Kunst sehen - Julian Barnes - E-Book

Kunst sehen E-Book

Julian Barnes

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Beschreibung

Grandios erzählte Kunstgeschichten von Julian Barnes – in einer um sieben Essays erweiterten E-Book-Ausgabe. Ein Buch voller Kunstgeschichten: über Maler und ihre Exzentrik, über ihre Modelle, Musen, Bilder und Eskapaden. Ein Buch für Kenner und Laien gleichermaßen mit Texten über Delacroix, Courbet, Manet, Cézanne, Degas bis zu Lucian Freud. Mit der Malerei befasste sich Julian Barnes bereits in seinem berühmten Buch »Eine Geschichte der Welt in 10 ½ Kapiteln«, in dem er zum Beispiel Géricaults Bild »Das Floß der Medusa« und die grausame Geschichte des Schiffsbruchs beschrieb. Auch dieses Buch ist voller Geschichten. Über die Künstler und ihre Exzentrik, über die Modelle und deren oftmals kompliziertes Verhältnis zu ihren Malern, über Autoren, die sich mit den Malern beschäftigen. Durch Julian Barnes' Kenntnisreichtum und durch sein Wissen um menschliche Schwächen und Laster entsteht eine Art erzählende Kunstgeschichte – lehrreich, unterhaltsam und überaus erhellend, und das nicht nur für Kunstkenner, sondern auch für Menschen, die nicht viel über Kunst wissen. 

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Seitenzahl: 503

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Julien Barnes

Kunst sehen

Aus dem Englischen von Gertraude Krueger und Thomas Bodmer

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Über Julien Barnes

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Julien Barnes

Julian Barnes, 1946 in Leicester geboren, arbeitete nach dem Studium moderner Sprachen als Lexikograph, dann als Journalist. Von Barnes, der zahlreiche internationale Literaturpreise erhielt, liegt ein umfangreiches erzählerisches und essayistisches Werk vor, darunter »Flauberts Papagei«, »Eine Geschichte der Welt in 10½ Kapiteln« und »Lebensstufen«. Für seinen Roman »Vom Ende einer Geschichte« wurde er mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet. Julian Barnes lebt in London.

Die Übersetzer

Gertraude Krueger, geboren 1949, lebt als freie Übersetzerin in Berlin. Zu ihren Übersetzungen gehören u.a. Sketche der Monty-Python-Truppe und Werke von Julian Barnes, Alice Walker, Valerie Wilson Wesley, Jhumpa Lahiri und E.L. Doctorow.

Thomas Bodmer, geboren 1951, lebt als Übersetzer und Journalist in Zürich. Er betreute als Lektor bis 1992 die ersten deutschen Übersetzungen der Werke von Julian Barnes.

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Über dieses Buch

Ein Buch voller Kunstgeschichten: Über Maler und ihre Exzentrik, über ihre Modelle, Museen, Bilder und Eskapaden. Ein Buch für Kenner und Laien gleichermaßen mit Texten über Delacroix, Courbet, Manet, Cézanne, Degas bis zu Lucian Freud. Mit der Malerei befasste sich Julian Barnes bereits in seinem berühmten Buch »Eine Geschichte der Welt in 10½ Kapiteln«, in dem er zum Beispiel Géricaults Bild »Das Floß der Medusa« und die grausame Geschichte des Schiffsbruchs beschrieb. Auch dieses Buch ist voller Geschichten. Über die Künstler und ihre Exzentrik, über die Modelle und deren oftmals kompliziertes Verhältnis zu ihren Malern, über Autoren, die sich mit den Malern beschäftigen. Durch Julian Barnes’ Kenntnisreichtum und durch sein Wissen um menschliche Schwächen und Laster entsteht eine Art erzählende Kunstgeschichte – lehrreich, unterhaltsam und überaus erhellend, und das nicht nur für Kunstkenner, sondern auch für Menschen, die nicht viel über Kunst wissen.

Inhaltsverzeichnis

Hinweis

Widmung

Vorwort

Géricault: Aus Katastrophen Kunst machen

I. Kapitel

II. Kapitel

Delacroix: Wie romantisch?

Courbet: Es ist nicht so, so

Manet: In Schwarz und Weiß

a) Den Stein werfen

b) Weniger ist mehr

Berthe Morisot: »Ohne Beruf«

Fantin-Latour: Aufgereihte Männer

Cézanne: Bewegt sich denn ein Apfel?

Darüber Schreiben 1

Degas: Humph, Hé, Ha

Degas: Und die Frauen

Mary Cassatt: Nicht in die Schublade

Redon: Aufwärts, aufwärts!

van Gogh: Selfie mit Sonnenblumen

Darüber Schreiben 2

Bonnard: Marthe, Marthe, Marthe, Marthe

Vuillard: Sie dürfen ihn Édouard nennen

Vallotton: Der fremde Nabi

Braque: Das Herz der Malerei

Frankreich geht nach Russland

Magritte: Vom Vogel zum Ei

Oldenburg: Schöne weiche Witzigkeit

Und dann wird das Kunst?

Freud: Der Episodiker

Hodgkin: Worte für H.H.

Danksagung

Übersetzerverzeichnis

Textnachweis

Gertraude Krueger dankt dem Deutschen Übersetzerfonds e.V. für die Förderung ihrer Arbeit an der vorliegenden Übersetzung.

Für Pat

Vorwort

Vor einigen Jahren wurde ein befreundeter Journalist, den seine Zeitschrift nach Paris entsandt hatte, in rascher Folge Vater zweier Kinder. Sobald sie richtig gucken konnten, ging er mit ihnen in den Louvre und führte ihrer kindlichen Netzhaut liebevoll einige der großartigsten Gemälde der Welt vor. Ob er ihnen wie manche andere werdenden Eltern auch klassische Musik vorgespielt hatte, während sie noch im Mutterleib waren, weiß ich nicht; aber manchmal frage ich mich, was wohl aus solchen Kindern wird: potenzielle MOMA-Direktoren – oder womöglich Erwachsene mit keinerlei visuellem Gespür und einem Horror vor Kunstgalerien.

Meine eigenen Eltern haben nie versucht, mich in frühen (oder sonstigen) Jahren mit Kultur zu füttern, haben mich aber auch nie davon abbringen wollen. Sie waren beide Lehrer, und darum wurde der Kunst – genauer gesagt dem Konzept der Kunst – bei uns Respekt erwiesen. In den Regalen standen richtige Bücher und im Wohnzimmer gab es sogar ein Klavier, das in meiner Kindheit aber nie wirklich gespielt wurde. Meine Mutter hatte es als junge, begabte und vielversprechende Pianistin von ihrem lieben Vater geschenkt bekommen. Ihr Spiel fand jedoch ein Ende, als sie sich mit Anfang zwanzig an einem schwierigen Stück von Skrjabin versuchte. Nachdem es ihr bei wiederholten Anläufen nicht gelungen war, dieses Stück zu meistern, wurde ihr klar, dass sie ein gewisses Niveau erreicht hatte und darüber nie hinauskommen würde. Sie hörte auf zu spielen, abrupt und endgültig. Das Klavier wurde sie dennoch nicht los; es zog mit ihr um, folgte ihr getreulich in Ehe, Mutterschaft, Alter und Witwenstand. Auf dem regelmäßig abgestaubten Deckel lag ein Stapel Noten, darunter auch das Stück von Skrjabin, das sie vor Jahrzehnten aufgegeben hatte.

An Kunstwerken gab es drei Ölgemälde im Haus. Zwei zeigten ländliche Szenen im Finistère, gemalt von einem der französischen assistants meines Vaters. In gewissem Sinn waren sie ebenso trügerisch wie das Klavier, da »Onkel Paul«, wie er bei uns hieß, sie genau genommen nicht en plein air geschaffen hatte; nein, er hatte sie von Ansichtskarten abgemalt und ein wenig ausgeschmückt. Die Originale, nach denen er gearbeitet hatte (eins davon mit echter Farbe verschmiert), habe ich noch vor mir auf dem Schreibtisch. Das dritte Bild, das bei uns im Flur hing, war etwas authentischer. Dieser goldgerahmte weibliche Akt in Öl war womöglich eine im neunzehnten Jahrhundert entstandene mittelmäßige Kopie eines ebenso mittelmäßigen Originals. Meine Eltern hatten das Bild auf einer Auktion in dem Londoner Vorort erstanden, in dem wir wohnten. Es ist mir vor allem deshalb in Erinnerung geblieben, weil ich es völlig unerotisch fand. Das kam mir sehr merkwürdig vor, denn andere Darstellungen unbekleideter Frauen hatten meist eine nach meinem Empfinden gesunde Wirkung auf mich. Vielleicht war das bei Kunst eben so: Mit ihrer Erhabenheit nahm sie dem Leben alles, was es aufregend machte.

Quimperlé (Finistère): Le Pont fleuri. (Editions d’Art »Yvon«)

Es gab weitere Anhaltspunkte dafür, dass darin Sinn und Zweck der Kunst liegen könnten: die langweiligen Laientheateraufführungen, zu denen meine Eltern meinen Bruder und mich einmal im Jahr mitnahmen, und die drögen Diskussionen über Kunst, die sie sich im Radio anhörten. Mit zwölf, dreizehn Jahren war ich ein gesunder kleiner Kulturbanause, wie sie in Großbritannien so gut gedeihen, der sich nur für Sport und Comics interessierte. Ich konnte nicht singen, lernte kein Instrument, hatte in der Schule nie Kunstunterricht und hatte nach meinem kurzen (und stummen) Auftritt als dritter Weiser aus dem Morgenland mit etwa sieben Jahren nie wieder als Schauspieler auf der Bühne gestanden. Obwohl ich im schulischen Rahmen an Literatur herangeführt wurde und allmählich begriff, dass es da eine Verbindung zum wirklichen Leben geben könnte, war das für mich eher ein Fach, in dem ich Prüfungen bestehen musste.

Einmal gingen meine Eltern mit mir in die Londoner Wallace Collection: noch mehr Goldrahmen und unerotische Akte. Wir standen eine Weile vor einem der berühmtesten Bilder des Museums: De lachende cavalier [Der lachende Kavalier] von Frans Hals. Ich konnte beim besten Willen nicht erkennen, was den Mann mit dem albernen Schnurrbart so zum Grinsen brachte oder warum das ein interessantes Bild sein sollte. Vielleicht hat man mich auch in die National Gallery geführt, aber daran habe ich keine Erinnerung. Erst im Sommer 1964, als ich zwischen Schule und Universität einige Wochen in Paris verbrachte, habe ich mir aus freiem Willen Bilder angesehen. Und obwohl ich bestimmt auch im Louvre war, hat mich ein großes, dunkles, überhaupt nicht modernes Museum am meisten beeindruckt – vielleicht, weil da sonst niemand war und ich mich deshalb nicht unter Druck gesetzt fühlte, eine bestimmte Reaktion zu zeigen. Das Musée Gustave Moreau an der Gare Saint-Lazare war 1898 nach dem Tod des Malers an den französischen Staat gefallen und wurde seither – seiner Düsterkeit und Schmuddeligkeit nach zu urteilen – recht widerwillig erhalten. Im oberen Stock lag Moreaus riesiges, hohes, scheunenartiges Atelier, unzulänglich beheizt von einem klobigen schwarzen Ofen, der wahrscheinlich schon seit den Lebzeiten des Künstlers brannte. Die Wände waren von oben bis unten mit schlecht beleuchteten Bildern behängt, und große Holztruhen bargen flache Schubladen, die man herausziehen und worin man Hunderte von Vorskizzen betrachten konnte. Ich hatte meines Wissens nie zuvor ein Bild von Moreau gesehen und wusste nichts über ihn (schon gar nicht, dass er der einzige zeitgenössische Maler war, den Flaubert von ganzem Herzen bewunderte). Ich war mir nicht sicher, was ich von diesen Werken halten sollte: exotisch, juwelenübersät und dunkel glitzernd, mit einer seltsamen Mischung von privatem und öffentlichem Symbolismus, der mir fast gänzlich verschlossen blieb. Vielleicht fühlte ich mich gerade von diesem Rätselhaften angezogen, und vielleicht bewunderte ich Moreau umso mehr, als mich keiner dazu anhielt. Auf jeden Fall aber sagt mir meine Erinnerung, dass ich hier zum ersten Mal ganz bewusst Bilder anschaute, statt nur brav und passiv davor herumzustehen.

Mir gefiel auch, dass Moreau so absonderlich war. In diesem frühen Stadium als Betrachter hatte Kunst dann einen Reiz für mich, wenn sie so transformativ wie möglich war: Ja, ich dachte, das sei das eigentliche Wesen der Kunst. Man nahm das Leben und verwandelte es in einem charismatischen geheimen Prozess in etwas anderes: etwas mit dem Leben Verbundenes, das aber stärker, intensiver und im besten Fall verrückter war. Von den Malern aus früheren Zeiten hatten es mir solche wie El Greco und Tintoretto angetan wegen der fließenden, gedehnten Formen auf ihren Bildern, Bosch und Brueghel wegen ihrer fantastischen Einfälle, Arcimboldo wegen seiner witzigen emblematischen Konstruktionen. Und von den Malern des zwanzigsten Jahrhunderts – jedenfalls denen der Moderne – konnten mich so ziemlich alle begeistern, solange sie die öde Wirklichkeit in Kuben und Scheiben, wallende Wirbel, grelle Kleckse, intellektuelle Lineaturen und enigmatische Konstruktionen verwandelten. Hätte ich Apollinaire nicht nur als (modernen und darum bewundernswerten) Dichter gekannt, hätte ich mich seinem Lob des Kubismus als einer »noblen« und »notwendigen« Reaktion auf »die Frivolität dieser Zeit« angeschlossen. Was die umfassendere, längere Geschichte der Malerei betrifft, konnte ich natürlich sehen, dass Dürer, Memling und Mantegna brillant waren, aber eigentlich war der Realismus für mich nicht mehr als die Basis, von der alle Kunst ausgeht.

Das war eine normale und normal romantische Einstellung. Ich musste noch viele Bilder sehen, bevor ich begriff, dass der Realismus nicht etwa das Basislager für Höhenkammabenteuer anderer abgibt, sondern ebenso wahrhaftig und sogar ebenso sonderbar sein kann – dass auch der Realismus Entscheidungen, Organisation und Fantasie verlangt und darum auf seine Art ebenso transformativ sein kann. Ich fand auch langsam heraus, dass man über einige Maler (wie die Präraffaeliten) hinauswächst, in andere hineinwächst (Chardin), wieder anderen gegenüber ein Leben lang seufzend gleichgültig bleibt (Greuze); dass man manche Maler jahrelang übersieht und dann auf einmal wahrnimmt (Liotard, Hammershoi, Cassatt, Vallotton); dass es Maler gibt, die mit Sicherheit groß sind, aber man hat sich trotzdem nie richtig um sie gekümmert (Rubens), und Maler, die man in jedem Lebensalter beharrlich und unbeirrbar groß findet (Piero, Rembrandt, Degas). Und dann kam der vielleicht langsamste Entwicklungsschritt überhaupt: Ich erlaubte mir zu glauben oder vielmehr zu sehen, dass nicht alles an der Moderne ganz und gar wunderbar war. Dass einiges davon besser war als anderes; dass Picasso sich manchmal vielleicht zu wichtig machte, Miró und Klee ins Putzige abglitten, Léger sich ständig wiederholte und so weiter. Irgendwann musste ich erkennen, dass die Moderne ihre Stärken und Schwächen und ein eingebautes Verfallsdatum hatte wie alle anderen künstlerischen Bewegungen auch. Was sie natürlich nur noch interessanter machte.

Dennoch, 1964 wusste ich, dass das »meine« Bewegung war. Und ich empfand es als Glück, dass einige der großen Modernisten noch am Leben waren. Braque war im Vorjahr gestorben, aber Picasso, sein großer Konkurrent (im Leben wie in der Kunst), war noch da, ebenso wie das charmante Schlitzohr Salvador Dalí und Magritte und Miró (und Giacometti, Calder und Kokoschka). Solange die Moderne noch aktiv praktiziert wurde, konnte sie nicht den Museen und der Wissenschaft überlassen werden. Das galt auch für die anderen Künste: 1964 lebten T.S. Eliot und Ezra Pound noch, ebenso Strawinsky, den ich in der Londoner Royal Festival Hall einmal ein halbes Konzert dirigieren sah. Dass sich mein Leben (gerade noch) mit dem ihren überschnitt, war auf eine Art wichtig, die mir damals gar nicht ganz klar war, weil ich noch keine Ahnung hatte, dass ich einmal Schriftsteller werden würde. Aber wer sich in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts anschickte, irgendeine Kunst auszuüben, musste sich mit der Moderne auseinandersetzen: musste sie verstehen, verarbeiten, musste sich zurechtlegen, warum und wie sie alles verändert hatte, und sich überlegen, was das für ihn selbst als potenziellen Künstler nach der Moderne bedeutete. Man konnte (und sollte) seinen eigenen Weg gehen, aber die Bewegung einfach zu ignorieren und so zu tun, als hätte es sie nie gegeben, war ausgeschlossen. Im Übrigen war in den Sechzigerjahren schon die nächste und übernächste Generation am Werk – es gab die Postmoderne und später dann die Post-Postmoderne und so immer weiter, bis schließlich die Etiketten ausgingen. Ein Literaturkritiker in New York hat mich später einmal als einen »Prä-Postmodernisten« bezeichnet, ein Etikett, das ich noch nicht ganz verstanden habe.

Obwohl mir das damals nicht bewusst war, sehe ich jetzt, dass die Moderne sich mir eher in der Malerei als in der Literatur erschlossen, mich erfreut und begeistert hat. Offenbar ließ sich der Weg aus dem Realismus in bildhafter Form leichter verfolgen als in gedruckter. Man ging im Museum von Saal zu Saal und las ein scheinbar klares Narrativ: von Courbet über Manet, Monet und Degas zu Cézanne, dann zu Braque und Picasso – und schon war man da! In der Belletristik sah das alles komplizierter aus und folgte eher verschlungenen Pfaden als einer geraden Linie. Wenn Don Quijote der erste große europäische Roman war, dann ließ er sich mit seinen seltsamen Begebenheiten, seiner Raffinesse und seiner narrativen Selbstreflexion ebenso der Moderne, der Postmoderne und dem magischen Realismus zuordnen – alles auf einmal. Ähnliches gilt für den Ulysses: Wenn das der erste große moderne Roman war, warum sind dann seine besten Teile die realistischsten, diejenigen, die das gewöhnliche Leben am wahrhaftigsten wiedergeben? Ich wusste nicht – konnte noch nicht erkennen –, dass in allen Künsten meist zweierlei gleichzeitig passiert: ein Streben nach Erneuerung und ein fortwährender Dialog mit der Vergangenheit. Alle großen Erneuerer stützen sich auf frühere Erneuerer, auf die, die ihnen die Erlaubnis gaben, es einfach anders zu machen, und bildhafte Hommagen an Vorläufer sind in der Kunst gang und gäbe.

Gleichzeitig gibt es sehr wohl Fortschritt – oft unbequem, immer notwendig. Im Jahr 2000 organisierte die Royal Academy eine Ausstellung unter dem Titel »1900 – Kunst am Scheideweg«. Dort war, ohne dass die Hängung etwas besonders herausstellte oder ein Kurator eine bestimmte Sichtweise nahelegte, ein Querschnitt dessen zu sehen, was um die vorige Jahrhundertwende bewundert und gekauft wurde, ohne Rücksicht auf Schulen, Zugehörigkeiten und spätere kritische Beurteilung. Bouguereau und Lord Leighton hingen neben Degas und Munch, starrer Akademismus und langweilige Geschichtenerzählerei neben den luftigen Freiheiten des Impressionismus, gewissenhafter und didaktischer Realismus neben glühendem Expressionismus, gepflegter Porno und laienhaft naive erotische Grübeleien neben den neuesten mit dickem Pinsel aufgetragenen Versuchen einer wahrheitsgetreuen Körperdarstellung. Wäre eine solche Ausstellung im Jahre 1900 selbst organisiert worden, kann man sich leicht vorstellen, wie ratlos und brüskiert die Besucher vor dieser riesigen ästhetischen Kabbelei gestanden hätten. Das war die kakofonische Realität mit ihren Überschneidungen und Unvereinbarkeiten, die später zu Kunstgeschichte zerredet und verflacht werden würde, mit einer Zuschreibung von Tugend und Laster, einer Berechnung von Sieg und Niederlage und Rügen für schlechten Geschmack. Diese Ausstellung wollte bewusst nicht belehren und lehrte doch eines ganz klar: die »noble Notwendigkeit« der Moderne.

Flaubert glaubte, es sei nicht möglich, eine Kunst durch eine andere zu erklären, und ein großartiges Gemälde bedürfe keiner erklärenden Worte. Für Braque war der Idealzustand dann erreicht, wenn wir vor einem Bild stehen und gar nichts sagen. Von diesem Zustand sind wir jedoch sehr weit entfernt. Wir bleiben unverbesserliche verbale Wesen, die am liebsten alles erklären, sich Meinungen bilden, argumentieren wollen. Kaum stehen wir vor einem Bild, fangen wir an zu plappern, jeder auf seine Weise. Wenn Proust in einer Kunstgalerie herumging, äußerte er sich gern darüber, an wen ihn die Menschen auf den Bildern im wirklichen Leben erinnerten, was womöglich eine geschickte Methode war, der direkten ästhetischen Konfrontation auszuweichen. Aber es kommt selten vor, dass ein Bild so überwältigend oder überzeugend wirkt, dass es uns zum Schweigen bringt. Und wenn das doch einmal passiert, dauert es nicht lange und wir wollen dieses Schweigen, in das wir gestürzt wurden, erklären und verstehen.

2014 war ich nach einem halben Jahrhundert zum ersten Mal wieder im Musée Gustave Moreau. Es sah noch ganz so aus, wie die Erinnerung es mir weiterhin ausgemalt hatte: höhlenartig, düster und dicht behängt. Der alte gusseiserne Ofen war in den Ruhestand versetzt worden und hatte nur noch dekorative Funktion; und ich hatte vergessen, dass Moreau sich bei der Planung seines Hauses nicht nur ein gigantisches Atelier gegönnt hatte, sondern gleich zwei, eins über dem anderen, durch eine gusseiserne Wendeltreppe verbunden. Als Pariser Touristenattraktion bleibt das Musée so nachrangig wie eh und je. Und ich hatte inzwischen entdeckt, was Degas davon hielt. Er hatte sich selbst ein posthumes Museum einrichten wollen, aber ein Besuch in der Rue de la Rochefoucauld brachte ihn von seinem Vorhaben ab. Beim Hinausgehen bemerkte er: »Wie überaus trübselig … das könnte eine Familiengruft sein … Diese gedrängte Anhäufung von Bildern sieht für mich wie ein Thesaurus oder ein Gradus ad Parnassum aus.«

Dieses Mal war etwas in mir von meinem jüngeren Ich beeindruckt – dass es nicht kehrtgemacht und die Flucht ergriffen hatte. Ich klammerte mich an die Hoffnung, die fünfzig Jahre weiteren Bildersehens erlaubten mir jetzt, Moreau besser zu würdigen als beim ersten Mal. Aber ich sah wieder dieselben Cinemascope-Dimensionen und matten Technicolorfarben, dieselbe Verstiegenheit, immer wiederkehrende Thematik und erhabene Zurichtung von Sexualität. (Moreau sagte einmal zu Degas: »Gedenken Sie wirklich, die Malerei durch den Tanz zu beleben?« Degas erwiderte: »Und Sie – gedenken Sie, die Malerei mit Juwelen aufzumöbeln?«) Ich konnte zwar einiges an der Technik bewundern – vor allem Moreaus Innovation, Konturen und Verzierungen mit schwarzer Tusche über die bemalten Flächen zu legen –, aber meine Hoffnung musste ich nach einigen Stunden aufgeben. Der Flaubert, der Gustave Moreau bewundert hatte, war der Flaubert des Salammbô, nicht der Schöpfer der Madame Bovary. Das war und blieb gestelzte Kunst: Sie war aus akademischen Studien hervorgegangen und ist jetzt selbst zu einem lohnenden Objekt akademischer Studien geworden, ohne dass sie je eine mittlere Periode gehabt hätte, in der sie mit Leben, Feuer und Spannung erfüllt war. Und während ich sie zuvor auf interessante Weise absonderlich gefunden hatte, fand ich sie jetzt nicht absonderlich genug.

Ich begann über Malerei zu schreiben, als ich 1989 ein Kapitel in meinem Roman Eine Geschichte der Welt in 10½ Kapiteln Géricaults Le Radeau de La Méduse [Das Floß der Medusa] widmete. Seitdem bin ich nie einem bestimmten Plan gefolgt. Aber beim Zusammenstellen dieser Artikel habe ich gemerkt, dass ich unabsichtlich die Geschichte nachgezeichnet habe, die ich damals in den 1960er-Jahren zaghaft zu lesen begann: die Geschichte davon, wie die Malerei (vor allem die französische Malerei) ihren Weg von der Romantik zum Realismus und in die Moderne ging. Der mittlere Teil dieser Periode – etwa von 1850 bis 1920 – fasziniert mich noch immer als eine Zeit großer Wahrhaftigkeit, die mit einer fundamentalen Überprüfung künstlerischer Ausdrucksformen einherging. Ich glaube, wir können von dieser Zeit immer noch viel lernen. Und wenn ich als Kind auch das Stumpfsinnige jenes Aktbilds bei uns zu Hause richtig erkannte, so waren meine Schlüsse über die Erhabenheit der Kunst doch falsch. Die Kunst erfasst und vermittelt nicht nur, was das Aufregende, den prickelnden Reiz des Lebens, ausmacht. Manchmal macht sie selbst diesen Reiz aus.

Géricault: Aus Katastrophen Kunst machen

I

Es fing mit einem bösen Vorzeichen an.

Sie hatten Kap Finisterre umrundet und segelten vor einem frischen Wind südwärts, da umkreiste ein Schwarm Tümmler die Fregatte. Die Menschen an Bord drängten sich an Heck und Brustwehr und staunten über die Fähigkeit dieser Tiere, um ein Schiff herumzuschwimmen, das mit neun oder zehn Knoten bereits gute Fahrt machte. Doch während sie dem munteren Treiben der Tümmler zusahen, erhob sich ein Schrei. Ein Kabinenjunge war backbord aus einer der vorderen Luken gefallen. Ein Signalschuss wurde abgegeben, ein Rettungsfloß ausgeworfen, und das Schiff drehte bei. Aber diese Manöver wurden ungeschickt ausgeführt, und als man endlich die sechsrudrige Barkasse herunterließ, geschah dies vergebens. Sie konnten das Floß nicht finden, geschweige denn den Jungen. Er war erst fünfzehn Jahre alt, und die ihn kannten, waren der Meinung, er sei ein guter Schwimmer; sie vermuteten, aller Wahrscheinlichkeit nach habe er das Floß erreicht. In dem Fall ist er zweifellos darauf zugrunde gegangen, nachdem er die grausamsten Leiden durchgemacht hatte.

Die Expedition nach Senegal bestand aus vier Schiffen: einer Fregatte, einer Korvette, einer Flüte und einer Brigg. Sie waren am 17. Juni 1816 mit 365 Menschen an Bord von der Insel Aix in See gestochen. Jetzt fuhren sie mit ihrer um eine Person reduzierten Besatzung weiter nach Süden. Auf Teneriffa nahmen sie Proviant auf – edle Weine, Orangen, Zitronen, Banyanfeigen und Gemüse aller Art. Hier fiel ihnen die Verderbtheit der einheimischen Bevölkerung auf: Die Frauen von Saint Croix standen in ihren Türen und drängten die Franzosen hereinzukommen, in der Gewissheit, dass Eifersuchtsanfälle ihrer Ehemänner durch die Mönche der Inquisition kuriert würden, die den Ehewahn stets missbilligend als Blendwerk des Satans bezeichneten. Nachdenkliche Passagiere führten solches Verhalten auf die südliche Sonne zurück, deren Kraft, wie man weiß, die Bande der Natur wie auch der Moral lockert.

Von Teneriffa aus segelten sie Richtung Süd-Südwest. Frische Winde und navigatorisches Ungeschick zerstreuten die Flottille. Allein passierte die Fregatte den Wendekreis und umrundete Kap Barbas. Sie fuhr dicht an der Küste entlang, bisweilen nur einen halben Kanonenschuss entfernt. Die See war mit Felsen durchsetzt, eine Brigantine konnte diese Gewässer bei Niedrigwasser nicht aufsuchen. Sie hatten Kap Blanco umrundet, oder meinten es jedenfalls, als sie in eine Untiefe gerieten; jede halbe Stunde wurde das Lot geworfen. Bei Tagesanbruch nahm M. Maudet, der wachhabende Leutnant, auf einem Hühnerkäfig die Gissung vor und befand, sie seien am Rande des Arguinriffs. Sein Rat blieb unberücksichtigt. Doch auch wer in Meeresdingen nicht bewandert war, konnte beobachten, dass das Wasser eine andere Färbung angenommen hatte; an der Schiffswand war Tang zu erkennen, und Fische wurden in Mengen gefangen. Bei ruhiger See und klarem Wetter liefen sie auf Grund. Das Lot zeigte achtzehn Faden an, kurz darauf dann sechs Faden. Die Fregatte luvte an und krängte beinahe augenblicklich; ein zweites und drittes Mal, dann stand sie still. Die Lotleine zeigte eine Tiefe von fünf Metern und sechzig Zentimetern.

Das Unglück wollte es, dass sie bei Hochwasser auf das Riff aufgelaufen waren, und bei der heftig werdenden See schlugen alle Versuche, das Schiff freizubekommen, fehl. Die Fregatte war mit Sicherheit verloren. Da die Boote, die sie mit sich führte, nicht Raum genug hatten, die gesamte Besatzung aufzunehmen, wurde beschlossen, ein Floß zu bauen und darauf jene einzuschiffen, die nicht auf den Booten untergebracht werden konnten. Das Floß sollte dann an Land geschleppt werden und alle wären gerettet. Dieser Plan war durchaus wohlersonnen, doch wie zwei der Beteiligten später erklären sollten, stand er in losem Sand geschrieben, der vom Hauch der Selbstsucht verweht wurde.

Das Floß wurde gebaut, und gut gebaut dazu, es wurden Plätze in den Booten zugeteilt, Proviant wurde bereitgestellt. Bei Tagesanbruch, als das Wasser zwei Meter und siebzig Zentimeter hoch im Laderaum stand und die Pumpen versagten, wurde der Befehl gegeben, das Schiff zu verlassen. Doch rasch durchdrang Unordnung den wohlersonnenen Plan. Die Platzverteilung wurde missachtet und der Proviant wurde unachtsam gehandhabt, vergessen oder in den Fluten verloren. 150 Personen waren für das Floß vorgesehen, 120 Soldaten einschließlich Offizieren, 29 Matrosen und männliche Passagiere, eine Frau. Doch kaum waren fünfzig Mann an Bord dieses Gefährts – das eine Länge von zwanzig Metern und eine Breite von sieben Metern hatte –, als es mindestens siebzig Zentimeter tief unter Wasser sank. Sie warfen die Fässer mit Mehl ab, die sie geladen hatten, worauf sich das Niveau des Floßes hob; die übrigen Menschen stiegen auf, und es sank erneut. Als das Gefährt voll beladen war, schwamm es einen Meter unter dem Wasserspiegel und die Menschen an Bord waren so zusammengedrängt, dass sie nicht einen Schritt tun konnten; vorne wie hinten standen sie bis zum Gürtel im Wasser. Lose Mehlfässer wurden von den Wellen gegen sie geschleudert; man warf einen Fünfundzwanzigpfundsack mit Schiffszwieback zu ihnen hinunter, den das Wasser sofort in Brei verwandelte.

Es war vorgesehen gewesen, dass einer der Marineoffiziere das Kommando über das Floß übernehmen sollte, doch lehnte dieser Offizier es ab, an Bord zu gehen. Um sieben Uhr früh wurde das Signal zur Abfahrt gegeben und die kleine Flottille entfernte sich von der aufgegebenen Fregatte. Siebzehn Personen hatten sich geweigert, das Schiff zu verlassen, oder hielten sich versteckt und blieben so an Bord, ihr Schicksal zu erfahren.

Das Floß wurde von vier Booten achtern ins Schlepp genommen, denen eine Pinasse vorausfuhr und die Wassertiefe auslotete. Als die Boote in Position gingen, erhoben sich Vive-le-roi!-Rufe bei den Männern auf dem Floß, und an der Spitze einer Muskete wurde eine kleine weiße Flagge aufgezogen. Doch gerade in diesem Augenblick höchster Hoffnung und Erwartung für die Menschen auf dem Floß gesellte sich der Pesthauch der Selbstsucht zu den üblichen Winden des Meers. Eine Leine nach der anderen wurde losgeworfen, sei es aus Eigennutz, Inkompetenz, infolge eines Unglücks oder aus scheinbarer Notwendigkeit.

Das Floß war kaum zwei Meilen von der Fregatte entfernt, als es abgehängt wurde. Die Menschen an Bord hatten Wein, etwas Brandy, ein wenig Wasser und eine kleine Ration aufgeweichten Schiffszwiebacks. Man hatte ihnen weder Kompass noch Seekarte gegeben. Ohne Ruder und Steuer war es unmöglich, das Floß unter Kontrolle zu halten, und so gut wie unmöglich, die Menschen darauf unter Kontrolle zu halten, die beständig gegeneinandergeworfen wurden, während die Fluten über sie hinwegrollten. In der ersten Nacht kam ein Sturm auf und warf das Gefährt mit großer Heftigkeit herum; die Schreie der Menschen an Bord mischten sich mit dem Tosen der Wellen. Manche banden Seile an die Planken des Floßes und hielten sich daran fest; alle wurden gnadenlos hin und her geworfen. Im Morgengrauen war die Luft von kläglichen Schreien erfüllt, Gelübde, die nie würden erfüllt werden können, wurden gen Himmel getan, und alle bereiteten sich auf ihren nahen Tod vor. Jede Vorstellung, die man sich von dieser ersten Nacht gemacht hätte, wäre hinter der Wahrheit zurückgeblieben.

Am nächsten Tag war die See ruhig, und bei vielen flackerte wieder Hoffnung auf. Dessen ungeachtet nahmen zwei junge Burschen und ein Bäcker, überzeugt, dass es vor dem Tod kein Entrinnen gebe, Abschied von ihren Kameraden und gaben sich willig dem Meer hin. Im Laufe dieses Tages begannen die Menschen auf dem Floß die ersten Trugbilder zu sehen. Einige wähnten, sie sähen Land, andere erspähten Schiffe, die zu ihrer Rettung gekommen schienen, und als diese trügerischen Hoffnungen an den Felsen zerschellten, wurde die Mutlosigkeit dadurch umso größer.

Die zweite Nacht war schrecklicher noch als die erste. Die Fluten türmten sich berghoch und das Floß war fortwährend dem Umschlagen nahe; die Offiziere, die sich um den kurzen Mast drängten, beorderten die Soldaten von einer Seite des Gefährts zur anderen als Gegengewicht zu der Kraft der Wogen. In der Gewissheit, sie seien verloren, brach eine Gruppe von Männern ein Weinfass auf und beschloss, sich die letzten Augenblicke zu versüßen, indem sie die Kraft der Vernunft fahren ließen; das gelang ihnen auch, bis durch das von ihnen gemachte Loch Meerwasser in das Fass drang und den Wein verdarb. Solcherart doppelt rasend gemacht, entschieden diese umnachteten Männer, alle dem gemeinsamen Verderben entgegenzuführen, und fielen zu diesem Zweck über die Taue her, die das Floß zusammenhielten. Da die Meuterer auf Widerstand trafen, kam es inmitten der Wogen und der Finsternis der Nacht zur offenen Schlacht. Die Ordnung wurde wiederhergestellt, und eine Stunde herrschten Ruhe und Frieden auf jenem unheilvollen Gefährt. Doch um Mitternacht erhob sich die Soldateska erneut und griff ihre Oberen mit Messern und Säbeln an; die keine Waffen hatten, waren geistig so zerrüttet, dass sie versuchten, die Offiziere mit den Zähnen zu attackieren, und es wurden viele Bisse erlitten. Männer wurden in die See geworfen, niedergeknüppelt, erstochen; zwei Fässer Wein wurden über Bord geworfen und das letzte Wasser auch. Als man die Schurken endlich gebändigt hatte, war das Floß mit Leichen übersät.

Während des ersten Aufstandes wurde ein Arbeiter namens Dominique, der sich den Meuterern angeschlossen hatte, in das Meer geworfen. Als der Ingenieur, der die Arbeiter befehligte, das erbärmliche Geschrei dieses treulosen Wichts hörte, stürzte er sich in das Wasser, und indem er den Schurken beim Schopf packte, gelang es ihm, ihn wieder an Bord zu ziehen. Dominiques Kopf war von einem Säbel gespalten. In der Dunkelheit wurde die Wunde verbunden und der elende Teufel ins Leben zurückgerufen. Doch kaum war er solcherart wiederhergestellt, als Undankbarkeit von ihm Besitz ergriff; er schloss sich von Neuem den Meuterern an und erhob sich wieder mit ihnen. Diesmal fand er weniger Glück und weniger Gnade; er kam in derselben Nacht um.

Den unglücklichen Überlebenden drohte jetzt das Delirium. Einige warfen sich in das Meer, einige verfielen in Stumpfsinn, einige unglückselige Teufel stürzten sich mit gezogenem Säbel auf ihre Kameraden und verlangten, dass man ihnen den Flügel eines Hühnchens gebe. Der Ingenieur, der mit seiner Tapferkeit den Arbeiter Dominique gerettet hatte, wähnte sich auf einer Reise durch das liebliche Tiefland Italiens, wo ein Offizier zu ihm sagte: »Ich erinnere mich, dass die Boote uns im Stich ließen, doch fürchten Sie nichts; ich habe soeben an den Gouverneur geschrieben, und in wenigen Stunden werden wir gerettet.« Der Ingenieur, noch im Delirium gefasst, erwiderte darauf: »Haben Sie eine Taube, die Ihre Befehle derart geschwind überbringen kann?«

Den sechzig Personen, die noch auf dem Floß waren, blieb lediglich ein Fass Wein. Sie sammelten bei den Soldaten Kennmarken ein und formten daraus Angelhaken; sie nahmen ein Bajonett und bogen es so zurecht, dass man einen Hai damit fangen konnte. Woraufhin ein Hai erschien, das Bajonett schnappte und mit einem wütenden Rucken des Mauls wieder ganz gerade bog; dann schwamm er davon.

Ein äußerstes Mittel war vonnöten, um ihr elendes Dasein zu verlängern. Einige Überlebende der nächtlichen Meuterei fielen über die Leichen her und hackten Stücke davon ab, worauf sie das Fleisch augenblicklich verschlangen. Die meisten Offiziere wiesen dieses Fleisch zurück, doch einer schlug vor, es solle zunächst getrocknet werden, um es genießbarer zu machen. Einige versuchten, Koppelriemen und Kartuschenhülsen sowie die Lederbänder ihrer Helme zu kauen, ohne viel Gewinn. Ein Matrose ging daran, die eigenen Exkremente zu essen, doch gelang es ihm nicht.

Der dritte Tag war windstill und schön. Sie fanden Ruhe, aber grausame Träume vermehrten die Schrecken, die Hunger und Durst ihnen bereits zugefügt hatten. Das Floß, das nun weniger als die Hälfte seiner ursprünglichen Besatzung trug, hatte sich im Wasser gehoben, ein unvorhergesehener Nutzen der nächtlichen Meutereien. Dennoch blieben die Menschen an Bord bis an die Knie im Wasser und konnten nur aufrecht stehend, zu einer kompakten Masse aneinandergedrängt, ruhen. Am vierten Morgen wurden sie gewahr, dass ein Dutzend ihrer Gefährten des Nachts gestorben waren; die Leichen wurden dem Meer übergeben bis auf eine, die gegen den Hunger zurückbehalten wurde. Um vier Uhr nachmittags zog ein Schwarm fliegender Fische über das Floß hinweg und viele verfingen sich in den Aufbauten des Gefährts. Am Abend bereiteten sie den Fisch zu, doch war ihr Hunger so groß und jede Portion so dürftig, dass viele von ihnen den Fisch mit Menschenfleisch vermischten, und das so zubereitete Fleisch wurde als weniger abstoßend empfunden. Selbst die Offiziere aßen nun davon, da es in dieser Form dargeboten wurde.

Von diesem Tag an lernten alle, Menschenfleisch zu verzehren. Die nächste Nacht sollte frischen Nachschub bringen. Einige Spanier, Italiener und Neger, die während der ersten Meuterei neutral geblieben waren, verschworen sich miteinander und fassten den Plan, ihre Oberen über Bord zu werfen und mit den Wertgegenständen und Besitztümern, die in einer Tasche verstaut und am Mast aufgehängt worden waren, an die Küste zu entkommen, die sie nahe glaubten. Wiederum entbrannte eine furchtbare Schlacht, und auf dem Unglücksfloß strömte das Blut. Nachdem diese dritte Meuterei endlich niedergeworfen war, verblieben nicht mehr als dreißig Menschen an Bord, und das Floß hatte sich erneut im Wasser gehoben. Kaum ein Mann lag ohne Wunden da, in die unaufhörlich Salzwasser floss, und durchdringende Schreie waren zu hören.

Am siebten Tag verbargen sich zwei Soldaten hinter dem letzten Fass Wein. Sie schlugen ein Loch hinein und tranken den Wein durch einen Strohhalm. Als man die beiden Verräter entdeckte, wurden sie dem inzwischen verkündeten Gesetz gemäß unverzüglich in das Wasser geworfen.

Und nun musste die entsetzlichste Entscheidung getroffen werden. Beim Durchzählen ergab sich, dass sie siebenundzwanzig waren. Fünfzehn davon würden wohl noch einige Tage leben; die übrigen, die schwere Verletzungen erlitten hatten und von denen viele delirierten, hatten äußerst geringe Überlebenschancen. In der Zeit, die bis zu ihrem Tode vergehen mochte, würden sie jedoch mit Sicherheit den beschränkten Proviant weiter verringern. Man rechnete, dass sie zusammen gut und gerne dreißig oder vierzig Flaschen Wein trinken könnten. Die Kranken auf halbe Ration zu setzen, würde nur bedeuten, dass man sie nach und nach umbrächte. Und so kamen die fünfzehn Gesunden nach einer von furchtbarster Verzweiflung beherrschten Debatte überein, ihre kranken Kameraden müssten zum gemeinen Wohle derer, die noch überleben könnten, in das Meer geworfen werden. Drei Matrosen und ein Soldat, deren Herzen durch den ständigen Anblick des Todes bereits verhärtet waren, nahmen diese abscheulichen und doch notwendigen Exekutionen vor. Die Gesunden wurden von den Ungesunden geschieden wie die Reinen von den Unreinen.

Nach diesem grausamen Opfer warfen die letzten fünfzehn Überlebenden alle ihre Waffen ins Wasser und behielten nur einen Säbel zurück für den Fall, dass Stricke oder Holz zu schneiden wären. Sie hatten noch Nahrungsmittel für sechs Tage, während sie auf den Tod warteten.

Dann trat ein kleines Ereignis ein, das jeder nach seinem eigenen Naturell interpretierte. Ein weißer Schmetterling von einer in Frankreich weitverbreiteten Art tauchte flatternd über ihren Köpfen auf und ließ sich auf dem Segel nieder. Einigen schien in ihrem Hungerwahn, selbst das könnte noch ein Häppchen zu essen abgeben. Für andere wirkte die Leichtigkeit, mit der ihr Besucher sich bewegte, wie der reinste Hohn auf diejenigen, die erschöpft und nahezu bewegungslos unter ihm lagen. Wieder andere hielten diesen einfachen Schmetterling für ein Zeichen, einen Boten des Himmels, so weiß wie Noahs Taube. Selbst jene Skeptiker, die darin kein Werkzeug Gottes sehen wollten, wussten, dass Schmetterlinge sich nur in geringe Entfernung vom trockenen Land begeben, und schöpften zaghaft Hoffnung.

Doch zeigte sich kein trockenes Land. Unter der sengenden Sonne wurden sie von rasendem Durst verzehrt, bis sie begannen, sich die Lippen mit dem eigenen Urin zu netzen.

Sie tranken ihn aus kleinen Blechtassen, die sie erst in Wasser tauchten, um ihre inneren Säfte schneller zu kühlen. Es geschah, dass einem Mann die Tasse gestohlen und später zurückgegeben wurde, jedoch ohne den Urin, den sie vordem enthalten hatte. Da war ein Mann, der sich nicht überwinden konnte, den Urin zu schlucken, wie durstig er auch sein mochte. Ein Arzt unter ihnen merkte an, der Urin mancher Männer sei angenehmer zu schlucken als der von anderen. Er merkte weiter an, der einzige unmittelbare Effekt des Urintrinkens sei eine Neigung zu erneuter Urinproduktion.

Ein Offizier der Armee entdeckte eine Zitrone, die er für sich allein zu behalten gedachte; heftiges Flehen überzeugte ihn von den Unbilden der Selbstsüchtigkeit. Desgleichen wurden dreißig Knoblauchzehen gefunden, die Anlass zu weiterem Disput gaben; wären nicht alle Waffen bis auf den einen Säbel fortgetan worden, so hätte es wohl wieder Blutvergießen gegeben. Es waren zwei Phiolen mit einem alkoholischen Mittel zur Reinigung der Zähne da; ein, zwei Tropfen dieses Mittels, die der Besitzer widerstrebend abgab, riefen auf der Zunge eine köstliche Empfindung hervor, die für einige Sekunden den Durst vertrieb. Ein paar Zinnstückchen bewirkten, wenn man sie in den Mund nahm, eine Art Kühle. Eine leere Phiole, die einmal Rosenessenz enthalten hatte, wurde unter den Überlebenden herumgereicht; sie inhalierten, und die Parfümreste hatten eine wohltuende Wirkung.

Am zehnten Tag fassten mehrere Männer nach Empfang ihrer Weinzuteilung den Plan, sich trunken zu machen und dann umzubringen; dieses Vorhaben wurde ihnen mit Mühe ausgeredet. Nun kreisten Haie um das Floß, und ein paar Soldaten badeten in ihrem Wahn unverhohlen in Sichtweite der großen Fische. Acht Männer konstruierten im Glauben, das Land könne nicht weit sein, ein zweites Floß, um darauf zu entfliehen. Sie bauten ein schmales Gefährt mit einem niedrigen Mast und einem Stück Hängematte als Segel, doch als sie es einem Versuch unterzogen, erwies sich ihnen an der Zerbrechlichkeit des Gefährts das Tollkühne ihres Unterfangens, und so gaben sie es auf.

Am dreizehnten Tag ihres Martyriums ging die Sonne vollkommen ohne Wolken auf. Die fünfzehn armen Teufel hatten ihre Gebete an den Allmächtigen verrichtet und ihre Portion Wein untereinander verteilt, als ein Infanteriehauptmann beim Blick zum Horizont ein Schiff erspähte und das mit einem Aufschrei kundtat. Alle dankten dem Herrgott und gaben sich dem Überschwang der Freude hin. Sie bogen Fassreifen gerade und banden Taschentücher daran; einer von ihnen kletterte auf die Mastspitze und schwenkte die kleinen Flaggen. Alle beobachteten das Schiff am Horizont und stellten Mutmaßungen über seine Weiterfahrt an. Einige schätzten, es komme mit jeder Minute näher; andere behaupteten, sein Kurs liege in entgegengesetzter Richtung. Eine halbe Stunde lang lagen sie schwankend zwischen Furcht und Hoffnung. Dann verschwand das Schiff vom Meer.

Aus ihrer Freude wurden sie in Verzweiflung und Schmerz gestürzt; sie beneideten jene, die vor ihnen gestorben waren, um ihr Schicksal. Dann, um sich mit Schlaf etwas über ihre Hoffnungslosigkeit hinwegzutrösten, spannten sie ein Stück Stoff als Sonnenschutz auf und legten sich darunter. Sie nahmen sich vor, einen Bericht über ihre Abenteuer zu schreiben, den sie alle unterzeichnen würden, und ihn an die Mastspitze zu nageln in der Hoffnung, dass er auf irgendeine Weise zu ihren Familien und zur Regierung gelangen möge.

Sie hatten zwei Stunden unter den grausamsten Überlegungen verbracht, als der Oberkanonier, der zum vorderen Teil des Floßes wollte, aus dem Zelt ging und eine halbe Meile entfernt die Argus sah, die, unter vollen Segeln, rasch auf sie zusteuerte. Er konnte kaum Atem schöpfen. Seine Hände streckten sich der See entgegen. »Gerettet!«, rief er. »Seht die Brigg ganz in unserer Nähe!« Alles frohlockte; selbst die Verwundeten wollten zum hinteren Teil des Gefährts kriechen, um besser zu sehen, wie ihre Retter nahten. Sie umarmten einander, und es war für sie doppelte Wonne, als sie sahen, dass es Franzosen waren, denen sie ihre Erlösung zu verdanken hatten. Sie schwenkten Taschentücher und dankten der Vorsehung.

Die Argus strich die Segel und kam auf steuerbord längsseits, einen halben Pistolenschuss entfernt. Die fünfzehn Überlebenden, deren stärkste die nächsten achtundvierzig Stunden nicht überdauert hätten, wurden an Bord genommen; der Kommandant und die Offiziere der Brigg fachten mit ihrer unablässigen Pflege die Lebenslichter wieder in ihnen an. Zwei, die später einen Bericht über ihr Martyrium schrieben, meinten abschließend, die Art ihrer Rettung sei wahrhaft wunderbar gewesen und die Hand des Himmels habe bei dem Geschehen deutlich mitgewirkt.

Die Fahrt der Fregatte hatte mit einem bösen Vorzeichen angefangen und endete mit einem Echo. Als das Unglücksfloß im Schlepptau seiner Begleitschiffe in See ging, waren siebzehn Personen auf der Medusa zurückgeblieben. Derart auf eigenen Wunsch allein gelassen, durchsuchten sie das Schiff unverzüglich nach allem, was die Abfahrenden nicht mitgenommen hatten und das nicht von Seewasser durchdrungen war. Sie fanden Zwieback, Wein, Brandy und Speck, genug, sie eine Weile am Leben zu halten. Zuerst herrschte Gelassenheit, da ihre Kameraden versprochen hatten, zu ihrer Rettung zurückzukehren. Doch als zweiundvierzig Tage vergangen waren, ohne dass Hilfe kam, beschlossen zwölf von den siebzehn, an Land zu gelangen. Zu diesem Zweck bauten sie ein zweites Floß, indem sie einige Planken der Fregatte mit starken Seilen zusammenbanden, und schifften sich darauf ein. Wie ihre Vorgänger hatten sie weder Ruder noch Navigationsausrüstung und besaßen nicht mehr als ein rudimentäres Segel. Sie nahmen einen kleinen Vorrat an Proviant mit und was an Hoffnung noch geblieben war. Viele Tage später entdeckten jedoch Mauren, die an der Saharaküste leben und Untertanen des Königs Said sind, die Überreste dieses Gefährts und brachten davon Nachricht nach Andar. Alle glaubten, die Männer auf diesem zweiten Floß seien gewiss den Seeungeheuern zum Opfer gefallen, die an den Küsten Afrikas in großer Zahl zu finden sind.

Und zuletzt kam, wie zum Hohn, das Echo eines Echos. Fünf Männer blieben auf der Fregatte zurück. Einige Tage nach dem Aufbruch des zweiten Floßes versuchte ein Matrose, der sich geweigert hatte, auf dieses zweite Floß zu gehen, gleichfalls die Küste zu erreichen. Da er kein drittes Floß für sich bauen konnte, stach er mit einem Hühnerkäfig in See. Vielleicht war es derselbe Käfig, auf dem M. Maudet an jenem Morgen, als sie auf das Riff liefen, den Unglückskurs der Fregatte bestimmt hatte. Doch der Hühnerkäfig sank und der Matrose kam um, als er nicht weiter als die halbe Länge eines Ankertaus von der Medusa entfernt war.

II

Wie macht man aus Katastrophen Kunst?

Heutzutage ist das ein automatischer Prozess. Ein Atomkraftwerk explodiert? Innerhalb eines Jahres haben wir in London ein Stück auf der Bühne. Ein Präsident wird ermordet? Sie können das als Buch haben oder als Film oder als verfilmtes Buch oder als verbuchten Film. Krieg? Schickt die Romanautoren rüber. Eine schaurige Mordserie? Höret den Einmarsch der Dichter. Schließlich müssen wir sie begreifen, diese Katastrophe; um sie zu begreifen, müssen wir sie uns vorstellen können, daher brauchen wir die Künstler mit ihrer Vorstellungskraft. Doch wir haben auch das Bedürfnis, sie zu rechtfertigen und zu verzeihen, diese Katastrophe, wenn auch nur ein ganz kleines bisschen. Warum musste es dazu kommen, zu dieser Wahnsinnstat der Natur, diesem Augenblick menschlicher Tollheit? Nun ja, wenigstens ist Kunst daraus entstanden. Vielleicht sind Katastrophen, letzten Endes, dazu da.

Er ließ sich den Kopf kahl scheren, bevor er mit dem Bild anfing, das ist allgemein bekannt. Ließ sich den Kopf kahl scheren, damit er keinen Besuch empfangen konnte, schloss sich in sein Atelier ein und kam raus, als er sein Meisterwerk vollendet hatte. Ist es so gewesen?

Am 17. Juni 1816 brach die Expedition auf.

 

Am 2. Juli 1816 nachmittags lief die Medusa auf das Riff.

 

Am 17. Juli 1816 wurden die Überlebenden von dem Floß gerettet.

 

Im November 1817 veröffentlichten Savigny und Corréard ihren Bericht von der Reise.

 

Am 24. Februar 1818 wurde die Leinwand für dieses Bild gekauft.

 

Am 28. Juni 1818 wurde die Leinwand in ein größeres Atelier gebracht und neu gespannt.

 

Im Juli 1819 war das Bild fertig.

 

Am 28. August 1819, drei Tage vor der Eröffnung des Salons, begutachtete Louis XVIII. das Gemälde und äußerte sich dem Künstler gegenüber mit – wie es im Moniteur Universel hieß – »einer jener treffenden Bemerkungen, die Urteil über das Werk und Ansporn für den Künstler zugleich sind«. Der König sagte: »Monsieur Géricault, Ihr Schiffbruch ist wahrlich kein Unglück.«

Mit Treue zur Wahrheit fängt es an. Der Künstler las den Bericht von Savigny und Corréard, er traf sich mit ihnen, befragte sie. Er stellte ein Dossier über den Fall zusammen. Er machte den Zimmermann der Medusa ausfindig, der überlebt hatte, und brachte ihn dazu, ein maßstabgetreues Modell seines Originalfloßes zu bauen. Auf diesem postierte er Wachsmodelle, welche die Überlebenden darstellen sollten. In seinem Atelier stellte er ringsum eigene Gemälde von abgeschlagenen Köpfen und zerlegten Gliedmaßen auf, um die Atmosphäre mit Sterblichkeit zu tränken. Die Endfassung des Bildes enthält erkennbare Porträts von Savigny, Corréard und dem Zimmermann. (Mit welchen Gefühlen sie wohl für diese Reprise ihrer Leiden posiert haben?)

Er war vollkommen ruhig beim Malen, wie Antoine Alphonse Montfort, der Schüler von Horace Vernet, berichtet; an Körper und Armen war wenig Bewegung wahrzunehmen und nur eine leichte Rötung des Gesichts verriet seine Konzentration. Er arbeitete direkt auf der weißen Leinwand und ließ sich nur von einer groben Konturzeichnung leiten. Er malte, solange es hell war, mit einer Unerbittlichkeit, die auch technischer Notwendigkeit entsprang: Die schweren, schnell trocknenden Ölfarben, die er benutzte, verlangten, dass jeder Abschnitt, einmal begonnen, am selben Tag vollendet wurde. Er hatte sich, wie wir wissen, die rötlich blonden Locken vom Kopf scheren lassen, was »Bitte nicht stören« heißen sollte. Aber er war nicht einsam: Modelle, Schüler und Freunde kamen weiterhin in sein Haus, das er mit seinem jungen Assistenten Louis-Alexis Jamar teilte. Zu seinen Modellen gehörte auch der junge Delacroix, der für die tote Figur posierte, die mit dem Gesicht nach unten und ausgestrecktem linken Arm daliegt.

Fangen wir damit an, was er nicht gemalt hat. Nicht gemalt hat er:

1.

wie die Medusa auf das Riff aufläuft,

2.

den Augenblick, als die Schleppleinen losgeworfen werden und das Floß im Stich gelassen wird,

3.

die nächtlichen Meutereien,

4.

den notgedrungenen Kannibalismus,

5.

den Massenmord aus Selbstschutz,

6.

die Ankunft des Schmetterlings,

7.

die Überlebenden bis an die Hüften oder Waden oder Knöchel im Wasser,

8.

den eigentlichen Moment der Rettung.

Mit anderen Worten, es ging ihm nicht in erster Linie darum, 1) politisch, 2) symbolisch, 3) theatralisch, 4) schockierend, 5) aufregend, 6) sentimental, 7) dokumentarisch oder 8) unzweideutig zu sein.

Anmerkungen

1) Die Medusa war ein Schiffbruch, eine Nachrichtenmeldung und ein Gemälde; außerdem war sie ein Fall. Bonapartisten fielen über Monarchisten her. Das Verhalten des Fregattenkapitäns erhellte a) die Inkompetenz und Korruption der royalistischen Marine, b) die allgemeine Kaltherzigkeit der herrschenden Klasse gegen die unteren. Parallelen zu dem Staatsschiff, das auf Grund läuft, wären naheliegend und plump zugleich gewesen.

 

2) Savigny und Corréard, Überlebende und Co-Autoren des ersten Berichts über den Schiffbruch, wandten sich mit einem Gesuch um Entschädigung der Opfer und Bestrafung der schuldigen Offiziere an die Regierung. Da sie bei der institutionalisierten Gerichtsbarkeit kein Gehör fanden, riefen sie mit ihrem Buch das höhere Gericht der öffentlichen Meinung an. Corréard ließ sich später als Verleger und Verfasser von Flugschriften mit einem Unternehmen namens »Zu den Schiffbrüchigen der Medusa« nieder; es wurde ein Treffpunkt von politisch Unzufriedenen. Wir können uns ein Gemälde vorstellen, das den Moment zeigt, in dem die Schleppleinen losgemacht werden: Eine Axt wird, in der Sonne blitzend, geschwungen; ein Offizier, dem Floß den Rücken zugewandt, löst gleichgültig einen Knoten … Es wäre ein hervorragendes Pamphlet in Bildform.

Théodore Géricault, Scène de cannibalisme sur le radeau de La Méduse, um 1818/19. Musée du Louvre, D.A.G., Paris, Frankreich. Foto © RMN-Grand Palais (Musée du Louvre)/Thierry Le Mage

 

3) Die Meuterei war die Szene, die Géricault fast gemalt hätte. Mehrere Vorstudien sind uns überliefert. Nacht, Sturm, schwerer Seegang, zerfetztes Segel, erhobene Säbel, Ertrinken, Nahkampfszenen, nackte Körper. Was ist dagegen einzuwenden? Vor allem, dass es aussehen würde wie so eine Saloonschlägerei aus einem B-Western, bei der jede einzelne Person etwas zu tun hat – Faustschläge austeilt, Stühle zertrümmert, Gegnern Flaschen über den Kopf haut, sich mit schweren Stiefeln am Kronleuchter umherschwingt. Es ist zu viel los. Man kann mehr sagen, indem man weniger zeigt.

Die überlieferten Skizzen von der Meuterei sollen herkömmlichen Darstellungen des Jüngsten Gerichts mit seiner Scheidung der Ungerechten von den Gerechten und dem Sturz der Aufrührer in die Verdammnis ähnlich sein. Ein solcher Bezug wäre irreführend gewesen. Auf dem Floß triumphierte nicht Tugend, sondern Stärke, und es war wenig Gnade zu erwarten. Untergründig würde diese Darstellung besagen, dass Gott auf der Seite der Offiziersklasse stand. Vielleicht tat er das damals ja auch.

 

4) In der abendländischen Kunst gibt es sehr wenig Kannibalismus. Prüderie? Das ist eher unwahrscheinlich: Die abendländische Kunst ist nicht prüde, wenn es um ausgestochene Augen, abgeschlagene Köpfe in Säcken, zu Opferzwecken amputierte Brüste, Beschneidung und Kreuzigung geht. Noch dazu war Kannibalismus ein heidnischer Brauch, der sich auf Gemälden zweckdienlich verdammen ließ und dabei den Betrachter heimlich erregen konnte. Aber manche Themen scheinen einfach öfter gemalt zu werden als andere.

Géricault hat eine Skizze von der Menschenfresserei auf dem Floß gemacht. Der Moment der Anthropophagie, auf den er den Scheinwerfer richtet, zeigt einen muskulösen Überlebenden, der am Ellenbogen eines muskulösen Kadavers nagt. Es ist fast schon komisch. Hier würde es immer ein Problem sein, den richtigen Ton zu treffen.

 

5) Ein Gemälde ist eine Momentaufnahme. Wie würden wir wohl eine Szene verstehen, in der drei Matrosen und ein Soldat Leute von einem Floß ins Meer werfen? Dass die Opfer schon tot sind? Und wenn nicht, dass sie jetzt wegen ihres Geschmeides umgebracht werden? Wenn Karikaturisten Schwierigkeiten haben, uns den Hintergrund ihrer Witze zu erklären, zeigen sie uns oft einen Zeitungsverkäufer neben einem Plakat, auf dem eine passende Schlagzeile steht. Bei einem Gemälde müsste man die entsprechenden Informationen im Titel geben: SCHMERZLICHE SZENE AUF DEM FLOSS DER MEDUSA,IN WELCHER VERZWEIFELTE ÜBERLEBENDE, VON GEWISSENSQUALEN GEPEINIGT, ERKENNEN, DASS DER PROVIANT NICHT AUSREICHT, UND SICH ZUR TRAGISCHEN, DOCH UNUMGÄNGLICHEN ENTSCHEIDUNG DURCHRINGEN, DIE VERWUNDETEN ZU OPFERN, AUF DASS SIE SELBST EINE GRÖSSERE ÜBERLEBENSCHANCE HÄTTEN. Das müsste in etwa reichen.

Der Titel von Das Floß der Medusa lautet übrigens nicht Das Floß der Medusa. Im Katalog des Salons war das Gemälde als Scène de naufrage – Szene eines Schiffbruchs aufgeführt. Eine politische Vorsichtsmaßnahme? Mag sein. Aber es ist zugleich auch ein nützlicher Hinweis für den Betrachter: Dies ist ein Gemälde, keine Meinungsäußerung.

 

6) Es ist nicht schwer, sich die Ankunft des Schmetterlings vorzustellen, wie andere Maler sie dargestellt hätten. Aber da würden die Emotionen mit relativ plumpen Mitteln in Wallung gebracht, nicht wahr? Und selbst wenn man das Problem des richtigen Tons bewältigen könnte, blieben noch zwei größere Schwierigkeiten. Erstens würde es nicht nach einer wahren Begebenheit aussehen, obwohl es eine war; was wahr ist, muss nicht unbedingt überzeugend wirken. Zweitens wirft ein weißer Schmetterling mit einer Spannweite von sechs oder sieben Zentimetern, der sich auf einem Floß von zwanzig Metern Länge mal sieben Metern Breite niederlassen will, ernsthafte Maßstabprobleme auf.

 

7) Ist das Floß unter Wasser, kann man es nicht malen. Die Gestalten würden alle aus dem Meer herauswachsen wie eine Aufstellung schaumgeborener Aphroditen. Des Weiteren bringt das Fehlen eines Floßes formale Probleme mit sich: Wenn die Personen alle stehen – da sie ertrinken würden, wenn sie sich hinlegten –, wirkt das Gemälde vor lauter senkrechten Linien steif; da müsste man besonders genial zu Werke gehen. Also wartet man besser, bis noch ein paar mehr an Bord gestorben sind, das Floß sich aus dem Wasser gehoben hat und die Horizontale voll zur Verfügung steht.

 

8) Das Boot von der Argus kommt längsseits, die Überlebenden strecken die Arme aus und klettern hinein, der ergreifende Kontrast zwischen dem Zustand der Geretteten und dem der Retter, eine Szene der Erschöpfung und der Freude – alles sehr bewegend, kein Zweifel. Géricault hat mehrere Skizzen von diesem Augenblick gemacht. Es könnte in seiner Bildhaftigkeit sehr stark sein; aber es ist etwas … direkt.

 

Das alles hat er nicht gemalt.

Was hat er dann gemalt? Nach was sieht es denn aus, was er da gemalt hat? Versetzen wir unser Auge in die Unwissenheit zurück. Wir studieren Szene eines Schiffbruchs ohne jegliche Kenntnisse der französischen Marinegeschichte. Wir sehen Überlebende auf einem Floß, die einem winzigen Schiff am Horizont entgegenwinken (das ferne Schiff ist, wie wir nicht umhinkönnen zu bemerken, nicht größer, als es jener Schmetterling gewesen wäre). Unsere erste Annahme ist, dass dies der Moment des Sichtens ist, der zur Rettung führt. Dieses Gefühl rührt teilweise von einer unermüdlichen Vorliebe für Happy Ends her, aber auch daher, dass wir uns selbst, auf einer Ebene des Bewusstseins, die Frage stellen: Woher sollten wir denn von diesen Leuten auf dem Floß wissen, wenn sie alle oder einige von ihnen nicht gerettet worden wären?

Was stützt diese Vermutung? Das Schiff ist am Horizont; die Sonne ist gleichfalls am Horizont (wenn auch nicht zu sehen) und erhellt ihn mit gelbem Licht. Sonnenaufgang, folgern wir, und das Schiff kommt mit der Sonne und bringt einen neuen Tag, Hoffnung und Rettung mit sich; die schwarzen Wolken da oben (sehr schwarz) werden bald verschwinden. Aber was, wenn es nun Sonnenuntergang ist? Morgen- und Abenddämmerung sind leicht zu verwechseln. Was, wenn es Sonnenuntergang ist und das Schiff gleich ebenso entschwindet wie die Sonne und die Schiffbrüchigen einer hoffnungslosen Nacht entgegensehen, so schwarz wie die Wolke da oben? Verwirrt schauen wir vielleicht nach dem Segel des Floßes, um zu sehen, ob das Gefährt auf seinen Retter zu oder von diesem weggetrieben wird, und um zu entscheiden, ob jene unheilvolle Wolke sich wohl auflöst, doch wir bekommen wenig Hilfe – der Wind bläst auf dem Bild nicht von oben oder unten, sondern von rechts nach links, und von weiteren Erkenntnissen über das Wetter zu unserer Rechten schneidet uns der Rahmen ab. Dann, wir sind noch immer unentschlossen, taucht eine dritte Möglichkeit auf: Es könnte Sonnenaufgang sein, aber das rettende Schiff kommt trotzdem nicht auf die Schiffbrüchigen zu. Das wäre die deutlichste Abfuhr vonseiten des Schicksals: Die Sonne geht auf, aber nicht für dich.

Théodore Géricault, Le Radeau de la Méduse [Das Floß der Medusa], 1818/19 (Ausschnitt). Musée du Louvre, Paris, Frankreich. Foto: Erich Lessing/akg-images

Das unwissende Auge weicht, etwas unwirsch und widerstrebend, dem kundigen Auge. Vergleichen wir Szene eines Schiffbruchs doch einmal mit dem Bericht von Savigny und Corréard. Sofort wird klar, dass Géricault nicht das Winken gemalt hat, das zur endgültigen Rettung führte: Das hat sich anders abgespielt, da war die Brigg plötzlich ganz nahe beim Floß und alles jubelte. Nein, das ist das erste Sichten, als die Argus für eine qualvolle halbe Stunde am Horizont auftauchte. Bei der Gegenüberstellung von Wort und Bild fällt uns sofort auf, dass Géricault nicht den Überlebenden dargestellt hat, der oben am Mast gerade gebogene Fassreifen mit Taschentüchern daran schwenkt. Er hat sich stattdessen für einen Mann entschieden, der auf einem Fass gehalten wird und ein großes Tuch schwenkt. Bei dieser Veränderung stutzen wir, dann sehen wir ihren Vorzug ein: Die Wirklichkeit bot ihm das Bild eines Affen auf einer Stange; die Kunst legte einen kompakteren Blickpunkt und eine zusätzliche Vertikale nahe.

Doch machen wir uns nicht allzu rasch kundig. Geben wir die Sache an das gereizte unwissende Auge zurück. Vergessen wir das Wetter; was lässt sich aus der Belegschaft auf dem Floß selbst ersehen? Warum zählen wir nicht zuerst mal die Köpfe. Es sind zwanzig Gestalten an Bord. Zwei sind aktiv am Winken, einer aktiv am Zeigen, zwei heftig am Flehen, dazu einer, der die winkende Gestalt auf dem Fass nach Kräften stützt: sechs für Hoffnung und Rettung. Dann gibt es fünf Gestalten (zwei mit dem Gesicht nach unten, drei auf dem Rücken), die tot aussehen oder als würden sie im Sterben liegen, dazu ein alter Graubart, der sich in Trauerpose von der gesichteten Argus abwendet: sechs dagegen. Dazwischen (in räumlicher wie in stimmungsmäßiger Hinsicht) gibt es acht weitere Gestalten: einer halb flehend, halb stützend; drei, die den Winkenden mit ausdrucksloser Miene beobachten; einer, der den Winkenden voller Pein beobachtet; zwei im Profil, die den Wogen nach- beziehungsweise entgegensehen; dazu eine obskure Gestalt an der dunkelsten, am stärksten beschädigten Stelle der Leinwand mit dem Kopf in den Händen (und sich die letzten Haare raufend?). Sechs, sechs und acht: keine absolute Mehrheit.

(Zwanzig?, fragt das kundige Auge zweifelnd. Aber Savigny und Corréard haben doch gesagt, es wären nur fünfzehn Überlebende gewesen. Also sind die fünf Figuren, die vielleicht nur ohnmächtig sein könnten, alle definitiv tot? Vermutlich ja. Was ist dann aber mit der Aussonderung, die es gegeben hat, bei der die letzten fünfzehn gesunden Überlebenden ihre zwölf verwundeten Gefährten ins Meer geschmissen haben? Géricault hat ein paar davon wieder aus der Tiefe des Meeres herausgefischt, damit sie ihm bei der Bildkomposition behilflich sind. Und sollten die Toten bei einem Referendum über Hoffnung oder Verzweiflung etwa ihr Stimmrecht verlieren? Technisch gesehen ja; aber nicht, wenn wir die Stimmung des Bildes beurteilen.)

Théodore Géricault, Le Radeau de la Méduse [Das Floß der Medusa], 1818/19 (Ausschnitt). Musée du Louvre, Paris, Frankreich. Foto: Erich Lessing/akg-images

Die Struktur ist also ausgewogen, sechs dafür, sechs dagegen, acht weiß nicht. Unsere beiden Augen, das unwissende und das kundige, schweifen blinzelnd umher. Immer stärker zieht es sie von dem offensichtlichen Zentrum der Aufmerksamkeit, dem Winkenden auf dem Fass, zu der trauernden Gestalt vorne links hin, der einzigen Person, die uns aus dem Bild anschaut und einen jungen Burschen im Schoß hält, der – wir haben unsere Rechenaufgabe ja gemacht – mit Sicherheit tot ist. Der alte Mann hat allen lebenden Menschen auf dem Floß den Rücken zugewandt: Seine Pose zeugt von Resignation, Kummer, Verzweiflung; zudem ist er durch sein graues Haar und das rote Tuch hervorgehoben, das er als Nackenschutz trägt. Er könnte sich aus einer anderen Zeit und einem anderen Genre hierherverirrt haben – ein von Poussin gemalter älterer Herr, der sich verlaufen hat, vielleicht. (Unsinn, ruft da das kundige Auge dazwischen. Poussin? Guérin und Gros, wenn Sie es wissen wollen. Und der tote »Sohn«? Ein Mischmasch aus Guérin, Girodet und Prud’hon.) Was macht nun dieser »Vater«? a) Beklagt den Toten (Sein Sohn? Sein Kumpel?) in seinem Schoß; b) Erkennt, dass es für sie keine Rettung gibt; c) Überlegt, selbst wenn es eine Rettung gibt, ist das scheißegal wegen des Toten, den er hier in den Armen hält? (Übrigens, sagt das kundige Auge, es hat wirklich seine Nachteile, wenn man unwissend ist. Man käme, zum Beispiel, nie darauf, dass Vater und Sohn ein abgemildertes kannibalistisches Motiv sind, nicht wahr? Als Gruppe treten sie erstmals in Géricaults einziger erhaltener Skizze zu der Kannibalismusszene auf, und jeder gebildete zeitgenössische Betrachter hätte sich gewiss an Dantes Beschreibung des Grafen Ugolino erinnert gefühlt, der sich in seinem Turm zu Pisa inmitten seiner sterbenden Kinder härmte – und sie dann aufaß. Ist das so weit klar?)

Egal, worüber der alte Mann unserer Meinung nach nachdenkt, seine Präsenz wirkt ebenso stark in dem Gemälde wie die des Winkenden. Diese Gewichtsverteilung legt den folgenden Schluss nahe: dass das Bild den mittleren Zeitpunkt beim ersten Sichten der Argus darstellt. Das Schiff ist bereits eine Viertelstunde in Sicht und hat noch weitere fünfzehn Minuten zu bieten. Manche meinen, es käme noch immer auf sie zu; andere sind unsicher und warten ab, was passiert; einige – darunter das weiseste Haupt an Bord – wissen, dass es sich von ihnen entfernt und dass sie nicht gerettet werden. Diese Gestalt bewegt uns dazu, die Szene eines Schiffbruchs als Sinnbild genarrter Hoffnung zu lesen.

Praktisch jeder, der Géricaults Gemälde an den Wänden des Salons von 1819 sah, wusste, dass er die Überlebenden des Floßes der Medusa vor sich hatte, wusste, dass das Schiff am Horizont sie tatsächlich aufgenommen hatte (wenn auch nicht beim ersten Versuch), und wusste, dass das, was sich auf der Expedition nach Senegal abgespielt hatte, ein politischer Skandal ersten Ranges war. Doch wenn ein Gemälde Bestand haben soll, muss es seine eigene Geschichte überdauern. Die Religion verfällt, die Ikone bleibt; ein Bericht ist in Vergessenheit geraten, seine Darstellung aber fesselt noch immer (das unwissende Auge triumphiert – ganz schön ärgerlich für das kundige Auge). Wenn wir heutzutage Szene eines Schiffbruchs betrachten, können wir uns nicht mehr so recht über Hugues Duroy de Chaumareys entrüsten, den Kapitän der Expedition, oder über den Minister, der ihn zum Kapitän ernannt hatte, oder über den Marineoffizier, der sich weigerte, das Kommando auf dem Floß zu übernehmen, oder die Matrosen, die die Schleppleinen losmachten, oder die meuternde Soldateska. (Wahrlich, die Geschichte demokratisiert unsere Sympathien. Waren die Soldaten nicht durch ihre Kriegserlebnisse verroht? War der Kapitän nicht ein Opfer seiner verhätschelnden Erziehung? Würden wir wetten wollen, dass wir selbst uns unter ähnlichen Umständen heroisch verhalten hätten?) Die Zeit sorgt dafür, dass sich eine Geschichte in Form, Farbe, Emotionen auflöst. Modern und unwissend, denken wir uns die Geschichte neu aus: Stimmen wir für den optimistischen, sich gelb färbenden Himmel oder für den trauernden Graubart? Oder glauben wir am Ende beide Versionen? Das Auge kann von einer Stimmung und einer Interpretation zur anderen springen. War das vielleicht die Absicht?

8a) Um ein Haar hätte er Folgendes gemalt. Zwei Ölstudien von 1818, deren Aufbau von allen Vorskizzen dem endgültigen Bild am nächsten kommt, weisen diesen entscheidenden Unterschied auf: Das Schiff, dem zugewinkt wird, ist viel näher. Wir können seine Umrisse, seine Segel und Masten erkennen. Es ist ganz rechts auf der Leinwand im Profil zu sehen, wie es eben seine quälende Fahrt über den gemalten Horizont beginnt. Es hat das Floß eindeutig noch nicht gesehen. Die Wirkung dieser Vorskizzen ist aktiver, kinetischer: Es kommt uns so vor, als könnte das hektische Winken der Leute auf dem Floß in ein paar Minuten etwas bewirken und dass das Bild, statt einen Augenblick festzuhalten, seiner eigenen Zukunft entgegentreibt und dabei die Frage stellt: Wird das Schiff über den Rand der Leinwand hinaussegeln, ohne das Floß zu sehen? Demgegenüber ist die Endfassung des Schiffbruchs