Kursbuch 218 -  - E-Book

Kursbuch 218 E-Book

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Beschreibung

Die Essays des aktuellen Kursbuchs 218 »Von Natur aus« variieren alle die Spannung zwischen Natur und kultureller/gesellschaftlicher Darstellungspraxis – und stoßen alle darauf, wie wenig trennscharf diese Unterscheidung ist. Natur wird einmal idyllisiert, ein anderes Mal dämonisiert. Eine große Entweder-oder-Erzählung spannt sich auf. Es fängt an beim Essen. Was ist von Natur aus gutes Essen? Der Gourmetkritiker Jürgen Dollase schaut hinter die Kulissen veganer Ernährungstrends und der Naturküche. Roman Köster wiederum erläutert in seiner kleinen Naturgeschichte des Mülls, dass wir ihn nicht mehr loswerden und die Welt vermüllen - was nicht immer so war. Die Philosophin Eva von Redecker spricht deshalb von notwendiger Regenerationsarbeit, die wir mit dem Stoffwechsel der Natur betreiben müssen. Eine besondere Perspektive ist die Abbildung von natürlicher Sprache in den Algorithmen der digitalen Welt, vor allem ihre Grenzen, wenn etwa Hass und Spott in den sozialen Medien nicht mehr herausgefiltert werden können. Überdies beschäftigt sich Wendy S. Parker mit der Frage, inwieweit digitale Simulationen das Naturgeschehen abbilden oder gar voraussagen können. Armin Nassehi thematisiert in seinem Essay das Paradoxe in der Naturbetrachtung – in fünf Naturszenen lässt er das Widersprüchliche hervorquellen. Die Intermezzi zum Heftthema stammen diesmal von Jan-Niclas Gesenhues, Christiane Grefe, Florian Heinen, Sven Murmann und Maren Urner. Sie thematisieren die Grenzen der Natur, die politischen Bedingungen für den Naturschutz, menschliche Emotionen, Kindheit so wie das Phänomen der Landschaft, in dem sich die oben genannte Spannung besonders deutlich zeigt. Und schließlich das inzwischen elfte »Islandtief«: Berit Glanz widmet sich diesmal der isländischen Esskultur – zwischen Food Halls, in denen unterschiedliche Fast-Food-Angebote unter einem Dach zusammengeführt werden, und einer New Nordic Cuisine. Schließlich lässt uns der Fotograf Olaf Unverzart in seinen Resografien spüren, welche unbändige Kraft die Natur antreiben kann.

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Inhalt

Armin Nassehi Editorial

Jan SchwochowEine Quelle, zwei GrafikenWarum kompliziert, wenn es einfach geht?

Olaf UnverzartHeat is on

Jürgen DollaseWann ist Essen von Natur aus gut?Ein Diskurs über kulinarische Natürlichkeit

Berit Glanz | Islandtief (11)Hotdogs und SchafsköpfeDie Berit-Glanz-Kolumne

Roman KösterAlles Müll, oder was?Eine kleine Naturgeschichte

IntermezzoJan-Niclas GesenhuesOffensiver Umweltschutz

Nicole C. KarafyllisWesentlich nicht-unnatürlichGrundlagen biofaktischen Denkens

IntermezzoChristiane GrefeWeniger verbrauchen wollen

Armin NassehiNatura docetFünf Naturszenen

»Wir leben in einer Destroy-Party, in der jeder noch greift, was er kann« Ein Gespräch mit der Philosophin Eva von RedeckerVon Peter Felixberger

Wendy S. ParkerDie Natur im ComputerKönnen wir aus Simulationen etwas über die Welt lernen?

IntermezzoFlorian HeinenSmart, das Smartphone!

Manuela LenzenDer unlogische MenschenverstandWarum uns Computer noch nicht verstehen können

IntermezzoMaren UrnerVon Natur aus …… sind wir Menschen nichts anderes als emotionale Blobs auf – in den meisten Fällen – zwei Beinen.

Landschaftslektüre Hansjörg Küster († 26. Februar 2024)Ein Nachruf von Sven Murmann

Die Autoren und Autorinnen

Impressum

Armin Nassehi Editorial

Eine der ersten und bis heute bekanntesten malerischen Naturdarstellungen ist der »Feldhase« von Albrecht Dürer, gemalt 1502, also vor mehr als 500 Jahren. Ich glaube, das Bild haben die meisten Menschen vor Augen. Das Besondere an dem berühmten Aquarell ist, dass es nur eine Darstellung eines Feldhasen ist – zuvor sind Tiere ausschließlich in mythologischen oder religiösen Kontexten gemalt worden. In diesem Fall genügt das Tier sich selbst. Es wird gewissermaßen eingerahmt (im wahrsten Wortsinn), dekontextualisiert. Es interessiert nur die Gestalt des Tieres in seiner natürlichen Erscheinung. Man bezeichnet dieses Bild, wie eingangs schon erwähnt, oft als eine der ersten Naturdarstellungen oder Naturstudien – und darin ist bereits die ganze Spannung des Natürlichen auf den Begriff gebracht: Es ist eine (künstliche) Darstellung des Natürlichen, in diesem Fall eines Tieres, das jeglichem symbolischen Sinnüberschuss entzogen wird. Nun kann man kunstgeschichtlich sagen, dass dieser Verzicht auf jeglichen Sinnüberschuss genau den Sinnüberschuss ausmacht, nämlich geradezu provokativ nur das Tier zu zeigen. Aber man sieht kein Tier, sondern nur das Bild eines Tieres. Und man sieht auch beim Anblick der Natur nicht die Natur, sondern nur das, was man sieht.

Der Natur kann sich letztlich nichts entziehen, auch nicht all das, was wir nicht zum Natürlichen im engeren Sinne rechnen. Und doch ist es immer nur eine Darstellung der Natur, ihr Bild, ihr kulturelles Verständnis, über das wir verhandeln können. Die heutige Darstellungsprovokation eines Feldhasen wäre dann wahrscheinlich nicht eine naturalistische (sic!) Abbildung, sondern der genetische Code dieser Spezies. Noch abstrakter – und vielleicht sogar in einem bestimmten Sinne noch näher an seiner Natur?

Um die Spannung zwischen dem Natürlichen und seiner (kulturellen, sozialen, historischen, praktischen, wissenschaftlichen, nachahmenden etc.) Darstellung und Darstellbarkeit kreisen die Beiträge dieses Kursbuchs »Von Natur aus«. Besonders sichtbar wird diese Darstellungsfrage in Jan Schwochows Grafiken, die einen der für alles Leben und seine Natur auf der Erde wichtigsten Prozesse darstellen: die Photosynthese, die mithilfe des Sonnenlichts entscheidende Hauptbausteine des Lebens ermöglicht: Glukose und Sauerstoff. Dürers Darstellung des Feldhasen von 1502 kann man naturalistisch nennen. Die grafische Darstellung der Photosynthese ist eine wissenschaftliche, in chemischen Formeln, aber auch in symbolischer Anschauung. Beide Grafiken zeigen dasselbe, aber in unterschiedlichen Abstraktionsgraden. Olaf Unverzarts kleine Risografie-Reise basiert auf der besonderen Art eines Siebdruckverfahrens, das aus Japan stammt. Die Bilder entstammen der Serie »Heat is on« und zeigen Nebenfolgen und Risiken globaler Naturzerstörung.

Die Essays dieses Kursbuchs variieren alle die Spannung zwischen Natur und kultureller/gesellschaftlicher (Darstellungs-)Praxis – und stoßen alle darauf, wie wenig trennscharf diese Unterscheidung ist. Das gilt für Jürgen Dollases Überlegungen über kulinarische Natürlichkeit, für Nicole Karafyllis’ Nachdenken über Biofakte, für Roman Kösters Müllreflexion sowie für Manuela Lenzens Analyse des Verhältnisses von KI-Sprachmodellen und natürlicher Sprache und für Wendy S. Parker über Natursimulationen, ebenso für meine Naturszenen. Und das Interview, das Peter Felixberger mit Eva von Redecker geführt hat, beschreibt Lebensformen als Stoffwechsel mit der Natur.

Die Intermezzi zum Heftthema stammen diesmal von Jan-Niclas Gesenhues, Christiane Grefe, Florian Heinen, Sven Murmann und Maren Urner. Sie thematisieren die Grenzen der Natur, die politischen Bedingungen für Naturschutz, menschliche Emotionen, Kindheit sowie das Phänomen der Landschaft, in dem sich die oben genannte Spannung besonders deutlich zeigt.

Und schließlich das inzwischen elfte »Islandtief«: Berit Glanz widmet sich diesmal der isländischen Esskultur – zwischen Food Halls, in denen unterschiedliche Fast-Food-Angebote unter einem Dach zusammengeführt werden, und einer New Nordic Cuisine.

Jan SchwochowEine Quelle, zwei GrafikenWarum kompliziert, wenn es einfach geht?

Es liegt in der Natur des Menschen, komplexe Sachverhalte vereinfachen zu wollen, insbesondere bei der visuellen Verarbeitung von Informationen. Durch diese Vereinfachung können wir Daten schneller verstehen und raschere Entscheidungen treffen. Um dieses Phänomen zu verdeutlichen, habe ich aus einem Thema, der Photosynthese, zwei Grafiken erstellt.

Die erste Grafik präsentiert eine einfache Darstellung, die sich in wenigen Sekunden erfassen lässt. Wir verstehen schnell, worum es geht, und die Grafik kommt nahezu ohne Text aus. Eine solche Grafik eignet sich beispielsweise für Schüler in der Grundschule. Die andere Grafik hingegen, die einen komplexen wissenschaftlichen Ansatz verfolgt, erfordert mehr Aufmerksamkeit. Es braucht Zeit, um alle Prozesse zu verstehen, und eine intensive Konzentration ist erforderlich.

Als Infografiker kann ich den Leser unterstützen, beispielsweise durch eine klare Struktur mit Verwendung von Pfeilen und Farbcodes. Tatsächlich bietet der verfügbare Raum oft nicht genug Platz, um alle Informationen angemessen darzustellen. Ich könnte also noch tiefer in die Materie eintauchen. Dennoch ist es beeindruckend, beide Grafiken nebeneinander zu betrachten, da sie denselben Sachverhalt vermitteln.

Bevor ich mit meiner Arbeit beginne, frage ich mich, wer mein Zielpublikum ist. Welches Alter haben sie? Welche Bildung haben sie? Wie viel Platz steht für die Grafik zur Verfügung? Was kann ich dem Leser zumuten? Was ist relevant? In unserer hektischen Zeit ist die Aufmerksamkeitsspanne der Menschen entscheidend. Leider sind viele Prozesse komplex und lassen sich nicht immer vereinfacht darstellen. Auch ich muss mich oft stundenlang mit einem Thema auseinandersetzen, und gute Ergebnisse erfordern Zeit. Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie wissenschaftliche Erkenntnisse oft auf oberflächliche Weise verbreitet wurden, was zu Missverständnissen führte und unsere Gesellschaft gespalten hat. Doch unsere Welt ist nun einmal komplex. Die Faszination meiner Arbeit als Infografiker liegt darin, eine Brücke zwischen diesen beiden Welten zu schlagen und die passende Grafik für verschiedene Zielgruppen zu erstellen: nicht zu oberflächlich, aber auch nicht zu kompliziert.

Olaf UnverzartHeat is on

»Es gibt nichts, was es nicht gibt.« Zu sehen sind Risografien auf Grundlage von Reels aus dem World Wide Web.

Agua Zarcas River, Costa Rica, 2024

Evia, Griechenland, 2023

Annapurna, Nepal, 2023

Cervinia, Italien, 2024

Mavericks, Texas, 2024

Vulkan de Fuego, Guatemala, 2022

Acapulco, Mexiko, 2023

Jürgen DollaseWann ist Essen von Natur aus gut?Ein Diskurs über kulinarische Natürlichkeit

Der Begriff »Natürlichkeit« scheint heute, im Zeitalter von »Bio«, Slow Food und vermehrt fleischlosem Genuss, geradezu selbstverständlich zu gutem Essen und dessen Herstellung zu gehören. Er ist weitestgehend positiv gefüllt, wird oft ein wenig unterschiedlich radikal interpretiert und gerne – sowohl von bestimmten Formen der Gastronomie als auch vom Handel und der Nahrungsmittelindustrie – instrumentalisiert. Das wird vermutlich mehr oder weniger so bleiben – es sei denn, man beginnt, die Frage zu stellen, was man im kulinarischen Bereich eigentlich unter »natürlich« versteht. Dann wird es tückisch und reichlich komplex.

Beginnen möchte ich mit einem der rund um die Kochkunst am häufigsten bemühten Sätze, der von Maurice Edmond Sailland, genannt Curnonsky (1872–1956), stammt: »Um (gute) Küche handelt es sich dann, wenn die Produkte so schmecken, wie sie schmecken.« Zusammen mit Sätzen wie: »Das Produkt ist der Star« (Paul Bocuse, Eckart Witzigmann und andere) ergibt sich ein Bild wünschenswerter Qualitäten, das man angesichts der Realitäten in etwa so umschreiben kann: Es gibt sehr gute Produkte mit einer für das Endergebnis ausschlaggebenden Qualität, die ohne sie nicht erreicht werden kann. Wenn man sie einsetzt, sollte man es so tun, dass sie als solche auch erkennbar sind. Tut man dies, ergeben sich beste Voraussetzungen für eine gute Küche. Tut man dies nicht, entsteht eben keine gute Küche.

De facto und mit der Rezeptionsgeschichte solcher Aussagen im Hinterkopf (also der Verknüpfung bestimmter Kochstile/Köche mit diesem Satz) geht es etwa um ein Bresse-Huhn, das man mit Salz und Pfeffer würzt, in Butter (oder Olivenöl) anbrät und anschließend im Ofen und unter mehrfachem Überglänzen – zuerst mit dem Bratensaft, später vielleicht auch noch mit frischer Butter – zu einem wunderbar schmeckenden Huhn mit einer leicht knusprigen Kruste vollendet. Solche Manipulationen stehen der Forderung nach einem ursprünglichen Geschmack offensichtlich nicht entgegen. Man könnte sagen: Wenn auch nach solchen Manipulationen das Produkt im Sinne des Curnonsky-Satzes so schmeckt, wie es schmeckt, scheint es bei diesem Huhn einen natürlich gegebenen Geschmack nicht zu geben, sondern nur ein Artefakt, einen Zustand, den man gleichwohl als naturnah im Gegensatz zu einem unerwünschten, umfassend manipulierten Geschmack definiert.

Jetzt stellt sich allerdings die Frage, ob ausgerechnet die Kochkunst am Ende eher nicht im engeren Sinne »natürlich«, sondern – logisch folgernd – eher unnatürlich ist? Redet man deshalb von »Produkten«, womit man in der Kochkunst üblicherweise sowohl rohe, natürlich vorkommende Objekte als auch solche meint, die erst nach umfangreichen Bemühungen entstehen? Also sowohl wild gesammelte Muscheln an einer felsigen Küste als auch ein sorgsam und mit einem bestimmten Futter »erzeugtes« Eichelmastschwein? Ist vielleicht nur »roh« natürlich, und wenn dem so ist, gilt das ohne Einschränkungen?

Was ist auf der Produktseite »natürlich«? Suche nach objektiven Aspekten

Zu ermitteln, was als »natürlich« gelten kann, und wie »natürliche Gerichte« aussähen, führt schnell in einen Bereich, der vielen Menschen kaum bewusst sein dürfte. »Natürlich« im Sinne von »ohne Eingriff des Menschen« sind nicht mehr viele potenziell kulinarisch nutzbare Objekte. Das sorgsam gezüchtete Fleisch wird so, wie es dann ist, weil man von der Auswahl der Tiere über deren Futter bis zu einer bestimmten Schlachtvorbereitung und -prozedur und einer bestimmten Reifung für das Fleisch an vielen Stellen steuernd eingreift. Bei den Fischen scheint es offensichtlicher zu sein, weil der Fang mit der Leine vom kleinen Kutter den Zugriff auf ein Tier sichert, das in freier Wildbahn und ohne steuernde Einflüsse aufwächst (wenn man von der »Natürlichkeit« des Wassers absieht, in dem der Fisch gelebt hat). Das Reh aus normaler Jagd im Elsass gilt als besonders gut, weil es sich in großen Wäldern mit vielfältigen Gewächsen gut ernähren kann und deshalb eine besonders traditionelle, natürliche Qualität erreicht – im Gegensatz zu Wild, das wie andere Nutztiere in Gehegen mit kontrolliertem Futter gehalten wird. Beim Angebot in Geschäften und Supermärkten kann man weitestgehend von »Produkten« im engeren Sinn ausgehen, also einer zweckmäßig manipulierten Aufzucht, deren Natürlichkeit – etwa bei der industriellen Erzeugung von Schwein und Geflügel – bisweilen nahe null liegt.

Wer aber denkt schon daran, dass – sagen wir – die Karotten oder Kartoffeln fast keinen »Nullpunkt« mehr haben, bei dem man von Natürlichkeit sprechen kann, sondern weitestgehend hochtechnisch entwickelte Sorten sind, die zwar noch bestimmte gustatorische Qualitäten haben sollen, vor allem aber ertragreich, möglichst unempfindlich gegen Witterungseinflüsse und nach der Ernte möglichst lange haltbar sein müssen? Oder dass es beim Wein nicht einfach »die« Riesling- oder Chardonnay-Rebe gibt, sondern eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Klone, die oft so präzise eingestellt sind, dass sie dem Winzer je nach Boden und Klima das bestmögliche (oder gewünschte) Resultat bringen? Übertragen auf die Weiterverwendung solcher Produkte in Gastronomie und Nahrungsmittelindustrie kann man von Produktseite davon ausgehen, dass es heute nicht nur Fertiggerichte, sondern auch viele Gerichte in allen möglichen Restaurants von Fast Food bis zur Gourmetküche gibt, die keine Naturprodukte in diesem eigentlichen, analytischen Verständnis sind.

Was ist kulinarisch-gastronomisch gesehen »natürlich«? Suche und Diskussion von Beispielen

Wie aber sähe unter diesen Voraussetzungen ein Gericht aus, das man zumindest einigermaßen als »natürlich« bezeichnen könnte? Vielleicht ein Austerngericht mit besten Fines de Claires der Größe 2 aus Cancale in der Bretagne, einer Beurre blanc mit bester französischer Butter plus einer Kräuteremulsion? Nicht wirklich, weil die Austern, die in Klärbecken gezüchtet werden, nicht wilde Austern, sondern sehr präzise gezüchtete sind, die Butter vielleicht nicht Rohmilchbutter, sondern pasteurisierte Butter aus industrieller Fertigung ist, einen standardisierten Geschmack hat und weit entfernt von einer Art »Lagenbutter« ist, die von Kühen stammt, die auf einem bestimmten Terroir leben (so etwas gibt es zum Beispiel bei Camembert), und weil die Kräuter aus einer systematischen Erzeugung großer Betriebe stammen, also keine Wildkräuter sind.

Wären wilde Austern mit einer Beurre blanc auf der Basis von Rohmilchbutter aus absolut ländlicher Erzeugung, von Kühen, die auf Wildwiesen mit Wildkräutern grasen, mit einer Emulsion von Kräutern, wie sie wild auf Salzwiesen am Meer wachsen, natürlicher? Schon eher oder sogar weitestgehend. Aber in welcher Menge könnte so etwas erzeugt und genutzt werden, um »Natürliches« wirklich nennenswert zu verbreiten? Im Handel oder bei Fertiggerichten würde man das sicher nicht finden, sondern höchstens bei einigen wenigen spezialisierten Gastronomiebetrieben, die ihre eigenen Gärten und handverlesene, adäquat arbeitende Erzeuger im Hintergrund haben (was es bisweilen gibt, etwa »La Chassagnette« südlich von Arles in der Provence). Oder wie sieht es mit den Fetischgerichten vieler vegetarisch-veganer Konsumenten aus, also den diversen Bowls mit ihrem Mix aus Grünzeug und Körnern aller Art? Auch hier hält sich die Natürlichkeit in der Regel weitestgehend in Grenzen, weil die Gerichte längst in Mode sind und massenhaft angeboten werden, wo immer auf billigste Rohstoffe geachtet wird, die häufig aus den großen Gemüse-etc.-Farmen der Welt stammen, wo »gedopte« Pflanzen statt auf natürlichem Boden mit Nährstofflösungen, verkürzten Tagen durch Lichtmanipulationen und natürlich künstlicher Bewässerung zur Optimierung des schnellen Wachstums erzeugt werden.

Will man also wenigstens einigermaßen objektivieren, was kulinarisch als »natürlich« gelten kann, reduziert man das, was als Ernährung infrage kommt – zumindest für die Verhältnisse in den »zivilisierten« Ländern –, auf ein Minimum. Das gilt gleichermaßen für Omnivore (also Menschen, die im Prinzip alles essen) wie auch für Vegetarier (die ja noch die Fische hätten) und Veganer.

Wenn die Kochkunst nur begrenzt »natürlich« ist, was ist sie dann?

Die Kochkunst im klassischen Verständnis sollte man vor diesem Hintergrund in erster Linie als ein elaboriertes und elaborierendes System verstehen, das in seinen besten Ausprägungen darauf achtet, dass die Natur so gut und »natürlich« manipuliert wird, dass das Ergebnis im kulturellen Wechselspiel entstandenen Qualitätskriterien und einem Geschmacksbild entspricht, das nahe an den Möglichkeiten der Ausgangsprodukte entwickelt beziehungsweise – subjektiv – optimiert wird.

Gute Beispiele in diesem Zusammenhang finden sich in einer optimierten, meist eher kleinformatigen Zucht zum Beispiel von Fleisch, bei der dann prächtig fettmarmoriertes Fleisch entsteht, das ein ganz spezifisches Geschmacksbild ergibt und sich im Laufe der Geschichte als optimiert und erstrebenswert entwickelt hat. Dies in handwerklicher Präzision in der Küche zu realisieren, macht – nach durchaus weithin gültigen Maßstäben der Professionals in diesem System – große Kochkunst aus.

Eher angreifbare Aspekte finden sich zum Beispiel bei der Foie gras/Stopfleber. Dass die überfettete Leber von Gänsen oder Enten ebenfalls in einem natürlichen Prozess entsteht, in dem sich die Tiere »Substanz« anfressen, ist teilweise bekannt. Dass man diesen Prozess künstlich befördern kann, entspricht dem Wunsch, dieses Produkt in größerer Menge und Standardisierung zur Verfügung zu haben. In einem Akt der Binnendifferenzierung ergab sich, dass es besonders schmelzend-fette Exemplare von Lebern gibt, die vielen Leuten besonders gut schmecken. Diese Vorstellung gibt es bereits sehr lange. In den letzten Jahren hört man zunehmend Stimmen, die weniger Fettgeschmack und mehr Leberaroma haben wollen, weil sie dies für »natürlicher« halten. Unter dem Druck der Kritik am Stopfen von Gänsen und Enten entwickelte sich die Produktion von ungestopften Fettlebern, die dem natürlichen Prozess wieder näher sind und Fettlebern durch ein Überangebot an Nahrung, aber ohne Stopfen erzeugen.

Natürliche Kochkunst versus »unnatürliche« industrielle Produktion

Das, was in der Kochkunst als natürlich verstanden wird, bezieht seine Wertigkeit nicht nur aus sich selbst, sondern auch (und zunehmend intensiv) aus der Abgrenzung gegenüber dem, was man für »unnatürlich« hält, also vor allem gegenüber den vielfältigen Manipulationen in der industriellen Nahrungsmittelproduktion. Ein markanter Punkt ist dabei die Arbeit mit »künstlichen« Aromen und »Geschmacksverstärkern«. Ich war einmal für eine Reportage bei der Firma Symrise in Holzminden, einem der größten Produzenten von Aromen- und Duftstoffen der Welt, und ich war schockiert von der Differenziertheit und Präzision des Angebots. Ich erinnere mich etwa an eine riesige Sammlung rund um Zwiebelaromen, wo in feinsten Nuancen beispielsweise die Intensität der Röstnoten von Zwiebeln vorrätig gehalten wird. Wer folglich ein Produkt herstellen will (sagen wir: einen Hamburger für eine Imbisskette) und den Wunsch hat, dass er einige sehr natürlich und frisch wirkende Zwiebelröstnoten bekommt, wird hier fündig werden.

Man ahnt die Diskussionen zwischen Lieferanten und Bestellern, bei denen es um Intensität, Frische und Natürlichkeit dieser Aromen geht: »Könnten wir die Noten noch etwas dunkler bekommen?« In Betrieben wie Symrise hat »Natürlichkeit« eine andere Bedeutung. Für den Chemiker besteht alles aus Molekülen, und der gute Geschmack setzt sich aus bestimmten Kombinationen von Grundstoffen in bestimmten Dosierungen zusammen. »Natürlichkeit« ist – so gesehen – eine Setzung, eine Momentaufnahme bestimmter Zusammenstellungen. Beim Wein ist man stolz darauf, dass mineralische Bestandteile eines »Terroirs« (also bestimmte chemische Verbindungen) in die Reben übergehen und am Ende die Qualität eines Weines prägen. Niemand würde diesen Prozess für unnatürlich halten – obwohl er vielfältig steuerbar ist und gesteuert werden kann.

Die »Unnatürlichkeit« der Aromenstoffe und ihrer Erzeuger ist allerdings nicht als »Natürlichkeit« zu verkaufen. Das hat man schon vor Jahren erkannt und redet deshalb gerne von »naturidentischen« Aromenstoffen, deren Gegenteil solche wären, die als Zusammenstellung in der Natur nicht vorkommen. Bei Firmen wie Symrise werden natürlich erzeugte Aromen (bleiben wir bei den kräftig angerösteten Zwiebeln) per Gaschromatografie und ähnlichen Verfahren auf ihre chemischen Bestandteile hin analysiert. Man erhält Angaben darüber, wie viele von den einzelnen Grundstoffen an dem Gesamtgeschmack beteiligt sind. Danach kann man – theoretisch – absolut jedes Aroma präzise nachbauen und am Ende – auch im engeren Sinne – eine naturidentische Qualität erzielen. Die Grenzen werden mehr durch den Aufwand als durch die Technik gesetzt.

Ein sehr bekanntes Beispiel ist die Vanilleschote, die es in der Natur (was viele Leute nicht wissen) in sehr unterschiedlichen Geschmacksrichtungen gibt, deren Anteil an Vanillin (dem Hauptbestandteil des Vanillearomas) ebenfalls sehr unterschiedlich ist. Ganz besonders hochwertige und teure Sorten schmecken recht komplex und nicht nur einfach »nach Vanille«. Weil aber die Analyse durchschnittlicher Vanilleschoten einen sehr hohen Anteil an Vanillin ergibt, man die weiteren Noten weitgehend vernachlässigen kann und Vanillin außerdem nicht besonders teuer ist, kann man ein Aroma zusammenstellen, das weitestgehend aus Vanillin besteht und allgemein so erschmeckt wird.

Die natürlichen Luxussorten nachzubauen wäre selbstverständlich möglich, aber sehr viel teurer. Insofern könnte man sagen, dass Typisches aus der Natur betont wird. Das nicht isoliert in der Natur vorkommende Vanillin wird künstlich hergestellt, ist aber naturidentisch und reicht allein aus, um den Eindruck von natürlicher Vanille (die eigentlich komplexer ist) zu erzeugen. Und wenn man – auch bei vielen anderen Aromen – die Arbeit gut macht und sich viele solcher Aromen am Markt durchsetzen, hat man Einschätzungen wie die von Kindern, die ein Erdbeereis mit künstlichen Aromen sehr viel leckerer finden als eines aus natürlichen Erdbeeren. Es schmeckt einfach mehr »nach Erdbeere«.

In der Kochkunst wird an diesem Punkt gerne Empörung generiert, und es kommt bisweilen zu merkwürdigen Verhaltensweisen. Was etwa das »Übertünchen« von natürlichen Produkten mit Gewürzen angeht, galt lange Zeit, dass ein starkes Aromatisieren von Produkten mit Aromen wie Curry, Vanille oder Muskat nicht den Qualitätsvorstellungen großer Kochkunst entspricht. Es galt im Gegenteil als Könnerschaft, wenn man das Geschmacksspektrum mit einem Hauch von Aromen erweiterte und so eine Art überraschende Interpretation präsentierte.

Als der spätere bretonische Drei-Sterne-Koch Olivier Roellinger von den »Maisons de Bricourt« in Cancale in den 1980er- und 1990er-Jahren begann, Rezepte wie den »St. Pierre Retour des Indes« anzubieten, löste dies in der Kochwelt Empörung aus, die bis dato nie vorgekommen war. Man sah die Arbeit mit Gewürzmischungen, die Roellinger für jedes seiner Rezepte entwarf, als Untergang des kulinarischen Abendlandes an, eben als komplett unnatürlich und die Aromen der superben Ausgangsprodukte übertünchend. Dass bei Roellinger alles äußerst dezent und im vollen Bewusstsein eines »natürlichen« Arbeitens stattfand, hat man erst später begriffen und bewundernd akzeptiert. Mit etwas Distanz fällt auf, dass die Kochkunst hier bigott agiert und anscheinend zweierlei Natürlichkeit propagiert: Salz und Pfeffer, Nelken oder Piment im Schmorfond, getrocknete Lorbeerblätter, Thymian und Majoran etc. sind in Ordnung und entsprechen der oben beschriebenen, am besten »moderiert« zu nennenden Natürlichkeit, wie sie die klassische Kochkunst pflegt.

Besonders krass ist das Ausmaß an Bigotterie rund um die sogenannten »Geschmacksverstärker«. Vor Jahren ging es um »Glutamat«, den Geschmacksverstärker, den man bei Fertignahrung und vor allem auch in Chinarestaurants verortete. Mononatriumglutamat (so der vollständige Begriff) wurde zum Inbegriff des Unnatürlichen, zum Allheilmittel, das vor allem bei schlechten und billigen Produkten eingesetzt wurde, um dem Ganzen einen »kräftigen Geschmack« (so Franz Beckenbauer in seiner berühmt gewordenen Knorr-Suppen-Werbung) zu geben. Zudem wurde befürchtet, dass die Gewöhnung an solche »gedopten« Nahrungsmittel abstumpft und die Wahrnehmung natürlicher Aromenverhältnisse und damit von Produkten in ihrer natürlichen Intensität erschwert bis unmöglich macht.

Im Laufe der Jahre veränderte sich die Diskussion erheblich – vor allem unter dem Einfluss eines intensivierten Kontaktes mit der japanischen und asiatischen Küche. Zunächst wurde klar, dass die Wirkung vieler asiatischer Produkte und Zubereitungen auf die intensive Erzeugung des »fünften Geschmacks« Umami zurückgeht, was, wie man mit scheinbarem Erstaunen feststellte, letztlich die Wirkung von Glutamat bedeutet. In der Folge wurde deutlich, dass es neben dem künstlich hinzugefügten Glutamat auch Produkte gibt, die über einen hohen natürlichen Anteil an Glutamat verfügen. Dazu gehören auffällig viele überaus populäre Elemente/Produkte, wie etwa Parmesan, Tomaten, diverse Käse, gegrilltes Fleisch oder Soja(saucen).

Vor diesem Hintergrund sieht auch oder gerade das Kochen in seinem Verhältnis zur natürlichen Intensität von Aromen nicht gerade gut aus. Nicht die Intensivierung von Aromen oder das Nichtzulassen der natürlichen Aromenstärke, sondern die Konzentration oder Verstärkung durch nicht als weiteres Produkt empfundene Beigaben (die scheinbar das ursprüngliche Aroma verstärken, aber kein eigentliches Mischaroma bilden) ist eine der gängigen Grundpraktiken des Kochens und nennt sich »Würzen«. Salz wird ohnehin immer wieder als Geschmacksverstärker bezeichnet. Aber es gibt auch die Reduktion von aromatischen Flüssigkeiten, ihre Konzentration in Fonds bis hin zu pastöser Dicke, das Garen von Gemüse in Brühen (mit Koch-Weltstar Alain Ducasse als Galionsfigur), das Trocknen als Aromenverdichtung (etwa Morcheln, luftgetrocknete Wurstwaren, getrocknete Tomaten, getrockneter Rogen) und vieles mehr. Wenn Geschmacksverstärkung Denaturierung bedeutet, sind die Köche Intensivtäter.