Kuschelglück und Gummistiefel - Petra Schier - E-Book

Kuschelglück und Gummistiefel E-Book

Petra Schier

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Beschreibung

Ein Neuanfang am Meer Diagnose: Burn-out! Der erfolgreiche Anwalt Maik Zengler muss einsehen, dass sein Leben auf der Überholspur in Berlin so nicht weitergehen kann. Außerdem hat er nach dem Tod seiner älteren Schwester das Sorgerecht für seine Nichte Michelle und seinen Neffen Jacob übernommen. Also beschließt er, sich völlig neu zu orientieren und in den kleinen Küstenort Lichterhaven zu ziehen. Doch das neue Leben im Einfamilienhaus, mit Garten und dem quirligen Airedale-Terrier-Mädchen Finchen fällt ihnen allen nicht leicht. Die Kinder vermissen die Stadt und ihre Eltern, und Maik muss feststellen, dass er keine Ahnung hat, wie man mit zwei Kindern zusammenlebt. Deshalb belegt er einen Kochkurs bei der hübschen, lebenslustigen Hannah. Und ohne es zu wollen, stellt sie sein Leben endgültig auf den Kopf ...

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Seitenzahl: 589

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Zum Buch:

»Hannah weigerte sich beharrlich, neidisch auf Ella und Caroline und deren Glück in der Liebe zu sein. Neid war etwas, das in ihrem Leben keinen Platz hatte. Aber allmählich wäre es vom Universum nett, ihr ein Zeichen zu geben, in welche Richtung ihr eigenes Privatleben sich entwickeln sollte. Denn wer außer dem Universum wusste wohl, wie ihr Schicksal aussah?

Sie hatte sich viele Jahre lang die große Liebe gewünscht, sie sich bis ins Detail ausgemalt, sich vorgestellt, dass der Mann fürs Leben ihr sprichwörtlich den Boden unter den Füßen wegziehen würde, damit sie auch ganz sicher wusste, dass er der Richtige war. Doch seit einiger Zeit schon hatte sie damit aufgehört. Wenn das Universum ihre Bestellung bis jetzt nicht aufgenommen hatte, war es wohl auf beiden Ohren taub. Man musste Geduld haben, das war Hannah bewusst.«

Zur Autorin:

Seit Petra Schier 2003 ihr Fernstudium in Geschichte und Literatur abschloss, arbeitet sie als freie Autorin. Neben ihren zauberhaften Liebesromanen mit Hund schreibt sie auch historische Romane. Sie lebt heute mit ihrem Mann und einem Deutschen Schäferhund in einem kleinen Ort in der Eifel.

Lieferbare Titel:

Nur eine Fellnase vom Glück entfernt

Plätzchen gesucht, Liebe gefunden

Kleines Hundeherz sucht großes Glück

Auf tapsigen Pfoten ins Glück

Das Kreuz des Pilgers

Das Geheimnis des Pilgers

© 2023 by HarperCollins in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg Covergestaltung von zero Werbeagentur, München Coverabbildung von mauritius_images_06665031, © mauritius images / nature picture library RF / Mark Taylor, 134822117, @ silvae / shutterstock.com, 714052915, © Dejan Gospodarek / shutterstock.com, 731122303 © Roman Sigaev / shutterstock.com E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749905324

www.harpercollins.de

1. Kapitel

»Wir sind bald da.« Erleichtert setzte Maik den Blinker seines silbernen Ford Kuga und nahm die Autobahnabfahrt. Die Fahrt von Berlin an die Nordseeküste war lang und anstrengend gewesen. Zweimal waren sie in einen zähen Stau geraten, und insgesamt viermal hatten sie eine Pause machen müssen, um etwas zu essen, sich die Beine zu vertreten oder weil mindestens einer der vier Insassen des Wagens zur Toilette gemusst hatte. Deshalb atmete Maik nun tief durch, als er am Ende der Ausfahrt nach links in Richtung ihres Zielortes abbog.

Noch vor einem Jahr hätte er sich nicht träumen lassen, dass er sich einmal auf die Ankunft in dem ruhigen kleinen Touristenstädtchen freuen würde, das sich malerisch an die Küste schmiegte und in dem sich, zumindest gemessen an einer pulsierenden Großstadt wie Berlin, Fuchs und Hase Gute Nacht sagten. Doch heute, um einen Burn-out samt unerfreulicher Nebenwirkungen und mehrere Monate Therapie reicher, rollte die Erleichterung, endlich hier zu sein, wie eine warme Welle über ihn hinweg. Er war nun so weit wie nur möglich von seinem alten Leben entfernt, hatte alle Brücken hinter sich abgebrochen, war bereit für einen Neustart.

Ein Blick in den Rückspiegel ließ die Besorgnis jedoch umgehend wieder die Oberhand gewinnen. Auf der Rückbank saßen seine vierzehnjährige Nichte Michelle und sein achtjähriger Neffe Jakob mit sprichwörtlichen Leichenbittermienen.

»Hier ist ja alles total grün, und nirgendwo sind Häuser.« Ablehnung und Verblüffung hielten sich bei Jakobs Bemerkung die Waage. »Da ist ein Traktor!« Für einen Moment überwogen Überraschung und Interesse. »Und Kühe, total viele! Wohnen wir jetzt auf einem Bauernhof?«

»Nein, selbstverständlich nicht.« Maik versuchte sich an einem heiteren Lächeln. »Aber es gibt hier einige Bauernhöfe in der Umgebung. Wenn du Lust hast, können wir bestimmt mal einen besuchen und uns alles ansehen.«

Jakob antwortete nicht darauf, von seiner Schwester hingegen kam ein lang gezogenes »Pfff«. Sie starrte missmutig vor sich hin. »Kühe! Und bestimmt lauter dämliche Dorftrampel.«

»Michelle.« Es fiel Maik nicht leicht, sein Lächeln beizubehalten und die Ratschläge der Psychologin zu beherzigen, die ihn seit seinem Burn-out betreut und vor einigen Wochen auch Michelle und Jakob unter ihre Fittiche genommen hatte, nachdem die Mutter der beiden an einer – hoffentlich! – versehentlichen Überdosis Tabletten verstorben war. »Ich bin sicher, es gibt hier keine Trampel, sondern jede Menge nette junge Leute. Gib ihnen erst mal eine Chance. Du willst doch auch nicht einfach vorverurteilt werden, oder?«

»Ich bin ja auch kein Dorftrampel. Bestimmt haben die hier nicht mal ein Einkaufszentrum oder ein Starbucks oder … irgendwas.« Sie schnaubte abfällig. »Nur Felder und Kühe …«

»Und Pferde«, warf er ein und deutete nach rechts, um sie auf eine große Pferdeweide hinzuweisen.

»Pferde sind toll«, murmelte Jakob gerade noch hörbar und drückte sich die Nase an der Fensterscheibe platt.

»Mir doch egal.« Trotzig schob Michelle das Kinn vor. »Es regnet«, setzte sie einen Moment später spöttisch hinzu, als ein leichter Schauer über sie hinwegzog. Just im selben Augenblick passierten sie das Ortsschild von Lichterhaven.

Maik seufzte innerlich. Zu ihrer Begrüßung zeigte sich das Wetter nicht gerade von seiner besten Seite. Der Himmel war von hell- bis dunkelgrauen Wolken verhangen, der für die Küste typische Wind ließ die Temperaturen nicht über fünfzehn Grad steigen, und der Regen tat nun sein Übriges, um die Stimmung dem Nullpunkt anzunähern. »Es hört bestimmt gleich wieder auf«, versuchte er, positiv zu bleiben. »Guckt mal, da hinten am Horizont hellt es bereits auf. Man kann sogar ein bisschen blauen Himmel sehen.«

Zur Antwort bekam er von Michelle lediglich ein weiteres lang gezogenes Schnauben, das Jakob nur einen Moment später nachmachte. Der Junge war vermutlich nicht annähernd so angefressen wie Michelle, orientierte sich jedoch momentan in so gut wie allem, was er sagte oder tat, an seiner großen Schwester.

Frau Dr. Busse hatte Maik bereits darauf vorbereitet, dass dieses Verhalten möglicherweise noch eine ganze Weile anhalten würde, ebenso wie Michelles sperrige Art und ihr Widerstand gegen alles und jeden – einfach die ganze Welt. Die beiden hatten erst vor knapp sieben Wochen ihre Mutter verloren. Da weder Michelles noch Jakobs Vater auffindbar oder überhaupt bekannt war, hatten die beiden niemanden gehabt, der ihnen in den ersten Tagen hätte beistehen können. Das Jugendamt hatte sie in ein Heim gebracht, bis man ihn, Maik, ausfindig gemacht hatte.

Marianne Zengler war seine Halbschwester gewesen; die Tochter seines Vaters aus erster Ehe und fünf Jahre älter als Maik. Sie hatten einander so gut wie nicht gekannt. Er konnte sich erinnern, sie als Kind zwei- oder dreimal getroffen zu haben. Danach war der Kontakt weitgehend abgebrochen. Die Ehe seiner Eltern war gescheitert, als er zehn Jahre alt gewesen war. Danach war er mit seiner Mutter von Berlin nach Straßburg gezogen, wo sie nach wie vor lebte, während sein Vater in mittlerweile vierter Ehe in einer Finca auf Mallorca wohnte. Zumindest nahm Maik an, dass dies der aktuelle Stand der Dinge war, denn viel Kontakt hatte er zu seinem alten Herrn nicht.

Erst zum Studium war Maik nach Berlin zurückgekehrt und war dortgeblieben, hatte Karriere gemacht, ein Leben auf der Überholspur geführt und kaum jemals einen Gedanken an seine Halbschwester verschwendet. In seinem Leben hatte sie keine Rolle gespielt. Umso erstaunter war er gewesen, dass sie seinen Werdegang ganz genau gekannt zu haben schien. Kontakt hatte sie nie zu ihm aufgenommen, doch schon um Jakobs Geburt herum hatte sie ein Testament aufgesetzt, in dem eine Sorgerechtsverfügung hinterlegt war. Diese besagte, dass er, Maik Zengler, im Falle ihres Ablebens das Sorgerecht über ihre beiden Kinder erhalten sollte.

Maik war aus allen Wolken gefallen, als er das Schreiben der Nachlassverwalterin sowie ein weiteres vom Jugendamt erhalten hatte. Er hatte mit sich gehadert, mit seiner Mutter Rücksprache gehalten und sogar seinen Vater zu erreichen versucht. Auf dessen Antwort wartete er heute noch. Die Aussicht, ab sofort für zwei Kinder – oder vielmehr ein Kind und eine Jugendliche – verantwortlich zu sein, warf ihn einigermaßen aus der Bahn.

Auch mit seiner Therapeutin hatte er lange darüber geredet und war sich dabei klar geworden, dass er die Kinder seiner Halbschwester auf keinen Fall im Stich lassen wollte. Die beiden hatten sonst niemanden mehr. Zumindest niemanden, der geeignet war, sich um sie zu kümmern. Auch in dieser Hinsicht hatte Marianne sehr genaue und begründete Angaben in ihrem Testament hinterlassen. Weder ihrer Mutter noch ihrem und Maiks Vater hatte sie das Sorgerecht übertragen wollen. Im Falle ihrer Mutter hatte sie sogar explizit ein Verbot vom Notar formulieren lassen. Da die Frau derzeit in einer betreuten Wohngemeinschaft lebte, kam sie aber für das Jugendamt sowieso nicht infrage. In ein Heim oder zu Pflegeeltern wollte Maik seinen Neffen und seine Nichte auf keinen Fall geben, deshalb hatte er Mariannes letzten Wunsch schließlich erfüllt. Dabei hatte er seinen Einfluss und seine Erfahrungen als Anwalt genutzt, um die bürokratischen Hürden so rasch wie möglich zu nehmen.

Seit knapp drei Wochen nun hatte er die volle Verantwortung für Michelle und Jakob. Drei Wochen, in denen sie sich seine ehemalige Eigentumswohnung mehr schlecht als recht geteilt hatten. Zudem hatte er sich reichlich unbeliebt gemacht, indem er nach Rücksprache mit Schule und Jugendamt ihrer aller Leben vollkommen und unwiderruflich auf den Kopf gestellt hatte.

Frau Dr. Busse hatte seine Pläne befürwortet. Ihrer Ansicht nach war ein Tapetenwechsel und Neuanfang genau das, was sie alle brauchten. Allerdings hatte sie Bedingungen gestellt. Die wichtigste war eine weitere therapeutische Betreuung für sie alle drei für mindestens weitere sechs Monate. Sie hatte ihm sogar schon Termine bei einer Psychologin in Lichterhaven verschafft, einer Dr. Nasira Scholz. Das erste Telefonat war nett und heiter gewesen, sodass Maik hoffte, bei ihr in guten Händen zu sein.

Während sie das pittoreske Städtchen durchquerten, stieß Michelle immer wieder leise Würgegeräusche aus, die Jakob natürlich sofort nachmachte, wenngleich nicht ganz so subtil. Maik erinnerte sich, dass er bei seinem letzten Besuch hier vor fast einem Jahr ebenfalls nicht sehr begeistert gewesen war. Dabei hatte er eigentlich nichts gegen die gepflegten Vorgärten der Einfamilienhäuser, in denen späte Azaleen neben bunten Polsterstauden und dichten Hundsrosenbüschen blühten, ebenso wenig wie gegen die aufwendig restaurierte Stadtmauer, die eine wunderschöne mittelalterliche Altstadt umgab. Weder der historische Museumshafen noch der Fischereihafen missfielen ihm. Er war nur einfach ein Großstadtmensch durch und durch und hatte sich in diesem vergleichsweise verschlafenen Nest fehl am Platz gefühlt, wie der sprichwörtliche Fisch auf dem Trockenen.

Ein bisschen kehrte dieses Gefühl nun zurück, als sie hinter einem hoch mit Gras beladenen Erntewagen, gezogen von einem Monster von Traktor, die Stadtmitte durchquerten und den Marktplatz passierten, auf dem neben einem restaurierten Fischkutter aus dem 19. Jahrhundert auch die überlebensgroße Figur von Watti Wattwurm stand, einer lustigen Comicfigur und dem Maskottchen von Lichterhaven. Hoffentlich tat er wirklich das Richtige, indem er sich und die beiden Kids so vollständig entwurzelte und hierher in die Pampa verpflanzte.

Obwohl der Regen sogar noch zunahm und nur wenige Menschen auf den Straßen zu sehen waren, konnte Maik die Bemühungen von Stadt sowie Bewohnerinnen und Bewohnern erkennen, Lichterhaven für die bevorstehende Sommersaison herauszuputzen. Jetzt, Anfang Juni, waren vermutlich noch nicht allzu viele Touristen hier unterwegs, doch in nur einigen Wochen würde sich dieser Zustand drastisch ändern. In Blumenkästen vor Fenstern, in Ampeln und Rabatten zeigten sich die bunten Blüten verschiedener Blumen, deren Namen Maik nicht kannte. Von allem, was grünte und blühte, hatte er nicht allzu viel Ahnung; er konnte gerade so Rosen von Tulpen unterscheiden.

Einen Garten oder auch nur Balkon hatte er nie besessen und war als Junge der mit Blühpflanzen übersäten Terrasse seiner Mutter meist ferngeblieben. Er hatte schlicht andere Interessen gehegt, doch angesichts des fast zweitausend Quadratmeter großen Grundstücks, auf dem sich sein neues Heim befand, würde er wohl sehr bald einiges Neues dazulernen müssen.

»Hab ich’s nicht gesagt?«, maulte Michelle. »Hier gibt es gar nix. Kein McDonald’s, kein Starbucks, keine guten Geschäfte … null! Bloß so Klitschen, in denen kitschige Postkarten und so Zeug verkauft werden. Und Leute gibt’s hier auch nicht, und überhaupt! Ein öderes und langweiligeres Kaff hast du wohl nicht finden können, was?«

»Im Gewerbegebiet gibt es ein Einkaufszentrum, einen McDonald’s, einen Burger King und ein Kentucky Fried Chicken«, korrigierte Maik. Von der Autobahnabfahrt aus konnte man die Schilder in der Ferne sehen.

»Hmpf«, kam es nur von Michelle.

»Ich will wieder nach Hause.« Jakobs Stimme klang weinerlich. »Hier gibt es bestimmt nicht mal andere Kinder.«

Maik schmunzelte wider Willen. »Doch, ganz bestimmt gibt es hier andere Kinder. Wir kommen sogar gerade an deiner neuen Schule vorbei. Siehst du, dort drüben.« Er bremste den Wagen etwas ab und deutete nach rechts auf ein großes, reetgedecktes Gebäude, das laut seinen Informationen im frühen 18. Jahrhundert erbaut und seither mit mehreren Anbauten versehen worden war.

»Das soll eine Schule sein?« Jakob starrte das Haus zweifelnd an. »Meine Schule zu Hause sieht ganz anders aus.«

»Das ist ja auch ein moderner Neubau«, erwiderte Michelle und rümpfte die Nase. »Das hier ist die Dorftrampel-Schule und daneben der Baby-Dorftrampel-Kindergarten. Siehst du? Steht sogar dran.« Sie deutete auf ein großes Hinweisschild. »Neue Stadtgrundschule St. Barbara und KiTa Wattenzauber. Wie albern!« Wieder schnaubte sie spöttisch. »Und wenn das die neue Schule ist, will ich nicht wissen, wie die alte aussieht. Die muss dann ja aus dem Mittelalter sein oder so.«

Maik räusperte sich lediglich. Er hatte die sogenannte Alte Volksschule Lichterhaven, die heute das Gemeindehaus beherbergte, im vergangenen Jahr kennengelernt und ganz ähnlich empfunden. Dies hatte vor allem an seiner schlechten seelischen Verfassung gelegen, doch ein bisschen konnte er auch jetzt noch Michelles Gefühle nachvollziehen. Von Berlin nach Lichterhaven zu kommen, glich einem Kulturschock auf mehr als nur eine Weise.

»Die Schulen in Lichterhaven, auch die Gesamtschule, auf die du gehen wirst, Michelle, haben einen sehr guten Ruf. Frau Morawek, die Rektorin, hat mich sogar darauf hingewiesen, dass die achte oder vielmehr ab dem Sommer neunte Klasse hier deiner früheren in Berlin im Stoff voraus sein wird. Sie hat versprochen, uns Material und Aufgaben zukommen zu lassen, damit du dich während der Sommerferien auf den Wechsel vorbereiten kannst.«

»Pfff, ja klar, lernen in den Ferien, so sehe ich aus.« Michelle verschränkte die Arme.

»Ja, ganz genau so siehst du aus.« Maik versuchte, über den Rückspiegel ihren Blick aufzufangen, doch sie starrte stur auf ihre Beine. »Die Sondergenehmigung, die ich für euch erwirken konnte, sieht ebenfalls vor, dass ihr, obwohl ihr eure Zeugnisse schon einen Monat früher bekommen habt, verpflichtet seid, euch auf das neue Schuljahr vorzubereiten, auch wenn ihr bis zum Beginn der Sommerferien nicht am Unterricht hier in Lichterhaven teilnehmen müsst.«

»Jaja, bla, bla.« Michelle stellte sprichwörtlich die Stacheln auf. »Und zu der ätzenden Psycho-Tussi müssen wir auch. Ich könnte kotzen. Eine Dorftrampel-Psycho-Tussi! Wie soll die uns denn bitteschön helfen? Die kennt uns nicht mal und hat ihren Doktor wahrscheinlich an der Dorftrampel-Uni gemacht. Die weiß doch rein gar nichts über uns.«

»Trotzdem werdet ihr zu ihr gehen, genau wie ich.« Maik setzte ein letztes Mal den Blinker und bog nach rechts in den Kranichweg ab. »Seht mal, hier wohnt mein Freund Henning Magnusson.« Als sie die dreistöckige, frisch renovierte Sandsteinvilla aus der Gründerzeit passierten, fuhr Maik rechts ran. »Toller Anblick, was?«

»Voll protzig«, murmelte Michelle, doch Maik glaubte, einen bewundernden Unterton herauszuhören.

»Henning Magnusson, der Formel-1-Fahrer?« Jakobs Interesse war eindeutig geweckt. »Bist du echt mit dem befreundet?«

»Ja, das habe ich doch schon erzählt.«

»Ich dachte, das wäre nur erfunden.«

Maik warf Jakob einen kurzen Blick über die Schulter zu. »Warum sollte ich so etwas erfinden?«

Der Junge zuckte mit den Achseln. »Weiß nicht. Einfach so. Erwachsene lügen manchmal.«

»Also ich lüge euch nicht an. Niemals. Ihr werdet Henning sicher schon ganz bald kennenlernen.«

»Jetzt gleich?« Jakob richtete sich auf. »Gehen wir da rein?«

»Nein, nicht jetzt.« Maik lächelte ihm zu. »Um diese Zeit ist Henning noch in seiner Autowerkstatt im Gewerbegebiet. Auch davon habe ich dir oder vielmehr euch schon erzählt.«

Jakob ließ sich enttäuscht wieder in den Sitz zurücksinken. »Kann sein.«

»Oder er ist drüben beim neuen Eventhaus am Hafen. Dort richtet seine Freundin Caroline mit ihren beiden Geschäftspartnerinnen gerade alles für die Eröffnung her.«

»Ein Eventhaus für Dorftrampel-Veranstaltungen?« Michelle grinste abfällig. »Was sollen die hier schon großartig feiern?«

Allmählich stieg Ärger in Maik auf, doch er ließ ihn sich nicht anmerken. »Ich schlage vor, du steigst jetzt mal von deinem hohen Ross ab, Gnädigste. Ich weiß, dass es dir nicht gefällt, aber Lichterhaven ist jetzt dein neues Zuhause. Gib ihm eine Chance, bevor du dich überall unbeliebt machst.«

»Berlin ist mein Zuhause«, schnauzte Michelle zurück. »Nicht dieses blöde Kaff am Arsch der Welt. Du kannst mich vielleicht zwingen, hier zu wohnen, weil Mama dich zu unserem Vormund gemacht hat, aber sobald ich achtzehn bin, mache ich die Fliege, dass das klar ist.«

»Ich auch«, pflichtete Jakob ihr bei, wurde dann aber sehr kleinlaut. »Du wirst aber schon in vier Jahren achtzehn und ich erst in zehn. Dann bist du vor mir weg und ich ganz allein.«

»In dreieinviertel Jahren werde ich achtzehn«, korrigierte Michelle ihn hochfahrend. »Na und? Bedank dich bei Onkel Maik dafür, dass du dann hier versauerst.« Die Worte klangen ruppig, doch das schlechte Gewissen war Michelle anzusehen. Jakob hing an seiner großen Schwester und verehrte sie, und das wusste sie ganz genau. »Hier kann man jedenfalls nicht länger bleiben als unbedingt nötig«, setzte sie schließlich etwas lahm hinzu. »Sonst geht man ja total ein oder mutiert selbst zum Dorftrampel.«

»Da sei Gott vor«, spöttelte Maik und ließ den Wagen erneut anfahren. Nach etwa zweihundert Metern erreichten sie schließlich ihr Ziel und neues Zuhause: ein vollständig renoviertes und modernisiertes, aus roten Backsteinen gemauertes zweistöckiges Reetdachhaus, erbaut im 19. Jahrhundert, mit weißen Fensterrahmen. Etwas seitlich stand eine im Stil des Hauses erbaute Doppelgarage. Vor dem Haus gab es einen Grünstreifen sowie links und rechts von Auffahrt und Zuweg üppige Staudenbeete und Wildrosenbüsche. Hinter dem Haus, das wusste Maik von den vielen Fotos, die Henning und die Maklerin ihm geschickt hatten, befand sich ein riesiges, eingezäuntes und von weiteren Wildrosenbüschen umgebenes Grundstück, das sich in einen ehemaligen, jetzt brachliegenden Nutzgarten und eine vom Maklerbüro vollmundig als Ruhezone bezeichnete Rasen- und Blühfläche aufteilte, auf der erst vor wenigen Jahren ein Schwimmteich angelegt worden war. Auch eine Terrasse mit Natursteinfliesen gab es, die in einen ganz frisch angebauten Wintergarten überging. Dieser hatte wohl den Wert der Immobilie noch einmal steigern sollen. Die rund hundertachtzig Quadratmeter Wohnfläche waren voll unterkellert und bereits größtenteils möbliert, denn Maik hatte sich die Einrichtung über verschiedene Online-Versandhäuser zusammengestellt, liefern und aufbauen lassen, während er sich in Berlin um das Chaos kümmerte, das der Tod seiner Halbschwester angerichtet hatte.

Henning hatte Maik den Tipp gegeben, sich dieses Haus unter den Nagel zu reißen. Eigentlich hatte er etwas Kleineres im Sinn gehabt, aber jetzt, mit den zwei Kids, erschien es ihm durchaus angebracht. Die Besitzerin war bankrott und musste möglichst schnell verkaufen, und nach kurzen Verhandlungen hatte Maik zugeschlagen. Das Geld, das ihm der Verkauf seiner Eigentumswohnung in Berlin eingebracht hatte, reichte mehr als aus, um dieses Haus am gefühlten Ende der Welt zu bezahlen und sogar noch etwas zur Seite legen zu können. Dafür tauschte er die Annehmlichkeiten und Kultur der Großstadt gegen Kleinstadtidylle, viel Natur und eine steife Brise, die über den nur etwa hundertfünfzig Meter entfernten Deich herüberwehte. Ein Kulturschock, ganz sicher. Ob es auch die richtige Entscheidung gewesen war, würde sich erst mit der Zeit herausstellen.

»Da sind wir.« Er lenkte den Kuga die Auffahrt hinauf bis vor das breite Garagentor auf der linken Seite und stellte den Motor ab. »Die Möbelpacker waren heute Vormittag schon hier und haben alles ins Haus gebracht und auf die Zimmer verteilt. Wir können also gleich mit dem Auspacken anfangen. Aber zuerst holt ihr Finchen aus ihrer Box, und Michelle geht ein paar Schritte mit ihr.«

Was? Wie? Wo? Sind wir etwa endlich angekommen? Und habe ich da meinen Namen gehört? Das wird aber auch echt Zeit! Ich dachte schon, ihr habt mich hier hinten ganz vergessen. Also los, worauf wartet ihr denn noch? Ich bin ein ungeduldiger Airedale Terrier – holt mich hier raus!

Als sie alle gleichzeitig aus dem Auto ausstiegen, begann die junge Terrierhündin in ihrer Box im Kofferraum wie wild zu bellen.

»Finchen muss bestimmt mal.« Jakob stürmte zur Heckklappe und sprang ungeduldig auf und ab, bis Maik die Fernbedienung gedrückt und sich der Kofferraum geöffnet hatte. Der strubbelige dunkelbraune Haarschopf des Jungen wippte dabei, und er musste seine dunkelrot gerahmte Brille zweimal hochschieben. Maik notierte sich im Geiste, dass er mit Jakob bald zum Optiker gehen musste, um die Brille neu anpassen zu lassen. Ganz offensichtlich saß sie dem Jungen zu locker auf der Nase.

»Hey, Finchen, musst du mal?« Jakob streckte die Hand durch das Gitter der Transportbox und streichelte die Hündin zärtlich. »Diesmal hat sie nicht gekotzt.«

Wau, ja, jetzt, wo du es sagst. Ich würde mich schon ganz gerne mal wieder erleichtern und vor allem endlich aus diesem schrecklich engen Ding raus. Zum Glück ist mir nicht wieder schlecht geworden. So etwas ist enorm unangenehm.

»Moment, ich öffne die Tür.« Maik machte sich an dem Schloss zu schaffen. »Michelle, nimm mal bitte die Leine.« Als keine Reaktion kam, sah er sich suchend um. »Michelle?«

Das Mädchen hatte sich ein paar Schritte vom Haus entfernt und stand nun mit hochgezogenen Schultern mitten auf der Straße, die Hände tief in den Taschen ihrer hautengen Jeans vergraben. Sie blickte starr zu der Wiese auf der anderen Straßenseite, auf der ein Traktor mit Mähwerk fuhr und das gut wadenhohe Gras mähte. Der Regen hatte endlich aufgehört, und der Streifen Blau am Himmel war näher gerückt und wurde immer größer. Der Wind war allerdings so nah am Deich recht frisch, die typische steife Brise eben, und zerrte an Michelles dichtem schulterlangen dunkelbraunen Haar.

»Michelle, ich rede mit dir!« Maik hatte Finchen mittlerweile auch ohne die Hilfe des Mädchens aus der Box geholt und trat nun neben sie. »Das ist ein anderer Anblick als das, was wir gewohnt sind, nicht wahr?« Er drückte ihr die Leine in die Hand. »Geh bitte ein paar Schritte mit Finchen. Aber nicht zu weit. Nur ein paar Minuten die Straße rauf und wieder runter. Wir haben viel zu tun.«

»Hm.« Michelle zuckte mit den Achseln. »Okay. Komm, Finchen.«

Au ja! Los geht’s. Finchen sprang freudig wie ein Gummibällchen um Michelle herum und brachte sie damit tatsächlich zum Lächeln.

Maik tat, als bemerkte er es nicht, sondern legte Jakob, der neben ihm aufgetaucht war, eine Hand auf die Schulter.

»Ich will auch mit Finchen spazieren gehen.« Der Junge blickte seiner Schwester sehnsüchtig nach.

»Jetzt nicht.« Maik wollte die Gelegenheit nutzen, allein mit Jakob zu sprechen, weil er hoffte, doch noch dessen Vertrauen zu gewinnen. Sobald Michelle in der Nähe war, versuchte der Junge, sie in allem nachzuahmen, auch in ihrer generellen Ablehnung all dessen, was mit Lichterhaven zu tun hatte. »Sie ist doch in ein paar Minuten schon wieder zurück.« Zumindest hoffte er das. »Ich möchte, dass du mit mir zusammen das Haus und das Grundstück inspizierst.«

»Inspi… hä?« Fragend blickte Jakob zu ihm auf.

Spontan nahm Maik ihn an der Hand und ging auf das Haus zu. »Wir sehen uns alles an, und du sagst mir, wie es dir gefällt.« Vor der Haustür musste er zunächst den Schlüssel aus seiner Hosentasche kramen, dann schloss er auf und ließ dem Achtjährigen den Vortritt.

Jakob ging ein paar Schritte in den großzügigen Eingangsbereich, von dem aus eine helle Steintreppe ins obere Geschoss führte, blieb stehen, sah sich mit großen Augen um, dann rannte er weiter in die offene Küche rechter Hand, die in einen mehr als großzügigen Wohnbereich überging. Dort blieb er erneut stehen. »Boah«, war das Einzige, was er sagte.

Maik war geneigt, ihm zuzustimmen. Er hätte nicht für möglich gehalten, dass die Realität die Fotos, die er gesehen hatte, übertreffen würde. Seine Wohnung in Berlin war mit einhundertdrei Quadratmetern alles andere als klein gewesen, aber das hier war etwas ganz anderes. Die großen Fenster zur Gartenseite hin und der offene Wintergarten ließen trotz des eher tristen Wetters viel Licht herein, die cremefarbenen Ledersitzmöbel sowie die Schränke und Regale aus heller Eiche ließen den Raum freundlich und einladend wirken. Sein riesiger Flachbildfernseher stand noch verpackt an der Wand, die für ihn vorgesehen war, daneben stapelten sich die Umzugskartons.

Die Küche war eine Mischung aus antik wirkenden weißen und hellgrauen Oberflächen im Landhausstil und allem erdenklichen modernen Komfort samt passendem Küchentisch mit Eckbank. Maik hatte die Einrichtung von der Vorbesitzerin übernommen, die die Küche, ebenso wie den Wintergarten, erst kürzlich im Zuge der Renovierungsarbeiten an dem rund hundertfünfzig Jahre alten Gebäude hatte einbauen lassen. Es war nicht ganz Maiks Geschmack, passte aber perfekt zum Charme des alten Hauses. Alles harmonierte hervorragend mit dem dunklen Gebälk, das sich von den weiß gestrichenen Wänden abhob. Die hellgrauen Steinfliesen wirkten gleichermaßen alt wie edel, waren aber, wie man ihm beim Kauf erklärt hatte, ebenfalls erst bei der Renovierung verlegt worden und hatten einen alten Dielenboden ersetzt. Nun befand sich eine moderne Fußbodenheizung darunter, die von einer Erdwärmepumpe gespeist wurde.

Ein Gefühl der Zufriedenheit stieg in Maik auf. Er hatte sich mit dem Kauf dieses Hauses und der Einrichtung aus der Ferne auf ein riskantes und sehr spontanes Abenteuer eingelassen. Ursprünglich hatte ihm irgendetwas Kleines, Unauffälliges vorgeschwebt, das sich im Zweifelsfall schnell wieder abstoßen ließ, falls ihm Lichterhaven nicht zusagte. Doch dies hier war nicht klein, nicht unauffällig oder nur eine mögliche Zwischenstation auf einem unvorhersehbaren Weg. Dies war ein Zuhause. Ein Ort, um Wurzeln zu schlagen. Nichts, was man mal eben rasch wieder loswerden konnte – oder wollte.

»Das Wohnzimmer ist doppelt so groß wie unsere Wohnung in Berlin!« Nun hatte Jakob seine Stimme doch wiedergefunden. »Ich war noch nie in einem so großen Haus. Also außer in der Schule, die ist noch viel größer, aber da wohnt ja niemand.« Der Junge drehte sich zu Maik um. »Hier wohnen wir jetzt? Nur ich und Michelle und du und Finchen?«

»So ist es«, bestätigte Maik und freute sich insgeheim, dass Jakob allmählich aufzutauen schien. Als der Junge jedoch unvermittelt zu weinen anfing, erschrak er. »Jakob? Was ist mit dir?«

»Ich will hier nicht ohne Mama wohnen. Ich will nach Hause und dass sie wieder da ist und mit uns hier wohnt.«

»Jakob …« Maik wusste darauf keine Antwort. Unsicher, wie er sich verhalten sollte, trat er auf seinen Neffen zu und wollte ihn am Arm berühren.

»Lass mich!« Jakob riss sich los und stürmte aus dem Zimmer zurück in den Eingangsbereich. Dort fand Maik ihn immer noch weinend auf der drittuntersten Treppenstufe sitzend.

Vorsichtig, ohne ihn zu berühren, setzte Maik sich neben den Jungen. »Hey, Kumpel.«

»Ich will meine Mama.« Jakob schniefte. »Ich will nach Hause. Oder dass sie kommt und hier mit uns wohnt.«

Die Worte des Jungen schnitten Maik ins Herz, und immer noch wusste er partout nicht, was er sagen oder tun sollte. »Es tut mir so leid, Jakob, aber das geht nicht. Deine Mutter …«

»Ich weiß, sie ist jetzt im Himmel.« Fahrig wischte sich Jakob mit den Zeigefingern hinter den Brillengläsern über die Augen. »Sie hat ausgesehen, als ob sie schläft, aber ihr Mund stand ganz weit auf.«

Maik zuckte zusammen. Michelle und Jakob hatten ihre tote Mutter aufgefunden, als sie von der Schule nach Hause gekommen waren. Dies war einer der Gründe, weshalb sie nun beide in psychologischer Behandlung waren. Maik versuchte meist, sich diese scheußliche Situation nicht vorzustellen, wusste aber, dass er mit Jakob und Michelle darüber reden musste, wie über so vieles andere.

Seit einem Jahr kam es ihm so vor, als ob er kaum mehr etwas anderes tat, als zu reden, hauptsächlich natürlich mit Frau Dr. Busse. Und nun musste er auch noch irgendwie mit dem Leid und den schrecklichen Erinnerungen der Kinder klarkommen.

»Deiner Mama hätte es hier ganz bestimmt gut gefallen«, versuchte er, das Thema von den schlimmen Bildern fortzulenken.

»Ja.« Wieder schniefte Jakob und zog dann geräuschvoll die Nase hoch. Sogleich suchte Maik in seinen Taschen nach einem Taschentuch, fand aber keins. »Mama hat gesagt, irgendwann machen wir mal Urlaub an der See. Ganz toll und nobel in einem Viersternehotel, wo sie uns nach Strich und Faden bedienen. Aber wir hatten nie genug Geld dafür, weil Mama nicht arbeiten konnte, und vom Hartz IV kann man nicht in Urlaub fahren.«

»Ich weiß.« Und dieses Wissen schmerzte ihn. Er hatte sich nie um Marianne gekümmert und nicht gewusst, wie schwer sie es gehabt hatte. Sie hatte noch studiert, als sie mit Michelle schwanger geworden war, und ihr Studium abgebrochen, um für sich und das Baby Geld zu verdienen. Ohne abgeschlossene Ausbildung hatte sie anfangs nur Gelegenheitsjobs annehmen können, danach mehrere Jahre für eine Reinigungsfirma im Schichtdienst gearbeitet und später in einem Altenheim als ungelernte Pflegekraft. Kurz nach Jakobs Geburt war bei ihr Multiple Sklerose diagnostiziert worden, und schon zwei Jahre später hatte sie nicht mehr arbeiten können. Seither hatte sie mit den Kindern am Existenzminimum in einer winzigen Sozialwohnung gelebt.

Das alles hatte Maik erst nach ihrem Tod erfahren. Obgleich sie in derselben Stadt – natürlich in gänzlich anderen Vierteln – gelebt hatten, waren sie nie miteinander in Kontakt getreten.

Marianne hatte jedoch offenbar genau gewusst, wie und wo Maik gelebt hatte. Das war ganz sicher der Grund gewesen, weshalb sie ausgerechnet ihm das Sorgerecht übertragen hatte. Sie hatte gehofft, dass er im Fall der Fälle ihren Kindern ein besseres Leben würde bieten können. Warum sie ihm aber niemals etwas von ihrem Testament erzählt hatte, wusste er nicht. Vermutlich hatte sie Angst gehabt, dass er ablehnen und sie zurückweisen könnte. Einer Toten verwehrte man den letzten Wunsch nicht so schnell wie einer Lebenden. Oder sie hatte es noch tun wollen, jedoch nicht mit ihrem so frühzeitigen Tod gerechnet.

Sachte berührte er nun doch Jakobs Schulter. »Möchtest du dir die Zimmer oben ansehen?«

Jakob zuckte mit den Achseln, nickte dann aber zustimmend. »Ich muss aber erst mal.«

»Hier neben der Treppe ist das Gästebad.« Maik deutete auf eine weiße Tür. »Ich warte solange.«

»Mhm.« Schwerfällig erhob der Achtjährige sich und schlurfte ins Gästebadezimmer. Es dauerte eine Weile, bis Maik die Spülung hörte und gleich darauf den Wasserhahn. Als Jakob zurückkehrte, lag eine Mischung von Irritation und Verblüffung auf seiner Miene. »Das Bad ist riesig und hat sogar eine Dusche. Wir hatten nie Gäste, die bei uns duschen wollten.«

Maik schmunzelte, erleichtert, dass die düstere Wolke vorübergezogen zu sein schien. »Na, vielleicht haben wir ja bald mal welche. Oder wir duschen Finchen darin, wenn sie sich schmutzig gemacht hat.«

Um Jakobs Mundwinkel zuckte es, dann kicherte er los. »Und wenn Finchen nicht geduscht werden will?«

»Dann müssen wir uns wohl etwas einfallen lassen. Mit Schmutzpfoten und Schlamm oder Schlick im Fell kommt sie mir nicht ins Haus.«

»Oder auf die Couch.« Jakob kicherte noch mehr. »Die wird dann ganz dreckig.«

»Also müssen wir mit Finchen duschen üben.« Maik grinste. »Das könntest du übernehmen.«

»Duschen ist aber doof.«

»Mhm.« Maik hatte bereits festgestellt, dass der Junge es nicht so mit der Körperpflege hatte. So wie er selbst, als er noch ein Kind gewesen war. »Dann übt ihr beide zusammen.«

Jakob schob die Unterlippe über die Oberlippe. »Echt jetzt?«

»Und wie! Dreckspatzen haben hier im Haus nichts zu suchen, und dabei ist es egal, ob sie zwei oder vier Füße haben.«

Nun runzelte Jakob die Stirn. Offenbar überlegte er, ob er damit einverstanden sein wollte. »Können wir jetzt oben die Zimmer angucken?«

»Na klar.« Maik zwinkerte ihm zu und erhob sich, um ihm den Vortritt zu lassen. »Nach dir, junger Mann.«

2. Kapitel

Als Michelle den Deich erreichte, blieb sie für einen Augenblick unschlüssig stehen. Etwa alle hundert Meter führte eine Steintreppe hinauf zur Deichkuppe, so auch hier. Oben befand sich anscheinend ein Weg, denn sie konnte in der Ferne Menschen sehen, die spazieren gingen, und gerade fuhren zwei Frauen auf Fahrrädern vorbei. Auf den Gepäckträgern hatten sie Körbe befestigt, in denen sich leere Eierkartons stapelten.

Sie hatte es geahnt! Die Leute hier waren merkwürdig. Weshalb fuhren sie wohl Eierkartons durch die Gegend? Eier kaufte man im Geschäft, und die leeren Kartons kamen in den Müll. Außer natürlich, Jakobs Grundschullehrerin bat die Schüler, solche Kartons für den Kunstunterricht zu sammeln.

»Komm, Finchen, gucken wir mal, wie es da oben aussieht.« Sie zupfte an der Leine, um die Aufmerksamkeit der Hündin zu erlangen.

Was meinst du? Finchen hörte auf, am Wegesrand zu schnüffeln. Ach, gehen wir weiter? Wohin denn? Da rauf? Das ist aber eine lange Treppe. So eine habe ich noch nie gesehen. Als Michelle sich in Bewegung setzte, hüpfte Finchen fröhlich neben ihr her.

Oben angekommen, fuhr Michelle der Wind scharf ins Gesicht. Sie musste ein paarmal blinzeln, um sich daran zu gewöhnen, doch dann stand sie für eine ganze Weile einfach nur still da und nahm den Anblick in sich auf.

Vor ihr lagen grüne Wiesen, die teilweise abgezäunt und von Schafen bevölkert waren. Unten am Ufer führte ein asphaltierter Weg entlang, so weit das Auge in beide Richtungen reichte. Links waren noch mehr Schafweiden zu sehen, rechts in einiger Entfernung Liegewiesen, Strand und anscheinend der Hafen. Zumindest sah sie Segelboote und Fischkutter, die ein- und ausfuhren. Noch weiter entfernt entdeckte sie einen Leuchtturm.

Das Ufer war mit einer niedrigen Steinmauer befestigt, von der aus ebenfalls alle hundert Meter Stufen ins Wasser hinabführten oder, wenn Ebbe war, ins Watt. An jeder Treppe befanden sich eine Dusche sowie eine Handbrause und ein Wasserhahn. Als ob jemand so verrückt wäre, in die eiskalte Nordsee zu steigen und zu baden!

Michelle schüttelte sich und rieb sich über die Oberarme. Sie trug keine Jacke, was im Auto und beim Haus noch voll okay gewesen war. Doch hier oben pfiff der Wind ganz schön heftig und kalt. Dennoch blieb sie stehen und gaffte regelrecht das Wasser an, das in ruhigen, gleichmäßigen Wellen gegen die Uferbefestigung rollte. Es war nicht blau, wie sie gedacht hatte, sondern tiefgrau, fast genauso wie der Himmel, an dem inzwischen jedoch immer größere blaue Stellen sichtbar wurden. Bloß die Sonne war nicht zu sehen, noch nicht.

Michelle war noch nie am Meer gewesen. Um genau zu sein, war sie noch nie irgendwo gewesen, außer einmal in der Grundschule auf Klassenfahrt in Beelitz, doch daran konnte sie sich kaum noch erinnern, und letztes Jahr, ebenfalls mit der Klasse, in Leipzig, aber auch nur, weil Mama ganz lange dafür gespart hatte. Michelle hatte sich sogar einen Job suchen wollen, doch mit der Ganztagsschule war das nicht vereinbar gewesen, und Mama hatte gesagt, dass das Wochenende ihnen gehörte. Somit starrte Michelle nun die Nordsee an und kam sich vor wie auf einem fremden Stern. Irgendwo in der Nähe knatterte etwas, und es dauerte eine Weile, bis sie erkannte, dass es eine Wetterfahne war. So eine hatte sie mal im Fernsehen gesehen.

Über ihr kreisten Möwen, kreischten reichlich laut und sausten ab und zu so dicht über sie hinweg, dass sie automatisch jedes Mal den Kopf einzog. »Blöde Viecher«, murmelte sie, unsicher, ob die Vögel gefährlich werden könnten.

Mama hatte immer von einem Urlaub an der Küste geträumt. Als Kind war sie zweimal in Kur in St. Peter-Ording gewesen, und seither hatte sie immer wieder zurückgewollt. Aber das war natürlich nicht gegangen, weil das Geld gefehlt hatte. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie eine Mutter-Kind-Kur beantragt, aber das hatte auch nicht geklappt, weil die Bewilligung so lange gedauert hatte. Mama war gestorben, bevor die Krankenkasse eine Entscheidung gefällt hatte.

Und nun war sie, Michelle, hier am Meer, und Mama war tot. Den Stich, der sie durchzuckte, versuchte sie zu ignorieren, die Bilder zu verdrängen. Sie wollte nicht hier sein. Klar, ein Urlaub mit Mama wäre okay gewesen, so zwei Wochen oder so. Aber jetzt sollte sie mit Jakob und Onkel Maik für immer hierbleiben! Das ging gar nicht. Nie im Leben würde sie das aushalten. Onkel Maik … Nein, so hatte sie ihn noch nie genannt und würde es auch nicht tun. Für Jakob war das vielleicht noch in Ordnung, aber sie war dazu eindeutig zu erwachsen. Außerdem empfand sie ihn irgendwie nicht als Onkel, auch wenn er der Halbbruder ihrer Mutter war. Für sie war und blieb er einfach nur Maik. Er war zwar ganz okay, wahrscheinlich eine Million Mal besser als ein Heim oder irgendwelche Pflegeeltern, aber sie kannten ihn kaum. Bis zu Mamas Tod hatten sie nur gewusst, dass sie einen ziemlich wohlhabenden Onkel hatten, aber nicht mal, dass er auch in Berlin wohnte.

Jetzt sollte er so etwas wie ihr Vater sein. Oder Vormund, wie das genannt wurde. Einfach so, von jetzt auf gleich, war ihr Leben und das von Jakob total verändert und würde nie wieder so werden, wie es gewesen war.

Wenn sie wenigstens in Berlin geblieben wären! Da hatten sie ihre Freunde und fühlten sich wohl. Aber Maik hatte sie ja in dieses blöde Nordseekaff verfrachtet, das buchstäblich am Rand der Welt lag. Sie gehörte hier nicht hin. Nie und nimmer würde sie sich hier einleben und zu Hause fühlen. Was sie vorhin gesagt hatte, war ihr Ernst gewesen. An ihrem achtzehnten Geburtstag war sie weg. Auch wenn Jakob das nicht gut fand und sie eigentlich auf ihn aufpassen und für ihn da sein müsste. Aber nicht hier in Lichterhaven. Nein, niemals nie nicht!

Was ist denn nun? Gehen wir weiter spazieren? Mir ist langweilig! Finchen tänzelte um Michelle herum und stieß sie immer wieder mit der Nase an. Komm schon, lass uns was Lustiges anstellen!

»Nicht, Finchen, ich hab keine Lust, zu spielen.« In dem Versuch, die quirlige junge Hündin zu beruhigen, streichelte Michelle ihr über Kopf und Rücken. »Wir müssen zurück, sonst flippt Maik noch aus und denkt, ich wäre abgehauen. Aber so blöd bin ich nicht. Wo soll ich denn auch hin? Nach Berlin zurück geht nicht, weil ich kein Geld habe. Außerdem würden die mich dort eh finden und wieder hierherbringen.« Sie seufzte. »Komm, ich muss helfen, das blöde neue Haus einzurichten.«

Ich weiß zwar nicht, warum du so genervt und traurig bist, aber na gut, von mir aus können wir auch wieder zurückgehen. Aber bitte nicht wieder in das Auto. Mir reicht’s für heute mit dem Reisen! Bereitwillig folgte Finchen Michelle den Weg zurück, den sie gekommen waren.

Tief in ihre trübseligen Gedanken versunken, schlenderte Michelle die Deichstufen hinab und den Weg zu ihrem neuen Zuhause zurück. Sie nahm zwar das Brummen eines Traktors in der Nähe wahr, bemerkte aber erst, als er hupte, dass er dicht hinter ihr fuhr. Vor Schreck fuhr sie um ihre eigene Achse und hätte fast aufgeschrien, als sie das Ungetüm so nah vor sich sah. Allein die Reifen waren höher als sie! Und hintendran zog er ein wunderlich aussehendes Ding mit zwei Armen und langen Zinken. Instinktiv blieb sie wie angewurzelt stehen und starrte nur. Finchen bellte erschrocken.

Was ist das? Huch, ein Ungeheuer. Michelle, tu doch was! Hallo? Na gut, dann verbelle ich das Ding so lange, bis es abhaut, jawohl!

Auf dem Fahrersitz des Traktors saß ein junger Mann, der heftig gestikulierte. Michelle atmete tief durch und versuchte, aus dem Wedeln seiner Hand schlau zu werden und gleichzeitig Finchen zu beruhigen. »Ist doch schon gut, Süße, das ist bloß ein Traktor.« Ein riesiger Traktor wohlgemerkt, der sie zu Tode erschreckt hatte.

Bloß ein Traktor? Du scherzt wohl! Das ist ein grausliches Monster-Ungetüm, und es soll verschwinden! Wau, jawohl, wau, wau und nochmals wau!

»Ist doch gut, Finchen, bitte hör auf, zu bellen, das ist ja peinlich. Ich …«

»Sag mal, willst du da Wurzeln schlagen?« Der junge Mann war vom Traktor abgestiegen und ging mit verärgerter Miene auf sie zu.

Ui, ein Mensch! Wo kommt der denn her? Verblüfft hielt Finchen in ihrem Gebell inne, strebte aber stattdessen so wild auf den Fremden zu, um ihn zu beschnüffeln, dass Michelle beinahe die Leine entglitten wäre.

»Hey, Finchen, nicht! Das gehört sich nicht, komm sofort wieder her!« Ungeschickt zog Michelle die Hündin wieder zu sich heran.

»Finchen?« Der junge Mann grinste spöttisch. Er war ziemlich groß und breitschultrig und besaß kurzes dichtes blondes Haar, trug eine dunkelgrüne Latzhose, schwere Arbeitsstiefel und ein graues T-Shirt – und er besaß so strahlend blaue Augen, wie Michelle noch nie welche gesehen hatte. »Die Kleine scheint nicht sehr gut erzogen zu sein.« Seine angenehm dunkle Stimme klang nach wie vor verärgert.

Michelle schluckte, bevor sie ihre Stimme – und ihr Selbstbewusstsein – wiederfand. Da sie ihr Gegenüber auf siebzehn oder achtzehn schätzte, beschloss sie, ihn ebenfalls zu duzen. »Als du noch klein warst, hattest du auch noch keine Manieren, oder?«

»Wenn sie die von dir lernen soll, musst du dir aber auch erst mal welche zulegen. Latschst hier wie eine Gestörte ewig mitten auf der Straße. Ich hab was anderes zu tun, als im Schneckentempo hinter einer transusigen Urlauberin aus der Großstadt herzutuckern.«

»Ach ja? Was denn wohl?« Sie sah sich betont eingehend um. »Hier gibt es doch weit und breit nichts Sinnvolles zu tun.« Sie stockte. »Woher weißt du, dass ich aus der Großstadt komme?«

»Das sehe und rieche ich meilenweit gegen den Wind.« Er schnaubte spöttisch. »Kein Mädchen von hier würde derart tranig durch die Gegend tippeln. Außerdem weiß ich, dass du nicht von hier bist, weil ich dich dann bestimmt schon mal gesehen hätte.«

»Ich bin aber von hier.« Michelle wollte trotzig die Arme verschränken, unterließ es aber, weil sie sich fast in Finchens Leine verheddert hätte.

»Red keinen Quatsch. Du bist wohl in den Ferien hier, was? Ziemlich früh. In welchem Bundesland haben denn die Ferien jetzt schon angefangen?«

»In gar keinem. Ich wohne hier. Seit heute«, setzte sie schließlich doch hinzu. »Da vorne in dem roten Haus mit dem Reetdach.«

»Nee, echt jetzt?« Verblüffung zeichnete sich auf der Miene des Blonden ab. »Du wohnst jetzt im Haus von der Hanke?« Er stieß wieder dieses spöttische Schnauben aus. »Das kann ja heiter werden. Dann leg dir mal bessere Ohren und eine noch viel bessere Reaktion zu, wenn du nicht willst, dass dich jemand mit dem Trecker überrollt. In der Erntezeit schon mal sowieso, weil es da echt flott gehen muss.«

»Warum?«, rutschte es Michelle heraus. »Ich dachte immer, auf dem Land ticken die Uhren anders … langsamer.«

»Von wegen!« Der Blonde deutete vage zum Himmel. »Das Wetter kann hier schnell umschlagen. Sobald das Gras fürs Silo gemäht ist, muss es gewendet und später in Schwaden gelegt werden, damit es der Silowagen aufnehmen kann. Für heute Nacht ist mehr Regen gemeldet, deshalb müssen wir jetzt so viel ernten, wie es geht. Nasses Gras kann man nicht gut zu Silage verarbeiten, das fault zu schnell. Außerdem verklebt es schnell die Pick-up…« Er stockte und grinste breit. »Du hast nicht mal den Hauch einer Ahnung, wovon ich rede.«

Anstelle einer Antwort hob Michelle nur betont lässig die Schultern. »Es muss sich ja nicht jeder in der Landwirtschaft auskennen, oder?«

»Nein, aber merk dir trotzdem, dass man hier immer und überall auf Trecker aufpassen muss. Und dass man Bauern in der Ernte lieber nicht ewig aufhält.« Er ging zum Traktor zurück, drehte sich dort aber noch mal um. »Wie heißt du eigentlich?«

»Michelle.« Sie räusperte sich. »Michelle Zengler. Aus Berlin.«

»Freut mich nicht wirklich, Michelle Zengler aus Berlin.« Er öffnete die Fahrertür. »Ich bin Tim Dennersen.« Mit schräg gelegtem Kopf musterte er sie. »Bist du etwa die Neue für die neunte Klasse der Gesamtschule, die erst nach den Ferien zur Schule gehen muss?«

Verblüfft hob Michelle den Kopf. »Woher weißt du das?«

»Von meiner Mutter. Sie erfährt alles, was in Lichterhaven abgeht, weil die Leute es ihr in unserem Hofladen erzählen.« Wieder grinste er, jedoch nicht allzu freundlich. »Ich rate dir, die Großstadt nicht so arrogant raushängen zu lassen. Das kommt hier nicht allzu gut an.«

»Arrogant?«

»Michelle Zengler aus Berlin«, äffte er sie übertrieben affektiert nach.

Wütend verzog sie die Lippen. »Ich komme nun mal aus Berlin.«

»Nein, du wohnst jetzt hier. Hast du doch selbst gesagt. Also kommst du aus Lichterhaven. Gewöhn dich dran.« Er schwang sich auf die unterste Trittstufe zum Führerhaus. »Hoffentlich kann Lichterhaven sich auch an dich gewöhnen.« Im nächsten Moment saß er auf dem Fahrersitz und knallte die Tür hinter sich zu.

Michelle starrte ihn erbost an, sprang aber rasch zur Seite, als das riesenhafte Gefährt sich langsam in Bewegung setzte, und zerrte Finchen hastig zum Straßengraben. Als Tim das Gespann an ihr vorbeilenkte, hupte er zweimal kurz. Irgendwie klang es wie spöttisches Gelächter.

»Blöder Bauerntrampel«, murmelte Michelle und sah zu, wie er auf die große Wiese genau gegenüber von ihrem Haus einbog. Das seltsame Ding mit den Zinken senkte sich, und die Arme begannen, sich zu drehen, sodass das frisch gemähte Gras aufgewirbelt und gewendet wurde. »Großartig.« Sie legte die letzten Schritte bis zur Haustür eilig zurück. »Wenn hier alle so sind wie der da, dann gute Nacht.«

3. Kapitel

»Das sieht wunderschön aus!« Behände kletterte Hannah von der Klappleiter herunter und betrachtete ihr Werk mit bewundernden Blicken. »Diese weißen Vorhänge mit dem gestickten Dahlienmuster sind einfach perfekt. Nicht zu aufdringlich und sehr freundlich und einladend. Ella, du bist ein Genie!« Lächelnd drehte sie sich zu ihrer Freundin um, die in dem zukünftigen Veranstaltungsraum gerade die frisch aufgestellten Tische herumrückte.

»Quatsch!« Ella lachte, kam aber näher, um ebenfalls die Vorhänge zu begutachten. »Es war reiner Zufall, dass ich den Stoff in diesem Einrichtungskatalog entdeckt habe. Aber du hast recht, die Vorhänge sind großartig geworden. Ich muss Mama und Carina noch mal ein großes Dankeschön dafür ausrichten, dass sie die Näharbeiten übernommen haben.«

»Wollen sie wirklich kein Geld dafür haben?« Hannah trug die Klappleiter neben die Tür und stellte sie dort ab.

»Nein.« Ella trat an einen der Tische aus antik wirkendem Nussbaumholz und lehnte sich dagegen. »Sie tun immer regelrecht beleidigt, sobald ich das Thema Bezahlung anschneide. Ich traue mich mittlerweile nicht mal mehr, darüber nachzudenken, wenn ich in ihrer Nähe bin.«

Hannah gluckste. »Die toughe Ella Jensen fürchtet sich vor ihrer Mama?«

»Hey!« Ella kicherte. »Es ist immerhin meine Mutter. Du weißt, wie energisch sie werden kann. Und Carina ist auch nicht zu unterschätzen. Die beiden sind nicht umsonst schon so lange ein Paar. Sie ergänzen sich einfach perfekt, vor allem, wenn sie sich gegen mich verschworen haben.«

»Tja, dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als die beiden so oft wie möglich ins Café Mauerblümchen einzuladen, sobald es eröffnet ist, und uns zu weigern, Geld von ihnen anzunehmen«, folgerte Hannah.

»Von wem wollt ihr kein Geld annehmen?« Caroline, die dritte der drei Freundinnen und Foodsisters, betrat den Raum. »So ein geschäftsschädigendes Verhalten kann ich nicht gutheißen.« Ihre Stimme klang streng, doch in ihren Augen saß ein Lächeln.

»Wir sprechen von Ellas Mama und Carina«, klärte Hannah sie auf und raufte sich die kurzen leuchtend roten Haare, sodass auf wundersame Weise der freche Schnitt wieder perfekt saß.

»Ah, okay. Dann nehme ich alles zurück und behaupte das Gegenteil.« Lachend schnappte sich Caroline einen der neuen, hochlehnigen Stühle und setzte sich rittlings darauf. »Die zwei verdienen einen Orden für alles, was sie für uns getan haben. Die Vorhänge sind schick geworden. Überhaupt nicht kitschig, wie ich erst dachte.« Sie löste ihre Haarspange und schüttelte ihr schulterlanges hellbraunes Haar, um es gleich darauf wieder mit der Spange zusammenzufassen.

»Wenn die Stickereien bunt gewesen wären, hätte es kitschig gewirkt«, stimmte Ella zu. »Aber Weiß auf Weiß sieht richtig edel aus.«

»Genau«, erwiderte Hannah. »Hoffentlich halten sie auch lange. Hundert Jahre müssen es schon sein.«

Caroline ächzte. »Was? Willst du etwa in hundert Jahren noch hier arbeiten?«

Hannah kicherte. »Ich denke schon an die nachfolgenden Generationen. Die Foodsisters-Kids und – enkel, die alles hier mal erben werden.«

»Kids?« Ella warf ihre langen schwarzen Haare schwungvoll über die Schulter zurück. »Bist du schwanger?«

Hannah gab ihr einen scherzhaften Knuff gegen den Oberarm. »Nein. Wie auch, wenn ich seit anderthalb Jahren abstinent lebe? Aber du heiratest in ein paar Wochen und Caro bestimmt auch in absehbarer Zeit. Oder wollt ihr etwa keine Kinder haben?«

»Na klar doch.« Auf Ellas Lippen erschien ein verträumtes Lächeln, dann seufzte sie. »Aber erst muss das Eventhaus laufen.«

»Genau.« Caroline nickte zustimmend. »Aber doch, ja, ich will schon auch Kinder haben, irgendwann«, gab sie etwas verlegen zu. »Aber doch nicht jetzt schon. Henning und ich sind erst ein knappes Jahr zusammen, und da kann ich doch so ein Thema nicht bringen. Nicht, bevor er … wir … also das ist doch etwas zu früh.«

»Quatsch.« Hannah winkte lässig ab. »Henning betet den Boden an, auf dem du wandelst. Ich bin sicher, er ist der Idee gegenüber wesentlich offener eingestellt, als du denkst.«

»Warum?« Caroline richtete sich auf. »Hat er etwas zu dir gesagt?«

»Nein.« Hannah trat neben die Freundin und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Man muss euch beide nur einmal zusammen sehen und weiß Bescheid.«

»Wirklich?« Caroline hüstelte. »So offensichtlich?«

»Das ist doch schön.« Ella grinste verschmitzt. »Keine Frau traut sich auf zehn Schritte an deinen Mann heran, weil alle sofort wittern, dass er so was von vergeben ist.«

»Ich sage ja auch nicht, dass ihr gleich heute mit der Nachwuchsproduktion anfangen sollt«, kam Hannah auf das ursprüngliche Thema zurück. »Aber was wir hier geschafft haben, wohlgemerkt mit der nicht geringen Hilfe deiner besseren Hälfte«, sie drückte noch einmal Carolines Schulter, »ist ganz enorm und etwas für die Ewigkeit. Na ja, zumindest hoffe ich, dass das Eventhaus der Foodsisters über Generationen bestehen wird. Das ist der Fußabdruck, den wir in der Geschichte von Lichterhaven hinterlassen.«

»Da spricht die Romantikerin aus dir.« Ella grinste. »Übrigens bin ich sicher, dass auch du zum Fortbestehen dieses Generationenprojekts beitragen wirst.«

Hannah seufzte theatralisch. »Ja, als die verrückte Tante und Großtante eurer Sprösslinge, die im gesegneten Alter von neunzig noch aussehen wird wie zwanzig.«

»Hey, ist doch toll, dass du so ein Jungbrunnen-Gen hast«, befand Caroline. »Ich bin sicher, dass die meisten Frauen dich darum beneiden.«

»Nicht, wenn sie am eigenen Leib erfahren, wie es ist, wenn man mit fast einunddreißig immer noch nach dem Ausweis gefragt wird, wenn man Alkohol trinken möchte.« Hannah verdrehte die Augen. »In der Weinhandlung am oberen Stadttor haben sie eine neue Mitarbeiterin, die sich fast geweigert hätte, die Wein- und Weinbrandlieferung für den Geburtstag meines Onkels an mich zu übergeben. Als ich ihr meinen Ausweis gezeigt habe, wurde sie richtig pampig, so als hätte ich ihn womöglich gefälscht.«

»Dumme Leute gibt es überall.« Ella beugte sich vor und nahm Hannahs Hand. »Lass dich bloß nicht von so etwas ärgern. Außerdem kennen dich in Lichterhaven ja die meisten Leute und wissen, dass du kein Kind mehr bist.«

»Mhm.« Mit einem halb betrübten, halb amüsierten Lächeln nickte Hannah. »Leider ist ausgerechnet hier im Ort kein Mann zu finden, der mich auch nur ansatzweise reizen könnte. Also werde ich wohl oder übel weiterhin auf ein erfülltes Liebesleben verzichten müssen.«

»Ach, ich weiß nicht.« Ella schmunzelte. »Irgendwann wird der Richtige vor dir stehen. Man soll niemals nie sagen. Ich hätte auch nicht gedacht, mal mit einem Lichterhavener Urgestein sesshaft zu werden. Oder, Caroline? Dir geht es doch ähnlich.«

»Stimmt, mit so was kann man einfach nicht rechnen«, pflichtete Caroline ihr bei. »Das passiert einfach, ohne dass man es aufhalten kann. Selbst wenn es dir im ersten Moment noch so absurd vorkommt.«

»Amen.« Ella grinste breit.

»Tja, gegen euren Erfahrungsschatz komme ich nicht an.« Lachend umarmte Hannah die beiden Freundinnen nacheinander. »Allerdings wäre es schon ein arger Zufall, wenn ich jetzt ganz plötzlich meinem Traummann begegnen würde. So im Jahrestakt nach euch beiden. So etwas passiert doch nur in Romanen.«

»Du liebst doch solche Romane«, gab Ella zu bedenken.

»Schon«, gab Hannah zu. »Aber inzwischen bezweifle ich, dass das wahre Leben so eine romantische Liebesgeschichte für mich in petto hat. Vielleicht bin ich ja auch dazu verdammt, ewig nur davon zu träumen und dabei absolut faltenfrei zu vertrocknen.«

Caroline prustete. »Solange du deinen Humor dabei nicht verlierst …«

»Ich gebe mir Mühe.« Hannah schnappte sich ihren gelben Regenparka, den sie über eine Stuhllehne gehängt hatte. »Wenigstens lacht mir das Wetter. Die Sonne kommt raus. Ich muss jetzt los. Wenn ich diese Woche nicht verhungern will, muss ich dem Supermarkt einen ausgiebigen Besuch abstatten. Mit der Arbeit hier im Haus und unseren Cateringaufträgen war ich so beschäftigt, dass ich glatt vergessen habe, einkaufen zu gehen.«

»Oje, und jetzt ausgerechnet in den Feierabend-Andrang?« Caroline schauderte. »Ich glaube, da würde ich lieber hungern.«

»Die Feierabend-Schwadron könnte schon durch sein«, widersprach Ella nach einem Blick auf ihre Armbanduhr. »Hoffentlich haben sie dir noch etwas übrig gelassen.«

»Ja, hoffentlich.« Hannah hob seufzend die Schultern. »Glücklicherweise bin ich kreativ und kann auch aus irgendwelchen Resten etwas Schmackhaftes brutzeln.«

»Übrigens«, Ella feixte, »sind Supermärkte nicht die perfekten Orte, um Männer kennenzulernen?«

»Verheiratete Männer und Familienväter, meinst du?« Caroline lachte. »Was soll sie denn mit denen?«

»Um diese Zeit sind die bereits domestizierten Exemplare zu Hause bei Frau und Kindern«, dozierte Ella. »Glaubt mir, ich habe Erfahrung. Nach achtzehn Uhr trifft man bevorzugt Rentner …«

»Na, danke«, warf Hannah kichernd ein.

»Lass mich ausreden«, wies Ella sie milde zurecht. »Rentner und Single-Männer, wollte ich sagen. Also hopp, hopp, auf in den Supermarkt. Möglicherweise stößt du dort in Gang drei mit deinem Traumprinzen zusammen.«

»Pfff!« Hannah tippte sich amüsiert an die Schläfe. »In Gang drei stehen die Cerealien. Kein ausgewachsener Mann treibt sich dort herum.«

»Das glaubst auch nur du.« Ella prustete los. »Anscheinend warst du wirklich schon zu lange nicht mehr mit einem Mann zusammen, wenn du nicht weißt, was für Essgewohnheiten diese Spezies hat.«

»Außerdem haben sie neulich im Supermarkt umgeräumt«, warf Caroline ein. »In Gang drei haben sie jetzt die Fertiggerichte und Konserven.«

»Gott bewahre!« Hannah hob abwehrend die Hände. »Das ist ja zehnmal schlimmer. Ein Mann, der sich von Fertigfraß ernährt. Der geht mir doch viel zu schnell ein, weil ihm alle wichtigen Nährstoffe fehlen.«

Für einen langen Moment sahen die drei Frauen einander schweigend an, dann brachen sie wie auf Kommando in haltloses Gelächter aus.

Hannah hob kurz die Hand zum Abschied und verließ das sogenannte Dahlienzimmer. Selbst als sie in ihren grünen Mini-SUV stieg, kicherte sie noch. Erst als sie ins Gewerbegebiet einbog, wurde sie wieder halbwegs ernst.

So verzweifelt, wie sie manchmal tat, war sie in Wahrheit gar nicht. Nur manchmal ein bisschen traurig, dass sie, obwohl sie schon seit ihrem zwölften Lebensjahr von der großen Liebe träumte und wirklich aufmerksam die Augen offen gehalten hatte, immer noch Single war. Daran war bestimmt nicht nur die Tatsache schuld, dass sie außergewöhnlich jung aussah. Es hatte immer mal wieder Männer gegeben, die sie durchaus als Erwachsene erkannt und behandelt hatten. Leider war aber nie der Funke übergesprungen.

Dass ihre beiden besten Freundinnen den Mann fürs Leben inzwischen gefunden hatten und überglücklich waren, machte die Sache nicht unbedingt einfacher. Hannah weigerte sich beharrlich, neidisch auf Ella und Caroline und deren Glück in der Liebe zu sein. Neid war etwas, das in ihrem Leben keinen Platz hatte. Aber allmählich wäre es vom Universum nett, ihr ein Zeichen zu geben, in welche Richtung ihr eigenes Privatleben sich entwickeln sollte. Denn wer außer dem Universum wusste wohl, wie ihr Schicksal aussah?

Sie hatte sich viele Jahre lang die große Liebe gewünscht, sie sich bis ins Detail ausgemalt, sich vorgestellt, dass der Mann fürs Leben ihr sprichwörtlich den Boden unter den Füßen wegziehen würde, damit sie auch ganz sicher wusste, dass er der Richtige war. Doch seit einiger Zeit schon hatte sie damit aufgehört. Wenn das Universum ihre Bestellung bis jetzt nicht aufgenommen hatte, war es wohl auf beiden Ohren taub. Man musste Geduld haben, das war Hannah bewusst. Große Wünsche erfüllten sich nicht über Nacht. In der Zwischenzeit hatte sie sich andere Wünsche und Träume erfüllt. Der größte war das gemeinsame Catering-Unternehmen mit ihren beiden besten Freundinnen gewesen.

Schon während der Schulzeit hatten sie gewusst, dass sie gemeinsam etwas auf die Beine stellen wollten. Sie waren seit dem Kindergarten unzertrennlich gewesen. Als sie nach dem Abitur ihre jeweiligen Ausbildungen begonnen hatten, war die Trennung auf Zeit ihnen schwergefallen. Ella hatte sich zur Floristin ausbilden lassen, Caroline hatte eine Ausbildung zur Bäckerin und Konditorin gemacht und dazu sogar eine Weile in Kiel gelebt.

Hannah war ebenfalls von Lichterhaven weggegangen und hatte in mehreren verschiedenen Restaurants ihre Ausbildung zur Köchin gemacht.

Alle drei hatten sie auch gleich den Meisterbrief gemacht und sich anschließend wie verabredet zusammen als die Foodsisters selbstständig gemacht. Der Anfang war nicht einfach gewesen, doch ihr Konzept, nicht nur Speisen und Getränke, sondern auch die passende Dekoration und den Blumenschmuck anzubieten, hatte bald schon zum Erfolg geführt. Sie hatten volle Auftragsbücher gehabt und ein absolut ideales Geschäftshaus in der Goldschmiedgasse. Sogar Gedanken ans Expandieren waren aufgekommen, doch dann hatte ihre Vermieterin, Frau Hanke, ihnen vor etwa einem Jahr eröffnet, dass sie insolvent sei und das Gebäude, in dem die Geschäftsräume der Foodsisters untergebracht waren, verkaufen musste. Leider hatte der Käufer, ein ebenso bekannter wie unbeliebter Bauunternehmer aus Lichterhaven, die erstbeste Möglichkeit genutzt, der anstehenden Verlängerung des Mietvertrags zu widersprechen, sodass sie mit ihrem aufstrebenden Unternehmen praktisch obdachlos waren.

Hannah seufzte innerlich bei der Erinnerung daran, wie verzweifelt sie gewesen waren. Denn was nützte ihnen ein volles Auftragsbuch, wenn sie keine Küche, keine Kühl- und Vorratsräume und nicht einmal ein Büro besaßen? Glücklicherweise hatte der ehemalige Formel-1-Fahrer Henning Magnusson, inzwischen Carolines Freund, sie auf die Idee gebracht, ein leer stehendes Geschäftshaus am Hafen zu einem Eventhaus umzubauen. Erst waren sie skeptisch gewesen, weil ihnen für ein so ambitioniertes Projekt das nötige Kapital fehlte, doch dann war Henning als Investor eingestiegen, und jetzt, ein Jahr später, waren sie fast fertig mit dem Umbau.

Es war ein hartes Jahr gewesen, denn neben den Umbauten, die zu beaufsichtigen gewesen waren, hatten sie in wechselnden provisorischen Küchen und Arbeitsräumen ihrem Tagesgeschäft, dem Cateringservice, nachgehen müssen und sich nebenher über Gesetze und Bestimmungen für Gastronomiebetriebe und Veranstaltungshäuser informiert. Allein die Brandschutzverordnung mit unzähligen Bestimmungen hatte sie manchmal an den Rand der Verzweiflung getrieben.

Glücklicherweise war Ellas Verlobter Jörn der Wehrführer der Freiwilligen Feuerwehr Lichterhaven. Ohne seine Sachkenntnis und Geduld hätten sie irgendwann das Handtuch geworfen. Doch nun standen sie ganz kurz vor der Vollendung ihres neuen Traums. Am fünfzehnten September würden sie das Eventhaus offiziell eröffnen.

Bereits seit ein paar Tagen war ihre neue Website online, und Ella hatte entsprechende Seiten und Profile in den sozialen Netzwerken eingerichtet oder vielmehr die bestehenden umorganisiert. Es gab sogar schon die ersten Terminanfragen.

Zunächst einmal würden sie aber als eine Art Generalprobe Ellas und Jörns Hochzeit am achten September ausrichten. Deshalb war noch wahnsinnig viel zu tun, denn es sollte eine Gartenhochzeit werden, und die Außenanlagen, die einmal Blütenlaube heißen sollten, waren noch längst nicht fertig. Ella rotierte dort zusammen mit einer Gärtnerei und einer Gartenarchitektin in jeder freien Minute.

Hannah schüttelte sich, um die Erinnerungen an das vergangene Jahr beiseitezuschieben und in die Gegenwart zurückzufinden. Ihr knurrender Magen half dabei nicht unerheblich. Mist, mit leerem Magen ging man nicht einkaufen! Aber es half nichts. Wenn sie ihren Kühlschrank füllen wollte, musste sie allmählich den Weg in den Supermarkt finden.

Glücklicherweise war der Parkplatz nicht sehr stark frequentiert. Somit würde zumindest kein Gedränge an den Kassen herrschen. Hannah schnappte sich einen Einkaufswagen und machte sich voller Schwung auf den Weg in den Laden. Sie ging gerne einkaufen, wenn sie es in Ruhe tun konnte. Dann hatte sie Muße, Etiketten zu lesen, Inhaltsstoffe zu vergleichen und neue Produkte zu entdecken.

Die Gemüseabteilung war auf den ersten Blick eine Enttäuschung, da die vorherige Kundschaft nicht mehr allzu viel Auswahl übrig gelassen hatte. Doch so etwas empfand Hannah als Herausforderung. Mit etwas Fantasie stellte sie das, was sie fand und noch als frisch genug einstufte, zu bunten Gerichten zusammen, wobei allerdings der reine Gedanke an all die Leckereien das Knurren ihres Magens noch verstärke.

Nachdem sie auch noch ihr Müsli, Kaffee und Kakao im Einkaufswagen verstaut hatte, wollte sie noch rasch ihre Vorräte an Einmach- und Gelierzucker auffüllen. Sie liebte es, Vorräte, Marmeladen und Gelees selbst einzukochen, und die Erdbeerzeit war bereits in vollem Gange.

Sie beschloss, eine Abkürzung durch Gang drei zu nehmen. Deshalb bog sie dorthin ab – und stieß so unsanft mit einem anderen Einkaufswagen zusammen, dass der ihre zur Seite schnellte, ihrem Griff entglitt und mit einem Knall gegen das Regal mit den Suppenkonserven krachte. Scheppernd fielen einige Dosen zu Boden, doch Hannah nahm es kaum wahr, denn fast wie in Zeitlupe prallte der fremde Einkaufswagen gegen ihre Hüfte. Sie hörte, wie jemand »Vorsicht!« rief und gleich darauf »Scheiße!«.

Hannah stieß einen erstickten Schrei aus, geriet ins Taumeln und fand sich im nächsten Moment auf ihren vier Buchstaben wieder. Für einen Moment blieb ihr die Luft weg.