das Interesse der Teenager, vor allen Dingen der Mädchen, richtete sich auf die Pinguinkolonien ganz in der Nähe der Station. Die Auswirkungen des Klimawandels auf ihr Habitat waren bezeichnend. In nur 1,5 Kilometern Entfernung von Neumayer IV wurden täglich Schneeproben entnommen, um zu erforschen, wie genau sich Neuschnee in Gletschereis verwandelte. Eine weitere Besonderheit, die den Jugendlichen gefiel, stellte ein Garten dar, in dem Gemüse angebaut wurde, das nur unter künstlichem Licht und mit einer Nährlösung ohne Erde wuchs. Die gewonnenen frischen Lebensmittel bereicherten die Ernährung der Bewohner, die sonst nur Tiefkühlkost kannten.

„Na los, Abflug!”

2. KAPITEL

Portalsprung

Es war ein Fußmarsch von kurzer Dauer, denn der Venturi Antarctica, der in Monaco hergestellt worden war und sie sicher an diesen Ort gebracht hatte, stand keine 50 Meter weit entfernt. Sein Fahrer, ein bärtiger, wortkarger Riese, beobachtete misstrauisch das Geschehen. Er hielt nicht viel von dem kleinen Roboter, verfolgte aber mit seinen Blicken jede Bewegung von Anna. Das Mädchen faszinierte ihn. Er gehörte zu den wenigen Personen unter der Stammbesatzung, die der Ankunft der Teenager nicht ablehnend gegenübergestanden hatten. Es wurde ihm nie langweilig und die eine oder andere der weiblichen Gören bot ihm einen netten Anblick.

„Hallo Ludger, ich hoffe, dass du ein wenig die Heizung anschmeißen kannst.”

Das Mädchen hatte die Kabinentür des Zweisitzers aufgerissen, während Pumpernickel Platz im Laderaum genommen hatte. Eigentlich vermied es Anna, den unheimlichen Riesen anzusprechen, aber sie fror so sehr, dass sie beschlossen hatte, freundlich zu ihm zu sein. Sie setzte ein entzückendes Lächeln auf, das in der Lage gewesen wäre, ganze Gletscher schmelzen zu lassen, und es verfehlte auch bei dem schweigsamen Fahrer seine Wirkung nicht.

„Na schön. Dann habe ich bei dir aber etwas gut.”

Sie nickte zur Bestätigung und machte sich keine Gedanken darüber, was er wohl damit gemeint haben könnte. Eine einfache Handbewegung reichte aus, um die Temperatur im Transporter langsam ansteigen zu lassen. Viel Mühe hatte es ihn also nicht gekostet.

„Treffen wir uns heute Abend in der Lounge!”

Sie war so überrascht, dass sie zunächst nichts entgegnen konnte und schwieg, aber mit einem Widerspruch ihrerseits rechnete er offensichtlich gar nicht. Zufrieden fuhr Ludger den Elektromotor hoch, der für den Einsatz in der Antarktis optimiert worden war, und legte los. Die schweren Ketten trieben sich ins Eis. Mit einem kräftigen Ruck, der durch das Fahrzeug ging, starteten sie zu ihrem Rückweg, der viele Stunden dauern würde. Die Strecke war nicht gerade kurz.

Das drei Tonnen schwere Fahrzeug wurde zwar von zwei 80-kW-Motoren angetrieben, aber Geschwindigkeitsrekorde konnte man damit nicht aufstellen. Mit seinem optimierten Akku, der selbst bei Temperaturen von bis zu –60 °C betriebsbereit war, besaß der Venturi V eine Reichweite von 50 Kilometern. Zwei weitere Akkus wurden im Laderaum mitgeführt.

„Wie wäre es mit etwas Musik?”

Ludger war plötzlich aufgetaut. Geradezu beherzt sprach er ein nicht zu unterschätzendes Angebot aus, denn die Energie des Venturi war begrenzt und die Heizung verbrauchte schon einen Teil davon, der nicht mehr für den Antrieb genutzt werden konnte. Für einen hinreichenden Ausgleich sorgten Solarpaneele auf dem Dach, die im Fall einer Panne die wichtigsten Teile des Fahrzeugs mit Strom zu versorgen hatten. Voller Elan bediente der bärtige Riese die Lenkung, die aus einem Joystick für beide Ketten und nicht aus zwei Hebeln, wie bei einem Panzer, bestand.

„Was denn?”

Da erscholl auch schon laute Rockmusik und eine Antwort erhielt sie nicht mehr. Das war auch nicht notwendig, denn Anna erkannt sofort, dass es sich um „Engel” von Rammstein handelte. Das missfiel ihr zwar, aber sie traute sich nicht, einen eigenen Wunsch zu äußern. Es hätte wahrscheinlich auch keinen Sinn gehabt. Der mittlerweile 47 Jahre alten Version hatten wahrscheinlich schon ihre Großeltern als Teenager gelauscht und das Werk war von der mageren deutschen Musikindustrie wiederentdeckt worden. Offensichtlich für so merkwürdige Zeitgenossen wie Ludger, die im ewigen Gestern lebten.

Anna nahm ganz richtig an, dass er von BTS Reunion noch nie etwas gehört hatte, obwohl die südkoreanische Popgruppe mit „Soap” einen Monat vor der Pandemie wieder einmal die Spitzen der internationalen Charts gestürmt hatte. Die Melodie war so eingängig, dass nicht nur ihre Fans sie liebten. Die halbe Welt hatte sie vor sich hin gesummt. Das war nun bald schon acht Jahre her, als Anna noch ein Kind und ihre Mutter ein absoluter Fan der ehrgeizigen und unverwüstlichen „Edlen Sieben” gewesen war, die über drei Jahrzehnte das Business geprägt hatten, erfolgreicher als die Beatles und Rolling Stones zusammen. Doch jetzt mischte sich der Bärtige ein und ließ die Erinnerungen verfliegen.

„… will kein Engel sein!”

Ludger stimmte begeistert ein und sein tiefer Bass dröhnte in den Ohren. Aus dem Frachtraum des Venturi erscholl Protest von dem kleinen Freund, der sich Gehör zu verschaffen versuchte.

„Darf ich um mehr Rücksicht bitten, ihre Konzentration leidet erheblich und sie gefährden unsere Sicherheit!”

Anna fummelte an ihren Bluetooth-Earbuds herum, deren empfindliche Elektronik gern bei Minustemperaturen versagte. Ihr Smartphone trug sie geschützt in einer der Innentaschen des Expeditions-Daunenanzugs. Man hatte sie davor gewarnt, es zu sehr der Kälte auszusetzen, denn bereits bei –10 °C begannen die Probleme. Schuld daran war die Feuchtigkeit in den Geräten, die sich nicht vermeiden ließ und zu Kurzschlüssen an den Kontakten, vor allen Dingen der Akkus, führte. Auch das Display mit seinen Flüssigkristallen unterlag der Gefahr, zu gefrieren und dann zu brechen.

„… will kein Engel sein!”

Da Ludger keine Anstalten unternahm, seine Musikwahl zu ändern, suchte sie sich ihr eigenes Programm aus, lehnte sich im Sitz zurück und genoss, so gut es eben ging, BTS Reunion. Der Rückweg würde noch lang genug sein und mindestens fünf Stunden Fahrzeit benötigen. So lange würde sie es mit Rammstein und dem Bärtigen nicht aushalten können. Wenn sie ehrlich war, nicht einmal fünf Minuten. Sie schloss demonstrativ die Augen und versuchte, in eine andere Welt abzutauchen. Ludger bemerkte sehr wohl ihre Reaktion, ihre ablehnende Haltung, doch es störte ihn nicht. So waren eben die Jugendlichen. Anna hatte schließlich auch ihre Vorzüge, denen er sich nicht entziehen konnte. Immer wieder warf Ludger neugierige Blicke auf den schlanken Körper des Mädchens, der zwar vom Daunenanzug verdeckt wurde, aber gerade weil man die Proportionen nur erahnen konnte, seinen besonderen Reiz ausübte. Die junge Frau hatte schon auf der Hinfahrt bemerkt, dass der Fahrer sich nicht scheute, sein Interesse an ihr deutlich zu zeigen. Hatte sie es zunächst als Kompliment aufgefasst, war sie nach kurzer Zeit zu dem Schluss gelangt, dass er früher oder später sicher versuchen würde, sich ihr zu nähern, um aufdringlich zu werden.

Schließlich, nach ein paar Stunden zusammen mit ihm im Fahrerraum des Venturi, fand sie ihn regelrecht abstoßend. Man konnte sich schlecht mit ihm unterhalten, und er verhielt sich völlig anders als die Wissenschaftler der Station, die immer versuchten, den Jugendlichen ausgiebige Erklärungen über ihre Arbeitsgebiete zu geben. Ludger gehörte zum Wartungsteam. Das waren insgesamt nur drei Personen. Neben dem bärtigen Riesen, der für die Instandhaltung des Fuhrparks verantwortlich war, gab es da noch Schröder, den Elektriker, und Paulsen, den Klempner. Letzterer war ein Schönling und Frauenheld und das genaue Gegenteil von Ludger. Die wenigen weiblichen Wissenschaftlerinnen standen alle auf ihn und er nutzte die Situation schamlos aus, denn wer wollte nicht ein kleines Abenteuer am Ende der Welt erleben.

„Ihre Verhaltensweise ist unangebracht, die Lautstärke der Musik ist zu korrigieren!”

Pumpernickel gab sich alle Mühe, die Situation zu entschärfen, aber Ludger hörte nicht auf ihn. Er fuhr durch die Landschaft mit einer Höchstgeschwindigkeit von immerhin 25 km/h. Es rumpelte und knirschte heftig und der Erwachsene hoffte den Teenager damit zu beeindrucken, wie gut er mit den Unebenheiten der Strecke fertigwurde. Aber Anna blieb zurückhaltend und gönnte ihm nur ein winziges Lächeln, damit er nicht zu sehr frustriert war. Der Riese interpretierte es völlig falsch und fühlte sich angespornt, die Fahrt weiterhin zu steigern, bis der Elektromotor heftig summte und zu überlasten drohte.

„Reduzieren Sie bitte die Reisegeschwindigkeit, sonst beeinträchtigen Sie Ihr Fahrverhalten und die Akkumulatoren.”

Ludger wusste, dass die Akkus für sie überlebenswichtig waren. Hier draußen, nahezu 100 Kilometer von der Station entfernt, wollte er sicher nicht stranden.

Die Nacht in dieser weißen Hölle verbringen zu müssen, auch wenn es nicht dunkel und gefährlich kalt werden würde, war abartig. Dazu freute er sich zu sehr auf den Feierabend. Schließlich wollte er noch ausreichend Körperpflege betreiben, wenn sie zurück waren, damit seine Verabredung ein Erfolg würde. Er bildete sich ein, bei Anna eine Chance zu haben.

„Ist ja gut! Ich fahre schon angemessen.”

Tatsächlich reduzierte er die Geschwindigkeit auf ein normales Maß und ließ den Venturi V gemächlich über den vereisten Untergrund fahren. Die Ketten griffen sicher in den Schnee und zogen das Fahrzeug Kilometer um Kilometer ihrem Ziel entgegen.

„Danke.”

Die blecherne Stimme des Roboters erscholl etwas gedämpft, frei von Aggressionen und erweckte den Eindruck, als könne der kleine Freund keiner Fliege etwas zu Leide tun. Doch sein Schutzprogramm war sehr effektiv, und man musste sich bei einer physischen Gegenwehr durchaus vor ihm in Acht nehmen.

„Wir werden unser Ziel in ungefähr 4 Stunden und 56 Minuten erreichen, vorausgesetzt wir nehmen die gleiche Route wie auf dem Hinweg.”

Anna gab sich damit zufrieden und es dauerte auch gar nicht lange, da wurde aus einem faulen Dösen ein längerer Schlaf. Die junge Frau schnarchte leicht, was auf eine verstopfte Nase zurückzuführen war. Sie war gezwungen, ihren Mund zu öffnen, damit sie genug Luft bekam. Ludger warf ab und zu einen neugierigen Blick auf den Teenager und studierte ihre vollen Lippen. Wie schön sie war. Während er die langweilige Strecke im ewigen Eis stoisch meisterte, gingen ihm die wildesten Fantasien durch den Kopf. Er wünschte sich, sie verführen zu können. Nur wie würde er es hier anstellen können, ohne in Teufels Küche zu geraten? Er fuhr ratlos weiter.

So verging die Zeit, bis sich die Augen der jungen Frau wieder öffneten. Sie stieß einen Seufzer aus, als sie erwachte. Anna hatte länger geschlafen als erwartet und gut die Hälfte der Fahrt verpennt. Neugierig sah sie zum Horizont, aber da war noch nichts von Zivilisation zu erkennen. Die Sonne war ein gutes Stück weiter am Firmament gerückt, aber stand immer noch so hoch, dass sie jetzt, im Januar, nicht untergehen würde. Es war Sommer auf der Südhalbkugel der Erde und vor ein paar Wochen hatten sie auf Neumayer IV noch Weihnachten gefeiert. Sogar ein Tannenbaum, extra aus Argentinien importiert und mit dem Schiff in der Atka-Bucht angeliefert, hatte in der Lounge gestanden. Der 16 Kilometer lange und ebenso breite Eishafen in der Antarktis war nach der USS Atka benannt, welche den Auftrag gehabt hatte, im Februar 1955 mögliche Standorte für Bodenstationen zu erkunden.

Die Bucht markierte eine mehr oder weniger dauerhafte Vertiefung in der Front des Ekström-Schelfeises an der Prinzessin-Martha-Küste des antarktischen Queen-Maud-Landes. Die Neumayer-Station III war hier, auf dem etwa 200 Meter dicken Ekström-Schelfeis, erbaut worden. Ihren Betrieb hatte man auf mehr als 20 Jahre ausgelegt. Sie ruhte in einer Höhe von sechs Metern auf dreißig höhenverstellbaren Stelzen. Das Hochsetzen mittels Hydraulik verhinderte das Einschneien des Gebäudes, da der vom Wind über den Boden getriebene Schnee zwischen den Stelzen hindurchwehen konnte. Diese bei der Station III bewährte Technik fand bei der fast um das Doppelte ausgebauten Neumayer IV ebenfalls Anwendung.

„Falls du unser Heim suchst, das dauert noch ein wenig, bis wir wieder da sind.”

Ludger hatte das Schweigen in der Kabine gebrochen. Anna rappelte sich auf und befreite sich von den Ohrhörern. Der Bärtige betrachtete sie neidisch.

„Sind ein Geschenk von meinen Eltern, vor der Pandemie.”

Vorsichtig verstaute die junge Frau ihre Earbuds in einer der Innentaschen ihrer Jacke und suchte nach der Thermoflasche mit aromatisiertem Wasser, um ihren Durst zu stillen. Doch sie konnte sie nicht finden. Der Riese reagierte sofort und griff neben der Fahrertür in die Ablage. Anna lächelte verlegen, als Ludger ihr seine Kanne reichte.

„Habe ich heute in der Früh aufgefüllt mit frischem Wasser.”

„Danke.”

Sie trank mit tiefen Zügen direkt aus der Flasche und stillte ihren Durst. Offensichtlich hatte er etwas für sie übrig und war gerade dabei, Punkte bei ihr zu machen. Trotzdem war er ihr nicht geheuer, daher blieb sie distanziert. Einer der Weißkittel wäre ihr als Begleiter lieber gewesen, auch wenn die Forscher ihr mit ihrer Fachsimpelei gehörig auf den Geist gingen. Die Station war schließlich ein großer wissenschaftlicher Betrieb. Unter den gegebenen Umständen waren die 300 Quadratmeter Laborfläche, die zur Verfügung standen, ein wahrer Luxus und sie boten Platz für insgesamt ganze 18 Räume. Immerhin gab es in den mehr als 20 Zimmern der Unterkünfte bis zu 50 Schlafplätze. Das hörte sich an, als wäre die Einrichtung recht komfortabel, aber eine Horde pubertierender Teenager auf so engem Raum zu halten, war vielmehr eine Qual. Glücklicherweise hatten sie Zugang zu einer großen Lounge mit beeindruckender Fensterfläche, die zum Relaxen einlud. Daneben befanden sich ein Sanitärbereich mit Dusch-und Waschräumen und eine angrenzende Sauna auf den beiden Etagen der Station. Außerdem schlossen sich eine Küche mit kleinem Speisesaal, verschiedene Lager, Wasseraufbereitungs- und Heizungsanlagen an. Die vier Schulungs- und Besprechungsräume wurden ständig genutzt. Zumeist waren es nicht nur wissenschaftliche Meetings, Seminare und das wöchentliche Unterrichtsangebot, sondern auch abendliche Video- und Filmvorführungen zur Unterhaltung der Jugendlichen. Die eine oder andere Party wurde gern dort abgehalten, meist anlässlich eines Geburtstages oder weil einfach Feiertag war. Der kleinste Raum fungierte sogar als Rückzugsort zur Meditation oder zum Gebet, denn die Mannschaft setzte sich aus Vertretern verschiedenster Glaubensrichtungen und Religionen zusammen. Auch für die körperliche Gesundheit war gesorgt. Der Kraft- und Trainingsraum war gut besucht. Im sogenannten Krankenhaus der Station konnten die beiden vorhandenen Ärzte im Notfall selbst schwierige Operationen durchführen.

Die Gebäudehöhe betrug fast 30 Meter, vom Garagenboden bis zum Außendeck gemessen. Die Plattform war annähernd 100 Meter lang und in der Breite erreichte sie fast 25 Meter. Die Innenräume waren aus einzelnen Containern zusammengesetzt und mit einem Durchgang verbunden. Die Außenhülle der Station, die mit einer Dämmung aus Polyurethanhartschaum versehen war, bestand aus feuerverzinktem Stahl, der Eisstürmen und hoher UV-Strahlung widerstand. Unterhalb der Plattform lag eine Grube, durch Spundwände aus Metall gesichert, die einige Fahrzeuge beherbergte, zum größten Teil Venturi-Kettenfahrzeuge sowie die Skidoo-Motorschlitten, und als Lagerraum diente. Das war Ludgers Reich.

„Was ist das?”

In der Ferne lag eine Nebelbank und versperrte den Blick auf die weitere Umgebung. Sie fuhren direkt darauf zu.

„Das ist seltsam.”

Ludger war sich bewusst, dass im Gegensatz zu normalem Nebel die Erscheinung nicht aus winzigen Wassertröpfchen, sondern aus schwebenden Eiskristallen bestehen musste. So bildete sich beispielsweise kurz nach dem Ende der Polarnacht bei zunehmender Sonneneinstrahlung Wasserdampf, der dann in der kalten Luft wieder kondensierte. Doch sie befanden sich mitten im Sommer an einem freundlichen Tag und Nebel war bei den momentanen Witterungsbedingungen ungewöhnlich. Es konnte zwar immer zu kurzfristigen Wetterumbrüchen kommen, aber nicht lokal, wie es hier der Fall war. Der Fahrer murmelte etwas in den Bart, aber obwohl die gesprochenen Worte nicht verständlich waren, bemerkte man doch, dass er ratlos war.

„Können wir die Stelle nicht umfahren?”

„Nein, wir müssen da durch, es hilft nichts, es versperrt uns den Weg.”

Ludger hatte Angst vor einem „White-out”, dem völligen Verlust der Orientierung in einer gleichförmigen Umgebung. In diesem Fall erschien alles nur noch in einem milchigen Weiß und es waren keine dreidimensionalen Strukturen, geschweige denn ein Horizont auszumachen. In unmittelbarer Umgebung der Station hatte man Seile gespannt, an denen man sich langhangeln konnte, um die Observatorien sicher zu erreichen. Doch hier in der weiten Landschaft war man völlig aufgeschmissen.

„Ist das wirklich Nebel?”

Es erreichte sie schneller, als es bei der langsamen Geschwindigkeit ihres Fahrzeugs möglich gewesen wäre. Also besaß es eine Eigenbewegung. Es schien nach ihnen zu greifen. Anna fragte sich, ob es real war oder eine Halluzination. Was aus der Entfernung wie Nebel gewirkt hatte, entpuppte sich nun als eine diffuse Verzerrung des Landschaftsbildes. Ein Medium wie festgefrorene Luft erweckte den Eindruck, als wolle es sie ersticken. Das bedeutete, auch wenn sie sofort gestoppt hätten, wäre es auf sie zugekommen und hätte sie früher oder später erreicht. Der Bärtige war gerade damit beschäftigt, die Forschungsstation über Funk zu erreichen, bekam aber keinen Kontakt. Panik zeichnete sich in seinem Gesicht ab, als er immer wieder vergeblich um Hilfe rief und im letzten Moment, bevor der Nebel sie erreichte, zwei Flugobjekte am Himmel bemerkte. Zunächst waren sie gar nicht auffällig gewesen, wahrscheinlich unsichtbar für das menschliche Auge. Man konnte spüren, dass sie irgendwie in Verbindung mit der Nebelwand standen, sie vielleicht sogar erzeugten. Auch Anna wurde der beiden linsenförmigen Gebilde gewahr, die bedrohlich über ihnen schwebten und im gleißenden Sonnenlicht silbrig glänzten, als die Landschaft um sie herum plötzlich verschwand. Es war kein langsamer Übergang, sondern er erfolgte abrupt, als wäre ein Schalter umgelegt worden.

Der Fahrer zuckte zusammen, als hätte er einen Stromstoß bekommen. Noch hielt er Spur, machte keinen Fehler, trotz der Überraschung. Doch der Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er die Lichter zu spät kommen sah, die plötzlich vor ihnen erschienen. Er konnte nicht schnell genug stoppen, um eine Kollision zu vermeiden. Ein Rumpeln ging durch das Fahrzeug, als die blitzartigen Erscheinungen aufprallten. Die Insassen wurden in ihren Sitzen hin und her geworfen. Der kleine Roboter flog durch die Luft und gegen die hintere Ladeklappe. Das erzeugte ein hässliches Geräusch.

Anna, die mit sich selbst zu tun hatte, versuchte erst gar nicht, ihren Begleiter zu erreichen. Ein heftiger Schmerz durchfuhr sie, als das Fahrzeug umkippte und ihr Kopf unkontrolliert auf Metall stieß. Es war, als ob ein Tornado sie erwischt hätte, so extrem waren sie den Auswirkungen einer unbekannten Kraft ausgesetzt. Der Motor des Kettenfahrzeugs erstarb, als die Hand des Riesen vom Joystick glitt. Er war bewusstlos.

„Was ist geschehen?”

Annas zaghafte Frage war vielmehr an sich selbst gerichtet als an ihren Begleiter. Sie lag ruhig da und versuchte sich zu orientieren. Ihr Schädel schmerzte und sie befürchtete, eine Gehirnerschütterung zu haben. Damit war nicht zu scherzen. Sie erinnerte sich daran, dass einer der Teenager durch Fehlverhalten verunglückt war und sich heftig den Kopf gestoßen hatte. Einer der behandelnden Ärzte hatte ihm daraufhin ans Herz gelegt, vorsichtig zu sein. Schnell führte die Überanstrengung zu aufkommender Übelkeit und Orientierungslosigkeit. Danach wurde man bewusstlos.

„Ihr seid hier am Ende der Welt, vergesst das nicht. Wenn ihr in Not geratet, gibt es nicht viele Möglichkeiten.”

Seine Mahnung hallte ihr noch in den Ohren. Nun war es geschehen. Sie befand sich am Rande der Hölle, eine schneeweiße Qual. Eigenartigerweise fror sie nicht, überhaupt machte sich die Kälte nicht bemerkbar. Vorsichtig versuchte sie sich zu bewegen. Zu ihrer Überraschung verursachte es nicht die Schmerzen, die sie befürchtet hatte. Langsam rappelte sie sich auf und begann sich umzusehen. Das Fahrzeug musste auf der linken Seite liegen, denn sie blickte rechts durch ihre Tür nach oben. Da bemerkte sie draußen ein äußerst eigenartiges, diffuses Glimmen, das einzige Licht, das ihr ermöglichte, ihre Umgebung wahrzunehmen.

So konnte sie sich orientieren. Links neben ihr lag Ludger in seinem Sitz zusammengesunken. Glücklicherweise atmete er, denn sie konnte sein Röcheln in der gespenstischen Ruhe wahrnehmen. Schwache Klagelaute entfuhren ihm, die andeuteten, dass es ihm schlecht ging. Also musste sie die Initiative ergreifen. Anna rappelte sich auf. Als sie sich anschickte, zur Tür hinaufzuklettern, schnarrte die Stimme des kleinen Roboters aus dem Ladebereich.

„Diagnose abgeschlossen. Fehlfunktion beseitigt. Schäden im Toleranzbereich. Weiterhin einsatzfähig. Warnung.”

Das Mädchen ignorierte ihre Kopfschmerzen und machte sich bemerkbar, damit der Roboter die Situation besser beurteilen konnte. Zwei Menschen waren verletzt und eine noch unbekannte Gefahrenquelle war aktiv. Sein Speicher enthielt keine relevanten Informationen, die auf eine Erklärung hindeuteten, so dass der Roboter sich zunächst auf das Sammeln von Daten konzentrierte.

„Kannst du mir helfen, Pumpernickel? Wir müssen das Fahrzeug verlassen, um zu sehen, was hier los ist.”

„Negativ. Warnung. Eine starke elektromagnetische Kraft hat zu unserem Unfall geführt. Energiefelder unbekannter Herkunft wirken auf unseren Standort ein. Erklärung nicht möglich aufgrund eines Informationsdefizits.”

Der Roboter besaß einige Sensoren, die ihm ermöglichten, Energiequellen zu lokalisieren. Offensichtlich hatte sie etwas brutal gestoppt. Sie waren gegen eine künstliche Barriere gefahren, die jemand oder etwas errichtet hatte. Leider war die Sicht sehr beschränkt. Man konnte vielleicht drei Meter weit blicken. Das reichte nicht einmal aus, um die Unfallstelle genau zu betrachten. Das Mädchen geriet in Panik und Pumpernickel, der sofort am beschleunigten Herzschlag erkannte, dass es ihr nicht gut ging, versuchte sie zu beruhigen.

„Mein automatisches Notrufsystem wurde aktiviert. Wir können davon ausgehen, dass man in der Station unser SOS-Signal bereits empfangen hat und sie uns Hilfe schicken werden.”

„Wie lange soll denn das dauern? Ich will hier weg!”

Anna zwängte sich trotz der Schmerzen aus der engen Kabine heraus und strebte langsam nach oben. Es gelang ihr, die Beifahrertür zu öffnen, um aus dem Fahrzeug zu klettern.

Der Roboter verfügte über einen Greifarm, den er teleskopartig ausfahren konnte, um nach Gegenständen zu angeln. Aber den konnte er momentan nicht nutzen, um sich selbst aus dem Venturi V zu ziehen. Die Ladeluke ließ sich nicht öffnen. Die Diagnose zeigte, dass es kein mechanischer Fehler, sondern ein elektronischer war. Es würde noch etwas Zeit beanspruchen, um die Störung zu beseitigen. Also ging Anna allein. Das Mädchen stand bald außerhalb auf etwas Undefinierbarem. Der Boden war kein Eis, so wie sie es erwartet hatte. Er federte leicht, wenn man auf ihm ging, als handelte es sich um eine Turnmatte. Sie hielt sich krampfhaft am Fahrzeug fest, um nicht zu fallen, und traute sich nicht, weitere Schritte zu unternehmen. Es war abartig still, nichts war zu hören außer ihren eigenen Atemgeräuschen. Sie fühlte sich beengt wie in einem kleinen Raum.

Himmel und Erdboden schienen aus einem einzigen weißen Guss zu bestehen und waren völlig strukturlos. Eine einzige kompakte Masse, in der man orientierungslos umherirrte. Das alles war keineswegs natürlich, sondern befremdlich und bedrohlich. Wie hatte sie die Situation zu verstehen? War sie überhaupt noch am Leben? War dies das Jenseits? Nein. Das konnte sie zwar nicht mit Sicherheit sagen, aber hoffte, dass es nicht so war.

Etwas Unbekanntes existierte da draußen und wartete auf sie, das konnte sie spüren. Wieder tauchten die Lichter irgendwo in der Ferne auf. Ihre Nackenhaare richteten sich auf, aber es geschah nichts.

„Hallo, wer ist da?”

Die junge Frau kam sich beim Versuch, Kontakt aufzunehmen, lächerlich vor. Wer sollte ihr schon antworten? Sie konnte niemanden erblicken und ihre Augen begannen zu tränen, so strengte das elende Weiß sie an. Die Orientierung fiel ihr schwer, da absolut kein Haltepunkt zu erkennen war. Nichts war da, was sie hätte fixieren können. Irgendwie kam ihr der Begriff „Yeqr22” in den Sinn. Was sollte das? Waren das da Berge in der Ferne? Nein, es bewegte sich. Angst machte sich in ihr breit.

„Halt deinen Mund!”

Der Bärtige war plötzlich hinter ihr und drückte sie brutal auf den Boden nieder. Anna spürte seine gewaltige Kraft, als sie versuchte, seinem Griff zu entkommen, aber Widerstand war zwecklos.

Sie schrie in Panik auf, als er begann, ihr den Daunenanzug zu öffnen und vom Leib zu reißen. Sie rangen miteinander und sie schaffte es tatsächlich, einige Schläge an seinem Kopf zu platzieren, so dass er vor Schmerzen aufschrie.

„Warte, du kleines Biest, warte, bis ich es dir besorgt habe!” Trotz heftiger Gegenwehr gelang es Ludger, ihr den Daunenanzug auszuziehen und sie in die weiße Masse zu drücken. Eigenartigerweise spürte sie keine Kälte. War es nur das Adrenalin, das ihren Körper überschüttete und vor Schmerzen bewahrte, oder handelte es sich bei dem seltsamen Untergrund gar nicht um Eis und Schnee? Dann ging alles sehr schnell. Mit wenigen Griffen hatte der Mann ihr die Thermowäsche ausgezogen, ihren Slip zerrissen und ihren Schambereich entblößt.

Sie wollte nicht aufgeben und trat um sich, bis ein gezielter Schlag sie stoppte. Anna schmeckte Blut und wimmerte um Gnade. Doch der Riese ignorierte sie und versuchte brutal in sie einzudringen. Die junge Frau war verzweifelt und schließlich, nach kurzer, erfolgloser Gegenwehr, gab sie auf. Anna lag apathisch da. Das ganze Gewicht des Mannes lastete auf ihr und hielt sie am Boden. Sie hatte keine Chance.

„So ist es fein, Kleine. Das machst du gut.”

Sie spürte seinen Atem in ihrem Gesicht und konnte nicht verhindern, dass er mit seiner Zunge über ihre Wange leckte. Dann tastete er nach ihren Brüsten. Anna schrie in Panik auf und fing an zu weinen.

„Bitte nicht, bitte nicht!”

Doch Ludger hörte ihr Flehen nicht. Er war in Rage und wollte möglichst schnell zum Höhepunkt kommen. Sein Gesicht glühte vor Erregung. Dann war er so weit.

„Unterlassen Sie sofort diesen sexuellen Übergriff!”