Kurze Texte über historische Persönlichkeiten - Zweig Stefan - E-Book

Kurze Texte über historische Persönlichkeiten E-Book

Zweig Stefan

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Beschreibung

Stefan Zweig (1881-1942) war ein österreichischer Schriftsteller. 1934 flüchtete er vor den Nationalsozialisten über London und New York nach Brasilien. In der Nacht vom 22. zum 23. Februar 1942 nahm sich Stefan Zweig in Petrópolis bei Rio de Janeiro das Leben. Depressive Zustände begleiteten ihn seit Jahren. Seine Frau Lotte folgte Zweig in den Tod. In seinem Abschiedsbrief hatte Zweig geschrieben, er werde "aus freiem Willen und mit klaren Sinnen" aus dem Leben scheiden. Die Zerstörung seiner "geistigen Heimat Europa" hatte ihn für sein Empfinden entwurzelt, seine Kräfte seien "durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft". Stefan Zweig wurde ein Symbol für die Intellektuellen im 20. Jahrhundert auf der Flucht vor der Gewaltherrschaft.

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Kurze Texte über historische Persönlichkeiten

Kurze Texte über historische PersönlichkeitenLegende und Wahrheit der Beatrice CenciIrrfahrt und Ende Piere Donchamps'Erinnerung an Theodor HerzlUnvergeßliches Erlebnis. Ein Tag bei Albert SchweitzerWorte am Sarge Sigmund FreudsJaurèsOtto Weininger. Vorbeigehen an einem unauffälligen MenschenWalther Rathenau

Kurze Texte über historische Persönlichkeiten

Stefan Zweig

Kurze Texte über historische Persönlichkeiten

Legende und Wahrheit der Beatrice Cenci

1926

Geschichte erscheint immer vorerst als rohe Substanz, erst der Dichter ist es oder jener andere anonyme Dichter, den wir Legende nennen, der ihr gestaltend Form verleiht. Durch Dichtung wird das Vergangene zum dauernd Lebendigen erneuert, Erfindung bindet mit kühner Argumentation das zufällige Nebeneinander der Wirklichkeit, und nach einiger Zeit begibt sich das Sonderbare, daß die Legende die Wirklichkeit verschattet und ihr zu Dank Gestalten in unserem Gedächtnis so fortleben, wie sie nie in Wahrheit gelebt haben und wie erst der Dichter sie ins Leben erweckte.

Aber sonderbar: Wenn man einmal oder das andere Mal überprüfend die schon selbstherrlich gewordenen Gestalten wieder mit ihrem historischen Urbild vergleicht, die Legende mit der Geschichte, die Dichtung mit den Dokumenten, so ergibt sich, daß dann oftmals nach Jahrzehnten und Jahrhunderten uns die wahrhafte Gestalt wieder wahrhaftiger erscheint als die übernommene der Dichtung. Die Akten Wallensteins, der Prozeß der Jeanne d'Arc stellen höhere Anforderungen an die mitschaffende Psychologie als die allzu geglätteten und kausal gebundenen Formen der Schillerschen Dramen. Eben durch die Abwesenheit aller Sentimentalität ergreift dann die nackte Naturhaftigkeit der Geschichte mehr als die dramatisch umkleidete Form der Tragödie, und der Stoff, die sachliche Logik der Tatsachen wirkt überzeugender als ihre Durchdichtung. Eines nach dem anderen haben wir jetzt eine Reihe solcher dichterischer verschönter Bilder durch die sichere und sorgliche Arbeit der Geschichtsforscher verblassen sehen. Und wiederum ist jetzt eine Legende am Verblühen, um als Wahrheit aufzuleben: die tragische Geschichte der Beatrice Cenci.

In der Galleria Barberini in Rom hängt ein Frauenbildnis, das zwei Jahrhunderte lang Guido Reni zugeschrieben wurde und unentwegt als Porträt der Beatrice Cenci galt. In Tausenden von Kopien, in Farben und Kupferstichen und Photographien ist es verbreitet, kein Geringerer als schon Stendhal hat es beschrieben. Dieses junge Mädchen stelle, so phantasiert der sonst Unromantische, die Unglückliche dar, in dem sonderbar drapierten Kleide, das sie sich zu ihrer Hinrichtung habe anfertigen lassen, und die »sehr sanften Augen« hätten »den erstaunten Ausdruck, als seien sie in dem Augenblick ihrer heißesten Tränen überrascht worden«. In Wirklichkeit zeigt das Bildnis ein etwa sechzehnjähriges Mädchen, das sich über die Schulter dem Betrachter entgegenwendet, vollkommen ohne Angst und Staunen, ein Unschuldsgesicht, nur Neugier und sanfte Lieblichkeit, kein Zug also, der einer entschlossenen Vatermörderin angehören könnte, die in wenigen Stunden vor dem Antlitz des ganzen römischen Volkes hingerichtet werden soll. Und in der Tat hat das Bild niemals Beatrice Cenci dargestellt, und Guido Reni konnte schon deshalb sie nicht nach dem Leben gemalt haben, weil er – die Historiker sind unbarmherzig gegen die Legende – erst drei Jahre nach ihrer Hinrichtung Rom überhaupt zum erstenmal betreten hatte. Hinfällig also das erschütterte Staunen Stendhals, hinfällig auch die romantische Tragödie Shelleys, der sie als rührendes Opfer väterlicher Bestialität zugrunde gehen läßt – die Wirklichkeit, wie nun die Dokumente sie entblößen, zeigt ein wesentlich anderes Bild. Weniger Unschuld, weniger Reinheit, weniger Romantik und Überschwang – aber dafür unendlich mehr an dramatischer Kraft, an Tumult des Gefühls, an heroischer Verwegenheit. Sie zeigt die Renaissance, wie sie in Wahrheit gewesen: brutal und blutgierig, skrupellos und grausam, den Urkampf entfesselter Naturen, eine Tragödie, groß und eindringlich wie die des Hauses der Atriden. Und statt der kalten Novelle Stendhals, statt des rhetorischen, schönen, nur etwas süßlichen Dramas Shelleys haben wir plötzlich einen Roman, aus Dokumenten – knapp und hart wie Quadern – gestaltet, die tatsächliche Geschichte dieses verruchten und wilden Geschlechts (Corrado Ricci, ›Die Geschichte der Beatrice Cenci‹, Stuttgart, R. Hoffmann 1927).

Die Geschichte der Cenci beginnt hier mit Francesco Cenci. Und nach den ersten paar Strichen seines Bildnisses krampft sich das Gedächtnis zusammen: woher kennt man diesen Menschen, diesen niedern, gemeinen, zynischen, geldgierigen, brutalen Greis, diese Spinne der Wollust, der alle erdenklichen Schändlichkeiten begeht, der seine Kinder knechtet und um ihr Erbe betrügt, der sich einsperrt auf seinem abgelegenen Gute und dort den niedrigsten Ausschweifungen hingibt, diesen bösen Dämon, der dann endlich von seinen eigenen Kindern im geheimen Einverständnis ermordet wird? Das Gedächtnis spannt sich an – und plötzlich weiß man: ja, das ist er, Zug um Zug, Fedor Pawlowitsch Karamasow, fast drei Jahrhunderte nachher von Dostojewski gestaltet. Zug für Zug stimmt das Bildnis, und man erschrickt vor dieser zufälligen Ähnlichkeit. Auch Francesco Cenci ist reich, und reich nur durch schmutzige Ausbeutung. Auch er entkommt nur durch die Disziplinlosigkeit des Gesetzes der Bestrafung für seine Verfehlungen und abwegigen Begierden, aber immer von neuem gerät er in Konflikte mit der Justiz, ohne daß doch die Angst dauernd seines großartigen Zynismus Herr werden könnte. Er wird in das kapitolinische Gefängnis überführt wegen Mordes und Schändung und kauft sich für hunderttausend Scudi frei. Ein andermal flüchtet er nach ähnlichen Verbrechen in das »Hospital der Unheilbaren«, aus dem er dann mühsam, nach neuer Geldbuße, herauskommt, beschmutzt und mit Krätze bedeckt wie ein Bettler – er, einer der reichsten und mächtigsten Edelherren der Zeit. Er hat einen Prozeß, furchtbar ähnlich jenem von Oscar Wilde, weil er sich im eigenen Hause mit Dienern, schmierigen Gassenjungen vergangen hat; wieder entgeht er durch Bestechung und List dem Scheiterhaufen. Genauso wie bei dem alten Karamasow tobt hier zwischen Francesco und seinen Kindern ein erbitterter Kampf um das Erbe, das er ihnen vorenthält, um das Geld, das er einzig zur Lust verwendet, die anderen zu knechten. Genau wie Karamasow zieht sich schließlich gehetzt und erschreckt der grausame Alte auf ein abgelegenes Gut zurück, in die »Petrella«, und genau wie Fedor seinen Sohn Aljoscha aus dem Kloster reißt und mitschleppt in seine verbitterte Einsamkeit, so führt Francesco Cenci seine zweite Frau Lukrezia und seine sechzehnjährige Tochter Beatrice mit sich als Gefangene in das vermauerte, unheimliche Schloß.

Als Gefangene: denn Frau und Tochter dürfen keinen Menschen sehen, dürfen mit niemandem Umgang haben. Die Fensterläden in ihrem Zimmer sind vernagelt, kein Brief kann zu ihnen, keine Botschaft von ihnen in die Außenwelt, und als der Unmensch einmal erfährt, daß Beatrice sich mit der Bitte um Befreiung an den Papst gewandt, überfällt er sie mit dem Ochsenziemer und schlägt die Blutende zu Boden. Er verhindert ihre Heirat, um ihr nicht Geld mitgeben zu müssen, er verhindert ihren Verkehr mit den Brüdern, von denen er mit Recht – das Furchtbarste erwartet. Denn seine Söhne haben sein eigenes Blut geerbt – Mordbuben, Lustjungen, verwegene Kerle ohne Gottesfurcht und Gesetzesangst, brutal, sinnlich vehement und ohne Scheu. Er weiß, daß sie nicht zögern würden, so wie man im Rom von damals sich seiner Feinde mit einem Dolchstoß entledigte, auch ihn zu gelegenster Stunde zu beseitigen. Darum ist der alte Dämon immer auf der Wacht. Er nimmt keinen Bissen Speise, keinen Tropfen Wein, ohne daß Beatrice oder Lukrezia ihn vorgekostet hätten. Er verschließt sein Schlafgemach, um nicht im Schlummer überfallen zu werden – genau wie Fedor Karamasow ist er ständig von düsteren Ahnungen über sein Schicksal erfüllt und bei aller Wildheit voll einer hündischen, feigen Lebensangst.

Die Weltgeschichte kennt wenig so furchtbare Szenerien wie diese drei Zimmer in dem steinernen Schlosse der Petrella, erfüllt von Bosheit, Brutalität, Angst und Entsetzen, und es gibt vielleicht keine Darstellung der Renaissance, die gleich entsetzlich den Riesenkampf unüberwindlicher Instinkte im fürchterlichsten Gegeneinander von Vater und Tochter, Frau und Mann, Kindern und Erzeuger zeigte. Nur der atridische Mythos mit seinem kolossalischen Maß und seinem düster barbarischen Licht hat solche grausige Großartigkeit der ins Gefährliche kühn hinübergereckten Gestalten.

Aber der Legende war dies nicht genug. Sie brauchte etwas Helles im Kontrast zu diesem tragischen Hintergrund, eine rührende Gestalt als Gegenspiel zu dem teuflischen Dämon des alten, geldgierigen Lüstlings, einen erhebenden Impuls für die anhebende Tragödie – so erfand sie sehr frühzeitig die Legende der reinen, keuschen Beatrice Cenci. Sie sei jungfräulich von ihrem eigenen Vater überfallen und entehrt worden, und aus dem Zorn und der Empörung erschütterter Tugend habe sie sich an dem väterlichen Verführer gerächt – so formt die Legende die Vorgeschichte des Mordes. Doch die Dokumente, die sonst keine Sympathie für Francesco zeigen, wissen von dieser äußersten Untat nichts. Sie sprechen von entzogenem Geld, von Erniedrigungen, von Brutalitäten – niemals aber von jenem letzten Verbrechen Francesco Cencis. In ihnen erscheint Beatrice nicht so sehr als die schuldlose Märtyrerin, sondern vielmehr – großartig in einem anderen Sinne – ganz als die Tochter des eigenen Vaters, kühn, zu allem entschlossen, auch die letzte Grenze der Natur überschreitend, leidenschaftlich in den Sinnen und leidenschaftlich in der Rache – eine Frau der Renaissance, mutig und verwegen und besinnungslos kühn in ihrem Entschluß. Ihr Vater hat sie erniedrigt, ihr Vater hat sie geschlagen, ihr Vater nimmt ihr durch Einsperrung das ganze eigene Leben – so muß er sterben, und diesem einen Ziel opfert sie nun alles auf – sogar ihren eigenen Leib.

Allein kann sie diese äußerste Tat nicht tun und auch nicht zu zweit mit der Stiefmutter, die einverstanden ist, nicht einmal zu dritt mit dem eigenen Bruder, der ausdrücklich von ferne den Mord billigt. Denn mit Gift ist dem Vorsichtigen nicht beizukommen. Und mit dem Beil den riesenhaften, selbst im Alter übermächtigen Mann zu töten, fehlt ihnen die körperliche Kraft. So suchen sie nach Genossen – Beatrice sucht um den Preis ihres Leibes einen Mann, der, wie Ägisth gegen Agamemnon, den tödlichen Streich führen soll. Und er ist bald gefunden. Der Knecht und Hauswart Olympio ist ein stattlicher Mann, kräftigen Leibes und mutigen Sinnes, ehrgeizig und eitel: so hat das junge Mädchen nicht viel Mühe, ihn seiner Frau abspenstig zu machen, und sie zahlt den vollen Preis. Auf einer Leiter klettert er Abend für Abend in ihr Zimmer und ihr Bett: dort wird der Plan ausgeheckt, den alten Dämon zu beseitigen, und auch ein Zweiter wird für die Tat gewonnen.

Und wiederum Karamasow: genau wie Fedor nachts auf ein gegebenes Zeichen mit dem Hammer, so wird Francesco von den Verschworenen überfallen, nachdem man ihm zuvor einen Schlaftrunk gegeben. Der eine zerschmettert ihm den Schädel, während der andere den Körper des Riesen niederdrückt. Dann schleppen sie den Leichnam hinaus auf die hölzerne Terrasse, die sie abends zuvor schon durchlöchert haben, um den Anschein zu erwecken, als habe der morsche Balkon zufällig nachgegeben und als sei Francesco Cenci durch einen Zufall in die Tiefe gestürzt. Dort wird am nächsten Morgen der zerschmetterte Leichnam gefunden.

Leidenschaft hat den Plan erdacht, Leidenschaft den Plan ausgeführt – und nicht Besonnenheit. Zu herrisch, zu stolz, um im voraus einem Verdacht zu begegnen, schlafen die beiden Frauen in unsinniger Sorglosigkeit. Unzulänglich verbergen sie die blutigen Tücher, ohne Bedenken lassen sie die halbe Stadt in die Zimmer zur Leiche, die dann noch am selben Abend mit verdächtiger Eile wie ein Tier verscharrt wird. Als rechte Menschen des Cinquecento, als Herrenmenschen und Adelsstolze halten sie es für unnötig, etwas zu verbergen und vorsichtig zu sein: sie verachten das Geschwätz des Pöbels, das Gerede der Mägde, die Frauen der Mittäter (dieses Geschmeiß, das man doch mit einem Dolchstich beseitigt, wenn es wagen sollte, den Mund auf zu tun). So wie innerlich, fühlen sie sich auch äußerlich jenseits von jedem Gesetz, nun da sie den Reichtum, die Macht als Herren in den Händen haben. Triumphierend berichtet Beatrice an den Bruder die gelungene Tat; und ohne das Verdächtige darin zu bedenken, schenkt sie dem Mörder Olympio, ihrem Liebhaber, zum Lohn den Diamantring und ein Kleid des gemordeten Vaters, wie man eben einen Kammerdiener für eine wackere Tat belohnt.