Kursbuch 219 -  - E-Book

Kursbuch 219 E-Book

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Beschreibung

"Selbst im Exil ist es nicht so schlimm zu leben wie allein im Vaterlande" – das schrieb Stefan Zweig in seinem Londoner Exil, und in diesem Satz ist die Spannung des Exils gut aufgehoben. Das, was der Exilant zurücklässt, muss so schlimm sein, dass ein Exil besser ist als dies – und doch bleibt das Zurückgelassene das Eigene. Im Exil zu sein, ist nicht einfach ein Ortswechsel, sondern eine Multiplikation von Orten im Exilanten selbst. Genau diese Orte und Knotenpunkte sucht dieses Kursbuch auf. Sibylle Anderl rät allen Erdlingen von künftigen Mars- oder Weltraumexilen ab. Armin Nassehi stellt die Frage, ob der Fisch überhaupt weiß, dass er im Wasser lebt und einen Begriff des Wassers haben kann. Christoph Markschies zeigt, wie das babylonische Exil der Juden bis heute den Horizont ihres Selbstverständnisses prägt. Georg Glasze und Henning Füller wiederum beschäftigen sich mit Konzepten von Privatstädten, gewissermaßen Wohnexilen auf dem Planeten, die gerade in Saudi-Arabien und andernorts entstehen. Ein besonderes inneres Exil thematisiert das Interview mit Katrin Nemec und Katharina Köster. Die beiden Dokumentarfilmerinnen haben mit ihrem Film "Jenseits von Schuld" Eltern eines Serienmörders begleitet, die sich behaupten müssen: als Eltern, die verkraften müssen, dass ihr eigenes Kind unfassbare Verbrechen begangen hat, und als Menschen, die von außen als exakt solche Eltern wahrgenommen werden. Jens Siegert beschäftigt sich mit einem abgelehnten Exil, nämlich mit dem Fall Alexej Nawalnys, der trotz aller Drohung und trotz Anschlägen auf sein Leben im Exil nach Russland zurückkehrte und in einem Lager zu Tode kam. Barbara Sheldon und Enno Aufderheide berichten von der Philipp Schwartz-Initiative der Alexander-von-Humboldt-Stiftung, die sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Exil annimmt und ihnen wissenschaftliche Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland bietet. Ein Schwerpunkt dieses Kursbuchs sind literarische Arbeiten von acht Autorinnen und Autoren, die allesamt in Deutschland im Exil sind, weil sie in ihren Heimatländern verfolgt werden und keine Chance haben, frei und ohne Repression zu arbeiten. Es sind Behnaz Amani (Iran), María Teresa Montaño Degado (Mexiko), Pezhmann Golchin (Iran), Anisa Jafarimehr (Kurdistan/Iran), Collen Kajakoto (Simbabwe), Mubeen Khishany (Irak), Stella Nyanzi (Uganda) und Zimicier Vishniou (Belarus).

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Kursbuch 219

Exil

Das Kursbuch erscheint viermal im Jahr.

Das Heft kostet einzeln € 16,–

Das Jahresabo (4 Ausgaben) kostet € 52,–

Im Internet: https://kursbuch.online

Kursbuch Kulturstiftung gGmbH

Miramar-Haus, Schopenstehl 15, 20095 Hamburg

Tel.: 040/398083-0

V. i. S. d. P.: Peter Felixberger

Verleger: Sven Murmann

© 2024 Kursbuch Kulturstiftung gGmbH, Hamburg

Alle Rechte für sämtliche Beiträge, auch der Übersetzung und der Wiedergabe durch Funk- und Fernsehsendungen und alle elektronischen Übermittlungen, vorbehalten.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass er, sofern dieses Buch externe Links enthält, diese nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung einsehen konnte. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

ISBN 978-3-96196-359-1

eISBN 978-3-96196-369-0

ISSN 0023-5652

Zuschriften bitte per Mail an: [email protected]

Abonnenten-Service: [email protected]

Pressevertrieb: PressUp GmbH, Wandsbeker Allee 1, 22041 Hamburg. www.pressup.de

Inhalt

Editorial

Eine Quelle, Zwei Grafiken

Hiergeblieben

Auszug aus der Erzählung: Freiheitsturm

Immun gegen die Welt

Ausländerin

Pure Katharsis

Du weißt nicht, was Augen sind

Wenn Wissenschaft heimatlos macht

Ein Iraker stirbt jeden Tag neu

Wie der Fisch an Land

Geschichten

Chronik eines wahrscheinlichen Todes

Exil

Exil: Ein Poem der Hoffnung

Babylonien, Marburg, Kleinarmenien und anderswo

Schwarzes Krokodil

(Islandtief 12) Islandschafe und Hauptstadtkatzen

Die Autoren und Autorinnen

Armin Nassehi

Editorial

»Selbst im Exil ist es nicht so schlimm zu leben wie allein im Vaterlande« – das schrieb Stefan Zweig in seinem Londoner Exil, und in diesem Satz ist die Spannung des Exils gut aufgehoben. Das, was der Exilant zurücklässt, muss so schlimm sein, dass ein Exil besser ist als dies – und doch bleibt das Zurückgelassene das Eigene. Zumal für einen Schriftsteller, der in seiner eigenen Sprache weiterpubliziert. Im Exil zu sein, ist nicht einfach ein Ortswechsel, sondern eine Multiplikation von Orten im Exilanten selbst. Das gilt prinzipiell für jede Migration. Migrantinnen und Migranten nehmen stets etwas von ihrem Ursprungsort mit, und wie wir das aus modernen Migrationsgeschichten kennen, entstehen gewissermaßen dritte Räume, in denen Migranten durch moderne Kommunikations-, Mobilitäts- und Zahlungsmöglichkeiten zwischen den Welten leben. Der Exilant nimmt dennoch eine Sonderstellung ein. Das Exil ist dem ähnlich – bleibt aber dem Raum, der verlassen wurde, stärker verpflichtet. Die Unterschiede zur Fluchtmigration dagegen sind fließend.

Dieses Kursbuch beschäftigt sich mit dem Exil als diesem Zwischenraum. Das Exil – als reales Geschehen, als Metapher, als Weltbezug, als Chiffre – verweist immer auf Selbstverhältnisse, also darauf, wie die Bezüge zur unmittelbaren sozialen, politischen, persönlichen Umwelt aussehen und wie man sich in ihnen bewegt. In meinem eigenen Beitrag habe ich das mit der bildlichen Frage verbunden, ob der Fisch weiß, dass er im Wasser lebt, und einen Begriff des Wassers haben kann. Er weiß es spätestens dann, wenn das Wasser als zuvor unsichtbare Quelle seiner Existenz brüchig – und damit sichtbar – wird.

Der Beitrag von Christoph Markschies beschäftigt sich mit dem vielleicht klassischsten Exilfall, nämlich mit dem babylonischen Exil des jüdischen Volkes im sechsten Jahrhundert vor Christus und seinen biblischen Quellen. Markschies zeigt, dass diese Exilerfahrung bis heute den Horizont des jüdischen Selbstverständnisses prägt, eine Erfahrung, die auch nach der Rückkehr, der Alijah, nicht aus dem Selbstverständnis verschwindet, sondern stets im Horizont der sozialen und liturgischen Selbstbeschreibungen bleibt, übrigens versehen mit dem Hinweis, dass die Frage der »Rückkehr« der Juden nach Israel älter ist, als es die gegenwärtige Diskussion aus Anlass des Krieges in der Region suggeriert. Ein ganz anderes Exil hat Sibylle Anderl im Blick, nämlich das extraterrestrische Exil auf dem Mars. Sie zeigt, dass es niemals ein Freiheitsgewinn sein kann, auf dem Mars zu siedeln, weil man das Verhältnis der Siedler so sehr einschränken und kontrollieren müsste, dass dies eher einer autoritären als einer freiheitlichen Sozialform entsprechen würde. Auf durchaus vergleichbare Diagnosen kommen Georg Glasze und Henning Füller, die sich mit Konzepten von Privatstädten beschäftigen, gewissermaßen Wohnexilen auf dem Planeten. Obwohl, so schreiben die Autoren, sich dort alles um die Bedürfnisse von Individuen dreht, scheitern solche Modelle gerade an Freiheits- und Abweichungsmöglichkeiten, an der Eigendynamik, die Städte genau genommen ausmachen.

Ein besonderes inneres Exil thematisiert das Interview, das wir mit Katrin Nemec und Katharina Köster geführt haben. Die beiden Dokumentarfilmerinnen haben mit ihrem Film Jenseits von Schuld Eltern eines Serienmörders begleitet, die sich an zwei unterschiedlichen Schnittstellen behaupten müssen: als Eltern, die verkraften müssen, dass ihr eigenes Kind unfassbare Verbrechen begangen hat, und als Menschen, die von außen als exakt solche Eltern wahrgenommen werden. Dem Film, der auf dem Münchner DOK.fest 2024 den Publikumspreis gewonnen hat, gelingt es, ohne jeglichen Voyeurismus und ohne Suche nach Sensation diese schwierige Situation zu rekonstruieren. Das Gespräch dreht sich um die Möglichkeit, einen solch unmöglichen Film drehen zu können. Der Film kommt im Herbst 2024 in die Kinos.

Jens Siegert beschäftigt sich mit einem abgelehnten Exil, nämlich mit dem Fall Alexej Nawalnys, der trotz aller Drohung und trotz Anschlägen auf sein Leben im Exil nach Russland zurückkehrte und in einem Lager zu Tode kam. Barbara Sheldon und Enno Aufderheide berichten von der Philipp Schwartz-Initiative der Alexander-von-Humboldt-Stiftung, die sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im Exil annimmt und ihnen wissenschaftliche Arbeitsmöglichkeiten in Deutschland bietet. Der Beitrag beschreibt detailliert Zielkonflikte zwischen individueller Förderung und strukturellen Fragen, zwischen Qualität und Hilfe, zeigt aber auch Chancen des Programms weit über die Hilfe für individuelle Personen hinaus auf.

Wissenschaftler im Exil haben eine lange Tradition – und ebensolches gilt auch für Schriftsteller. Ein Schwerpunkt dieses Kursbuchs sind literarische Arbeiten von acht Autorinnen und Autoren, die allesamt in Deutschland im Exil sind, weil sie in ihren Heimatländern verfolgt werden und keine Chance haben, frei und ohne Repression zu arbeiten. Es sind Behnaz Amani (Iran), María Teresa Montaño Delgado (Mexiko), Pezhman Golchin (Iran), Anîsa Jafarimehr (Kurdistan/Iran), Collen Kajokoto (Simbabwe), Mubeen Khishany (Irak), Stella Nyanzi (Uganda) und Zmicier Vishnioŭ (Belarus). Es handelt sich um Texte, die auf der Veranstaltung aus Anlass des 100-jährigen Bestehens des deutschen PEN-Zentrums vorgetragen wurden. Die Autorinnen und Autoren haben allesamt ein Stipendium des Writers-in-Exile-Programms des PEN-Zentrums. Angesichts der gegenwärtigen Insinuationen eines Freiheitsverlustes in unserem Land und der Behauptung, man könne nicht mehr sagen, was man wolle, beschämen uns diese Autorinnen und Autoren geradezu damit, dass sie ein Stipendium in Deutschland benötigen, um eines der grundlegenden Menschenrechte in Anspruch zu nehmen: die Freiheit des Wortes und der Kunst.

Die Auswahl der Länder, aus denen diese Literaten kommen, ist nur eine Auswahl der Länder, in denen man sich auf dieses Recht nicht ohne Risiko berufen kann – man könnte nicht einmal ohne Schaden öffentlich behaupten, man könne öffentlich nicht alles behaupten. Wir danken Astrid Vehstedt vom PEN-Zentrum, die uns sehr dabei unterstützt hat, dass wir diese Texte im Kursbuch publizieren können – und besonders danken wir natürlich den Autorinnen und Autoren selbst.

Schließlich die beiden Kolumnen von Jan Schwochow und Berit Glanz. Schwochow zeigt zunächst eine Grafik des Anteils von Menschen mit Migrationshintergrund an der Bevölkerung in Deutschland und in einer zweiten Grafik, wie vielfältig dieser Anteil selbst ist. Und Berit Glanz’ »Islandtief« erzählt von Diego, der prominentesten Katze Islands – und darüber, welche Rolle Haustiere in dem Land spielen.

Dieses Kursbuch ist das 49., seit wir mit Kursbuch 170 im Jahre 2012 das Kursbuch wiederbelebt haben. Das nächste, das Kursbuch 220, wird das 50. sein, das nicht die Vergangenheit feiert, sondern einen Ausblick auf die Zukunft geben wird. Lesen Sie zunächst dieses Kursbuch über das Exil und freuen Sie sich dann auf unser Jubiläum!

Jan Schwochow

EINE QUELLE, ZWEI GRAFIKEN

Menschen aus anderen Ländern

Migration ist neben dem Klimawandel eines der drängendsten Themen unserer Zeit. Schon meine Eltern mussten am Ende des Zweiten Weltkrieges flüchten und sich in der Nähe von Hamburg ein neues Leben aufbauen. Menschen verlassen ihre Heimat meist nur in Notsituationen – oft aus politischen oder religiösen Gründen. In Deutschland sind wir verpflichtet, Flüchtlinge aufzunehmen und zu versorgen, da wir uns zu internationalen Abkommen, wie der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention, bekennen. Diese Abkommen sichern das Recht auf Asyl und Schutz vor Verfolgung. Darüber hinaus ist die Pflicht zur Aufnahme von Flüchtlingen im Grundgesetz verankert, das in Artikel 16a das Recht auf Asyl garantiert. Diese Verpflichtungen beruhen auf den Grundwerten von Menschlichkeit, Solidarität und dem Schutz der Menschenrechte, die in der deutschen und europäischen Rechtsordnung fest verankert sind. Natürlich spiegelt sich dies auch in unserer Demografie wider. Aufgrund der politischen Lage haben wir vielen Menschen, die in Not sind, Zuflucht gewährt. Ende 2023 waren in Deutschland rund 3,2 Millionen Schutzsuchende registriert. Dies sollte unser reiches Land verkraften können. Dahinter verbergen sich Chancen: Wir sollten uns stärker bemühen, diese Menschen zu integrieren, denn wir brauchen dringend Zuwanderung, da Deutschland seit 1972 mehr Sterbefälle als Geburten verzeichnet. So finden viele Menschen aus anderen EU-Ländern bei uns Arbeit, ohne die deutsche Staatsbürgerschaft zu haben. Ohne sie würde unsere Wirtschaft zusammenbrechen. Es ist aber auch bereichernd, wenn andere Kulturen bei uns eine Heimat finden. Dies wurde eindrucksvoll beim Auftritt unserer Nationalmannschaft bei der Fußball-EM im eigenen Land sichtbar, denn das DFB-Team ist ein Spiegel unserer Gesellschaft und ebenso vielfältig wie die meisten Schulklassen oder Kindergartengruppen hierzulande: Jonathan Tah hat eine deutsche Mutter, sein Vater stammt aus der Elfenbeinküste. Benjamin Henrichs ist Sohn eines deutschen Vaters und einer Mutter aus Ghana. Ilkay Gündogan, Emre Can und Deniz Undav haben türkische Wurzeln, Waldemar Anton russische. Antonio Rüdiger hat einen Vater aus Deutschland, seine Mutter stammt aus Sierra Leone. Leroy Sanés Vater kommt aus dem Senegal, der Vater von Jamal Musiala aus Nigeria. Das ist Deutschland.

Deutschland ist auch Heimat für Menschen aus anderen Ländern

Im Jahr 2023 zählte das Statistische Bundesamt rund 84 Millionen Menschen. Nicht alle Menschen sind in Deutschland geboren. Rund 25 Millionen Menschen haben einen Migrationshintergrund. Insgesamt 13,9 Millionen Menschen haben keine deutsche Staatsbürgerschaft und gelten bei uns als Ausländer. Darunter sind 5,1 Millionen Menschen, die aus anderen Staaten der Europäischen Union kommen und bei uns arbeiten. Am Ende kommt rund jeder zehnte Mensch aus einem Nicht-EU-Staat.

Gesamtbevölkerung in Deutschland 2023

Quelle: Statistisches Bundesamt: Mikrozensus – Bevölkerung nach Migrationshintergrund, Erstergebnisse 2023. Die Bevölkerung mit Migrationshintergrund im weiteren Sinn umfasst auch in Deutschland geborene Deutsche mit Migrationshintergrund, die nicht mehr mit ihren Eltern in einem Haushalt leben.

Migration hat ganz unterschiedliche Gründe

Ausländer sind alle Personen, die nicht Deutsche im Sinne des Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes sind, das heißt, nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Zu ihnen gehören auch Staatenlose und Personen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit. In Deutschland leben derzeit rund 14 Millionen Ausländer. Ein Großteil sind Flüchtlinge aus der Ukraine, Syrien und Afghanistan.

Quelle: Ausländerzentralregister, Stand 31.12.2023

Sibylle Anderl

Hiergeblieben

Ein kurzes Plädoyer gegen ein futuristisches Exil im Weltall

Es wäre das radikalste Exil, das man sich vorstellen kann. In seiner Beschaffenheit, aber auch in der Hinsicht auf alles, was aus ihm folgen würde. Könnte es sein, dass wir irgendwann die Erde verlassen müssen, um Schutz im All zu suchen? Auf dem Mond vielleicht, oder besser: gleich auf dem Mars? Dass wir Exilerdlinge werden?

Die New York Times berichtete kürzlich, dass Mitarbeiter des Unternehmens SpaceX erstaunlich konkret an den nötigen Technologien für die Errichtung einer Weltraumkolonie auf dem Mars arbeiten. Es gehe um Pläne für die Gebäude und die Beschaffung von Baumaterialien, außerdem würde an Raumanzügen gearbeitet, damit die Bauten für Spaziergänge in der dünnen Marsluft verlassen werden können. Und schließlich gehe es um die Frage, wie man auf dem Mars Kinder bekommen könne. Das alles klingt zwar verrückt, zumal, wenn man beobachtet, wie schwer sich die Amerikaner gleichzeitig mit ihrem Artemis-Programm tun, also allein damit, wieder Menschen für ein paar historische Schritte auf dem Mond zu bewegen.

Überraschend sind diese sehr konkreten Marsvorbereitungen allerdings nicht. Die Legende besagt schließlich, dass Elon Musks Wunsch nach einem möglichen Fluchtort für die Menschen im All 2002 ganz am Anfang seines Weltraumengagements stand, nachdem er bemerkt hatte, dass die NASA nichts dergleichen plane. Seitdem zieht sich der Planet als ein (passenderweise) roter Faden durch seine vielfältigen unternehmerischen Tätigkeiten. Immer wieder betont er, wie wichtig es wäre, dass die Menschheit zu einer multiplanetaren Spezies wird. In 20 Jahren, so wird er aus einer Rede im April zitiert, erwarte er, dass eine Million Menschen auf dem Mars leben würden.

»Die Dringlichkeit ist hoch, das Leben multiplanetar zu machen. Wir müssen das schaffen, solang unsere Zivilisation noch so stark ist.«

Mit seiner wiederverwendbaren Riesenrakete Super Heavy rocket und dem Starship-Raumschiff, das auch der Kombination aus beidem seinen Namen gibt, will er die passenden Transportmittel bauen. 150 Tonnen soll die Rakete transportieren können, 100 Tonnen sollen mit Starship pro Flug bis zum Mars fliegen. Der Trick: Tanken im Erdorbit, um das Gewicht des Treibstoffs beim Start einzusparen. Daran, dass das erste Ziel von Starship, zum Mond zu fliegen, nur ein Zwischenstopp auf dem Weg zum Mars ist, bleibt kein Zweifel, wenn man auf die Seiten von SpaceX schaut. Angeblich soll das Raumschiff für den etwa neun Monate dauernden Trip deutlich ausgebaut werden mit Wohn-, Fitness- und Unterhaltungsräumen, damit sich die rund 100 Passagiere auf der langen Reise wohlfühlen.

Aber was wären mögliche Gründe, die Erde zu verlassen und sich auf einem fremden Planeten niederzulassen? Der menschliche Entdeckergeist wird immer wieder zitiert, der unsere Vorfahren seit jeher dazu gebracht hat, ihre Lebensräume auszudehnen und Neues zu erkunden. Nachdem wir mit der Erde fertig sind, kommt jetzt der Weltraum. Wäre das tatsächlich die einzige Motivation, hätte das Leben auf dem Mars wenig vom Schicksal eines Exilanten. Es wäre eine Kolonialisierungsbewegung, vergleichbar mit all jenen, die wir auf der Erde bisher erlebt haben.

Ein Leben im Exil bleibt untermalt vom Gedanken an die wirkliche Heimat, von einem Gefühl der Fremdheit und des Nicht-hierher-Gehörens, nachdem man gezwungen war, das Vertraute, Geliebte zurückzulassen. Es ist geprägt von der Sehnsucht nach dem Alten und der Hoffnung auf ein Ende des Exils, verbunden mit einer möglichen Rückkehr in die Heimat.

Szenarien für eine nicht freiwillige Flucht ins All gibt es: Wenn wir weiterhin die Erde zerstören, wenn die Erde von einem Asteroiden getroffen, wenn die Menschheit von schlimmen Seuchen heimgesucht würde, könnte ein Außenposten auf dem Mars den Fortbestand der Menschheit retten. Und wenn es erst einmal diesen Außenposten gäbe, würde er auch für all jene taugen, die auf der Erde politisch verfolgt wären.

Exil im All? Gar nicht so unwahrscheinlich?

Wer sich etwas genauer damit beschäftigt, was ein Leben auf dem Mars bedeuten würde – so meine These –, wird kaum anders können, als einzusehen: Ein Leben auf dem Mars wird sich gar nicht anders anfühlen können wie ein Leben im Exil, unabhängig davon, welche Gründe den Raumfahrer tatsächlich dorthin verschlagen haben. Es wäre in jedem Moment durchwirkt vom alles dominierenden Gefühl des Fremdseins, von irdischer Sehnsucht.

So, wie man nicht ohne großen Druck freiwillig ins Exil geht, wird man auch die Erde nicht verlassen wollen, sobald sich verbreitet hat, was das tatsächlich heißt.

Der Blick auf die Erde

Wer die Erde aus dem All sieht, ist nicht mehr derselbe, so heißt es immer wieder. Der Blick auf den Heimatplaneten ist Auslöser für eine emotional-reflektive Reaktion, die als »Overview Effect« bezeichnet wird. Astronauten berichten, wie sehr sie dieser Blick bewegt und geprägt hat. In ihren Erzählungen kommt immer wieder die »Verletzlichkeit« des Planeten zur Sprache, die Bestürzung, dass es in diesem für kosmische Maßstäbe winzigen, für die Menschen so perfekten Lebensraum so viele Kriege und Konflikte gibt. Berichtet wird vom Gefühl einer besonderen Verbundenheit mit allen anderen Menschen und der Erde selbst. Und von der Motivation, der Zerstörung und dem Leid auf der Erde etwas entgegenzusetzen. In vielen Schilderungen ist die nostalgische Sehnsucht nach einer intakten, friedlichen irdischen Heimat zu spüren.

Besonders eindrucksvoll hat das erst kürzlich der Schauspieler William Shatner beschrieben, der 2021 mit Jeff Bezos’ Unternehmen Blue Origin einen kurzen Flug in den Weltraum absolvieren durfte. Der 91-Jährige beschrieb seinen Zustand nach der Rückkehr als von tiefer Trauer geprägt. Er erfuhr beim Blick auf die Erde nicht den Eindruck kosmischer Harmonie, sondern: »I had a different experience, because I discovered that the beauty isn’t out there, it’s down here, with all of us. Leaving that behind made my connection to our tiny planet even more profound.« [»Ich hatte eine andere Erfahrung, denn ich entdeckte, dass die Schönheit nicht dort draußen ist, sie ist hier unten, bei uns allen. Dadurch, dass ich das alles hinter mir gelassen habe, wurde meine Verbindung zu unserem winzigen Planeten noch tiefer.«] Und weiter: »The contrast between the vicious coldness of space and the warm nurturing of earth below filled me with overwhelming sadness.« [»Der Kontrast zwischen der bösartigen Kälte des Weltraums und der warmen Fürsorglichkeit unserer Erde erfüllte mich mit überwältigender Traurigkeit.«]

Der Autor Frank White, der in den 1980er-Jahren die Bezeichnung »Overview Effect« einführte, sah diesen Effekt als Bestätigung unserer Berufung, eine Spezies im interplanetaren Raum zu werden. Seiner Einschätzung nach gibt es den Effekt in verschiedenen Abstufungen. Je weiter die Erde entfernt ist, desto stärker sollte der bewusstseinserweiternde Effekt als eine »kopernikanische Perspektive« wirken. Vom Mars aus, in einer durchschnittlichen Entfernung von 228 Millionen Kilometern, ist die Erde nur noch ein heller Punkt am Himmel.

Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass dieser Anblick – punktförmig dann nur noch Anlass einer vagen Erinnerung an die Schönheit und Vielfalt unserer Erde – in einer lebensfeindlichen Umgebung statt zu einer Bewusstseinserweiterung eher zu einer tiefen existenziellen Form von Heimweh, Nostalgie und Sehnsucht führen kann. Und tatsächlich beschreibt White auch das »Earth-out-of-view«-Phänomen: Wenn die Erde für längere Zeit aus dem Blick gerät, könne das zu einer besonderen Form von Trennungsangst führen, aus der eine existenzielle Krise und im schlimmsten Fall Selbstmord oder blinde Zerstörungswut resultieren könnten. Whites Lösung: Die Erde mit einem Teleskop betrachten und auf diese Weise zurück in die Nähe holen. Fraglich aber, ob das wirklich die Lösung ist oder ob das die Wehmut und Verzweiflung nicht noch vergrößern würde.

Lebensfeindlich

Der Mars ist etwa halb so groß wie die Erde und um die 1,5-fache Erde-Sonne-Distanz von der Sonne entfernt. Während hier auf der Erde von der Sonne durchschnittlich eine Energie von 1361 Watt pro Quadratmeter auf die Atmosphäre trifft, sind es auf dem Mars nur noch 586 Watt pro Quadratmeter. Das, zusammen mit der Tatsache, dass der Mars eine nur sehr dünne Atmosphäre besitzt, macht ihn zu einem sehr kalten Ort. Die Durchschnittstemperatur liegt bei minus 63 Grad Celsius (SpaceX schreibt dazu: »It’s a little cold, but we can warm it up« – dazu später mehr). Der Atmosphärendruck auf dem Mars entspricht 0,6 Prozent des mittleren Luftdrucks auf der Erde. Zu 95 Prozent besteht die Atmosphäre aus CO2 mit etwas Stickstoff, Argon, Sauerstoff und Kohlenmonoxid. Die Gravitation auf dem Mars beträgt 38 Prozent der irdischen (SpaceX: »Wir können schwere Sachen heben und herumspringen«). Weil der Mars, anders als die Erde, kein globales Magnetfeld besitzt, bietet er kaum Schutz vor kosmischer Strahlung – geladener Teilchen – aus dem All, die für das Leben höchst schädlich ist.

Mit diesen vollkommen »unirdischen« Bedingungen umzugehen, erfordert weitreichende technologische Lösungen. Außerhalb der Erde leben zu können, ist offensichtlich nichts, das sich von selbst ergibt. Das Überleben an sich würde dort in den Mittelpunkt jeder Alltagsaktivität rücken und damit das soziale Miteinander vollständig prägen und dominieren. Die größte Herausforderung sind die Gefahren für die menschliche Gesundheit. Die Risiken sind bislang nicht umfassend erforscht. Klar ist: Geringe Gravitation, hohe Strahlenbelastung, schwierige Ernährungslage und genereller Stress in einer fremden Umgebung sind nicht förderlich für Menschen. Die NASA hat eine entsprechende Liste von über 30 Gesundheitsrisiken der Weltraumerschließung erstellt und diese nach Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens, Schwere ihrer Gesundheitsfolgen, Beeinträchtigung der Missionsfähigkeit und Langzeitfolgen priorisiert, um an Lösungen zu arbeiten.

Am beunruhigendsten sind die Schäden durch die kosmische Strahlung – energiereiche Teilchen aus dem All, die auf der Erde weitgehend durch das irdische Magnetfeld und die Atmosphäre abgefangen werden. Diese kosmische Strahlung besitzt grundsätzlich zwei verschiedene Quellen. Einerseits wird das Sonnensystem fortwährend von galaktischer kosmischer Strahlung durchquert: Wasserstoff- und Heliumkerne sowie Ionen mit hoher Ladung und Energie. Dazu kommen andere Elementarteilchen, die erzeugt werden, wenn die Teilchen der galaktischen kosmischen Strahlung auf Materie und menschliches Gewebe treffen. Die schweren energiereichen Ionen sind dabei biologisch besonders gefährlich und können nicht vollständig abgeschirmt werden.

Andererseits kommt es auf der Sonne, zusätzlich zu ihrem niederenergetischen Sonnenwind, immer wieder zu Strahlungsausbrüchen, bei denen Protonen in der Sonnenatmosphäre beschleunigt und ins interplanetare Medium geschleudert werden.

Wie stark die beiden Komponenten der kosmischen Strahlung sind, hängt von der Aktivität der Sonne ab, die in Elf-Jahres-Zyklen variiert. In einem Aktivitätsminimum erreicht mehr galaktische kosmische Strahlung die Planeten, in einem Maximum wird diese Komponente vom Magnetfeld der Sonne abgeschirmt. Dafür kommt es dann verstärkt zu gewaltigen, von der Sonne ausgehenden Teilcheneruptionen. Wenn so ein solares Teilchenereignis genau in Richtung einer Raumkapsel oder des Mars ausgestoßen würde, wäre die Strahlenbelastung so hoch, dass es zu einem akuten Strahlensyndrom kommen könnte.

So oder so: Die Folgen dieser Strahlung für den menschlichen Körper sind höchst unangenehm. Insbesondere die galaktische kosmische