Kybernetik, Kommunikation und Konflikt - Lina Nagel - E-Book

Kybernetik, Kommunikation und Konflikt E-Book

Lina Nagel

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Beschreibung

Gregory Bateson ist einer der bedeutendsten Gründungsväter der Systemtheorie und Kybernetik und gilt als Vordenker der systemischen Therapie und Beratung. Seine Arbeiten werden jedoch selten aus der Perspektive konflikttheoretischer Fragen betrachtet. Das vorliegende Buch realisiert genau dies: Es geht der Frage nach, welche Aspekte sich aus Batesons kybernetischen Ansätzen für eine systemische Konflikttheorie ableiten lassen. Dabei zeigt sich das große Potenzial seines Denkens. Zudem werden vielfältige Möglichkeiten für Reflexion und Konfliktbearbeitung in unterschiedlichen Praxisfeldern aufgezeigt.

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Lina Nagel

Kybernetik, Kommunikation und Konflikt

Gregory Batesonund (s)eine kybernetische Konflikttheorie

Mit Vorworten vonArist von Schlippe und Anita von Hertel

2021

Verlag für Systemische Forschung

im Carl-Auer Verlag

Der Verlag für Systemische Forschung im Internet:

www.systemische-forschung.de

Carl-Auer im Internet: www.carl-auer.de

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis an:

Carl-Auer Verlag

Vangerowstr. 14

69115 Heidelberg

Über alle Rechte der deutschen Ausgabe verfügt

der Verlag für Systemische Forschung

im Carl-Auer-Systeme Verlag, Heidelberg

Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages

Reihengestaltung nach Entwürfen von Uwe Göbel

Printed in Germany 2021

Erste Auflage, 2021

ISBN 978-3-8497-9042-4 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-9043-1 (ePub)

© 2021 Carl-Auer-Systeme, Heidelberg

Bibliografisehe Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliograflscheDaten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die Verantwortung für Inhalt und Orthografie liegt bei der Autorin.

Diese Publikation beruht auf der Masterthesis „Kybernetik, Kommunikation und Konflikt. Entwurf einer kybernetischen Konflikttheorie auf Grundlage von Gregory Batesons kybernetischer Erkenntnistheorie“ zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts an der Fakultät für Kulturreflexion der Universität Witten/Herdecke, 2019.

Gewidmet meinen Vorbildernin einer Haltung der Weisheit,Demut und Wertschätzung –Siglind, Astamaya, Arist und Anita

Inhalt

Vorwort von Arist von Schlippe

Vorwort von Anita von Hertel

1Einleitung

2Batesons Theorie – Erkennen, Irren und Kommunikation

2.1 Grundlagen der kybernetischen Erkenntnistheorie

2.1.1 Kybernetik, Kreisläufe und die Rolle der Beobachterin

2.1.2 Geist, Materie und Energie

2.1.3 Rückkopplung und Selektion

2.1.4 Der Unterschied, der einen Unterschied ausmacht

2.1.5 Double Bind

2.2 Erkenntnistheoretische Irrtümer und Korrektive

2.2.1 Denkgewohnheiten – Objektivität und Wahrheit

2.2.2 Handlungsmuster – Kontrolle und Macht

2.3 Wesentliche Aspekte der Kommunikationstheorie

2.3.1 Die Unmöglichkeit, nicht zu kommunizieren

2.3.2 Kommunikationsebenen, -kanäle und -aspekte

2.3.3 Beziehungsmuster und -dynamik

2.3.4 Lerntheorie, logische Ebenen und Kontext

3Kybernetische Konflikttheorie – Von der Negation zur Eskalation und Lösung

3.1 Grundlagen eines kybernetischen Konfliktverständnisses

3.1.1 Herleitung – Unterschiede in Konflikten

3.1.2 Auslöser – Negation und Störung

3.1.3 Mögliche Folgen – Werteverlust

3.1.4 Missverständnisse – widersprüchliche Signale

3.1.5 Zwischenfazit

3.2 Konfliktdynamik als eskalierende Beziehungsmuster

3.2.1 Entwicklung – konträre Interpunktion und Verstärkung

3.2.2 Eskalation – Schismogenese

3.2.3 Zwischenfazit

3.3 Konfliktlösung als Anpassung von Landkarte und Landschaft

3.3.1 Reziprozität und Fließgleichgewicht

3.3.2 Vom Konfliktsystem zur Metaebene

3.3.3 Korrektive in Konflikten

3.3.3.1 Weisheit – systemischeres Denken und Handeln

3.3.3.2 Demut – Einführung eines äußeren Elements

3.3.3.3 Liebe – Wertschätzung als Basis

3.3.4 Zwischenfazit

4Weiterführende Überlegungen

4.1 Erkenntnistheoretische Irrtümer in Konflikten

4.1.1 Verwechslung von Landkarte und Landschaft

4.1.2 Wirklichkeitskonstruktionen

4.1.3 Denkgewohnheiten – einseitig dualistisches Denken

4.1.4 Handlungslogik – einseitig zweckgerichtetes Handeln

4.2 Veränderungen auf inter- und intrapersonaler Ebene

4.3 Zwischenfazit

5Fazit

Literaturverzeichnis

Vorwort von Arist von Schlippe

Konflikte begleiten die Menschheit seit Urzeiten. Natürlich sind Konflikte unvermeidbar, ja nur über Konflikte geschieht soziales Lernen, jeder Entwicklungsschritt – sei er individuell, sozial oder technologisch – ist begleitet von Auseinandersetzungen und dem Ringen um die optimale Lösung. Und doch wird zugleich bei dem Thema der potenziell destruktive Charakter der eskalativen Entgrenzung konflikthafter Prozesse immer mitgeführt. Er bleibt eine ständige Herausforderung, nicht zuletzt für die Wissenschaft. Denn durch Konflikte können bereits in den überschaubaren Kontexten unserer Alltagswelt Beziehungsstrukturen geschädigt oder gar zerstört werden, ganz zu schweigen von großen weltpolitischen Konfliktlagen, die in der Vergangenheit immer wieder nur durch Katastrophen begrenzbar waren. Angesichts der verfügbaren Waffensysteme stellt dies allerdings eine reale Bedrohung des Überlebens der Menschheit dar.

Konflikte sind, wie bereits angedeutet, alles andere als negativ, sie sind ein Teil der conditio humana, und es kann nicht darum gehen, sie zu verbannen. Vielmehr geht es darum, konflikthafte Interessendifferenzen konstruktiv zu bearbeiten und vor allem symmetrische Eskalationen zu begrenzen. Dazu gilt es insbesondere, die Dynamik der Eskalation, die dahinterliegenden eskalationsfördernden Glaubenssätze zu verstehen und diese als „Landkarten“ zu erkennen, bei denen die Wahrscheinlichkeit groß ist, sich zu verirren. Und es gilt, neue Landkarten dagegen zu setzen, die ein Denken in Kreisläufen beinhalten, die also die Wirkung jedes Handelns im weiteren Kontext reflektieren und auf diese Weise helfen, die Trennung von geistiger und materieller Welt zu überwinden. Der Gebrauch dieser Karten lässt schnell erkennen, wie sehr jede Schädigung eines Gegenübers, jeder destruktive Umgang mit anderen Menschen, anderen Völkern und auch der Umwelt sich letztlich immer auch schädigend auf den/die Akteure selbst auswirkt (man denke nur an die zerstörerischen Folgen einseitiger Interventionen etwa in der jüngeren Geschichte im Nahen Osten).

Ein Vordenker, der nicht müde wurde, die erkenntnistheoretischen Irrtümer aufzudecken, mit denen die Menschheit sich auseinandersetzen sollte, wenn sie überleben will, war Gregory Bateson. Kern seiner Überlegungen ist, dass unser Bewusstsein systematische Verzerrungen beinhaltet, gravierende Fehleinschätzung komplexer Zusammenhänge, die das Gleichgewicht zwischen dem Menschen, der Gesellschaft und dem ökologischen Umfeld immer stärker zerstören. Zentral ist für ihn dabei die irreführende Idee der Macht. Den Glauben an den Mythos der Macht hat er einmal auch sehr drastisch als „Krankheit der Erkenntnistheorie“ bezeichnet. Die Idee, es wäre möglich, einseitig zweckgerichtet handeln zu können, einseitig Kontrolle über die Umgebung bzw. über andere Menschen ausüben zu können, mündet seiner Ansicht nach immer mittel- oder langfristig in Destruktion. Bateson war davon überzeugt, dass, wenn es nicht gelingt, diese Irrtümer zu korrigieren, die Menschheit sich möglicherweise einmal selbst zugrunde richten würde – und angesichts des wachsenden Potenzials an Massenvernichtungswaffen auf der Welt und der zunehmenden Entgrenzung politischer Kultur in Richtung auf Eskalation und „Schlag und Gegenschlag“ sind seine Überlegungen heute aktueller denn je. Seine Sorge „Es ist zweifelhaft, ob eine Gattung, die sowohl eine fortgeschrittene Technologie als auch diese eigenartige Weltanschauung hat, überleben kann“ (1972, S. 435) wird wohl auch heute noch – oder heute noch viel mehr – von vielen Menschen geteilt werden.

Interessanterweise hat Bateson seine Überlegungen zwar zum einen vielfach in seinen Werken geäußert und viele der Mechanismen, die hinter Konflikten wirksam sind, offengelegt. Zum anderen hat er aber nie eine konsistente Konflikttheorie vorgelegt. Diese Erkenntnis ist der Ausgangspunkt des vorliegenden Buches. Die Autorin hat sich intensiv mit den Werken Batesons auseinandergesetzt und das herausgearbeitet, was bei ihm implizit blieb. Ihr Anliegen ist es, die Skizze einer kybernetischen Konflikttheorie im Sinne Batesons vorzulegen. Meines Erachtens ist ihr dies sehr gut gelungen. Dieses Buch hilft, das Verständnis für die Konflikten zugrunde liegenden Strukturen zu vertiefen und so das an der Oberfläche oft so chaotische Konfliktgeschehen besser einzuordnen, seine Dynamik zu verstehen und Ideen für mögliche konstruktive Ansatzpunkte zu entwickeln. Wer immer sich in Theorie und Praxis mit konflikthaftem Geschehen beschäftigt, wird dieses Buch mit Gewinn lesen!

Witten, im Oktober 2020Arist von Schlippe

Vorwort von Anita von Hertel

Gregory Bateson und Lina Nagel verbindet die Leidenschaft für eine Kommunikation, die nicht bei einer theoretischen Beschreibung stehen bleibt, sondern die mit der Qualität unterwegs ist, dass sie wirklich etwas bewegen kann. Die Leserinnen und Leser können daher von dem Vorteil profitieren, dass sich der erkenntnisreiche Gedankenfluss aus drei Quellen speist:

1.aus den Erfahrungen der Praktikerin Nagel,

2.aus dem Können der Trainerin Nagel und

3.aus den Erkenntnissen der Forscherin, die uns mit ihrer Recherche einen neuen Zugang zum Wissen des großen Systemikers, Kybernetikers und Kommunikators Bateson aus der Konfliktperspektive verschafft.

Den großen Erfahrungsschatz gelungener Konfliktlösungen hat Lina Nagel als Praktikerin in der Welt der Mediation und des Fairen Streitens erworben.

Sie hat als Trainerin immer wieder neu mit Anfängerinnen gearbeitet und diese zu Konfliktlöserinnen und Konfliktlösern begleitet. So hat sie eine Fülle an Erkenntnissen im Kontext Konflikt gewinnen können. Sie hat vielfach erlebt, welche Verhaltensweisen sich wann und in welchen Konfliktkonstellationen eher unterstützend auswirken – und welche wann eher nicht. Sie hatte bereits eine profunde Fülle an Erfahrungen über die Vielgestaltigkeit von Konfliktentstehungen, Konfliktdynamiken, Konfliktbearbeitungsmöglichkeiten, Konfliktlösungsschwierigkeiten und gelingenden Konfliktlösungen, während sie sich mit den wissenschaftlichen Aspekten dieses Buches intensiv zu befassen begann.

Und so nimmt Nagel die Leserinnen und Leser mit zu Forschungsergebnissen, Erkenntnissen und Kommunikationsoptionen aus der Welt der Kommunikationsforschung des großen Gregory Bateson, der in Kürze 100 Jahre alt geworden wäre.

Sie zeigt Facetten, die so noch niemand untersucht hatte: die Übertragung der Bateson‘schen Haltung auf das gesamte Thema des Konflikts und der Konfliktlösung. Dieses Buch ist damit nicht nur für Menschen mit Forschungsinteresse im Kontext Konflikt ein Gewinn, sondern für alle, die sich für die systemische Sichtweise des Gregory Bateson, für seine Erkenntnisse und Ideen interessieren.

Hamburg, im November 2020Anita von Hertel

1Einleitung

„Die wichtigste Aufgabe heute besteht vielleicht darin, in der neuen Weise denken zu lernen. Lassen Sie mich sagen, daß ich nicht weiß, wie man in dieser Weise denkt. Intellektuell gesehen kann ich mich hier hinstellen und Ihnen eine durchdachte Darstellung des Problems geben; wenn ich aber einen Baum fälle, denk ich weiterhin, ‚Gregory Bateson‘ fällt einen Baum. Ich fälle den Baum. ‚Ich selbst‘ ist für mich weiterhin ein viel zu konkretes Objekt, das sich von dem Rest dessen unterscheidet, was ich hier als ‚Geist‘ bezeichnet habe.“

(Bateson, 1972, S. 594)

Der angloamerikanische Anthropologe Gregory Bateson (1904–1980) wird zu den bedeutendsten und einflussreichsten Denkern des 20. Jahrhunderts gezählt (s. z. B. Walker, 2017, S. 57). Mit seinem Entwurf einer kybernetischen Erkenntnistheorie und mit der damit einhergehenden Kommunikationstheorie und Lerntheorie legte er einen der wichtigsten Grundsteine für das, was heute als „systemisches Denken“ bzw. als „systemischer Ansatz“ bezeichnet wird (z. B. Lutterer, 2009, S. 7).

Die Mitte des 20. Jahrhunderts von Norbert Wiener zunächst im technischen Bereich entwickelte Kybernetik, die Lehre von der Steuerung komplexer Systeme, hatte es zum Ziel, ein Instrumentarium zur Analyse zirkulärer Prozesse zu entwickeln. Schon bald fand sie Eingang in die Sozial- und Geisteswissenschaften. Bateson war einer der ersten, der die kybernetischen Erkenntnisse im sozialen Bereich umsetzte und Konzepte entwickelte, die später zum Entwurf seiner Erkenntnistheorie führten (ebd., 2000, S. 1). Neben „der Typentheorie Russels, der Informationstheorie Shannons und der Spieltheorie Neumanns [ist Bateson] insbesondere durch die Kybernetik beeinflusst worden“ (ebd., 2009, S. 52). Zeit seines Lebens beschränkte er sich nicht auf einen Forschungsbereich, betrieb ethnologische Forschung, Kulturvergleiche, arbeitete mit Delphinen, Schizophrenen und Alkoholikern1. Seine interdisziplinären Fragestellungen waren ökologischer, philosophischer, gesellschaftlicher und psychologischer Natur. Der rote Faden, der sich durch seine Forschung zieht, lässt sich m. E. mit drei Begriffen zusammenfassen: Kommunikation, Lebewesen und ihr Lebensraum – oder mit einem Begriff: Ökologie. Erst Ende 1969 wurde ihm klar, was er eigentlich gemacht hatte, nämlich, dass er bei seiner Arbeit „mit primitiven Völkern, Schizophrenie, biologischer Symmetrie und in meiner Abweichung von der herkömmlichen Evolutions- und Lerntheorie eine weit verstreute Menge von Fix- oder Bezugspunkten festgelegt hatte, von denen aus ein neues wissenschaftliches Arbeitsfeld abgegrenzt werden konnte“ (Bateson, 1972, S. 16). Helm Stierlin schreibt im Vorwort zu Batesons „Ökologie des Geistes“:

„[…] Batesons Denken reicht weit über den engeren psychiatrischen und psychotherapeutischen Bereich hinaus: Er darf als Mitbegründer und -entwickler der ökologischen oder besser: ökosystemischen Sicht der Lebensprozesse gelten. Heute ist es schon fast ein Gemeinplatz zu sagen: das Überleben der Menschheit wird davon abhängen, ob, wie weit und wann sie sich solche Sicht zu eigen macht. Bateson verdeutlicht wie wohl kaum ein anderer Autor, was ein solches ‚Sich-zu-eigen-Machen‘ alles bedeutet – vor allem die Korrektur vieler eingeschliffener Verstehensansätze, Denkgewohnheiten, Wahrnehmungsweisen und Beziehungsmuster.“ (Stierlin, 1985, S. 7)

Wie es in diesem Zitat anklingt, ging Bateson davon aus, dass unsere gewohnten Wahrnehmungsweisen, Denkgewohnheiten und Handlungsstrategien sowie die damit einhergehenden Beziehungsmuster in Kombination mit der fortschreitenden Technologie dazu führen können, dass die Menschheit sich ihre Lebensgrundlage selbst zerstören wird. „In seinen Schriften ab ca. 1969 hat Bateson verstärkt der modernen Gesellschaft Krankheit und Selbstzerstörung attestiert, deren Kern er im egologischen, rationalitätszentrierten Menschenbild sieht“ (Marotzki, 1990, S. 47). „Es ist zweifelhaft, ob eine Gattung, die sowohl eine fortgeschrittene Technologie als auch diese eigenartige Weltanschauung hat, überleben kann“ (Bateson, 1972, S. 435). Er zog in Betracht, dass unser Bewusstsein „systematische Verzerrungen der Sicht enthält, die das Gleichgewicht zwischen dem Menschen, der Gesellschaft und seinem Ökosystem zerstören können, wenn sie in moderne Technologie umgesetzt werden“ (ebd., S. 566). Dementsprechend verwies er immer wieder auf die Dringlichkeit eines Denkens, das, der Grundidee der Kybernetik entsprechend, komplexe Kreisläufe berücksichtigt, um erkenntnistheoretische Irrtümer zu vermeiden, die mit bewusster Zwecksetzung und kausal-logischen Denkweisen verknüpft sind2. Seine Bedenken und die damit einhergehende Forderung sind heutzutage, mit dem fortschreitendem Klimawandel, wohl aktueller und relevanter denn je. Umso erstaunlicher ist es, dass Batesons Gedankengut bisher, trotz kontinuierlicher Rezeption3, noch vergleichsweise wenig Verbreitung und Würdigung gefunden hat. Selbst in einzelnen Bereichen, die er stark geprägt hat, wie die systemischen Ansätze, hat er heutzutage keinen umfassenden Bekanntheitsgrad4. Ramage und Shipp schreiben, dass „Batesons Originalität und Wichtigkeit jetzt, da das ökologische Desaster immer dringlicher wird, anfangen kann, gänzlich geschätzt zu werden“5 (2009, S. 14).

Bateson befasste sich jedoch nicht nur damit, wie unsere Denkgewohnheiten und erkenntnistheoretische Irrtümer mit globalen, gesellschaftlichen und ökologischen Phänomenen zusammenhängen, sondern auch, welche Rolle sie für die menschliche Kommunikation spielen, insbesondere auch im Hinblick auf geistige Gesundheit und Krankheit. So entwickelte Bateson in seiner Forschung zur Kommunikation von Schizophrenen eine seiner wohl bekanntesten und umstrittensten Theorien: den double-bind (Bateson, 1972, S. 270–301 & 353–361), mit dem er Interaktionsmuster beschreibt, bei denen Menschen sich auf zwei miteinander unvereinbaren Arten gleichzeitig verhalten müssen, sich in sogenannten Beziehungsfallen wiederfinden. Die Theorie wird kontrovers diskutiert, da sie aufgrund der ihr zugrundeliegenden ungewöhnlichen Epistemologie oft missverstanden wurde (Dell, 1981)6. Ein weiteres Feld seiner Arbeit im Bereich geistiger Gesundheit und Krankheit ist seine Arbeit mit den Anonymen Alkoholikern (Bateson, 1972, S. 400–435). Die Dynamik, die Bateson für das Verhältnis zwischen Alkoholiker und Alkohol ausmachte, liefert ein anschauliches Beispiel für den Mythos der Macht – einem der von Bateson herausgearbeiteten erkenntnistheoretischen Irrtümer7.

Obwohl menschliche Kommunikation, gesellschaftliche Konflikte und konflikthafte Dynamiken einen Großteil seiner Arbeit ausmachen und er sich anhand des Konzepts der Schismogenese (mit dem eskalierende, auf positiver Rückkopplung beruhende Prozesse beschrieben werden) explizit mit konflikthaften Dynamiken befasste, explizierte er keine umfangreiche Konflikttheorie und ging nicht darauf ein, was das von ihm postulierte Denken für Konflikte konkret bedeutet. Deshalb ist die Frage nach Bezügen seiner kybernetischen Erkenntnistheorie zum Themenfeld Konflikte noch ungeklärt und hochinteressant. Wie können Konflikte im Lichte einer kybernetischen Theorie rekonstruiert werden? Welche Bezüge lassen sich zwischen seiner Erkenntnistheorie und dem Phänomen Konflikt im Hinblick auf Denkgewohnheiten, Handlungsstrategien und Wahrnehmungsweisen in sozialen Beziehungskonflikten herstellen? Diese Fragen sind insofern relevant, als dass viele der heutigen systemischen Ansätze, Konflikt- und Kommunikationstheorien zwar von Bateson geprägt sind, es jedoch keine konsequent aus seinem Gedankengut abgeleitete Konflikttheorie gibt8. Es stellt sich deshalb die Frage, was eine Konflikttheorie in seinem Sinne und mit direktem Bezug zu seiner Theorie ausmacht. Ziel der Arbeit ist es, ein solches kybernetisches Konfliktverständnis im Hinblick auf die Entstehung, Dynamik und Lösung von Konflikten zu erarbeiten.

Um die erarbeiteten Aspekte der Konflikttheorie zu veranschaulichen und zu konkretisieren, werden punktuell Bezüge zu aktuellen systemischen und praxiserprobten Konfliktansätzen hergestellt. Konfliktansätze, die in der Praxis erprobt wurden und in dieser Arbeit herangezogen werden, sind das Faire Streiten (Willms & Risse, 2014), die professionelle Konfliktlösung anhand von Mediation (v. Hertel, 2013) und der gewaltlose Widerstand (Omer & v. Schlippe, 2004, 2009, 2010). Das Faire Streiten ist eine Konfliktlösungsmethode, entwickelt in Anlehnung an das „Aggression Lab“ von Bach und Bernhard (1971), die die Parteien selbstständig – ohne eine dritte unterstützende Partei – anwenden können. Die Mediation ist eine professionelle Konfliktlösungsmethode mit Hilfe einer Mediatorin. Der gewaltlose Widerstand wurde für Familien entwickelt, in denen die Beziehung zwischen Eltern und Kind stark beeinträchtigt ist. Ziel der Methode ist es, die Präsenz der Eltern im Leben ihres Kindes wiederherzustellen (Omer & v. Schlippe, 2004, S. 231). Auf die Elemente der Methoden wird nur selektiv und skizzenhaft eingegangen, sofern sie für die Analyse der Arbeit relevant sind. An Literatur zu systemischen Ansätzen werden in erster Linie Arbeiten von Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer („Gewusst wie, gewusst warum“, 2019), Heim Omer, Nahi Alon und Arist von Schlippe („Psychologie der Dämonisierung“, 2016) und Fritz B. Simon („Einführung in die Systemtheorie des Konflikts“, 2012) herangezogen.9

Zur Darlegung von Batesons Theorie werden primär seine eigenen Werke, „Geist und Natur“ (1979), „Ökologie des Geistes“ (1972) und „Wo Engel zögern“ (1993), das seine Tochter anhand seines Nachlasses veröffentlicht hat, sowie Wolfram Lutterers Analysen von Batesons Werk („Auf den Spuren ökologischen Bewußtseins“, 2000; „Gregory Bateson. Eine Einführung in sein Denken“, 2009) berücksichtigt. Im Hinblick auf Batesons Kommunikationstheorie liefern „Kommunikation. Die soziale Matrix der Psychiatrie“ (2012), das er erstmals 1951 mit Jürgen Ruesch veröffentlichte, und „Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien“ (1990) von Watzlawick, Beavin und Jackson die Grundlage der Ausführungen. Luhmanns Systemtheorie („Soziale Systeme“, 1984) wird vereinzelt herangezogen. Insbesondere bei Batesons Darlegungen zur Rolle des Beobachters (s. Kapitel 2.1.1) und zum Verhältnis von Landschaft und Landkarte (s. dazu Kapitel 2.1.4) werden Parallelen zum Konstruktivismus ersichtlich, ohne dass Bateson den Terminus je selbst in „Geist und Natur“ verwendet hätte (Müller, 2015, S. 116)10.

Um ein Konfliktverständnis von Batesons Theorie abzuleiten, werden in Kapitel 2 zunächst die Kernaspekte seiner Erkenntnistheorie und wesentliche Aspekte seiner Kommunikationstheorie dargelegt. Für seine Erkenntnistheorie, um die es in Kapitel 2.1 geht, spielen insbesondere sein Verständnis von Geist und das Wissen um die Rolle der Beobachterin eine entscheidende Rolle. Anhand dieser ergeben sich alle weiteren Überlegungen als logische Konsequenzen. Seine Erkenntnistheorie steht dem üblichen, alltäglichen Denken und Denkgewohnheiten gegenüber, die Bateson auch als „eigenartige Weltanschauung“ (1972, S. 435) bezeichnet. Letztere verleitet, laut Bateson, zu erkenntnistheoretischen Irrtümern. Auf diese und ihre dysfunktionalen Folgen, vor denen Bateson warnt, wird in Kapitel 2.2 eingegangen. Anschließend werden in Kapitel 2.3 wesentliche Aspekte der Kommunikationstheorie Batesons dargelegt. Dabei werden erste Bezüge zum Themenfeld Konflikte bereits ersichtlich.

In Kapitel 3 wird, auf dieser Grundlage aufbauend, untersucht, wie Konflikte im Lichte einer kybernetischen Theorie rekonstruiert werden können. Dazu wird in Kapitel 3.1 zunächst auf die Entstehung von Konflikten eingegangen. Es wird erarbeitet, was auf der Inhalts- und Beziehungsebene vorliegen muss, damit Konflikte sich entwickeln, und welche Folgen Konflikte im Laufe der Zeit im Hinblick auf die zwei Ebenen mit sich bringen. Hierzu wird Batesons Verständnis von Information als Unterschied, der einen Unterschied ausmacht (Bateson, 1972, S. 582), auf Konflikte bezogen. Um darzulegen wie Konflikte entstehen, werden systemtheoretische Überlegungen herangezogen. Es wird sich zeigen, dass auf der Inhaltsebene fortdauernde Negationen (Simon, 2012) und auf der Beziehungsebene Störungen vorliegen müssen, damit von einem offenen Konflikt die Rede sein kann. Anhand von Batesons Darlegungen zur Rolle der Beziehungsebene wird ersichtlich, dass fortschreitende Konflikte den Verlust von Werten zur Folge haben können. Abschließend wird darauf eingegangen, wie das Zustandekommen von Missverständnissen aus kybernetischer Sicht erklärt werden kann. Die Darlegungen leiten über in die Ausführungen zur Entwicklung der Konfliktdynamik hin zur Eskalation, um die es in Kapitel 3.2 geht. Hier werden die vorangegangenen Überlegungen mit Batesons Konzept der Schismogenese und der Interpunktion in Verbindung gebracht und anhand von Beispielen aufgezeigt, wie sich die Eskalation des Konfliktes auf der Beziehungs- und Inhaltsebene zeigt. Kapitel 3.3 ist der Konfliktlösung und Veränderung dysfunktionaler Beziehungsmuster aus kybernetischer Sicht gewidmet. Im ersten Abschnitt wird betrachtet, was stabile Beziehungsmuster, in Abgrenzung zu eskalierenden, ausmacht. Anschließend wird im zweiten Abschnitt untersucht, welche Rolle die Metaebene der Kommunikation Batesons in der Konfliktlösung spielt. Im dritten Abschnitt werden die erkenntnistheoretischen Irrtümer aus Kapitel 2.2 erneut aufgegriffen und untersucht, wie die dort dargelegten Korrektive, die Bateson ausmacht, den Irrtümern in Konflikten entgegenwirken können. Für ein besseres Verständnis kann es an dieser Stelle hilfreich sein, auf Kapitel 4.1 vorzugreifen und die dortigen Überlegungen zu erkenntnistheoretischen Irrtümern und deren Korrektiven in Konflikten zu lesen.

Im 4. Kapitel werden weiterführende Überlegungen angestellt. Dazu werden im ersten Abschnitt wie eben erwähnt erneut die erkenntnistheoretischen Irrtümer, die Bateson ausmacht, herangezogen, in zwei Kategorien unterteilt und konkretisiert: in einseitig dualistisches Denken auf der Ebene der Denkgewohnheiten und in einseitig zweckgerichtetes Handeln auf der Ebene der Handlungslogik11. Es wird untersucht, inwiefern die Wirklichkeitskonstruktionen der Konfliktparteien im Hinblick auf ihre Erwartungen, Strategien und Bewertungen in Zusammenhang mit den Irrtümern stehen. Im zweiten Abschnitt wird auf Veränderungen auf der inter- und intrapersonalen Ebene eingegangen, die mit der Lösung von Konflikten einhergehen.

Abschließend folgt das Fazit, in dem die Ergebnisse zusammengefasst werden und auf Bezüge zu den betrachteten systemischen Ansätzen und Konfliktlösungsmethoden sowie auf Limitationen und weiterführende Forschungsempfehlungen eingegangen wird.

1 Hier und im Folgenden wird beliebig die weibliche oder männliche Form benutzt, um einen Beitrag dazu zu leisten, das Ungewohnte (dass nur die weibliche Form benutzt wird und damit beide Formen gemeint sind) etwas gewöhnlicher zu machen. Selbstverständlich sind damit alle Menschen gemeint.

2 Siehe hierzu neben den bereits angeführten Zitaten auch: Bateson, 1972, S. 559, S. 566 und S. 573.

3 Müller legt dar, dass, anhand der Untersuchung der Datenbank „ISI Web of Knowledge“, allein „Geist und Natur“ (bzw. „Mind and Nature“ und die französische sowie italienische Übersetzung) vom Erscheinungsjahr 1979 bis Ende 2009 im arithmetischen Mittel 47,9 mal pro Jahr zitiert wurde. In den Disziplinen Philosophie und Biologie erstaunlicherweise allerdings sehr zurückhaltend (2015, S. 124).

4 Dies könnte damit zusammenhängen, dass seine Urheberschaft, insbesondere bei der Rezeption seiner bekannten Konzepte wie dem Double Bind und die auf ihm aufbauenden paradoxen Interventionen häufig nicht kenntlich gemacht wurde (Müller, 2015, S. 124).

5 Hier und im Folgenden aus dem Englischen übersetzt.

6 In Kapitel 2.1.5 wird darauf eingegangen, um zu veranschaulichen, wie ungewohnt Batesons Erkenntnistheorie für westliche Denkgewohnheiten ist und wie grundlegend deshalb das Umdenken ist, das sie erfordert.

7 Auf diese wird in Kapitel 2.2 ausführlicher eingegangen.

8 Zudem kann nicht davon ausgegangen werden, dass alle Weiterentwicklungen in seinem Sinne waren. Zwei Beispiele dafür sind die Kommunikationstheorie von Watzlawick, Beavin und Jacksons (1990) und das Neurolinguistische Programmieren (NLP). Das NLP ist laut Lutterer „durchtränkt […] von Batesonschem Denken und Begrifflichkeiten“ (2000, S. 199). Er beschreibt, wie Bateson zu Beginn begeistert von der Arbeit von John Grinder und Richard Bandler, den Entwicklern des NLP, war. Bateson schrieb sogar eine „euphorische Einführung“ (ebd.) für deren Veröffentlichung „Struktur der Magie“ (Bandler & Grinder, 1975). Seine Begeisterung wandelte sich jedoch in Ablehnung und laut einer Mitteilung von Mark Engel, eines Schülers Batesons, hat Bateson die pragmatische Attitüde der beiden später als „übel manipulativ“ bezeichnet (Lutterer, 2000, S. 199). Mit seinem Gedicht „Das Manuskript“ (Bateson & Mary Catherine Bateson, 1993, S. 17) äußert Bateson laut Lutterer „eine Warnung vor einer Ausnutzung seines Denkens, wie sie in Form pragmatistischer Strategien damals bereits in verschiedener Art und Weise erfolgt war (Stichwort NLP)“ (ebd., S. 245).

9 „Mediation ist kein explizit systemisches Setting, setzt aber eine systemisch-allparteiliche Grundhaltung voraus“ (v. Schlippe & Schweitzer, 2019, S. 146). Das Gleiche lässt sich auch über das Faire Streiten und den Gewaltlosen Widerstand sagen. Die Methoden werden herangezogen, da sie über viele Jahre (das Faire Streiten über 30 Jahre) in der Praxis erprobt wurden und anhand von ihnen viele Konflikte gelöst werden konnten. Es wird sich zeigen, dass die Herangehensweisen dieser Methoden, die bei der Lösung von Konflikten als förderlich gelten können, Parallelen zu einem Konfliktverständnis im Sinne der kybernetischen Theorie Batesons aufweisen.

10 Von Foerster selbst kam zu dem Schluss, dass Bateson Konstruktivist war (1992, S. 48). Eine umfangreichere Analyse der Frage, inwiefern Batesons Werk ein Schlüsselwerk des Konstruktivismus ist, findet sich in „Das Muster, das verbindet. Gregory Batesons Geist und Natur“ von Albert Müller (1992, insbesondere S. 117ff).

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