Kupferblut - Königin des Lichts - Lea Diamandis - E-Book

Kupferblut - Königin des Lichts E-Book

Lea Diamandis

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Beschreibung

**Das Finale der Kupferblut Trilogie. Emotional, düster, bildgewaltig. Ein krönender Abschluss.** Ich muss die Klinge sein, mit der das Volk siegreich aus den Schlachten hervorgeht. Doch ich werde nicht länger stolz auf das Blut an meinen Händen und die Krone aus Gebeinen auf meinem Haupt sein. Aiyana hat ihr Ziel erreicht und ist Königin des Vier-Länder-Bündnisses. Doch das Volk ist gespalten, und das Fundament ihrer Herrschaft bröckelt im Angesicht zweier drohender Kriege. Während sie versucht, ihr Königreich vor einem grausamen Schicksal zu befreien, kämpft sie gegen eine mächtigere und unbarmherzige Feindin: die Magie der Flamme. Soleya steht ihr bei jedem Kampf zur Seite, doch kann sie in ein einfaches Leben zurückkehren, wenn sie die letzten zwei göttlichen Artefakte gefunden hat? Und sollten erzürnte Gottheiten wieder erweckt werden, wenn für ihr Erwachen ein Opfer nötig ist?

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Seitenzahl: 592

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Copyright 2022 by

Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

ISBN: 978-3-910615-88-5

Alle Rechte vorbehalten

Für Oma, weil ich es versprochen habe.

Und für mich, weil ich diesen Weg bis zum Ende gegangen bin.

Inhalt

Playlist

Blutige Hände

Aus der Asche

Schwesterherzen brechen nicht

Die Last der Krone

Von Wahrheit und Finten

Im Zentrum der Albträume

Das Gefühl, zu fallen

Gläserne Herzen

Gegenstück

Äscherne Erinnerungen

Zeit fürchtet sich vor Pyramiden

Die Schlinge zieht sich zu

Im Angesicht des Krieges

Flammen, die verschlingen

Ein Fünftel

Auseinanderbrechen

Waldbrand

Was die Maske verbirgt

Der Schein einer Offenbarung

Ein Sturm zieht auf

Zeilen des Verderbens

Dem Ende entgegen

Du hättest Ich sein können

Der Geschmack von Sonnenlicht

Fragmente der Normalität

Das letzte Spiel

Das Recht zu richten

Königin des Lichts

Sternschnuppen, die aufwärts fliegen

Ein Sonnenjahr später

In einer anderen Zeit

Nachwort

Bonuskapitel

Glossar

Triggerwarnung

Triggerwarnung

Dieses Buch nutzt Inhalte, die bei einigen Leserinnen und Lesern Unwohlsein hervorrufen oder eventuelle persönliche Trigger darstellen könnten. Eine genaue Auflistung der inbegriffenen Themen bzw. Szenen ist am Ende dieses Buches zu finden, da sie explizite Spoiler zur Geschichte enthält.

Playlist

AURORA – Running With The Wolves

Within Temptation – Lost

Billie Eilish – you should see me in a crown

Icon For Hire – Only A Memory

Neoni – DARKSIDE

Blackbriar – Stone Cold Body

Poppy – The Rapture Ball

Taylor Swift – Midnight Rain

OOMPH! – Labyrinth

Halsey – Nightmare

Charlie Clouser – Hello Zepp + Ouverture

Taylor Swift – my tears ricochet

Taylor Swift – Soon You’ll Get Better

NF – Paralyzed

Klergy – Caught in the Fire

Our Last Night – Dark Storms (Acoustic)

Sóley – Pretty Face

Skillet – Salvation

Icon For Hire – Shadow

Imagine Dragons – Dull Knives

Nightwish – 10th Man Down

Kate Bush – Running Up That Hill (A Deal With God)

Evanescence – Weight Of The World

Our Last Night – Bleed For You

Skillet – Terrify the Dark

AURORA – Infections Of A Different Kind

Taylor Swift – The Great War

Stars – Dead Hearts

Kapitel 1

Blutige Hände

Soleya

Die Finsternis schlägt eine Note in meinem Inneren an, aus der eine Melodie wächst, welche meinen Namen wispert. Die Schatten in den Straßen Bellonnas hinter dem Kutschenfenster verlangen nach mir. Ein beständiges Summen in meinem Kopf, das zu einem Crescendo anschwillt, je tiefer wir in das dunkle Herz der kupfernen Stadt vordringen. Streben aus Rauch sperren mich in einen substanzlosen Käfig ein. Unter meiner Haut pulsieren Schatten, die drohen, sie in Fetzen zu reißen und aus ihr hervorzubrechen.

Eiskalte Finger streifen meinen Oberarm. »Soleya.«

Wie durch Wasser dringen die Worte zu mir. Das Wogen der Schatten wird stärker, der Rauch gewinnt an Substanz, umschlingt meine Hände.

Der Hauch einer Berührung wird zu einem Rütteln. »Hör auf damit, du machst mir Angst!«

Benommen kehre ich aus dem Sog der Magie zurück. Wie ein lebendiges Wesen pulsiert sie unter meiner Haut. Strebt an die Oberfläche und wehrt sich gegen mich, je fester ich sie zurückdränge.

Ich konzentriere mich auf Likahs besorgt schimmernde Augen, den einzigen Teil von ihr, welchen die karmesinrote Maske nicht verbirgt. »Was ist los?«, fragt sie leise.

»Mit mir ist alles in Ordnung«, antworte ich um eine ruhige Stimme bemüht und drücke ihre Hand. »Meine Magie labt sich an der Dunkelheit, die Bellonna heimsucht. Mich in den Schatten zu verlieren, ist leichter als an das zu denken, was vor uns liegt.«

Wolken verdunkeln den sonnengeküssten Wintertag in ihren Augen. »Ich weiß, was du meinst. Seit Aiyana und Veris in den Palast aufgebrochen sind …« Sie schüttelt den Kopf. »Seit Aiyana und ich im Bronzegebirge angegriffen worden sind … Nein … Seit wir Aeryns aus der Zeit gefallenen Körper gefunden haben, vielleicht sogar seit dem Tag, an dem ich dachte, Aiyana sei gestorben, rede ich mir ein, dass ich sieben Jahre alt bin, einen Albtraum habe und bald in meinem Kindheitszimmer im Landhaus hochschrecke.«

Ich zwinge meine Mundwinkel nach oben. Meine Gesichtsmuskeln schmerzen, und eine Maske verbirgt den kläglichen Versuch. »Sobald du wach bist, komm nach Guldheim und weck mich.«

Søren, der auf der anderen Seite neben mir sitzt, kneift hinter der kupfernen Maske die Augen zusammen. »Wenn das so wäre, hättest du Veris niemals kennengelernt.«

Likah hebt das Kinn. »Denk mal nach. Ich bin sieben Jahre alt. Mein Traum, mich der Festung anzuschließen, ist längst nicht ausgeträumt; ob dort oder anderswo, Veris und ich hätten einander gefunden.«

Ihre Worte entlocken ihm ein Lachen.

»Konzentriert euch«, mahnt Jessamine, die uns gegenübersitzt. »Wenn wir Aiyana und Veris helfen und etwas gegen Aleydis ausrichten möchten, müssen wir bei klarem Verstand sein.«

»Ein klarer Verstand ist das Letzte, was ich möchte.« Tief verborgener Schmerz nimmt Likahs Stimme die Stärke. »Das würde bedeuten, daran zu denken, dass Veris und Aiyana im Palast sind, in Aleydis' Fängen.«

Jessamine verflechtet ihre Finger mit denen ihrer Tochter. »Ich wünschte, wir hätten einen Plan.« Die Entschlossenheit ihrer Stimmmelodie schleift das Funkeln in ihren Augen zu Klingen aus Eis, bereit zum tödlichen Stoß. »Wir müssen es ohne schaffen und dürfen nicht scheitern.«

Die Ereignisse, die uns in Jessamines Kutsche auf die Hauptstraße Bellonnas geführt haben, sind eine klaffende Wunde in meinem Inneren. Jedes Mal, wenn ich mich an meinen letzten Kuss mit Aiyana erinnere, spuckt sie Blut. Ich hätte mich in den Schatten verstecken sollen, um ihr und Veris auf dem Weg ins Verderben beizustehen. Das schlechte Gewissen schnürt mir die Luft ab.

Gestern hat Königin Aleydis Vaewing einen Teil ihrer Garde losgeschickt, um Vanyas Diadem aus der Festung der gestohlenen Künste zu stehlen. Aiyanas Zwillingsschwester wird, seit ihrem Tod vor über zehn Jahren, von ihrer Mutter mit einem Bann in ewigem Schlaf festgehalten. Aleydis möchte Vanyas Diadem in ihren Besitz bringen, um sie aufzuwecken. Ich habe Neriss geschickt, um die Anhängerschaft der Festung zu warnen. Aiyana und Veris sind in den Palast aufgebrochen. Aiyana möchte den Bann, der Aeryn aus der Zeit hat fallen lassen, brechen. Ihre Waffe ist die Magie ihrer Vorfahrin, welche sie in sich trägt.

Heute hat uns ein Brief von Veris erreicht, in dem steht, dass Aiyana nicht zu ihrem vereinbarten Treffen im Palast gekommen ist. Kurz danach sind die Lichter Bellonnas erloschen, was den Tod eines Mitglieds der Königsfamilie bedeutet.

Die Wunde reißt auf. Ich versuche, mich an den Geschmack von Aiyanas letztem Kuss und die Goldreflexe ihrer Augen zu erinnern. Stattdessen sehe ich bei jedem Blinzeln ihren Tod durch Aleydis‘ Hand.

Søren hat Likah und mich mehrmals daran erinnert, wie tapfer Aiyana ist. Das hätte er nicht gemusst. Seit unserer ersten Begegnung habe ich sie um ihren Mut, ihre Tapferkeit und ihren Stolz bewundert. Die kalte Furcht, die sich in mir eingenistet hat, verschwindet nicht.

Aiyana mag von der Meisterin der Strategie gelernt haben. Ihre Gegnerin jedoch ist Aleydis selbst. Beide planen ihre Schachzüge von langer Hand, ich wage nicht daran zu denken, wer in diesem Spiel die Oberhand hat.

Um uns eine Strategie zu überlegen, hat die Zeit gefehlt. Veris wird uns die Köpfe abreißen. Keinen Plan zu habenist schlimmer als einen noch risikoreicheren als unseren vorherigen, von dem sie uns in ihrem Brief abgeraten hat. Ein filigraner Sonnenstrahl durchbricht meine düsteren Gedanken. Wenn Veris uns die Köpfe abreißt, bedeutet das, dass wir sie lebend wiedersehen.

Jessamine hat das Naheliegende getan: uns befohlen, uns salonfähig zu machen – ein Kleid, das einer Prinzessin würdig ist, für Likah und Uniformen ihrer Leibwache für Søren und mich – und uns in diese Kutsche verfrachtet. Die Wachen am Tor Bellonnas haben keine andere Wahl gehabt, als der Zwillingsschwester des verstorbenen Königs Einlass zu gewähren. Was im Palast geschehen ist, haben sie uns nicht sagen können.

Niemand scheint es zu wissen. Das Volk läuft auf den Straßen umher wie eine gehetzte Meute wilder Wölfe auf der Flucht vor der Dämmerung. Die Ausgangssperre naht, die Sonne schmilzt im Abendfeuer und nimmt dem von Schatten zerfaserten Frühlingstag alles Licht. Das Summen, das durch die Menge geht, hält das Volk auf den Straßen gefangen. Seine Rufe schaben an den Kutschenwänden, zu leise, um zu mir durchzudringen.

Der Palast der vier Türme hebt sich vom Abendhimmel ab. Seine Turmspitzen durchstoßen die dichte Wolkendecke, welche das Firmament einhüllt. Lichtlose Fenster starren mir entgegen wie die Augen eines Toten. Kälte erfasst mich und breitet sich betäubend in meinen Adern aus. Bei meinen bisherigen Besuchen im Palast ist er voller Licht und Leben gewesen. Jetzt ist er ein Skelett seines früheren Selbst.

Likah greift nach meiner Hand und hält sie in eisernem Griff. Alles Blut schießt aus meinen Fingern, dennoch schüttle ich sie nicht ab. Sie ist das zerklüftete Seil, das mich vor dem Sturz in den Abgrund der Schatten bewahrt, welche an meiner Magie zerren und nach mir rufen.

Je näher wir dem Palast kommen, desto enger wird die Menge. Wie ein Schwarm Aasgeier einen Leichnam, umschwärmt sie die Tore. Vor den Streben, die einen Ring um dessen Ländereien bilden, schimmern kupferne Uniformen. Aufblitzende Waffen zerteilen die Nacht.

Schreie erklingen, wir fahren Schlenker um Personen herum, die auf die Straße laufen, als wollten sie uns aufhalten oder auf das Dach springen.

Quietschend hält die Kutsche vor den Toren an. Sorge vernebelt Jessamines Augen, ihre Aufmerksamkeit haftet an ihrer Tochter. »Ich bringe uns sicher in den Palast.« Sie berührt Likahs Arm mit den Fingerspitzen, ehe sie in der Dunkelheit verschwindet.

Die Luft, die sich über uns herabsenkt, ließe sich mit keinem Schwert zerschneiden. Mein Atem geht schnell und keuchend. Sørens Schultermuskeln zeichnen sich unter seiner Uniform ab. Likah umklammert meine Hand, den glasigen Blick auf die Tür gerichtet. Als diese aufschwingt, atmet sie hörbar auf.

Jessamine schiebt den Kopf durch den Spalt, hinter ihr erklingen spitze Schreie, vermischt mit dem Klirren von Waffen. »Wir dürfen den Palast betreten.« Kaum hat sie die Tür zugezogen und sich uns gegenüber niedergelassen, setzt die Kutsche ihre Fahrt ruckelnd fort.

»Was haben die Wachen gesagt?«, fragt Søren.

»Seit die Lichter Bellonnas erloschen sind, kampieren einige Personen vor den Palasttoren.« Mit jedem Wort wird ihre Stimme angespannter. »Sie wissen nicht, was geschehen ist und warten vergeblich auf Befehle von Aleydis. Mit jeder verstreichenden Sonnenlänge wird es schwieriger, das Volk in Schach zu halten, ohne jemanden zu verletzen.«

In den Nachtwolken hinter dem Fenster spiegelt sich Orchid, die einst prächtige Stadt, in der Orchideen im Winter blühen, in der Asche wie Schnee auf die Straßen gefallen und Blut wie Eis zu meinen Füßen geschmolzen ist. »Wenn sie gezwungen sind, die Waffen gegen das Volk zu erheben, gibt es ein Blutbad.«

Søren nimmt meine freie Hand, seine stahlgrauen Augen sind rauchverhangen, sicher sieht er dieselben Bilder wie ich.

Jessamine nickt mit zusammengekniffenen Augen. »Deshalb muss sich Aleydis schnellstmöglich zeigen und einen Befehl geben oder dafür sorgen, dass die Lichter angehen.«

»Wie funktioniert das?«, frage ich. »Wenn sie ausgegangen sind … heißt das nicht, dass Aleydis nicht mehr am Leben ist?«

Ihre selbstbewusste Haltung bröckelt, sie schüttelt den Kopf. »Die Blutsverbindung gilt für alle mit Vaewing-Blut, die sich im Palast aufhalten.«

Der Gedanke, Aiyana vielleicht verloren zu haben, kurz nachdem ich uns eine zweite Chance gegeben habe, sticht wie tausend Pfeilspitzen auf mich ein. Tränen schnüren mir die Kehle zu, meine Sicht verschwimmt. Magie kribbelt unter meiner Haut. Ich habe keine Kraft, um sie davon abzuhalten, sich mit den Schatten in der Kutsche zu verbinden. Diesmal sagt Likah nicht, dass ich ihr Angst mache, sondern lässt geschehen, dass sich unsere Umgebung der Düsternis in uns anpasst.

Ein Knirschen zerreißt den Faden, der mich mit der Magie verbindet. Die Kutsche ist stehengeblieben.

»Was haben wir vor, wenn wir im Palast sind?«, fragt Søren mit belegter Stimme.

Jessamine zupft am Stoff ihres Kleides. »Ich spiele die Prinzessinnen-Karte und verschaffe euch Zeit, um euch umzusehen.« Ihr Blick verschmilzt mit Likahs. »Du weißt, wie ihr an den Ort kommt, an dem Aeryns Körper aufbewahrt wird. Und ich hoffe, unsere Annahme, dass sich Aleydis und Aiyana dort aufhalten, ist richtig.«

Likah möchte sich durchs Haar fahren, als ihr bewusst wird, dass die mahagonifarbenen Locken zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt sind, erstarrt ihre Hand in der Luft. »Du passt auf dich auf, Mama, oder?« Ihre Stimme ist die letzte fragile Eisschicht im Frühling, welche unter zarten Sonnenstrahlen vergeht.

Jessamines Blick wird weich, sie streicht ihrer Tochter, der Frisur zum Trotz, durchs Haar. »Wenn du mir dasselbe versprichst.«

Sie reckt das Kinn, versucht, die Körperhaltung ihrer Mutter zu spiegeln. »Versprochen.«

Jessamine erhebt sich. »Lasst uns keine Zeit verlieren.«

Ich drücke Likahs und Sørens Hände. »Gemeinsam?«

»Immer«, erwidern sie wie aus einem Mund.

Hand in Hand folgen wir Jessamine nach draußen.

Diese bedenkt Søren und mich mit scharfen Blicken. »Ihr seid Likahs Leibgarde.«

Hastig lasse ich Likahs Hand los, sogleich fühlt sich der Frühlingsabend kühler an.

Søren tritt an Likahs andere Seite.

Jessamine nickt das Bild, welches wir bieten, ab.

Schweigend folgen wir ihr die schmale Brücke entlang, welche über den Schlossgraben führt. Keine Leuchtkugel spendet den Wasserfluten warmen Schein, was ihnen eine schaurige Tiefe gibt. Mit aller Gewalt richte ich meine Aufmerksamkeit nach vorne.

Vor dem Palast empfängt uns eine Handvoll kupferner Uniformen, konturiert von dem Licht der Fackeln in ihren Händen. Deren gespenstisches Schimmern in der Farbe frischen Blutes zeichnet Wirbel auf die Palastfassade, als würde dieser Wunden erliegen und seine letzten Atemzüge aushauchen. Als die Mitglieder der Garde Jessamine erblicken, verbeugen sie sich.

Ein Gardist tritt vor. »Was führt Euch so kurz vor dem Inkrafttreten der Ausgangssperre hierher, Eure Hoheit?«

Sternenlicht verfängt sich in Jessamines ergrautem mahagonifarbenen Haar, ein filigranes Diadem für eine wahre Königin. Sie taxiert ihre Gegenüber missbilligend. »Wenn meine Schwägerin nichts gegen die Aufstände in den Straßen und den Stromausfall unternimmt, ist es meine Pflicht, das zu tun. Bringt mich zu den Palasttoren, dort werde ich für Ordnung sorgen.« Sie winkt Likah zu sich.

Mit wackeligen Beinen kommt sie der Aufforderung nach, den Rücken gebeugt. Als folgsame Leibgarde flankieren Søren und ich sie.

»Meine Tochter wollte ich nicht im Landhaus zurücklassen. Ihre Leibgarde wird sie in ihr Zimmer geleiten.«

Der Gardist nickt. »Wie Ihr wünscht.«

Jessamine wendet sich Likah zu, für den Bruchteil einer Sekunde streifen ihre Hände einander. Sie beugt sich nach vorne, die Worte, welche sie ihr zuflüstert, dringen nicht zu mir durch.

Likah richtet sich auf, wird zum Spiegelbild ihrer Mutter, dasselbe Blitzen in den Augen, entschlossen und kampfbereit.

»Bringt mich zu den Toren«, befiehlt Jessamine.

Ich widerstehe dem Impuls, ihnen hinterherzuschauen, mein Herz pocht im Takt ihrer verklingenden Schritte.

»Können wir etwas für Euch tun, Eure Hoheit?«

»N-nein danke, d-das ist nicht nötig«, stammelt Likah.

»Wie Ihr wünscht.« Ein Gardist tritt nach vorne und reicht Søren eine Fackel. »Die werdet ihr brauchen. Ich hoffe, der Stromausfall gehört bald der Vergangenheit an.«

»Die Hoffnung teile ich«, erwidert Likah.

Nach einem letzten Nicken in ihre Richtung öffnet der Gardist die kupferne Flügeltür. Der Flur dahinter liegt in vollkommener Dunkelheit, welche das blasse Licht in Sørens Händen kaum zu erhellen vermag.

Eine Welle Magie bricht in meinen Adern, finstere Gischt sammelt sich in meinen Fingerspitzen. Ich verwebe sie mit den Schatten auf dem Gang. Mit düsteren Ranken taste ich diesen nach belebten Schatten ab. »Die Luft ist rein«, raune ich Likah und Søren zu. »Wenn jemand kommt, werden die Schatten es mir sagen.«

Søren wendet sich an Likah: »Wo liegt die Bibliothek?«

»Mir nach.« Sie drückt den Rücken durch und setzt ihre Schritte so zügig fort, dass ich Schwierigkeiten habe, mitzuhalten.

Wir folgen einer Vielzahl leerer Gänge, die ich in der Düsternis nicht voneinander unterscheiden kann.

Likah, die seit ihrer Kindheit viele nächtliche Ausflüge unternommen hat, scheint instinktiv die richtigen Abzweigungen und Stufen zu wählen. Ihre Schritte sind so zielsicher, dass ein Hauch von Zuversicht in meine Poren strömt.

Plötzlich stoßen die Schatten, welche aus meinen Fingerspitzen sickern und die Gänge abtasten, auf belebte Materie. Strauchelnd bleibe ich stehen und packe Likah gerade rechtzeitig am Arm. »Hinter der Kurve ist jemand.«

»Gibt es einen anderen Weg?«, fragt Søren.

Likah schnaubt. »Dort ist die Bibliothekstür. Veris hat geschrieben, dass sie immer von denselben Mitgliedern der Garde bewacht wird. Ich habe gehofft, dass sich das mit dem Stromausfall ändert.« Sie sucht meinen Blick. »Kannst du uns vor den Personen auf dem Gang verbergen?«

»Ja, und im Zweifelsfall kann ich meine Magie gegen sie einsetzen«, antworte ich mit belegter Stimme. »Aber vorher müssen wir die Fackel loswerden.« Ich greife nach Likahs und Sørens Händen, dann entsende ich eine schwarzglitzernde Wolke, ihre Fäden verweben sich mit den rotglühenden und entziehen ihnen die Farbe. »Die Schatten werden uns leiten.« Ich ziehe sie mit mir in den Schutz der nächsten Wand. Mit den Schattenranken suche ich den Boden ab, damit ich weiß, wohin ich meine Füße setzen muss.

Vor der nächsten Kurve empfängt uns orangeroter Lichtschimmer. Wir tasten uns vorwärts, bis zum äußersten Rand der in Schatten getauchten Mauer.

Auf dem Gang stehen drei Gardistinnen mit den Rücken zu uns, ihre Aufmerksamkeit gilt der Bibliothekstür. Die Frau in der Mitte hält eine Fackel in den Händen, welche den Gang in warmes Licht taucht. Die gewisperte Unterhaltung der drei dringt nicht zu mir durch. Sie stehen zu nah vor der Tür. Ich muss sie außer Gefecht setzen. Mit holprig schlagendem Herzen greife ich nach den Schatten, wie Wasser zerfließen sie zwischen meinen Fingern. Außer Gefecht setzen ist nicht gleich töten, und an meinen Händen klebt längst Blut. Die Schatten bewegen sich nicht.

Eine Mischung aus Schluchzen und Aufatmen dringt hinter Likahs Maske hervor. Meine Finger schnellen ins Leere, als ich sie aufhalten möchte. Sie nähert sich dem orangeroten Lichtkegel, bis dieser ihre Gestalt erhellt.

Die Frauen drehen sich zu ihr um.

Die Gewissheit, dass ich keine andere Wahl habe, außer sie mit meiner Magie außer Gefecht zu setzen, schnürt einen Knoten, der sich mit jedem Atemzug zuzieht, in meiner Brust. Zerbrechlich wie Glas liegen die Schatten in meinen Händen, Magie sickert in meine Fingerspitzen …

Die rechte Gardistin nähert sich Likah. »Likah –« Ihre Stimme ist brüchig. Ich erhasche einen kurzen Blick auf den Tränennebel in ihren Augen.

Sie ist wohlauf, das zählt! Der Knoten in meiner Brust löst sich, ich lasse die Schatten gehen. Søren und ich atmen gleichzeig tief aus.

Veris nimmt ihre Maske ab, lässt sie fallen und stürzt an Likahs Seite. Mit wenigen raschen Handgriffen löst sie das Band ihrer Maske, stellt sich auf die Zehenspitzen und nimmt ihr Gesicht zwischen die Hände. »Ich habe geschrieben, dass ihr euch keinen risikoreicheren Plan überlegen sollt.«

Likah ringt sich ein Lächeln ab, zart streichelt sie Veris‘ tränenüberströmte Wangen, als könne sie ihr so den Schmerz nehmen. »Wir konnten Aiyana und dich nicht allein lassen.«

»Es tut mir so leid. Ich weiß nicht, was Aleydis Aiyana angetan hat … Niemand weiß, wo sie sind …« Schluchzen zerstückelt ihre Worte. »Ich bin miserable Rückendeckung gewesen.«

»Es ist nicht deine Schuld, und wir können nicht ändern, was geschehen ist«, sagt Likah in nahezu perfekter Imitation von Jessamines entschlossenem Tonfall. »Was zählt, ist, dass wir dich gefunden haben und Aiyana jetzt helfen können.«

Ein sachtes Lächeln zupft an Veris‘ Lippen. »Ich weiß nicht, was ihr vorhabt und ob ich euch dafür umbringen muss«, sie schlingt ihre Arme um Likahs Nacken, »aber danke, dass ihr gekommen seid.«

Likah streicht ihr die letzten Tränen von den Wangen. »Genau genommen haben wir gar keinen Plan.«

Erste Sonnenstrahlen berühren das Veilchenblau von Veris‘ Augen. Sie lacht leise, ehe sie Likah für einen Kuss zu sich heranzieht.

Ihr Wiedersehen ist ein Lichtschimmer an diesem düsteren Tag. Doch sein Strahlen blendet mich, spitze Lichtsplitter bohren sich in meine Brust. Werde ich Aiyana je wieder küssen?

»Was für ein Spiel ist das?« Scharf wie das Schwert an ihrem Gürtel, zerschneidet die Stimme einer Gardistin den Moment.

Likah und Veris lösen sich voneinander. Die Hände ineinander verschlungen drehen sie sich um.

Søren und ich tauschen einen Blick. Es ist Zeit, unsere Tarnung aufzugeben. Gemeinsam treten wir neben Likah und Veris.

»Erst überredest du uns, in die Bibliothek einzubrechen, nachdem die dort stationierten Mitglieder der Garde ihren Posten aufgegeben haben, jetzt zeigst du dein Gesicht.« Ihre waldgrünen Augen werden schmal. »Was ist, wenn die alten Gottheiten dich so sehen?«

In einer fließenden Bewegung nehme ich meine Maske ab. »Solange sie schlafen, können sie uns nicht bestrafen.«

Søren tut es mir nach. »Wieso sonst verbirgt nur die Einwohnerschaft Bellonnas ihr Antlitz?«

»Es wird Zeit, dass sich die Dinge ändern.« Likah stemmt ihre freie Hand in die Hüfte, ihre Augen sprühen Eissplitter. »Dafür werden meine Mutter, Aiyana und ich sorgen.«

Die Gardistinnen wechseln einen alarmierten Blick, ehe sie synchron in eine tiefe Verbeugung fallen. Ihnen ist wohl klargeworden, mit wem sie gerade sprechen.

»Verzeiht, Eure Hoheit.« Die Stimme der Frau steht ihren Muskeln in Sachen Anspannung in nichts nach. »Wir dachten, Ihr wärt bei Eurer Mutter zu Besuch.«

Likah rafft ihren Rock und richtet sich unter den ehrfürchtigen wie verwirrten Blicken auf. Die Prinzessin, die keine sein möchte, erblüht in ihrer Rolle. »Wir haben das Landhaus verlassen und den Weg hierher auf uns genommen, um für Ordnung zu sorgen.« Ihre Stimme ist süßlich, beinahe beiläufig, und voller Überzeugung. Sie nickt in Richtung der Tür. »Dafür müssen wir in die Bibliothek. Ich befehle euch, die Tür zu bewachen.«

Ihr Gegenüber tritt von einem Fuß auf den anderen. »Leider ist sie verschlossen, wir wollten selbst hinein.« Sie bricht abrupt ab, aus dem Augenwinkel linst sie zu Veris, als sei das schlimmste heutige Ereignis der Kuss zwischen einer Prinzessin und einer Gardistin. Wenn die Frauen wüssten, dass Veris eine bürgerliche Vollwaise und eine ehemalige Rekrutin der Festung ist, würden sie wahrscheinlich in Ohnmacht fallen. »Eigentlich wollte sie hinein …«

Likahs Augen schmälern sich. »Lasst meine feste Freundin in Ruhe, und hört auf, sie so anzusehen. Das ist ein Befehl.«

Veris starrt sie an, als sehe sie sie zum ersten Mal. Langsam atmet sie aus, ihre Gesichtszüge erweichen.

»Wie Ihr wünscht«, bringt die Gardistin mit dumpfer Stimme hervor. »Eure feste Freundin hat die Vermutung gehabt, dass sich Königin Aleydis in der Bibliothek aufhält. Bisher ist es uns nicht gelungen, die Tür zu öffnen.«

Likah zieht einen Schmollmund. »Ich besitze einen Schlüssel.«

Wie Marionetten, deren Fäden um Likahs Finger geschlungen sind, treten die beiden zur Seite. Zu viert nähern wir uns der Tür, im Gehen tröpfle ich Magie in deren Schatten. Auf mein Nicken hin, kramt Likah in einer Innentasche ihres Kleides, die es nicht gibt. Abgeschirmt von uns tut sie so, als schiebe sie einen Schlüssel in das Schlüsselloch. Ich verforme den Schatten der Tür, lautlos schwingt sie auf. Der unsichtbare Schlüssel verschwindet im Stoff von Likahs Kleid.

Eindringlich sieht sie die Gardistinnen an. »Niemand darf die Bibliothek betreten, bis ich etwas anderes sage.«

»Zu Befehl.«

Sie bläst die Wangen auf, als müsse sie überlegen, ehe sie eine Hand ausstreckt. »Es wäre bedauerlich, wenn wir nichts sehen.«

Ohne zu zögern, reicht die Gardistin ihr die Fackel.

Wir schlüpfen durch den Türspalt. Der Lichtschein verliert den Kampf gegen die tiefen Schatten zwischen den Bücherregalen. Staubige Luft verfängt sich in meiner Lunge, getränkt von Tinte, Pergament und Tausenden Geschichten zwischen vergilbten Seiten.

Veris schiebt sich in Likahs Sichtfeld, Unsicherheit steht in ihrem Blick. »Feste Freundin?« Ihre Stimme klingt, als müsse sie die Bezeichnung in ihrem Mund testen.

Likah beißt sich auf die Unterlippe. »Wenn das zu früh ist … Wenn du das nicht möchtest …«

»Natürlich möchte ich das«, unterbricht Veris sie, »aber die Leute werden reden und uns genauso ansehen wie die Gardistinnen.«

Likah drückt Søren die Fackel in die Hand und tritt so nah vor Veris, dass sie ein Atemzug voneinander trennt. »Das ist mir egal.«

Veris atmet aus, stellt sich auf die Zehenspitzen und gibt ihr einen Kuss.

Søren räuspert sich, und sie lösen sich voneinander. »Ich freue mich für euch, aber wir haben eine Mission.«

Puderrosa Schimmer färbt Veris‘ Wangen. »Ich weiß.« Sie lässt Likahs Hand los, umarmt erst Søren und dann mich flüchtig. »Danke, dass ihr gekommen seid.«

»Wir sind ein Team, wir lassen niemanden zurück«, sagt Søren mit weicher Stimme.

Veris‘ Augenbrauen ziehen sich zusammen. »Habt ihr wirklich keinen Plan?«

Likah zuckt die Schultern. »Wir mussten schnell handeln. Mama sorgt für Ordnung am Palasttor und auf den Straßen. Wir schauen nach, ob Aleydis und Aiyana«, ein Schatten verdunkelt ihr Gesicht, »bei Aeryn sind.«

Sie führt uns zu einem Bücherregal. Mithilfe meiner Magie offenbart sich dahinter ein Gang. Widerwillig haben die Schatten ihn freigelegt. Schwindel droht mich zu überwältigen, und meine Narbe fühlt sich an, als presse jemand ein Schmiedeeisen auf meine Haut. Finstere Klauen greifen nach uns, darauf lauernd, uns an einen Ort ohne Wiederkehr zu zerren. Søren leuchtet mit der Fackel in den Gang hinein, die Finsternis bleibt.

»So gruselig ist es nicht.« Die dunkle Färbung von Likahs Stimme erzählt eine andere Geschichte.

Veris drückt ihre Hand. »Ich bin die ganze Zeit bei dir.«

Sie stellt sich näher zu ihr, ihr Brustkorb hebt sich wogend, ehe sie sich gerader aufrichtet.

»Søren geht voraus, ich bilde das Schlusslicht«, beginne ich, ehe ein Gedanke in mir aufblitzt. »Treffen wir dort auf Wachen?«

Veris schüttelt den Kopf. »Aleydis‘ Leute sind vor der Tür stationiert gewesen, nicht drinnen. Sie wurden nicht fort beordert, sondern liegen vergiftet in einer Abstellkammer.« Beim Blick in unsere verblüfften Gesichter verdreht sie die Augen. »Was dachtet ihr, wie ich in die Bibliothek kommen wollte?«

Likah schmunzelt. »Es war kein schlechter Plan. Dank dir ist der Weg frei.«

Wir betreten den Gang – einen Ort allumfassender Stille. Ich fürchte, mein Atem könne die Wände zum Einsturz bringen. Schatten federn meine Schritte, modriger Geruch verbeißt sich in meiner Lunge.

Die Zeit fließt mühsam, bis die Schatten auf Widerstand stoßen. Kurz darauf konturiert der Fackelschein eine massive Tür – ein rotglühendes Hoffnungslicht oder eine Mahnung?

Søren dreht sich mit zusammengezogenen Augenbrauen zu uns um. »Was erwartet uns dort?«

Likah erbleicht, die Sommersprossen zeichnen dunkle Schatten auf ihr Gesicht. »Im schlimmsten Fall Aleydis, im besten Fall Aeryns Leiche.«

»Die Schatten werden uns verraten, wie viele Personen im Raum sind«, bringe ich mit rauer Stimme hervor.

Veris nickt mir zu. »Wir sollten vorbereitet sein.«

Schwarzglitzernde Partikel strömen aus den Ecken des Ganges in meine Richtung. Als warmes Prickeln sammeln sie sich in meinen Händen, ich webe poröse Ranken, die lautlos unter der Tür hindurch gleiten. Sobald die Schatten sich mit denen dreier Personen verwoben haben, zerfasern sie. Ich ziehe die Magie zurück, als hätte ich mich an ihr verbrannt.

Meine Haut ist zu eng. Die Schatten zeigen mir Bilder, welche mir die Kehle abschnüren. Matte honigbraune Augen. Spröde Lippen, zu einem letzten Schrei geöffnet. Warme goldbraune Haut, die sich wächsern färbt. Blut, das aus den Ecken des Raumes sickert und mich ertränkt.

»Soleya?« Vage erkenne ich die Stimme als Sørens und die Hand auf meinem Rücken als seine. »Was hast du gespürt?«

»Drei Personen … eine ist …«, ein Tränenstrick umschlingt meine Kehle, »… tot … ihr Schatten regt sich nicht …«

Likahs Mundwinkel zucken nach oben, ihre Augen bleiben glanzlos. »Aeryn ist tot … also nicht so richtig … aber aus der Zeit gefallen ist fast tot …«

»Fast tot ist nicht tot«, entgegne ich mit mehr Härte in der Stimme als beabsichtigt. Mein Herz droht, den Käfig meiner Rippen zu durchbrechen. »Ich gehe da jetzt rein.«

Ich stürme nach vorne und ziehe Schatten hinter mir her, unter deren Druck die Tür zerbirst. Vereinzelt bohren sich feinkörnige Splitter in meine Haut, als ich über die Trümmer hinwegsteige und den Raum betrete.

Gluthitze heißt mich willkommen, die Luft flimmert, als sei tief unter dem Palast der Sommer ausgebrochen. Eine Note frischen Blutes haftet ihr an, was mich würgen lässt. Ich beiße die Zähne zusammen, dränge ein Wimmern zurück und ertrage das Brennen meiner Narbe und das mulmige Gefühl, welches sich in mir einnistet.

Haselnussbraune Augen finden meinen Blick. Das hellbraune Haar fällt fettig in ihr kalkweißes Gesicht, violette Ringe liegen unter ihren Augen. Wie betäubt starre ich Dahlia an, jedes Wort, das ich zu ihr sagen könnte, verfängt sich in meiner Kehle. Ihr Mund formt meinen Namen. Eine Wunde in meinem Inneren reißt auf. Meine kleine Schwester hat mich an die Königin ausgeliefert. Dass sie für Aleydis arbeitet, sollte mich nicht überraschen, dieser erneute Verrat treibt den Dolch tiefer in mein Herz.

»Aiyana!«, kreischt Likah zu meiner Rechten.

Jeder Gedanke an Dahlia zerfällt zu Staub.

Das Fackellicht streift eine zusammengesunkene Gestalt. Aiyana trägt das Kleid, in dem sie gestern nach Bellonna aufgebrochen ist. Sie hat die Knie eng an den Körper gezogen und den Kopf in den Armen gebettet. In einer Hand hält sie einen Dolch, auf dessen Klinge Blut schimmert. Ihre Hände sehen aus, als trüge sie karmesinrote Handschuhe. Einschnitte prangen an ihren Handgelenken. Der Stoff ihres Kleides und der Boden zu ihren Füßen sind mit Blut besprenkelt. Schief auf ihrem Haupt thront eine kupferne Krone. Bevor ich das Puzzle zusammenfüge, dringt ein trockenes Schluchzen aus den Tiefen ihrer Kehle.

Wir eilen gleichzeitig an ihre Seite. Die anderen lassen mir den Vortritt, wenngleich ihre fassungslosen Mienen davon sprechen, dass sie es gern anders hätten.

Vorsichtig strecke ich eine Hand nach ihr aus, hauche ihren Namen so leise, als hätte ich Angst, an den Buchstaben zu ersticken.

Mit tränenverschleiertem Blick sieht sie mich an. Getrocknetes Blut hat Muster auf ihre äscherne Haut gezeichnet. Ihre Augen sind erloschene Kohlen, feiner Feuerschimmer umgibt sie, sterbenden Glühwürmchen gleich.

Ich lege eine Hand auf ihre Wange, glühender Schmerz durchfährt mich. »Was hat Aleydis dir angetan, und wo ist sie?«

»Ich musste das tun«, antwortet sie mit bröckelnder Stimme.

Eine dunkle Vorahnung schabt mit spitzen Zähnen über meinen Nacken. »Was meinst du?«

Glut lodert in Aiyanas Augen auf und hüllen das Karmesinrot an ihren Händen in goldenen Schimmer. Der Anblick gefriert mir das Blut in den Adern. »Aeryn ist frei, und sie tut nie mehr jemandem weh.« Ihre Worte sind knisterndes Feuer. Mit der freien Hand deutet sie nach links.

Die Angst beißt zu, kein Laut verlässt meine Kehle, kein Atemzug meine Lunge.

Søren zieht scharf die Luft durch die Zähne.

Keuchend vergräbt Likah ihren Kopf an Veris‘ Schulter. Diese drückt sie eng an sich, Entsetzen zerrt an ihren Zügen.

In einer Blutlache liegt Aleydis, ein Loch klafft in ihrer Brust. Ihre Augen sind weit aufgerissen, als habe sie im Moment ihres Todes nicht geglaubt, dass Aiyana ihre Henkerin ist. An der gegenüberliegenden Wand funkelt Vanyas Diadem im Fackelschein, in einer zarten Melodie in Moll ruft es nach mir und webt einen porösen Verband für meine brennende Narbe.

Aiyana starrt ihre Mutter an, als habe sie Angst, dass sie aufsteht und ihr einen Dolch ins Herz rammt. Das Licht setzt die kupferne Krone auf ihrem Haupt in Flammen, das Haar fällt ihr glühender Asche gleich über die hohlen Wangen.

Die kupferne Königin ist schachmatt. Geschlagen von der Flammenprinzessin.

Kapitel 2

Aus der Asche

Aiyana

Das Badewasser trägt die Kälte aus meinem Inneren nach außen. Sticht Nadeln aus Eis gleich auf meine Haut ein. Irgendetwas von einem Stromausfall haben sie gesagt. Kerzenschein befleckt die Wände mit Mustern aus Licht und Finsternis. Der Raum passt sich in seiner Melancholie meinem Inneren an.

Blutrote Wirbel tänzeln um mich herum. Formen sich zu honigbraunen Augen. Rosenduft verklebt meine Lunge. Panik implodiert in meinem Kopf, die Welt gerät ins Wanken. Mein Ellbogen stößt gegen die Badeölflasche. Sie taucht in den Schaum ab. Entgleitet mir dreimal. Als ich sie fasse, schütte ich ihren gesamten Inhalt in das Wasser. Blutrot und Aschgrau zerfasern, bis es in einem seichten Fliederton strahlt. Es dürfte nicht nach Rosen riechen. Ihrem Blut sollte nicht der Duft dieser grässlichen Blumen anhaften. Der Gestank der Albträume meiner Kindheit hat sich mitsamt Aleydis‘ Blut in meine Haut gefressen.

Ich packe einen Schwamm. Schrubbe meine Haut. Goldbraune Flocken entschweben auf den fliederfarbenen Wellen. Ein Stechen breitet sich auf meinem Körper aus. Schmerzen bedeuten, dass ich am Leben bin. Ich. Nicht sie.

Ich tauche unter, ersticke ein Schluchzen. Wage nicht, die Augen zu schließen. Hinter meinen geschlossenen Lidern würde sie mir auflauern. Badeöl brennt mir in den Augen. Süßliches dickflüssiges Wasser läuft mir in den Mund. Meine Lunge krampft sich zusammen.

Keuchend durchbreche ich die Wasseroberfläche. Treibe auf dem Rücken. Schwerelos. Die Steine an meinen Gliedern sind unsichtbar. Wollen mich stumm ertränken.

Hinter dem Bogenfenster lugt ein bleicher Mond hervor. In seinem milchigen Schimmern spiegelt sich der Moment, in dem ich Aeryn aus dem Kreislauf des Alterns erlöst habe. Neben jenem, als ich Aleydis einen Dolch in ihr vergiftetes Herz gerammt habe, ist er blass.

Ich packe den Schwamm. Schrubbe. Höre nicht auf, als mich gleißender Schmerz durchzuckt. Nicht, als dunkle blutrote Wirbel in dem zarten Flieder tanzen. Aleydis‘ Blut. Ich muss es abwaschen. Es soll verschwinden. Sie soll verschwinden.

Stumme Tränen perlen aus meinen Augenwinkeln in das Badewasser. Fühlt sich so ein Triumph an? Geht ein Sieg mit dem Gefühl des Erstickungstodes einher? Mir ist, als sitze ich in den Katakomben unter dem Palast. An die Wand gekettet. Ohne ein Licht, das mir den Weg hinausweist. In den Katakomben meiner Gedanken gibt es keine Fackeln. Keine Treppe nach oben.

Das Danach – nach Aleydis‘ Tod – ist eine verschwommene Erinnerung. Likah, Soleya, Søren und Veris sind dort gewesen. Ihre Worte sind nicht zu mir durchgedrungen. Dahlia haben sie zwei Gardistinnen übergeben, die vor der Bibliothek gewartet haben. Hoffentlich erstickt sie in einem Verließ an ihrer Verlogenheit. Søren hat mich in meine Gemächer getragen. Die Aiyana davor hätte protestiert. Der Schatten ihres früheren Selbst hat es geschehen lassen. Soleya hat mir ein Bad eingelassen. Søren hat mir geholfen, die Prothese abzunehmen. Noch etwas, bei dem die Aiyana davor nie Hilfe gewollt hat. Likah und Veris haben etwas von Jessamine und den Palasttoren gesagt. Danach sind sie verschwunden. Soleya und Søren haben mir einen Moment für mich gegeben.

Salzige Tränen vermischen sich mit fliederfarbenem Badewasser, das einen öligen Film auf meiner wunden Haut hinterlässt.

Ich horche auf die Flamme. Nichts. Erloschene Kohlen halten meinen zerrissenen Geist zusammen. Ich bin Asche. Der kleinste Windstoß genügt, um mich in alle Richtungen zu verstreuen. Ein Teil von mir sehnt sich danach, ausgelöscht zu werden. Nicht länger über Kohlen zu wandern, in der verzweifelten Hoffnung, aufzuleuchten.

Die Königinnenkrone liegt auf einer Anrichte neben dem Waschbecken. Mondlichtstrahlen brechen sich in dem filigran gearbeiteten Kupfer. Ihr Funkeln verspottet mich. Raunt mir zu, dass ich niemals ihre rechtmäßige Trägerin sein werde.

›Auf dein Haupt passt die Krone nicht.‹ Aleydis‘ Stimme. ›Du bist ein Kind und hast dich jahrelang versteckt; keine Königin.‹

Dicken Hagelkörnern gleich prasseln die Worte auf mich ein.

›Dir wird es nie gelingen, mein Volk ins Licht zu führen. Als letzte Königin wirst du seinen Tod besiegeln.‹

Das Schluchzen, das sich den Weg aus den Tiefen meiner Kehle gräbt, dröhnt mir in den Ohren.

›Du bist erbärmlich!‹

Der Drang, den Kopf unter Wasser zu halten, überkommt mich. Von meinen Sünden reingewaschen werden – bis das geschieht, müsste ich mich ertränken. Wasser in meiner Lunge. Bewusstlosigkeit. Frei von Aleydis‘ Spott sein. Verlockend.

Ein Knarren treibt den grausamen Wunsch davon.

Soleya steckt ihren Kopf durch den Türspalt. Violette Ringe zieren ihre Augen. Zahlreiche Strähnen stehen aus ihrem Fischgrätenzopf ab. Sie verknotet die Finger ineinander, tritt von einem Fuß auf den anderen. »Ich wollte nach dir sehen …«

»Du hast mein Schluchzen gehört und wolltest sehen, ob ich zusammengebrochen bin oder mich ertränke«, schneide ich ihr das Wort ab.

Sie zuckt zusammen. Schmerz flackert über ihr Gesicht. Sie macht Anstalten, sich umzudrehen.

Aiyana, die Schlafwandlerin, erwacht. Eine Welle der Übelkeit erfasst mich. Vermischt mit ohnmächtigem Zorn auf mich selbst. Das ist Soleya, die vor mir steht. Keine Person, die mir wehtun oder mich zu etwas drängen möchte. Sondern die Frau, die derzeit das Einzige ist, dessen ich mir sicher bin.

»Entschuldige bitte.« Meine Stimme bröckelt. »Bleib.«

Sie nähert sich der Badewanne. Lässt sich auf dessen Rand nieder. »Entschuldigung angenommen.«

Ich atme auf. »Danke.«

Sie beißt sich auf die Lippe. »Ich kann mir nicht vorstellen, was du durchgemacht hast. Du musst mit mir nicht darüber reden.« Ein Schatten verdunkelt ihre Miene. »Ich möchte nicht über Dahlia sprechen.« Sie sieht mir intensiv in die Augen. Zärtlich berührt sie meine Wange mit den Fingerspitzen. »Wir stehen alles gemeinsam durch.«

Sonnenlicht gleich, atme ich die Worte ein. Recke mich ihnen entgegen, in der Hoffnung, dass mein verdorrtes Inneres aufblüht. Ich möchte meine Dankbarkeit ausdrücken. Da verwelken die Blüten in mir erneut. Meine Kehle schnürt sich zu. »Ich bin jetzt Königin, falls das Volk mich auf dem Thron duldet.«

»Ich weiß«, ein gequälter Ausdruck zerrt an ihren Zügen, »und das macht mir Angst.«

Ihre Worte treffen mich tief. Unfähig, ihr in die Augen zu sehen, starre ich mein angewinkeltes Knie an. Die goldbraune Haut ist wund. Einzelne Flocken treiben in dem öligen Badewasser. Dies muss der Moment sein, in dem Soleya klar wird, dass sie mit einer Königin nicht … zusammen sein kann? Dem neu geknüpften Band zwischen uns haben wir keinen Namen gegeben. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um damit anzufangen.

Soleya zieht die Finger von meiner Wange zurück. Ein kalter Hauch durchzuckt mich. Ich warte darauf, dass sie aufsteht. Mir mein letztes Licht nimmt. Da wandern warme Finger zu meinem Kinn. Heben es an, bis ich mich in jadegrünen Augen verliere. »Zurzeit weiß ich selbst nicht, wer ich bin, und muss mich neu kennenlernen.« Sie beugt sich näher zu mir. »Egal, wohin unser Weg führt, ich möchte ihn mit dir gehen. Dieses Versprechen halte ich.« Sie ist mir so nahe, dass jedes Wort auf meinen Lippen nachhallt. Ich atme ihren Frühlingsduft ein. Endlich verlässt der Gestank von Blut und Rosen meine Atemwege. Mit der freien Hand streicht sie mir eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie streift mit ihrem Mund über meinen Kiefer bis zu meinem Mundwinkel. Dort angekommen, verharrt sie. Lässt mich entscheiden.

Goldene Zuneigung flutet meine Adern. Ich drehe den Kopf, sodass meine Lippen Soleyas finden. Meine Augen fallen zu. Diesmal erwarten mich hinter meinen geschlossenen Lidern keine Bilder meiner Albträume. Behutsam bewegt sie ihre Lippen gegen meine und lächelt.

Um mehr von ihrer Nähe zu spüren, schlinge ich meine Arme um ihren Nacken. Sie stößt einen wohligen Laut aus. Ich keuche auf, als ihre Zungenspitze meinen Mund streift. Meine Lippen öffnen sich, ihre folgen. Ein Ziehen fährt durch meinen Körper, als ich ihre Zunge an meiner spüre.

Die Welt draußen ist in den Hintergrund geraten. Die Lasten der Krone von mir abgefallen. Für mich zählt, wie weich sich Soleyas Lippen auf meinen anfühlen. Wie perfekt ihr Körper mit meinem zusammenpasst, und wie die Symphonie unserer Herzen im Einklang ist …

In der Ferne klickt ein Türschloss. Soleya zieht sich von mir zurück. »Bist du bereit, mit den anderen zu sprechen?«

Ich schlucke. »Je schneller wir einen Plan haben, desto eher können wir gegen die Unruhen in Bellonna vorgehen.«

Sie gibt mir einen kurzen Kuss. »Ich bringe dir etwas zum Anziehen.« Mit diesen Worten verlässt sie das Badezimmer. Meine Fackel in der Dunkelheit erlischt.

***

Die Frau im Spiegel sieht nicht aus wie eine Königin. Sie sollte Farben des Nichts tragen. Niemand zwingt sie dazu, die Frau zu betrauern, die sie geboren und nicht gewollt hat. Das Kleid in blassem Rosé ist eine Fassade. Ihre zerrissene Seele offenbart sich in ihren Händen. Gewaschen, bis sie bluten. Wirr wie ihre Gedanken, fällt das nasse Haar über die hohlen Wangen. Die Goldreflexe haben ihre Augen verlassen. Ausgebrannte Sterne verglühen in ihrem äschernen Gesicht.

›Wem machst du etwas vor? Du hast die Krone nicht verdient!‹Aleydis‘ Stimme tröpfelt als Gift in meinen Verstand.

Ich balle die Hände zu Fäusten. Erwidere den Blick meines Spiegelbildes mit aller Härte, die ich aufbringe. Würde ich noch Telekinese beherrschen, würde das Glas in Splittern auf mich hinabregnen.

Camai hat sich nicht für dich geopfert, damit du aufgibst.

Zum ersten Mal seit dem Tod meines Drachen ziehe ich Kraft aus dem durchgeschnittenen Band zwischen uns.

Kerzenschein malt ein glühendes Diadem auf mein Haupt. Ich recke den Hals. Trage die substanzlose Krone mit Würde. So, wie Vater es tun würde. Ein wahrer König. Ich möchte nicht sein wie Aleydis, sondern wie er.

Tu es für Camai und Vater, Aiyana. Und für Großmutter, die nicht umsonst durch Aleydis‘ Schergen gestorben sein darf.

Aus dem Spiegel blickt mir eine Fremde entgegen. Die Königin, die ich sein kann, wenn ich mich im Licht bewege. So, wie es mich Camai, Vater und Großmutter gelehrt haben. Ihre Schatten folgen mir ins Empfangszimmer.

Ein Kaminfeuer spendet Licht, aber keine Wärme. Die Möbel sind kupferne Zerrbilder, die Umrisse von fünf vertrauten Personen flimmern. Als sei ich in einem Traum gefangen.

Likah springt auf und stolpert in meine Arme. Für einen Moment bin ich erstarrt. Dann klammere ich mich an meiner besten Freundin fest. Sie ist real. Ich träume nicht. Ihr Duft nach den sonnigen Tagen meiner Kindheit vertreibt jenen welker Rosen, der mir anhaftet. »Wenn dir etwas passiert wäre, hätte ich sie mit bloßen Händen umgebracht«, stößt sie atemlos hervor.

Mechanisch streiche ich ihr über den Kopf, Haarklammern stechen mir in die wunden Finger. »Mir geht es –« Ich beiße mir auf die Innenseite der Wange. Beinahe hätte ich gut gesagt. »Ihr seid rechtzeitig gekommen.«

Sie zieht sich von mir zurück. Sieht mich mit vorgeschobener Unterlippe an. »Es tut mir trotzdem leid.«

»Wir sind am Leben. Das zählt.«

Ein zögerliches Lächeln zupft an ihren Lippen. Sie löst sich aus der Umarmung, um Veris Platz zu machen.

Kastanienbraune Strähnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst haben, fallen in ihr bleiches Gesicht. »Entschuldige bitte.« Sie tritt von einem Fuß auf den anderen. »Ich bin miserable Rückendeckung gewesen.«

»Du hast keine Wahl gehabt.« Ich ziehe sie in eine feste Umarmung. »Dass du die anderen zu mir geführt hast, ist mehr als genug.«

Ein Ruck geht durch ihren Körper. Die Anspannung fällt von ihr ab.

Wir lösen die Umarmung. Seite an Seite nähern wir uns den zwei Sofas. Auf dem Tisch dazwischen stehen ein unberührter Brotkorb, ein Glas Honig sowie eine Karaffe Wasser.

Stahlgraue Augen ruhen auf mir. Der Schmerz über Sørens Zügen trifft mich einem Fausthieb gleich. Likah und Veris nehmen neben Jessamine Platz, ich neben meinem großen Bruder. Mein Kopf findet den Weg auf seine Schulter.

Sein Arm gleitet um meine Taille. »Ich habe versagt, dich zu beschützen.«

Ich knuffe ihn in die Seite. »Unser risikoreicher Plan hat ein gutes Ende genommen.«

»Dieses Ende ist erst der Anfang«, wirft Jessamine ein.

Sørens Griff um meine Taille verstärkt sich.

Soleya rückt zu mir. Dunkelblonde Haarsträhnen kitzeln meine Wange. Feingliedrige Finger finden meine.

»Du musst uns erzählen, was geschehen ist«, sagt Jessamine nachdrücklich.

Kälte breitet sich in meinen Adern aus, als pumpe mein Herz Eiswasser hindurch. Aleydis‘ Blut verklebt meine wund gewaschenen Hände. Das Kaminfeuer verliert an Leuchtkraft. Die Nacht gewinnt an Düsternis.

»Ich bin bei dir.« Soleya haucht mir einen Kuss auf die Wange. Frühlingswärme taut meine starren Glieder auf.

Ich kehre in den Keller zurück, in dem Aeryn ihr Ende gefunden hat. Erzähle von der Frau mit den Augen wie ein Universum im Spiegel. Nisha, die von Anfang an geplant hat, dass ich mein Erbe antrete, die Flamme aufnehme und die letzte Königin werde. Davon, wie Aeryn binnen eines Wimpernschlags von einem Kind zu einer alten Frau geworden ist. Von meinem neu erwachten Willen, sie zu retten. Als ich bei der Stelle angekommen bin, wo Aeryns Körper zu Staub zerfallen ist, versagt mir die Stimme.

Søren streicht mir in kreisenden Bewegungen über den Rücken. »Du musst nicht darüber sprechen. Wir haben sie gesehen.«

»Was sie Aeryn und dir angetan hat, ist unverzeihlich.« Obschon die Härte in Jessamines Stimme nicht mir gilt, zucke ich zusammen. »Ihr Tod ist kein Verlust.« Ihr unverwandt auf mir ruhender Blick ist kalkulierend. Als wolle sie in mir lesen. Ein mulmiges Gefühl zwickt mir in den Magen. »Ich wünschte, sie hätte dich nicht mit einem in Trümmern liegenden Königreich, zornigen Bündnispartnern und einem Krieg am Horizont zurückgelassen. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dich zu unterstützen, und musste so frei sein, ein paar Angelegenheiten in deinem Namen zu regeln. Ich habe an den Palasttoren für Ordnung gesorgt und dem Volk eine Ansprache von dir versprochen, sobald das Licht des morgigen Tages es zulässt. Außerdem ziehe ich in Erwägung, Aleydis‘ Rat durch meine Leute zu ersetzen und habe Falken entsendet, um ihre Truppen zurückzurufen. Drachen vor unseren Toren können wir derzeit nicht gebrauchen.«

Ihre Worte nehmen einen Stein von meiner Brust. Dem Nachklang haftet Schwere an. In Zukunft darf sie solche Entscheidungen nicht an meiner Stelle treffen. Gerade klammere ich mich an eine Krücke. Bald muss ich allein gehen.

»Ich musste mir eine glaubwürdige Geschichte über Aleydis' Tod überlegen.« Sie tastet mit verkrampften Fingern nach ihrem Wasserglas. »Es ist einem Assassinen gelungen, in den Palast einzudringen. Er hat Aleydis getötet, du hast sie gerächt, was seine Leiche angeht – lasst das meine Sorge sein.«

Likah zieht die Nase kraus. »Das klingt wie eine schlechte Abenteuergeschichte.«

Jessamine sieht sie tadelnd an. Ihre Tochter quittiert dies mit einem Augenrollen.

Veris tauscht Blicke mit Soleya und Søren. »Ihr müsst in die Festung zurückkehren, Larentia neben Dusans und Ìomhairs Büchern einen gefälschten Dolch der Nachtflamme bringen«, sie stockt, »und meiner Meisterin sagen, dass es mir gutgeht.«

Likah schürzt die Lippen und sieht sie mit großen Augen an. »Ihr? Heißt das, du bleibst im Palast? Bei mir?«

Sie wendet ihr ihren Oberkörper zu. »Ich werde die anderen auf der Suche nach den letzten göttlichen Artefakten begleiten.« Sie rutscht näher zu Likah und nimmt ihre Hände. »Ich möchte dich nie mehr länger als nötig allein lassen. Der Palast ist nicht die Zukunft, die ich mir für uns wünschte, aber die Gegenwart, die wir haben.«

Ein Strahlen breitet sich auf Likahs Gesicht aus. Ihre Augen funkeln einem sonnigen Wintertag gleich. Ohne dass das Lächeln ihre Lippen verlässt, zieht sie Veris für einen langen Kuss zu sich heran.

Ein Lichtfunke glimmt in mir auf. Die beiden haben einander. Nein, wir haben einander. Meine Freundinnen werden dafür sorgen, dass ich nicht in den unendlichen Hallen des Palastes verlorengehe.

Plötzlich bin ich mir Soleya und Søren neben mir allzu bewusst. Bitterer Geschmack breitet sich auf meiner Zunge aus. Sie kann ich nicht bitten zu bleiben.

Veris und Likah lösen sich voneinander. Likah legt ihren Kopf auf Veris‘ Schulter, diese schlingt einen Arm um sie. Den Blick richtet sie auf Soleya und Søren. »Larentia glaubt euch vielleicht nicht, dass ich tot bin. Wenn sie herausfindet, wo ich mich aufhalte, wird sie nicht den Palast angreifen. Das bin ich nicht wert.« Zögerlich wendet sie sich Jessamine zu. »Vorausgesetzt, ich darf bleiben.«

Ein Lächeln zeichnet sich auf deren Miene ab. »Du stehst unter dem Schutz der Krone, und deinen kühlen Kopf können die Bündnisländer derzeit mehr als gut gebrauchen.«

Veris atmet auf. »Danke.«

Der immerwährende Frost über Jessamines Zügen schmilzt, als sie Likah und Veris ansieht. »Was viel bedeutsamer ist: Meine Tochter braucht dich.«

Zur Bestätigung rollt sich Likah neben Veris zusammen wie eine Katze und kuschelt sich an sie. Veris streicht ihr einzelne Strähnen aus der Stirn, welche sich aus der Hochsteckfrisur gelöst haben.

Jessamine wendet sich von ihnen ab, das Eis kehrt in ihre Miene zurück. »Larentia wird den Palast ohnehin angreifen. Wir werden Bellonna nach ihren Schergen durchsuchen und sie ausräuchern. Dennoch wird sie sich fragen, welchesder Diademe nicht das echte ist. Das in der Festung oder jenes im Palast.«

Ich schnappe nach Luft.

Um ihre Mundwinkel zuckt es. »Regieren bedeutet, so zu tun, als wäre alles, was geschieht, Teil eines großen Plans. Aiyana muss das schnellstmöglich lernen, um ihr Volk als letzte Königin in ein neues Zeitalter zu führen.« Ich versinke in strahlendem Eisblau. Mir ist, als würde Jessamine in mein Innerstes spähen. »Um das Volk zu beruhigen und die Bündnispartner gleich mit, musst du ihm etwas geben. Was eignet sich besser als ein Artefakt, das ihnen göttliche Gnaden verspricht, und die Aussicht auf reine Magie?«

***

Die Nacht blutet im Licht eines blassrosa Frühlingsmorgens aus. Lauer Wind vermag es nicht, meine Lasten davonzutragen. Ich vergrabe die Finger im Stoff des roséfarbenen Kleides. Widerstehe dem Impuls, mich an Likahs Seite zurückfallen zu lassen.

Wie Nägel dringen die Streben der Königinnenkrone in meine Haut, sie passt mir nicht. Kupfer, Juwelen und Seide können nicht beschönigen, dass ich lediglich Regentin bin. Eine Königin in Verkleidung. Die Krönungszeremonie wird vor den Bündnispartnern stattfinden. Am Morgen hat Jessamine drei Falken zu ihnen entsendet.

Vor den Palasttoren steht eine Tribüne. Der Weg hinauf fühlt sich an, als würde ich auf einen Baum mit schmalen Ästen klettern. Oben angekommen, krampft sich mein Magen zusammen. Die Anspannung der Menge ist mit Händen zu greifen. Hinter den Masken sind ihre Gesichter unkenntlich. In ihren Augen blitzt eine Mischung aus Abscheu, Verwirrung und Zorn.

Ich mahle mit dem Kiefer. Versuche, einen stählernen Mantel zu weben, der die Blicke nicht an mich heranlässt.

›Sie ist ein Kind‹, sagen ihre Blicke. In meinem Kopf spricht Aleydis‘ vor Spott triefende Stimme die Worte. ›Wie soll ein Kind Königin sein? Sie hat den Tod ihrer Eltern und ihrer Schwester mit angesehen. Ihr Geist kann unmöglich stabil genug für das höchste Amt des Vier-Länder-Bündnisses sein.‹

Jessamine sieht mich prüfend an. »Bist du bereit?«

Ich schlucke trocken.»Habe ich eine Wahl?«

»Würdest du hier stehen, wenn du eine hättest?«

Obschon das Volk mir wie ein Rudel hungriger Wölfe auflauert, steht die Antwort klar vor mir. Zumal ich mich ihren scharfen Reißzähnen nicht allein stellen muss. »Ja.«

Jessamine berührt meinen Oberarm. »Dann bist du bereit.« Sie schreitet zum Rednerpult. »Volk Bellonnas.« Ihre Stimme zerschlägt das Summen der Menge wie die morgendlichen Sonnenstrahlen über uns die Wolkendecke. »Gestern ist meine Schwägerin ums Leben gekommen. Meine Nichte hat den Assassinen getötet. Seine Leiche wird heute vor dem Einbruch der Nacht verbrannt.« Sie breitet die Arme aus, als wolle sie die Versammelten umarmen. »Meine Nichte hat den gestrigen Abend gebraucht, um sich zu erholen. Jetzt ist sie bereit, die Krone mit Würden zu tragen.«

Ihre Worte leiten mich als helfende Hand zum Rednerpult. Ich imitiere ihre Körperhaltung. »Mein Volk.« Mit einem Räuspern verbanne ich die Anspannung aus meiner Stimme. »Ich habe mir gewünscht, dass meine Krönung unter erfreulicheren Umständen geschieht. Genauso habe ich mir gewünscht, dass ich meine Mutter in den Farben des Nichts betrauern kann, stattdessen muss ich dies im Gewand einer Königin tun. Die Trauerfeier findet morgen statt.« Meine Worte hallen in einem leeren Raum in meinem Inneren wider, ohne ein Echo zu erzeugen. Sie sind leer. »Es steht uns nicht zu, über die Toten zu richten. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass meine Mutter einige Fehlentscheidungen getroffen hat. Es ist meine Aufgabe, die Dunkelheit aus den Bündnisländern zu verbannen und euch ein Leben im Licht zu ermöglichen.« Glühende Fäden erheben sich aus der Asche in mir. Strömen durch meine Venen bis in meine Fingerspitzen. Verleihen mir Stärke, die nächsten Worte mit klarer Stimme auszusprechen. »Die Truppen, die meine Mutter zur Festung ausgesendet hat, habe ich zurückgerufen. Wir sind nicht bereit für eine Kriegserklärung.« Ein Seufzer gleitet auf den Schwingen des Morgenwindes durch die Menge. »Ein neues Zeitalter steht bevor. Vor meiner Rückkehr in den Palast bin ich auf einer großen Reise gewesen und habe ein Zeichen mitgebracht, dass die alten Gottheiten uns nicht vergessen haben.«

Likah tritt an meine Seite. Ein purpurnes Samtkissen in den Händen, auf dem Vanyas Diadem liegt.

Die Flamme stößt ein Fauchen aus, das mir ein Zischen entlockt. Knirschend reiben meine Zähne übereinander. Hitze jagt meine Wirbelsäule hinab. Meine Hände verkrampfen sich.

Ein Raunen brandet in der Menge auf. Geboren aus Ungläubigkeit und einer verloren geglaubten Hoffnung.

»Das ist Vanyas Diadem«, fahre ich mit erhobener Stimme fort. »Die Gottheit der Natur und des Lebens wird uns einen neuen Frühling bescheren, nachdem wir uns lange in der Düsternis des Winters bewegt haben.«

Likah rückt so nahe zu mir, dass sich unsere Schultern berühren.

Funken wirbeln von Vanyas Diadem ausgehend durch die Luft. Versengen meine Haut. Lava strömt durch meine Adern. Ich versuche, mich auf Likahs Wärme konzentrieren. Nicht auf die Klauen, die Vanyas Diadem packen wollen.

»Es gibt eine Möglichkeit, die reine Magie zurückzubringen. Sie nennen sich Gezeichnete; die alten Gottheiten schenken ihnen ein neues Leben und die Gabe, sie aus ihrem ewigen Schlaf zu befreien.«

»Deshalb wollte sie unsere Kinder!«

»Wo sind sie jetzt?«

»Was hat sie mit ihnen gemacht?«

Silhouetten lösen sich aus der Menge. Getrieben von unnachgiebigem Zorn, der in ihren Augen auflodert.

Der Anblick ist ein Dorn in meinen Eingeweiden. »Eure Kinder kann ich nicht mehr retten. Nur versprechen, es in Zukunft besser zu machen.« Meine Worte frieren die Unruhen der Menge ein. »Ich habe einen Trupp ausgesendet, um die anderen göttlichen Artefakte zu finden. Mit ihrer Hilfe möchte ich ein Zeitalter ohne Geheimnisse und Lügen zwischen uns einläuten. Wir werden die alten Gottheiten aufwecken. Es gibt keinen Grund, uns länger vor ihrem Zorn zu fürchten.« In einer fließenden Bewegung löse ich das Band, welches die Maske auf meinem Gesicht hält. »Auf einen Neuanfang.«

Das Herz der Menge ist stehengeblieben. Meines tut es ihm gleich. Niemand bewegt sich.

Erste Masken fallen. Mein Herz lodert auf. Flüssiges Feuer tröpfelt durch meine Adern. Ich bin aus der Asche auferstanden. Meinem Volk werde ich dasselbe ermöglichen. Egal, wie oft ich auf heiße Kohlen treten muss.

Die Menge ruft meinen Namen. In meinen Ohren knistert er wie Feuer. Die Glut in mir lächelt.

Kapitel 3

Schwesterherzen brechen nicht

Soleya

Magie fließt knisternd durch meine Adern. Mit jedem Schritt die Steintreppe hinunter, werden die Schatten tiefer, ihr Zupfen an meinem Magiespeicher energischer, das Flattern meines Herzens schmerzhafter.

Aiyana hält meine Hand. Seit das Volk ihre Ansprache überwiegend positiv aufgenommen hat, ist ihre Haltung aufrechter. Rotglühender Schimmer verfängt sich in ihren Locken sowie ihren Augen, wohlig warm wie ein Kaminfeuer.

Am Treppenfuß empfängt uns stickige Luft, eine massive Eisentür führt in den Palastkerker. Der Vogel in meiner Brust schlägt mit den Flügeln, als wolle er aus ihr herausbrechen und der Konfrontation mit Dahlia entfliehen.

»Sie wird dir nichts antun.« Aiyana klingt mäßig überzeugt.

Mit den Fingerspitzen berühre ich die roten Striemen an ihrem linken Handgelenk, sie zuckt zusammen. Ich knirsche mit den Zähnen. Meine kleine Schwester ist das gewesen. Die Person, die ich beschützen sollte, und ein Teil von mir würde das wollen, trüge Aiyana nicht die Symbole ihrer Vergehen auf der Haut. »Sie hat genug Schaden angerichtet.«

Sie zieht mich zu sich heran. Mein Blick verliert sich in warmem Honigbraun, das sich mit Gold und Feuerrot zu einer Farbpalette verwebt. »Meine Wunden werden heilen, und von jetzt an sorgen wir dafür, dass sie niemandem mehr wehtut.«

Ihre Worte fluten meinen Körper mit Wärme. Ich lege meine Lippen auf ihre. Sie atmet aus, ehe sie den Kuss mit einer Leidenschaft erwidert, die meine Knie weich werden lässt. Mein Verstand löst sich auf, bis ein klarer Gedanke aus der Intensität des Kusses wächst: Aiyana macht sich Sorgen um mich und versucht, mir Stärke zu verleihen.

Ich löse mich von ihr. »Ich schaffe das.«

Sorge flackert in ihren Augen auf.

Ich gebe ihr einen kurzen Kuss. »Du hast deine Ansprache gemeistert, ich meistere das Zusammentreffen mit Dahlia.«

Flüchtig heben sich ihre Mundwinkel. »Ich warte auf dich.«

Nachdem ich ihre Hand gedrückt habe, löse ich unsere verschränkten Finger und gehe erhobenen Hauptes auf die Tür zu, in dem Versuch, Selbstbewusstsein auszustrahlen. Ein Kribbeln schießt in meine Fingerspitzen. Lautlos schwingt die Tür unter dem Einfluss der Schatten auf.

Ein Gardist erwartet mich in einem schwach beleuchteten Vorraum. Dass er keine Maske trägt, erfüllt mich mit Zuversicht. Aiyanas Worte haben Anklang gefunden, ein neues Zeitalter sprießt aus zarten Knospen. »Was wünscht Ihr?«

Ich reiche ihm die Pergamentrolle, welche Aiyana mir mitgegeben hat.

Stirnrunzelnd überfliegt er die Zeilen. »Ihr habt die Erlaubnis der Königin, die Gefangene zu besuchen.« Seine Worte klingen wie eine Frage. »Dritte Zelle von rechts.«

Ich nicke ihm zu, ehe ich in den von winzigen Leuchtkugeln erhellten Gang eintauche. Fader Staub verstopft meine Atemwege. In den anderen Zellen sind einige von Aleydis‘ Leuten eingesperrt. Ihr Rütteln an den Gitterstäben und ihre Schreie sind ein schäumender Fluss am Rande meines Bewusstseins.

Vor Dahlias Zelle angekommen, trifft mich ihr Anblick einem Schwall kalten Wassers gleich. Sie kauert auf einer Pritsche. Die Kleidung zerschlissen, der Stoff mit Schmutz und Blut befleckt. Hellbraune fettige Strähnen verbergen ihr Gesicht.

Zorn wallt in mir auf, mein flatterndes Herz erinnert sich daran, dass es spitze Klauen und einen Schnabel hat. Dahlia hat mich verraten. Aiyana verletzt. Sie ist Aleydis‘ Spielfigur, ich bin es nie gewesen. Ich mahle mit dem Kiefer, ein Knacken ertönt.

Dahlia fährt zusammen. Hektisch atmend hebt sie den Kopf und versteinert, als sich unsere Blicke kreuzen. Die haselnussbraunen Augen sind fahl, die Pupillen klein und der Blick abwesend. Fahle Haut spannt sich über hohle Wangen, und eine Beule wächst aus ihrer Stirn. »Soleya?«

Ihre brüchige Stimme drückt gegen die Mauer, welche ich um meine Gefühle ihr gegenüber errichtet habe. Mit aller Kraft halte ich die Steine fest, schneide mich an den Kanten. Dahlia darf meinen Schutzwall nicht zum Einsturz bringen, mich nicht zum Einsturz bringen. Sie ist nicht länger die Schwester, die ich gekannt habe. Wie ein Mantra wiederhole ich den Satz, bis ich meine Stimme wiederfinde: »Spar es dir, die Hilflose zu spielen.«

Ihre Gesichtszüge entgleisen. »Was –«

»Was das heißt?«, schneide ich ihr das Wort ab. »Aleydis ist nicht für ein Kleid nach Guldheim gekommen. Sie wusste von dir, was ich bin, und sie wollte mich haben.«

Sie zieht die Knie an den Körper. »Ich habe Angst davor gehabt, wozu du im Stande bist … Reine Magie spüren … die Narbe … Ich habe damals einen kurzen Blick auf sie erhascht … Vanya … als sie dir das Leben gerettet hat … es war zum Fürchten.« Tränen verwandeln ihre Augen in Uferschlamm, schlagen Risse in ihre hohlen Wangen. »Ich dachte, dass die Königin dir helfen kann, damit du wieder normal wirst.«

Mit jedem Wort rammt sie den Dolch des Verrats tiefer in meine Brust. »Mir helfen?« Ein bitteres Lachen unterbricht mich. Triebe der Magie sprießen unter meiner Haut, ich lasse sie gewähren. Die Fackeln an den Wänden flackern, Schatten sickern in meine Richtung. »Ich bin die ganze Zeit normal gewesen, mir muss niemand helfen. Zum Glück lerne ich endlich, meine Macht zu nutzen, statt sie zu verbergen.«

Dahlias Aufmerksamkeit wird von den Schatten gebannt. Ihr Frösteln passt sich ihren Bewegungen an, als würden sie an ihren Gliedern zerren. »Die Königin hat mir versichert, dass sie einen Weg kennt, um es dir auszutreiben.«

Rauchfäden legen sich auf meine Haut, vor dem Dolch vermögen sie mich nicht zu schützen. Bei jedem Satz aus ihrem Mund reißen meine Wunden weiter auf. »Sie wollte meine Gabe für sich nutzen.« Ich blecke die Zähne. »Da es nicht schlimm genug ist, die eigene Schwester zu verkaufen, hast du Aleydis mit Informationen versorgt, und ihr von der Korrespondenz zwischen Mutter und Aiyana berichtet. Ist unsere Familie am Leben?«

Meine Frage wirft Grau in ihre Haut, sie erbleicht. »Das weiß ich nicht.« Ein trockenes Schluchzen unterbricht sie. »Ich wollte unsere Eltern beschützen … Aleydis hat versprochen, ihnen nichts anzutun, wenn ich gehorche … Firan –«

Die Ungewissheit, die aus ihren Worten wächst, schnürt mir die Kehle zu. Ich kämpfe aufkommende Tränen nieder, vor Dahlia werde ich nicht weinen. Stattdessen atme ich meinen Zorn ein wie süßen Nektar – Aiyana würde dasselbe tun. »Wage es nicht, seinen Namen auszusprechen! Weder ihn noch unsere Eltern hast du einen Atemzug lang beschützt! Wenn Aleydis jemanden beauftragt hat, um sie zu töten, bist du schuld, und du hast sie dabei unterstützt, Aiyana zu quälen!«

Sie zieht eine Augenbraue in die Höhe. »Du meinst die Prinzessin, die ihre Mutter hintergangen und getötet hat?«

»Regentin, in wenigen Wochen Königin«, korrigiere ich. »Aleydis hat ihr keine Wahl gelassen. Aiyana ist das Beste, was dem Volk passieren konnte.«

Dahlia wischt mit dem Blusenärmel Tränenspuren fort. »Glaubst du wirklich, dass sie besser als ihre Mutter ist?«

»Das weiß ich«, gebe ich mit scharfer Stimme zurück. »Aiyana möchte mich entscheiden lassen, was aus dir wird. Bisher bin ich zu keinem Ergebnis gekommen.« Gespielt gleichgültig zucke ich mit den Schultern. »Das Schicksal unserer Familie wird eine entscheidende Rolle bei der Entscheidung spielen. Genauso wie ein Auftrag, den wir für dich haben. Du wirst uns einen Dolch schmieden. Die Einzelheiten wird dir im Laufe des Tages jemand mitteilen. Bis bald, Dahlia.« Ich drehe mich um. Tränen verwandeln den Kerker eine Farbpalette gräulicher Schlieren.

»Du kannst mich nicht hierlassen!« Die Wände werfen ihre Schreie zurück. »Du bist meine große Schwester!«

Ich bedenke sie mit einem missbilligenden Blick. »Nein, nicht mehr.«

So schnell mich meine Beine tragen, renne ich aus dem Zellentrakt, vorbei an dem Gardisten. Das Donnern meines Pulses übertönt Dahlias Schreie, die Welt um mich herum schwankt.