Küss ihn, Mami! - Diana Whitney - E-Book

Küss ihn, Mami! E-Book

Diana Whitney

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Beschreibung

Heimlich hat ihr Sohn nach seinem Daddy gesucht! Nick Purcell, der auf Bobbys Geburtsurkunde aufscheint, steht auf einmal zu Chessas Erstaunen vor der Tür - überglücklich, einen Sohn zu haben! Nur dass Chessas Eltern sie damals zu einer Falschangabe gezwungen haben …

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Seitenzahl: 197

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IMPRESSUM

Küss ihn, Mami! erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 1999 by Diana Hinz Originaltitel: „A Dad of His Own“ erschienen bei: Silhouette Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCABand 1231 - 2000 by CORA Verlag GmbH, Hamburg Übersetzung: Gina Curtis

Umschlagsmotive: GettyImages_UberImages

Veröffentlicht im ePub Format in 12/2017 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733754624

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY, TIFFANY

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1. KAPITEL

„Schokochips. Cool!“ Bobby Margolis schnappte sich ein Plätzchen vom Teller. „Oh. Lecker.“ Erst während er schon kaute, fiel ihm ein, dass er sich zu bedanken hatte. Er wischte sich einen feuchten Krümel vom Kinn, schluckte rasch und grinste verschmitzt. „Vielen Dank.“

„Gern geschehen, mein Junge.“ Die Frau mit faltigem Gesicht und schlohweißem Haar stellte den Teller sowie ein Glas Milch auf einen mit einer Spitzendecke geschmückten Tisch. „Lang nur zu. Ein Junge muss tüchtig essen.“

„Okay.“ Bobby nahm sich ein weiteres Plätzchen, ein drittes behielt er in der Hand für später. Seine Mutter sagte zwar immer, es gehöre sich nicht, so gierig zu sein, aber er befand sich auf einem Klassenausflug und hatte sich vor dem Lunch von seiner Klasse entfernt. Nun knurrte sein Magen mächtig.

Die nette alte Dame mit dem sympathischen Lächeln summte leise vor sich hin und tat, als habe sie das Plätzchen in Bobbys Hand nicht bemerkt. Bobby war ziemlich sicher, dass sie es gesehen hatte, denn in ihren Augen glitzerte der Schalk. Dabei verzogen sich ihre Mundwinkel ähnlich wie bei Mom, wenn sie versuchte, sich das Lachen zu verkneifen. Der süße Duft, der sie umgab, erinnerte Bobby an die Duftsäckchen, die seine Mutter in Schränken und Kommoden verwahrte. Lavendel sei das, hatte Mom erklärt, Lavendel sorge dafür, dass alles gut riecht. Aber Bobby konnte es nicht leiden, wenn seine Unterwäsche duftete. Deshalb ließ er sich von Mom versprechen, diesen Blütenzauber aus seinem Zimmer zu verbannen. Und im Allgemeinen hielt Mom ihre Versprechen auch. Außer einmal …

Und darum war Bobby hier.

Er schluckte, rutschte auf seinem Stuhl hin und her und schlenkerte mit seinen Füßen über dem Holzfußboden vor und zurück. „Wann kann ich denn nun mit dem Anwalt reden?“

„Das tust du bereits.“ Belustigt neigte die Dame den Kopf. Dabei legte sich ihr Gesicht in unendlich viele kleine Falten, sodass Bobby fand, sie sähe aus, als sei sie eine Million Jahre alt. „Ich bin Clementine Allister St. Ives und stehe zu Ihren Diensten, junger Mann.“ Sie streckte Bobby ihre rechte Hand entgegen, deren geschwollene Knöchel verdickt und rot waren.

Arthritis, dachte Bobby. Das kannte er von seiner Urgroßtante Winthrop. Deren Hände waren auch so geschwollen, und sie klagte immer über große Schmerzen. Deshalb achtete Bobby darauf, Clementines Hand nicht zu sehr zu drücken. „Sie sehen nicht wie ein Anwalt aus“, wunderte er sich.

Sein Blick glitt über die altmodische Blümchentapete mit den gerahmten Urkunden, auf denen Namen verschiedener Universitäten sowie für Bobby unverständliche Ausdrücke standen. Bobby sah die alte Dame wieder an. „Sind Sie auch Doktor?“

„Nicht im medizinischen Sinn.“ Die Frau nahm in einem großen hölzernen Schaukelstuhl Platz. „Ich berate Familien“, erklärte sie.

„Beraten?“ Das Wort weckte bei Bobby unangenehme Erinnerungen an den Vizerektor seiner Schule, der die Kinder über Kaugummi und Hausarbeiten aufklärte. „Ich mag keine Berater. Sie schimpfen immer.“

„Das tun sie, nicht wahr?“ Clementine sah Bobby freundlich an. „Nun ja, mein Junge, wie schon mein Dad zu sagen pflegte: ‚Der liebe Gott wollte bestimmt, dass die Menschen besser zuhören und weniger reden, sonst hätte er ihnen nicht zwei Ohren, aber nur einen Mund gegeben.‘“

Hinter einem Spitzenvorhang spähte eine dicke graue Katze hervor und sprang auf den Schoß der Anwältin, unter deren mächtigem Busen sie sich bequem zusammenrollte.

„Ich habe auch eine Katze“, erzählte Bobby zwischen zwei Bissen. „Sie heißt Mugsy. Ich möchte allerdings auch einen Hund haben, aber Mom sagt, ein Hund würde sich bei uns zu einsam fühlen. Mom geht nämlich zur Arbeit, während ich in der Schule bin.“

„Ach so.“ Die Anwältin nahm einen Ordner vom Schreibtisch und setzte ihre Brille auf. „In welcher Klasse bist du denn?“

„In der vierten.“ Bobby meinte, sie müsste das eigentlich wissen, da er bei der hübschen Sekretärin im Vorzimmer ein Formular ausgefüllt hatte. Deirdre hieß sie. Sie hatte sehr freundliche Augen und lachte nett. Sie hatte ihm viel Zeit gewidmet, hatte ihn nach seiner Adresse gefragt und mehr.

Auf ihre Frage nach seinem Geburtstag hatte Bobby der Sekretärin die Geburtsurkunde gegeben, die er aus der Schachtel stibitzt hatte, welche Mom ganz hinten in ihrem Kleiderschrank versteckte. Deirdre hatte gleich eine Kopie davon gemacht.

Clementine warf einen Blick auf das Dokument in dem Ordner. „Du bist also neun Jahre alt. Richtig?“

„Neuneinhalb.“ Bobby schluckte und langte nach dem Glas Milch, das er in einem Zug fast leer trank. Er wollte sich den Mund gerade mit seinem Ärmel abwischen, als er den Stapel Leinenservietten sah, den Clementine neben den Plätzchenteller gelegt hatte. Rasch benutzte er eine von diesen. „Im März werde ich zehn. Mom sagt, für mein Alter sei ich gescheit.“

„Das bist du, mein Junge.“ Mit klugen blauen Augen blinzelte sie ihn über die Brillengläser hinweg an. „Du scheinst sehr tüchtig zu sein, wenn du dich ganz allein nach San Francisco wagst.“

Bobby zuckte die Schultern. „Das war nicht so schwierig. Mein Lehrer hat einen großen Bus für unseren Klassenausflug ins Museum gemietet. Als meine Freunde ins Museum gingen, bin ich schnell um die Ecke gelaufen und in ein Taxi gestiegen.“

„Nicht dumm. Aber meinst du nicht, dein Lehrer könnte sich wundern, wenn er dein Fehlen bemerkt?“

„Ach nein. Wenn er nach mir fragt, sagt mein Freund Danny, ich sei auf die Toilette gegangen.“ Bobby blickte zu der kunstvoll geschnitzten Uhr an der Wand. „Aber gegen zwei muss ich wieder am Bus sein, weil wir dann nach Hause zurückfahren.“

„Und dein Zuhause ist wo?“ Die Anwältin rückte ihre Brille zurecht und warf erneut einen Blick in den Ordner. „In Marysville? Das ist recht weit. Also, warum kommst du heute zu mir, statt dich mit deinen Freunden zu amüsieren?“

Bobby holte tief Luft. Seine Hände waren feucht vor Schweiß und fühlten sich gleichzeitig kalt an. „Vor einiger Zeit haben Sie meinem Freund Danny Adoptiveltern verschafft. Er riet mir, Sie anzurufen. Sie wären richtig gut darin, Eltern für Kinder zu finden.“

„Verstehe.“ Clementine blickte wieder in den Ordner. Bobby glaubte, sie würde seine Geburtsurkunde prüfen. Darauf stand nämlich sein voller Name, Robert James Margolis, neben dem seiner Mutter und dem Namen eines Mannes, den er bisher noch nicht kannte.

„Könnten Sie meinen Dad finden?“, platzte Bobby heraus.

„Aha. Du suchst also deinen Vater, nicht wahr?“

Auf einmal fühlte sich Bobbys Hals ganz trocken an, und seine Augen wurden feucht. Er legte das zur Hälfte aufgegessene Plätzchen beiseite und nahm noch einen großen Schluck Milch. Sein Herz klopfte unheimlich schnell, und seine Hände waren noch immer kalt.

Clementine schloss den Ordner und schaukelte eine Weile, während sie die schlummernde Katze auf ihrem Schoß streichelte. „Deine Mutter weiß wohl nichts von deinem Besuch bei mir?“, vermutete die Anwältin.

Bobby schüttelte den Kopf. „Sie spricht nicht gern über meinen Daddy. Ich glaube, sie meint, ich würde davon traurig.“

Tatsächlich hatte Bobby sie nur ein einziges Mal nach seinem Dad gefragt, und zwar als er noch ein kleiner Junge war. Da waren ihre Augen auf einmal ganz rot und wässrig geworden. Sie hatte versprochen, später einmal, wenn Bobby älter wäre, mit ihm darüber zu sprechen.

Bobby war jetzt älter. Beinahe erwachsen. Aber seine Mom hatte ihr Versprechen nicht gehalten.

Er straffte die Schultern und schob das Kinn vor, damit seine Lippen nicht zitterten. „Ich habe auch Geld mitgebracht.“ Eine Weile wühlte er in seiner Tasche und kramte eine Handvoll Scheine hervor. 18 Dollar 65 – die Ersparnisse seines Lebens. Als er alles neben den Plätzchenteller legte, erinnerte sich gerade noch rechtzeitig, dass er Geld fürs Taxi brauchte, und behielt fünf Dollar zurück.

Aber dann sah er, wie Clementine das Gesicht merkwürdig verzog und fügte hinzu: „Ich habe mehr …“ Unsicher rutschte er auf seinem Stuhl hin und her und holte schließlich aus seiner Tasche ein tragbares Radio hervor. Das war ein Weihnachtsgeschenk von seiner Mutter, und es bedeutete ihm sehr viel. „Es ist unheimlich kostbar. Ich glaube fünfzig Dollar oder so, und es hat einen echt guten Klang. Man kann es richtig laut einstellen und Tonbänder und CDs abspielen. Wirklich super.“

Clementines Lächeln wirkte irgendwie traurig. „Tatsächlich?“

„Soll ich es für Sie anstellen?“

„Ich glaube dir auch so. Ein wundervolles Gerät.“

„Oh.“ Enttäuscht, seine geliebte Musik nicht ein letztes Mal hören zu dürfen, brachte Bobby aus seinem Hemd einen Umschlag zum Vorschein, auf dem der Name des Mannes stand, nach dem er sich schon sein ganzes Leben sehnte. Er strich über die verschmierte Tinte und reichte den Umschlag Clementine. „Hier habe ich einen Brief für meinen Dad, – wenn Sie ihn gefunden haben.“

Clementine nahm den Umschlag vorsichtig entgegen. „Warum möchtest du deinen Dad eigentlich nach all den Jahren suchen lassen?“

Die Frage überraschte Bobby. Er musste einen Moment nachdenken. „Weil im nächsten Monat ein Vater-Sohn-Picknick stattfindet. Und ich will nicht wieder mit diesem langweiligen alten Mr. Brisbane hingehen.“

„Mr. Brisbane?“

„Ja. Das ist der Hausmeister unserer Schule. Er geht immer mit den Kindern hin, die keinen Dad haben. Damit sie sich nicht ausgeschlossen fühlen und so.“

„Das ist doch sehr nett von ihm.“

Bobby zuckte die Schultern. „Schon. Aber ich habe keine Lust mehr, mir Dads auszuborgen. Ich will meinen eigenen Dad.“

„Ja, das verstehe ich“, murmelte Clementine. „Jeder Junge verdient einen eigenen Vater.“

Bobby wagte kaum zu atmen. Er sprang auf und drückte das Radio fest an sich. „Sie werden es tun? Sie werden meinen Dad für mich suchen?“

„Ich tue mein Bestes“, versprach sie.

Er seufzte erleichtert auf und wollte das Gerät auf Clementines Schreibtisch stellen, aber die Anwältin hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.

„Heb es gut für mich auf, mein Junge, bis ich einen passenden Platz dafür gefunden habe.“

Bobby schluckte. „Meinen Sie das ernst?“

„Ja, wirklich.“ Sie zögerte. „Deirdre?“ Augenblicklich erschien die dunkelhaarige Sekretärin in der Tür. „Würden Sie bitte ein Taxi für unseren Mr. Margolis rufen? Er muss einen Bus erreichen.“

Deirdre schenkte Bobby das netteste Lächeln, das er in seinem ganzen Leben gesehen hatte. „Selbstverständlich.“

An der Tür zögerte Bobby und schaute noch einmal über die Schulter zurück. „Danny hatte recht. Sie sind richtig nett.“

Clementines Kichern weckte die schlummernde Katze. „Danke, mein Junge.“

Bobby deutete auf den kleinen Berg Geldscheine und Münzen, die er auf eine Ecke ihres Schreibtisches gelegt hatte, und flüsterte Deirdre zu: „Glauben Sie, das ist genug?“

„Mehr als genug“, antwortete Deirdre leise. „Clementine macht sich nichts aus Geld.“

„Und warum tut sie das dann alles?“

„Sie tut es für die Kinder. Alles für die Kinder.“

Das Haus war überraschend groß, alt und wirkte sehr malerisch mit seinen glanzlosen grauen Schindeln und der überdachten Veranda voll blühender Herbstblumen. Der spärliche Rasen war stellenweise trocken, so als würde er häufig von den Kindern begangen, die auch jetzt dort unter fröhlichem Gejohle Fußball spielten.

Eine dicke graue Katze lag auf dem Geländer der Veranda und schien ihren Schwanz im Takt der Musik zu bewegen, die aus einem tragbaren Stereogerät dröhnte. Erwachsene zu nerven war der Zweck dieser Musik der Jugendlichen.

Ein herrlicher Anblick, dachte der Mann, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte. So formen sich Erinnerungen, süße Bilder der Kindheit, die in späteren Jahren dann so wichtig sind. Die Kindheit verging schnell. Seine eigene hatte viel zu früh geendet …

Nachdenklich verfolgte der Mann aus dem Fenster seines Wagens das Spiel der Kinder. Ein lebhafter blonder Junge war offensichtlich der Anführer. Wie ein General schrie und pfiff er seine Befehle, die seine Kameraden dennoch fröhlich ignorierten.

Ein untersetzter schwitzender Junge stampfte über das behelfsmäßig abgesteckte Fußballfeld, als bedeute jeder Schritt für ihn größte Anstrengung. Andere feuerten ihn an, bezogen ihn in das Spiel mit ein, obwohl deutlich zu sehen war, dass seine spielerischen Fähigkeiten weit hinter denen seiner Freunde zurückblieben.

Auffallend war auch ein hoch aufgeschossener Junge mit über den Ohren kurz geschorenen Haaren und einem Pferdeschwanz sowie ein weiteres Kind in einem gestreiften Fußballtrikot, das der Clown der Gruppe zu sein schien. Der Junge stolzierte, paradierte und tänzelte, wobei er sein Hinterteil zur Freude seiner Kameraden bei der kleinsten Provokation hin- und herwackeln ließ.

Dann fiel der Blick des Mannes auf einen Jungen mit großen ängstlichen Augen. Er war ein wenig kleiner als die anderen und schien auch ruhiger zu sein. Sein weißes T-Shirt war viel zu groß und reichte ihm beinahe bis zu den Knien. Dichte braune Haarsträhnen lugten unter einer blauen Baseballkappe hervor, die er umgekehrt aufgesetzt hatte.

Der Mann beobachtete, wie, nach einem misslungenen Pass, dieser kleinere Junge einen Arm um das schwerfälligere Kind legte, ihm etwas zuflüsterte und lächelte, und den anderen damit zum Lachen brachte. Das gefiel dem Zuschauer.

Er fragte sich, welches dieser Kinder wohl seines war.

„Bobby! Mittagessen!“

„Schade. Fünf Minuten. Bitte, Mom.“

Chessa Margolis unterdrückte ein Lächeln und zwang sich zu elterlicher Strenge. Ihr Sohn war die Sonne ihres Lebens. Nur ungern schlug sie ihm etwas ab. „Wie du willst, Liebling. Dann ist deine Pizza eben kalt.“

„Pizza?“ Bobby richtete sich auf und warf den Ball, den er gerade in den Händen drehte, seinem besten Freund zu. „Ich muss gehen. Bis später, Leute.“

Rasch ergriff er seine geliebte Dröhnbox, lief über die Veranda und betrat die Küche durch die Gittertür.

„Wasch deine Hände, und nimm diesen schmutzigen Hut vom Kopf“, empfing ihn Chessa. Einen Moment wartete sie noch an der Tür auf Mugsy, bevor sie sich davon überzeugte, dass die Baseballkappe am Haken neben der Küchentür hing und Bobby sich in der Spüle die Hände schrubbte.

Nachdem er die Hände in seinem schmutzigen T-Shirt abgetrocknet hatte, ließ er sich auf den nächsten Stuhl fallen und legte sich erwartungsvoll ein Stück von der frisch gebackenen Pizza auf.

Chessa stellte das dröhnende Radio aus und ging zur Spüle, wo ein Berg geschälter Äpfel darauf wartete, verarbeitet zu werden. Auf den leisen Protest ihres Sohnes mahnte sie: „Du kennst die Regeln: keine Musik und kein Fernsehen beim Essen.“

Schon langte Bobby nach dem zweiten Stück Pizza, wobei er munter verkündete: „Danny hat neue Turnschuhe bekommen. Die sind echt cool. Man kann sie sogar mit Luft aufpumpen.“

„Wie schön.“ Chessa tauchte die Äpfel in ein Zitronenbad. Gegen Abend wollte sie die Früchte sorgfältig aushöhlen und trocknen. Später würde sie Puppen daraus basteln, die ihr ein kleines Nebeneinkommen für Bobbys zukünftigen College-Besuch einbrachten.

„Ich wünsche mir auch solch ein Paar.“

„Was für ein Paar?“

„Aufgepumpte Turnschuhe.“

„Ach ja? Hast du genügend Geld gespart?“

Als Bobby schwieg, blickte sie ihn über die Schulter an. Er schüttelte den Kopf. „Wie viel brauchst du?“

„Eine Menge.“

„Ich könnte im Haus noch einige Extraarbeiten für dich finden.“ Sie stellte die Äpfel beiseite. „Wir setzen uns nachher hin und rechnen durch, wie viel Geld du besitzt und was dir noch fehlt …“

„Ach, lass nur.“ Bobby schob seinen halb leeren Teller beiseite. „Ich habe keine Lust, Geld zu zählen.“

„Es ist aber wichtig, die Ausgaben für deine Wünsche genau einzuplanen. So wie immer. Auf diese Weise hast du dir dein heiß ersehntes Fernlenk-Auto erspart.“

„Kann ich jetzt wieder raus?“

„Du hast noch nicht aufgegessen. Ich denke, du isst Pizza so gern?“ Besorgt runzelte Chessa die Stirn. „Ist dir nicht gut?“

„Doch, doch, alles in Ordnung.“ Ein Klopfen an der Tür ließ ihn herumwirbeln. „Das ist Danny. Darf ich gehen, Mom?“

Chessa nickte seufzend. In letzter Zeit verhielt sich Bobby seltsam. Er wirkte nervös und wich ihr aus. Sie kannte ihren Sohn, verstand seinen Gesichtsausdruck und seine Körpersprache zu lesen. Er verbarg etwas vor ihr, etwas, das ihn beunruhigte, das er aber keinesfalls mit seiner Mutter teilen wollte.

Während sie in Gedanken verloren den Apfel in ihrer Hand musterte, hörte sie plötzlich Stimmen. Sie legte den Apfel auf ein Sieb und lauschte. Ein Mann unterhielt sich mit Bobby. Er klang freundlich, aber die Unterhaltung war zu leise, um ihn sowie Bobbys stockende Antwort zu verstehen.

Alarmiert eilte Chessa ins Wohnzimmer und wäre beinahe in Ohnmacht gefallen: Da stand er. Ein Gespenst aus der Vergangenheit. Der Mann, der die Macht hatte, alles zu zerstören, was ihr lieb war.

Jetzt blickte dieser Mann von der Tür über Bobbys Kopf zu ihr hin. Erwartungsvoll zunächst, dann verdunkelte sein Blick sich langsam. Er schien unsicher. „Es ist … so lange her.“

Chessas Hals fühlte sich ganz trocken an. Als sich der Raum vor ihr zu drehen begann, suchte sie Halt am Türknauf. Ihr schlimmster Albtraum war wahr geworden.

Sie war hinreißend schön. Der Anblick der Frau, die ihn ansah, als sähe sie einen Geist vor sich, brachte Nick völlig aus der Fassung. Helles Haar umschmiegte ihr zartes, herzförmiges Gesicht, aus dem ihn große, atemberaubend blaue Augen anschauten. Ein bemerkenswertes Gesicht, perfekt, auch wenn es im Moment kreidebleich war.

„Ja“, flüsterte Chessa kaum hörbar, „es ist lange her.“

Nick wollte sie in die Arme schließen. Er wollte sie um Verzeihung bitten, weil er sie vor so langer Zeit verlassen hatte. Er wollte ihr danken für einen so wundervollen Sohn. Aber vor allem wollte er begreifen, warum er sich nicht erinnern konnte, sie jemals wirklich beachtet zu haben.

Kein normaler Mann konnte eine solche Frau vergessen.

Aber Nick Purcells Jugend war alles andere als normal verlaufen. Er war der böse Bube der Stadt gewesen, ein zorniger junger Mann, der sich aus Armut und Schande befreit hatte, indem er das meiste einfach aus seinem Gedächtnis strich. Heute vermochte er sich kaum noch an jene Jahre zu erinnern, und er wollte es auch gar nicht.

„Es ist schön, dich zu sehen.“ Nick meinte es ernst.

Chessa schwankte leicht. Ihre vollen Lippen zitterten.

Ein Schluchzer, ein leises Schniefen waren zu hören. Eine kleine Hand berührte Nicks Ärmel. „Ich wusste, dass du kommst. Ich wusste es.“

Nick ging vor dem Jungen in die Hocke. Bobbys Augen waren so blau wie die seiner Mutter und glänzten feucht. Nick konnte vor Erregung kaum sprechen. Seinem Sohn ins Gesicht zu blicken, war für ihn ein unglaubliches Erlebnis. Sein Sohn, sein Fleisch und Blut. Dies war der stolzeste Moment seines Lebens.

Bobbys Kinn zitterte. „Bist du wirklich mein Dad?“

In der Brusttasche von Nicks Jackett steckte eine Geburtsurkunde, die ihm die St. Ives Anwaltspraxis zugeschickt hatte. „Ja, Bobby, ich bin dein Dad.“

„Geh nicht wieder fort.“ Eine Träne rollte über Bobbys Wange, als er sich schluchzend in Nicks Arme warf.

Nick drückte ihn fest an sich. „Du bist mein Sohn, und ich werde dich nie mehr verlassen.“

Das kann nicht wahr sein. Lieber Himmel, lass es ein Traum sein, dachte Chessa, von panischer Angst erfasst.

Dieser Mann, das Schreckgespenst ihrer Vergangenheit, musterte ihr Kind, als sei der Junge ein kleiner Gott. Und die unverhohlene Bewunderung, mit der Bobby seinen Vater ansah, erschreckte sie nicht weniger.

Über neun Jahre war Bobbys Glück der Motor ihres Lebens gewesen. Nichts anderes hatte Bedeutung für Chessa. Sie hatte geglaubt, das wäre genug. Sie hatte sich getäuscht.

Und das tat unbeschreiblich weh.

Bobby konnte ja nicht wissen, dass der für ihn offenbar glücklichste Moment seines Lebens in Wahrheit das Schlimmste war, was passieren konnte. Seine glückstrahlenden Augen würden bald von Trauer überschattet werden, und das durfte Chessa nicht zulassen. Doch wie sollte sie das verhindern?

Mit einem unterdrückten Aufschrei eilte sie in die Küche. Vielleicht war es nur ein grausamer Scherz, den ihr ein perfekt gestylter Hochstapler in italienischen Schuhen und Designer-Anzug spielte. Immerhin, der Anblick dieses erfolgreichen Geschäftsmannes in ihrem Wohnzimmer erinnerte kaum an den zornigen jungen Mann von damals in ausgefransten Jeans und schwarzem T-Shirt.

Damals war der junge Nick Purcell ein Rebell mit dem für Teenager unwiderstehlichen Sex-Appeal eines James Dean. Man tratschte über ihn, spekulierte und glaubte dem Gerücht, sein Liebesleben sei aktiver als das berühmter Rockstars.

„Chessa?“

Chessa wirbelte herum. Ihre Brust hob und senkte sich, während sie verzweifelt nach Atem rang. Sie wollte ihn fortblinzeln …

Doch er stand vor ihr.

Nick streckte ihr eine Hand entgegen und wollte etwas sagen, aber dann ließ er den Arm wieder sinken und blickte sich lächelnd in der sauberen Küche um. „Würstchen mit Pilzen. Oh, das ist auch mein Lieblingsessen.“

Endlich fand Chessa ihre Stimme wieder. „Warum bist du gekommen?“

Nicks Lächeln schwand. Sein Gesicht war energischer als früher, aber ebenso attraktiv mit dem markanten Kinn, der perfekt geformten Nase und den Lippen, die sowohl männlich als auch verletzlich wirkten. Die dunklen Augen unter seinen dichten Brauen erweckten einen nachdenklichen Eindruck.

„Ich musste ihn einfach sehen.“

Chessa schloss die Augen und presste die Lippen aufeinander. Sie drehte sich um und machte sich wieder mit den Äpfeln zu schaffen. „Du hast kein Recht, einfach so zu kommen.“

„Er ist mein Sohn.“

„Bobby ist mein Sohn, nicht deiner.“

Einen Moment herrschte Stille, dann machte Nick einen Schritt auf sie zu. „Ich kann dir nicht verübeln, wenn du mir böse bist. Ich hätte für euch da sein müssen.“

Chessa warf einen Blick über die Schulter. Schmerz und Schuldgefühle spiegelten sich in Nicks Gesicht.

Gleich darauf jedoch barg er die Hände hinter seinem Rücken, wie es erfolgreiche Männer tun, um sich nach peinlichen Situationen wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Ich wünschte, du hättest mir von unserem Kind erzählt. Aber ich verstehe, warum es unmöglich war.“

„Was, genau, glaubst du zu verstehen?“

Er hob ein wenig den Kopf. „Wenn ich von Bobbys Geburtsdatum zurückrechne, wird mir klar, dass ich die Stadt bereits verlassen hatte, ehe du mich über die Schwangerschaft informieren konntest.“

„Woher kennst du Bobbys Geburtsdatum?“

Offensichtlich war Nick über diese Frage erstaunt. Er zeigte ihr die zusammengefaltete Kopie der Urkunde.

Als Chessa das Blatt sah, schwankte sie. Sie vergaß das Messer in ihrer Hand und stützte sich mit ihrer zitternden Rechten auf die Arbeitsplatte.

„Du hast dich verletzt.“ Nick war im selben Augenblick neben ihr und drückte ein Küchenhandtuch auf die Wunde. Seine Berührung war warm und fest. Und die war außerordentlich liebevoll. „Wo finde ich Verbandszeug?“

Chessa zog verwirrt die Hand zurück. „Ich möchte, dass du jetzt gehst.“

Enttäuschung stand in seinem Blick. „Du weißt, dass ich das nicht kann.“

„Warum nicht? Du bist doch so gut darin.“

Chessas beißender Ton ließ Nick zusammenzucken. Er trat zurück. „Ich verstehe, wie du dich fühlst.“

„Das glaube ich kaum.“ Sie verwünschte das hysterische Zittern ihrer Stimme. „Bitte. Ich flehe dich an, geh, und lass uns allein.“

„Du hast jedes Recht, verletzt zu sein und dich verlassen zu fühlen. Ich möchte es wieder gutmachen.“

„Das ist unmöglich.“

„Ich kann es versuchen.“ Nick berührte ihren Arm, und die Wärme seiner Finger durchströmte sie heiß. „Chessa, du sollst wissen, dass …“ Er atmete tief durch. „… dass ich immer ganz besonders für dich empfunden habe.“

„Wie bitte?“

Nick versuchte zu lächeln. „Was wir miteinander erlebt, was wir geteilt haben, war etwas ganz Besonderes.“

Chessa vermochte nur noch, ihn anzustarren. Wie nett von ihm, Erinnerungen an eine Beziehung vorzugeben, die es nie gegeben hat, dachte sie.