L.A. Lovestory - Abby McDonald - E-Book

L.A. Lovestory E-Book

Abby McDonald

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Beschreibung

Zwei Schwestern in Hollywood – Sonne, Träume, neue Liebe

Als Hallies und Grace' Vater stirbt, verlieren die Schwestern buchstäblich alles. Das Erbe geht in Ermangelung eines letzten Willens an die Stiefmutter, und die Töchter müssen ihr Heim in San Francisco verlassen, um zu einem entfernten Onkel nach L.A. zu ziehen. Während die temperamentvolle, leidenschaftliche Hallie sich trotz ihrer prekären Situation sofort in das glitzernde Leben von Beverly Hillls und eine romantische Liebe mit einem Musiker stürzt, versucht die stille, vernünftige Grace ihr Leben auf die Reihe zu bekommen – und nicht zu viel an den Jungen zu denken, den sie in San Francisco zurücklassen musste …

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DIE AUTORIN

© Caroline Briggs

Abby McDonald, geboren 1986, hat in Oxford ihr Examen in Politik, Philosophie und Volkswirtschaft abgelegt. Nach dem Studium arbeitete sie als Musikjournalistin und hat Künstler wie LeAnn Rimes und Marilyn Manson interviewt. Seit 2009 ist sie freie Autorin und hat mit »Plötzlich Liebe« ein erfolgreiches Jugendbuch-Debüt abgeliefert.

Von Abby McDonald ist bei cbj außerdem erschienen:

Plötzlich Liebe

Mein perfekter Sommer

Summer of Love

Abby McDonald

L.A.

LOVESTORY

Aus dem Englischen

von Franka Reinhart

Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

1. Auflage

Deutsche Erstausgabe August 2015

© 2013 by Abby McDonald

Published by Arrangement with the Author.

Die Originalausgabe erschien 2013 unter

dem Titel »Jane Austen Goes to Hollywood«

bei Candlewick Press

© 2015 der deutschsprachigen Ausgabe:

cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House, München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Franka Reinhart

Lektorat: Kerstin Weber

Umschlagbild: © Gettyimages/Stanislaw Pytel

Umschlaggestaltung: Suse Kopp

kg · Herstellung: ReD

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-14995-6

www.cbj-verlag.de

Für meinen Vater,

der mich immer unterstützt und ermutigt hat.

TEILEINS: Frühling

I

IhrVaterwartot,undGracekonnte an nichts anderes denken als an Torte.

Okay, es ging zwar nicht um eine x-beliebige Langweilertorte – die verlockend weiße Schachtel, die ein Trauergast heute Morgen mitgebracht hatte, trug das Logo der besten Konditorei von ganz San Francisco –, trotzdem überkam Grace, noch während sie überlegte, was sich wohl Leckeres darin verbergen mochte (eine mit Blaubeerfüllung oder eine mit schaumigem Zitronenbaiser), ein plötzlicher Anfall von schlechtem Gewissen. Dass sie bei der Beerdigung ihres Vaters nichts anderes im Kopf hatte als eine Torte, war ja wohl der eindeutige Beweis dafür, dass sie eine superschreckliche Person war.

»Viel zu früh ist John von uns gegangen«, verkündete der Pfarrer gerade. Graces ältere Schwester Hallie stieß einen verzweifelten Seufzer aus. Ausnahmsweise war ihr Hang zur Hysterie mal nicht fehl am Platz. Nein, diesmal war es Grace, die sich absolut daneben benahm. Sie rutschte noch ein Stückchen tiefer auf der harten Holzbank, als ob man ihr die süßen Visionen ansehen könnte, die sie gerade vor Augen hatte.

Dabei mochte sie Torte nicht mal! Seit sie im Alter von neun Jahren durch einen übermotivierten Zahnarzt eindringlich davor gewarnt worden war, dass man von Zucker umgehend Zahnausfall bekäme, hatte sie sich das Essen von Süßkram fast vollständig verboten. Ganze zwei Wochen lang nach dem Zahnarztbesuch hatte sie den Mund kaum noch aufgemacht und versucht, Kartoffelbrei mit geschlossenen Lippen zu schlürfen – bis ihr Vater ihr behutsam erklärt hatte, dass ihre Zähne bestimmt nicht gleich auf den Boden prasseln würden.

Damals, als er noch bei ihnen war, um ihnen Sachen zu erklären. Als er überhaupt noch lebte.

»… in Erinnerung wird uns auch seine Lebensfreude …«

In diesem Moment unterbrach ein durchdringender Schrei den Pfarrer in seiner Andacht. Es war der kleine Dash, der in der ersten Bankreihe zu brüllen begann. Sein Gesicht war knallrot und er bebte vor Zorn. Ihr Bruder. Oder Halbbruder, wie Hallie immer betonte. Was für Grace allerdings viel sinnloser klang. Als ob ihr Vater sie nur halb verlassen oder nur halb eine andere Frau geheiratet hätte.

»Pssst!« Portia, Graces Stiefmutter, schaukelte ihn beruhigend auf ihrem Schoß, sodass ihr schwarzer Schleier rhythmisch wippte. Aber Dash weinte nur noch stärker und seine schrille Stimme hallte in der Kirche lautstark wider.

Hinter ihr tuschelte jemand leise: »Das arme Kind. Wird seinen Vater nie kennenlernen.«

Grace merkte, wie Hallie erstarrte. »Glück für ihn«, flüsterte Hallie. »Da vermisst er ihn auch nicht! Wir sind es ja wohl, die sie bedauern sollten.«

Grace sagte nichts dazu. Dash krakeelte weiter, bis Portia das strampelnde Balg schließlich der Nanny übergab. Die junge Schwedin floh mit ihm durch den Mittelgang nach draußen, begleitet von Dashs immer leiser werdendem Geschrei. Dann schloss sich das Kirchenportal hinter ihnen und es war wieder still.

Wenn es für Grace doch auch nur so einfach gewesen wäre mit dem Fluchtweg und dem Weinen. Sie hatte immer noch keine Tränen vergießen können, dazu war bis jetzt gar keine Zeit gewesen. Nachdem ihre Mutter die Todesnachricht erhalten hatte, war sie in ihrem Bett verschwunden und wollte nichts mehr essen oder trinken. Irgendwann hatte Grace den Hausarzt geholt, damit er ihr etwas zur Beruhigung verschrieb. Hallie hatte tagelang derart heftig geweint, dass Grace ihr schließlich ebenfalls eine zerkleinerte Tablette ins Essen mischen musste, damit sie endlich ein bisschen Ruhe fand. Anschließend saß sie ganz allein mit den Adressbüchern ihrer Mutter im Wohnzimmer, in der »guten Stube« – die sie seit dem Auszug ihres Vaters so gut wie nicht mehr nutzten –, und erledigte die erforderlichen Anrufe. Sie benachrichtigte entfernte Verwandte und alte Freunde aus Studienzeiten, um die sich Portia ganz sicher nicht kümmern würde, falls sie sie überhaupt kannte.

Der Pfarrer räusperte sich. »Wir wollen jetzt an ein paar besonders schöne Momente mit unserem lieben John denken.«

Das war das Stichwort für Grace. Sie erhob sich aus der Bank und umklammerte das Gedicht, das sie für diesen Zweck ausgesucht hatte. Aber kaum war sie zwei Schritte durch den Gang gelaufen, als Portia aus ihrer Bank schlüpfte und die Stufen zum Lesepult hinauf huschte. Sorgsam hob sie ihren Schleier und legte ihn gekonnt über ihren eleganten Haarknoten. »John und ich waren Seelenverwandte«, begann Portia und ließ ihren betroffenen Blick durch das Kirchenschiff schweifen.

Grace hörte Hallie zischend einatmen. »Das ist ja wohl nicht ihr Ernst!«

Doch es war ihr Ernst. In jeglicher Hinsicht.

Als sich Grace wieder auf ihren Platz setzte, griff sich Portia mit ihrer in einem schwarzen Netzhandschuh steckenden Hand an die Brust. »Von unserer ersten Begegnung an wusste ich, dass wir füreinander bestimmt sind«, fuhr sie fort. »Er war mein Schicksal.«

Ein Schicksal, das allerdings schon verheiratet war und Kinder hatte. Aber solch banale Details waren für Portia nebensächlich, damals wie heute. Grace warf einen besorgten Blick zu ihrer Mutter, die jedoch völlig unbeeindruckt dasaß, als ob das Gesagte bei ihr gar nicht ankam.

»Er war der tollste Mann, den ich je kennengelernt habe. Liebenswürdig. Ehrbar. Loyal.«

Hallie sprang auf, aber Grace zog sie wieder runter.

»Willst du hier etwa rumsitzen und dir das anhören?«, fauchte Hallie. Ihr Gesicht, das seit Tagen erschöpft und aschfahl ausgesehen hatte, war jetzt glutrot vor Empörung. In ihren Augen loderte der Zorn, den Grace nur allzu gut kannte und der jede Menge Ärger versprach. Und zwar ziemlich öffentlichen Ärger.

»Bitte«, flüsterte Grace und sah sich nervös um. »Lass es einfach gut sein, ja?«

»Was bitte schön soll ich gut sein lassen?«, schimpfte Hallie gedämpft. »Dass sie ihn uns weggenommen hat oder dass sie hier die ganze Zeit so tut, als ob es uns nie gegeben hätte?«

»Alles. Hallie, bitte«, flehte Grace. Sie mussten ja nicht nur die Beerdigung durchstehen, sondern auch noch die anschließende Leichenfeier mit zahllosen Beileidsbekundungen von Leuten, die sie noch nie gesehen hatten. »Sie hat auch das Recht zu trauern. Schließlich waren sie eine Familie.«

Aber das war die falsche Bemerkung.

»Wir waren eine Familie!« Hallie riss sich los und schob sich aus ihrer Bank, wobei sie Grace heftig auf die Füße trat.

»Hallie!«, flüsterte Grace verzweifelt, aber es war zu spät.

»… sagte, dass er noch nie so glücklich war …« Portia brach abrupt ab und sah Hallie an, die mitten im Gang stand. Ihre Blicke trafen sich, und Grace rechnete jeden Moment mit einer Explosion. Doch die blieb aus. Hallie erschauerte, schluchzte verzweifelt auf und stürmte dann aus der Kirche.

Grace atmete erleichtert auf. Sie wartete noch kurz, bis Portia weitersprach, und raunte dann ihrer Mutter zu: »Ich seh mal nach ihr.«

Von ihrer Mutter kam jedoch keine Antwort. Sie starrte nur dumpf vor sich hin, mit derselben ausdruckslosen Miene wie schon die ganze Woche. Grace stand auf und eilte zum Hinterausgang. Sie hielt den Kopf gesenkt, um die Blicke zu meiden, die vermutlich alle auf sie gerichtet waren.

Grace fand ihre Schwester auf dem Friedhof, wo sie ziellos umherstreifte. Ihre dunklen Haare wehten im Wind. Hallie hatte ihren Mantel vergessen und ihr langer schwarzer Rock bauschte sich, dass sie aussah wie eine Gestalt aus einem Gruselroman. Grace seufzte und stapfte über die schlammige Wiese auf sie zu. Es war Hallie durchaus zuzutrauen, dass sie sich aus dramaturgischen Gründen mit Absicht eine Lungenentzündung holte. Aber Grace würde ihr ganz bestimmt nicht auch noch den Rest der Woche Hustensaft einflößen, geschweige denn die zwei Treppen zu ihr nach oben bringen.

»Sieh dich doch nur mal hier um.« Hallie gestikulierte wild mit ausgebreiteten Armen. »Was haben wir hier verloren? Was hat er hier verloren?«

Grace wusste nicht genau, ob sie Friedhöfe im Allgemeinen oder konkret diesen hier meinte. Die bröckelnden Gruftanlagen und glänzenden Granitgrabsteine in Reih und Glied waren mit überdimensionalen Ornamenten aus Rosen und welkenden Lilien verziert. Ihr Vater hatte immer Witze darüber gemacht, dass seine sterblichen Überreste einmal über den Spielerbänken im Stadion der San Francisco Giants verstreut werden sollten. Doch als Grace dies Portia gegenüber erwähnte, erntete sie nur einen entsetzten Blick. Denn selbstverständlich würde John ein ganz normales Begräbnis erhalten. Und da ihre eigene Familiengrabstätte so weit entfernt in Connecticut lag, musste es natürlich die beste und prestigeträchtigste Kirche von ganz San Francisco sein.

Vielleicht war es ja auch besser so. Er hatte Grace schon seit Jahren zu keinem Baseball-Spiel mehr mitgenommen, und das hier war wenigstens ein Ort, an dem sie ihn besuchen konnte.

»Los komm Hallie, gehen wir wieder rein.«

»Nein! Lass mich in Ruhe.« Hallie drehte sich weg. Sie zitterte jetzt so sehr, dass Grace ihre Jacke auszog und sie Hallie um die schmalen Schultern legte. Sie war ihr ein ganzes Stück zu groß und hüllte sie fast vollständig ein. Wer die beiden nicht kannte, hielt meistens Grace für die Ältere. Schon vor zwei Jahren hatte sie Hallie von der Größe her eingeholt und schoss seitdem immer noch weiter in die Höhe. In diesem Jahr war Grace auch figurtechnisch etwas üppiger geworden, sodass sie sich mit ihren 16 Jahren wie eine Fremde in ihrem eigenen Körper fühlte. Die unangenehmen Kurven sorgten dafür, dass ihre sowieso schon dürftigen Leistungen im Sportunterricht noch dürftiger ausfielen und ihre pickeligen Labor-Partner in Physik oder Chemie sie nur noch verlegen stotternd anglotzten.

»Mom macht sich bestimmt schon Sorgen«, versuchte Grace ihre Schwester zur Vernunft zu bringen. »Wir müssen ja nicht wieder rein, aber wir könnten wenigstens im Vorraum warten, bis der Gottesdienst zu Ende ist.«

»Ich versteh dich echt nicht!« Hallie presste die Handballen auf ihr Gesicht und wischte sich die verschmierte Wimperntusche von den Wangen. »Wie kannst du sie auch nur ansehen und ihr dabei nicht ihr niedliches Köpfchen abreißen wollen? Und ihm gleich mit! Dieser ganze Schwachsinn von wegen, was für ein toller Hecht er war. Wenn er nicht schon tot wäre, würde ich ihn am liebsten eigenhändig umbringen!« Wieder brach sie in Schluchzen aus.

»Das meinst du doch nicht ernst.« Grace tätschelte ihr – wie sie hoffte – beruhigend die Schulter.

»Doch! Ich hasse ihn!«, schniefte Hallie. »Er hat alles kaputt gemacht, und jetzt kann man nicht mal mehr sauer auf ihn sein, weil er nicht mehr lebt.«

Grace wartete geduldig, dass ihr Schluchzen nachließ. Hallies Anfälle brachen immer wie ein Unwetter über sie herein, oftmals schon beim geringsten Anlass – zum Beispiel vor Freude, wenn sie die Hauptrolle in einem Schultheaterstück bekommen hatte, oder aus Verzweiflung über die allerletzte Staffel der von ihr heiß geliebten TV-Krankenhausserie. Aber meistens beruhigte sie sich recht schnell wieder.

Als Hallie sich endlich wieder einigermaßen im Griff hatte, lotste Grace sie zurück in Richtung Kirche. Sie war heilfroh, dass sie unter dem dunklen Trauerkleid ihre wärmste schwarze Strumpfhose trug. Es war zwar schon Mai, aber das bedeutete in San Francisco lediglich, dass durch die dichten grauen Wolken auch mal die Sonne blitzen konnte.

»Lass uns diesen Tag einfach irgendwie überstehen, ja?«, flehte sie ihre Schwester an. »Danach sind Portia und die anderen wieder weg und wir können wieder zur Normalität übergehen.«

»Normalität?« Hallie warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Wie kannst du so was nur sagen? Das klingt ja so, als ob du ihn gar nicht geliebt hättest.«

Grace erstarrte. Hallie ergriff ihre Hände. »Tut mir leid! Das wollte ich nicht. Ich nehm’s zurück!«

Grace wollte ihre Hände wegziehen, aber Hallie hielt sie fest. »Ich hab es nicht so gemeint, Grace. Ich bin echt die schrecklichste Schwester der Welt. Entschuldige, ja? Bitte.«

»Schon okay, Hallie.« Grace war viel zu müde für solche Diskussionen. Nur ihre Schwester schaffte es, in Bezug auf ihren Vater Mordgedanken zu äußern und ihr im selben Atemzug vorzuwerfen, dass sie ihn nicht genügend geliebt hätte.

»Nein, ich mein es ernst!«, rief Hallie mit weit aufgerissenen Augen. »Natürlich weiß ich, dass er dir wichtig war. Ich begreife nur nicht, wie du es schaffst, so zu sein. So ruhig, meine ich.«

Grace erwiderte nichts. Hallie hatte das Wort »ruhig« so betont, als wäre es etwas Anrüchiges. Aber Grace hatte gar keine andere Wahl. Was brachte Hallie denn ihre ganze Wut bis auf Kopfschmerzen und Dehydrierung? Und auch wenn es für ihre Mutter eine Lösung zu sein schien, der Realität komplett zu entfliehen, war es Grace tausendmal lieber, dem Leben ins Auge zu sehen. Als ihr Vater sie verlassen hatte, hatte die Welt nicht aufgehört, sich zu drehen, und das würde sie auch jetzt nach seinem Tod nicht. Da waren die entfernten Verwandten, denen es Trost zuzusprechen galt, da war die Chemiehausarbeit, die sie bis Montag zu schreiben hatte, und sie musste auch noch einen Ferienjob für den Sommer finden.

In den vergangenen zwei Jahren waren sie mit einem Teilzeit-Vater immerhin so gut zurechtgekommen, dass Grace davon ausging, dass es ganz ohne ihn wohl auch irgendwie gehen würde.

II

DaPortiasPenthousegerade renoviert wurde, fand die Leichenfeier bei ihnen zu Hause statt. Als Grace und Hallie dort ankamen, parkten überall glänzende Limousinen dicht an dicht in der halsbrecherisch steilen Straße. Die Nachbarn hatten sich allesamt längst den Immobilienhaien geschlagen gegeben, die hier Luxuswohnanlagen mit umlaufenden Dachterrassen errichteten und winzige Zwei-Zimmer-Apartments mit Blick über die San Francisco Bay für eine halbe Million Dollar oder mehr an aufstrebende Jungmanager verhökerten. Aber ihre Eltern hatten dem Druck stets standgehalten. Das dreistöckige, schon reichlich marode viktorianische Haus lag ganz oben auf einer Anhöhe, umgeben von einem ziemlich überwucherten Garten, in dem zu etwa gleichen Teilen wilde Rosen und Unkraut wuchsen und wo man mit dem Rasenmäher schon lange nichts mehr ausrichten konnte.

»Mein herzliches Beileid.« Ein weiterer Trauergast ergriff Graces Hand. »Ist Valerie auch da?«

»In ihrem Atelier, nehme ich an.« Ihre Mutter hatte sich sofort nach der Rückkehr ins Dachgeschoss zurückgezogen und Hallie ebenfalls, sodass Grace allein an vorderster Front den Austausch einschlägiger Floskeln bewältigen musste. »Danke, dass Sie gekommen sind.«

»Wie tapfer.« Eine ältere Frau tätschelte ihr die Wange, und Grace musste sich enorm anstrengen, um sich nicht wegzuducken. »Was für eine Tragödie.«

»Danke«, wiederholte Grace. »Im Wohnzimmer ist ein Buffet aufgebaut, und es gibt auch etwas zu trinken, wenn Sie möchten.«

Irgendwann ließ die Frau endlich von ihr ab und der nächste Trauergast trat an ihre Stelle. »Welch ein schlimmer Verlust.«

Grace nickte benommen. Außerhalb der Kirche erkannte man deutlich die Kluft zwischen dem alten und dem neuen Leben ihres Vaters. Die Angehörigen ihrer Stiefmutter stolzierten kerzengerade durch den Raum und trugen neben Hut und schwarzer Designer-Trauermode auch noch üppigen Familienschmuck und ein Hündchen auf dem Arm. Vermutlich spielten sie auch Golf und besaßen eine Segelyacht. Außerdem waren sie allesamt weiß. Lauter bleiche Gesichter ohne den geringsten Anflug von Sommerbräune, maximal jüdischer Herkunft, dachte Grace trocken. Ihre Verwandtschaft dagegen war ein eher bunt zusammengewürfelter Haufen: Hochschuldozenten, Künstler, Aktivisten. Vor allem Leute, die ihren Vater von früher her kannten und schätzten. Bevor er anfing, massenhaft Überstunden in einem repräsentativen Büro zu schieben. Bevor er sich einen persönlichen Fitnesstrainer und neue Anzüge zulegte. Bevor er so viel verdiente, dass seine Eventmanagerin von der Ostküste ein Auge auf ihn warf und er schließlich beschloss, noch einmal ganz von vorn anzufangen.

»Grace?« Jemand zupfte sie am Ärmel und als sie sich umdrehte, stand Portia ihr stirnrunzelnd gegenüber. »Sind die Garnelenbällchen auf dem Buffet eigentlich glutenfrei?«

Grace blinzelte. »Das weiß ich nicht«, antwortete sie langsam. »Da musst du die Frau vom Partyservice fragen.«

»Ich kann sie nirgends finden«, beschwerte sich Portia. »Du weißt doch, dass Dash eine Weizenunverträglichkeit hat. Ich hatte dir die Liste mit Hinweisen für seine Ernährung gemailt.« Sie sah Grace erwartungsvoll an. Ihre Gesichtshaut spannte sich frisch und straff über den markanten Wangenknochen.

»Es gibt auch Vegetarisches«, schlug Grace vor. »Ich hab Gemüsesticks gesehen, glaube ich.«

»Ja, aber Dash will die Garnelenbällchen«, entgegnete Portia ungehalten. Grace seufzte.

»Tut mir leid«, sagte sie leise. »Ich kümmere mich darum.«

»Bitte möglichst gleich«, forderte Portia sie freundlich, aber bestimmt auf. »Er bekommt immer furchtbar schlechte Laune, wenn er Hunger hat.« Da entdeckte sie hinter Grace plötzlich jemanden, und schlagartig hellte sich ihre Miene auf. »Delilah! Meine Liebe!«

Grace beobachtete, wie sie quer durch den Raum schwebte. Sie war schön, da gab es gar keinen Zweifel, aber auf Grace wirkte ihre Schönheit irgendwie immer unterkühlt und ein bisschen zu perfekt: ihr Haar meist streng nach hinten frisiert, ihre Outfits immer edel und eng anliegend. Grace hatte sie ein paar Mal im Büro ihres Vaters gesehen – bevor es passiert war – und konnte sich noch gut daran erinnern, dass diese gestylte Perfektion sie stets eingeschüchtert hatte. Als ob Portia einer geheimen Anleitung folgte, wie sie Grace für immer ein Rätsel bleiben konnte.

Aber nie im Leben hatte sie mit dem gerechnet, was dann passiert war.

Im Zimmer war es plötzlich unerträglich heiß, und ihre Wollstrumpfhose begann unangenehm an den Beinen zu jucken. Grace zog sich in die Küche zurück, aber auch dort war die Mitarbeiterin vom Partyservice nicht zu finden.

»Du bist sicher eine von den Töchtern.« Eine ältere Dame blinzelte sie durch eine Drahtgestellbrille an. »Helena, richtig?«

»Das ist meine Schwester. Ich bin Grace«, stellte sie richtig, aber ihr Gegenüber winkte bereits ein paar der korrekt gekleideten Gäste in gestärkten Hemden und hochgeschlossenen Blusen herbei.

»Das ist eine von ihnen. Ihr wisst doch, seine Töchter aus erster Ehe«, raunte sie fast verschwörerisch, als ob das ein Skandal wäre.

Einer der Männer taxierte Grace kurz. »Da erkennt man aber kaum eine Ähnlichkeit, ganz anders als bei Dashwood.«

»Ja, absolut!«, rief die Dame. »Er ist seinem Vater ja auch wie aus dem Gesicht geschnitten. Du kommst wohl eher nach deiner Mutter«, fügte sie hinzu und tätschelte Grace abwesend den Arm.

Aber da lagen sie völlig falsch. Beide Mädchen sahen ihrem Vater ausgesprochen ähnlich, das hatte er immer gesagt. Grace hatte die Augen und das Lachen von ihm, während Hallie sein Lächeln geerbt hatte. Aber Grace machte sich nicht die Mühe, die Leute zur korrigieren, denn für die war es ohnehin von vornherein ausgeschlossen, dass zwei schwarze Mädchen nach ihrem weißen Vater kommen konnten. Auch wenn ihre Haut weniger dunkel war als die ihrer Mutter – Tochter nigerianischer Einwanderer aus Philadelphia –, hatte Grace schon vor Jahren lernen müssen, dass es Menschen gab, die einfach nicht genauer hinsehen wollten. Schwarz war für sie halt schwarz, da gab es keine Nuancen oder Zwischentöne.

»Wie furchtbar tragisch. Du hattest wenigstens die Chance, Zeit mit ihm zu verbringen«, bekam Grace von einer anderen Frau zu hören. »Aber die arme Portia …«

»Ja, die arme Portia.«

Grace versuchte, ruhig durchzuatmen. In ihrem Kopf hämmerte es, und sie hatte das Gefühl, dass ihr die Anwesenden immer dichter auf die Pelle rückten – eine Masse von unaufrichtigen Menschen in maßgeschneiderter Kleidung. »Entschuldigen Sie mich bitte«, murmelte sie und trat den Rückzug an. Doch als sie ins Wohnzimmer kam, empfing sie dort sofort Portias ungeduldige Stimme: »Grace? Grace, die Bällchen!«

Hastig machte Grace wieder kehrt, stieß dabei jedoch direkt mit einem weiteren Gast zusammen.

»Grace, mein Schatz, es tut mir so leid.« Die Frau drückte Grace an ihre üppige Oberweite. Sie war eine Künstlerfreundin ihrer Mutter, erinnerte sich Grace – eine Frau mit wilder Mähne und einem Faible für Poetry Slams und Heilsteine. »Du musst ja völlig verzweifelt und am Ende sein.«

Grace bekam kaum noch Luft.

»Ich sag immer: Lass alles raus. Du musst alles aus dir rauslassen!«

»Ich … ich kann nicht …« Grace wich zurück und rang nach Atem. »Tut mir leid, ich muss …« Sie drehte sich um und eilte in die Küche zum Hinterausgang. Die Frau rief ihr nach: »Vergiss die Trauerarbeit nicht, mein Schatz!«

Draußen hatte es angefangen zu regnen. Ein leichtes Nieseln wehte Grace ins Gesicht, als sie über die ungemähte Wiese auf das Ulmendickicht am äußersten Ende des Grundstücks zulief. Die Bäume waren so ausladend, dass sie einen natürlichen Rückzugsort boten, der vom Haus aus nicht einsehbar war.

Grace ging direkt auf den größten Baum zu und kletterte die Leiter hinauf, die an der knorrigen Rinde befestigt war. Das Baumhaus war die große Freude und der ganze Stolz ihres Vaters gewesen, der handwerklich ansonsten keinerlei Geschick besessen hatte und kaum eine kaputte Sicherung austauschen konnte. Die Konstruktion war ganz simpel. Es bestand aus einem robusten, in einer stabilen Astgabel verankerten Boden, vier windschiefen, aus Brettern zusammengenagelten Wänden und einem undichten Dach – aber es gehörte ihr. Grace hatte als Kind viele Stunden hier oben zugebracht, wo sie Blätter und Insekten in ihren Notizbüchern katalogisierte, während Hallie unten ihre Feentänze vollführte und szenische Lesungen des Sommernachtstraums veranstaltete. Später hatte ihr Vater ein Fernrohr gekauft und Grace einen ersten Eindruck von den unendlichen Weiten des Nachthimmels vermittelt. Er hatte ihr erklärt, dass die scheinbar zufällige Ansammlung von Sternen in Wirklichkeit eine hochpräzise Bewegungsgleichung sei – millionenfache Kräfte, die das gesamte Universum zusammenhalten.

Grace nahm eine alte Decke aus der Truhe in der Ecke, ließ sich im Schneidersitz auf dem Boden nieder und blickte durch die Bäume auf die unter ihr liegende Stadt. Von hier aus wirkte die Welt wie in dichten weißen Nebel gehüllt, nur die Umrisse der Golden Gate Bridge waren in der Ferne verschwommen erkennbar. Grace veränderte ihre Position und hörte dabei, wie es in ihrer Hosentasche raschelte. Es war ihr Gedicht.

Sie zog das zerknitterte Blatt heraus, ohne es jedoch zu entfalten. Das war gar nicht nötig.

»›Sing, wenn ich tot bin, Liebster‹«, begann Grace mit leiser Stimme. »›Kein Trauerlied um mich.‹«

Sie hatte dieses Gedicht in der vierten Klasse für einen Rezitationswettbewerb an ihrer Schule auswendig gelernt. Ihr Vater hatte ihr dabei geholfen und mit ihr abends die Strophen gepaukt. Für jeden fehlerfreien Vortrag hatte er ihr einen Dollar versprochen, den sie im Buchladen ausgeben dürfte. Am Ende hatte sie gegen ein blasses Mädchen verloren, das einen Limerick über einen Hund aufsagte, aber das war eigentlich gar nicht mehr wichtig gewesen. Ihr Vater hatte ihr hinterher ein wunderbar in Leder gebundenes Lehrbuch über den Sternenhimmel geschenkt, illustriert mit allen Sternenkonstellationen. Roxy Heatherington konnte ihre alberne Urkunde behalten – Grace hatte einen Preis bekommen, der ihr wirklich etwas bedeutete.

»›Pflanz keine Rosen mir zuhaupt / Und auch Zypressen nicht.‹« Sie sprach jetzt lauter, und die Zeilen kamen ihr ohne Nachdenken über die Lippen. »›Gras, nass von Tau und Schauern / Grünt über mir gewiss / Und wenn du willst, gedenke / Und wenn du willst, vergiss …‹«

Grace spürte einen Kloß im Hals und hielt inne. Als Kind hatte sie gar nicht verstanden, dass es ein Gedicht über den Tod war und darüber, was geschieht – oder nicht geschieht –, wenn wir nicht mehr da sind. Schwebte ihr Vater durch die Abenddämmerung dahin? Erinnerte er sich oder war er dazu gar nicht mehr imstande? Eigentlich war eher Hallie diejenige, die an Sachen wie Geister und Seelen glaubte, Grace hielt sich seit jeher mehr an die Wissenschaft.

»Christina Rossetti, stimmt’s?«, ertönte eine Stimme von unten. Grace schrie auf und musste sich am Türrahmen festhalten, um nicht vor Schreck vom Baum zu fallen.

»Entschuldige! Ich wollte dir keine Angst einjagen.«

Grace atmete tief durch und äugte nach unten. Ein Junge schaute zu ihr hinauf. Er war etwa so alt wie Hallie oder ein bisschen älter, trug ein schwarzes Jackett und hatte sich etwas unter den Arm geklemmt. Auf seiner Nase saß eine Brille mit eckigen Gläsern und seine dunkelblonden Haare standen in regenfeuchten Büscheln von seinem Kopf ab. »Hab ich immer sehr gemocht«, fügte er hinzu. »Das Gedicht, meine ich. Und außerdem noch ›Steh nicht weinend an meinem Grab‹. Von Mary Elizabeth Frye, glaub ich.«

Allmählich hatte sich Grace von ihrem Schock erholt. »Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte sie, um einen freundlichen Tonfall bemüht.

»Ich war eigentlich nur auf der Suche nach einem ruhigen Plätzchen.« Der Junge drehte sich kurz zum Haus um und lächelte Grace dann schuldbewusst an. »Sind ganz schön viele Leute da drin, und meine Schwester ist ziemlich … also, sagen wir mal … einnehmend.«

Er wollte offensichtlich zu ihr ins Baumhaus, wie Grace bestürzt erkannte. »Ich weiß nicht, ob es uns beide aushält.«

»Ich hab auch Proviant dabei.« Der Junge zauberte hoffnungsvoll eine Schachtel unter seinem Arm hervor. Es war genau die Schachtel.

Mit der Torte.

Grace lenkte ein. »Okay, aber sei vorsichtig, die Leiter ist schon ein bisschen …« Sie brach mitten im Satz ab, da der Junge sowieso schon gekonnt hinaufkletterte. »Morsch«, ergänzte sie, als er sich neben ihr auf den Boden fallen ließ.

»Jahrelange Übung«, erklärte er. »Draußen auf dem Wasser bin ich die ganze Zeit in der Takelage unterwegs.«

»Oh«, antwortete sie enttäuscht. »Dann bist du also einer von denen.« Er sah sie fragend an. »Von denen mit Yacht.«

Der Junge lachte und streckte ihr seine Hand entgegen. »Ich heiße Theo.«

Grace schüttelte sie zaghaft. »Grace.«

»Ich weiß«, sagte er und öffnete behutsam die Tortenschachtel. »Wir haben uns schon mal gesehen. Bei der Taufe.«

Grace musterte ihn. Er kam ihr allerdings kein bisschen bekannt vor. »Tut mir leid, ich kann mich gar nicht erinnern. Diesen Tag hab ich nur noch sehr … verschwommen im Gedächtnis.«

Es war bis heute der einzige Anlass gewesen, zu dem sie diese noble Kirche betreten hatte – exakt neun Monate, nachdem ihr Vater sie verlassen hatte. (Man musste kein Mathegenie sein, um sich seinen Reim drauf zu machen.) Hallie hatte sich natürlich geweigert mitzukommen, sodass Grace mutterseelenallein in der vordersten Bankreihe stand, während das Dash-Baby so laut heulte, dass selbst der Pfarrer beim Segen beinahe aus dem Konzept gekommen war. Danach gab es eine Feier in irgendeinem eleganten Hotel. Grace erinnerte sich nur noch daran, dass es eine schicke mehrstöckige Torte mit Schokoglasur gab, von der sie so viel gegessen hatte, dass ihr schlecht geworden war.

Beim Anblick der Tortenschachtel hellte sich ihre Miene auf. Vielleicht war sie am Ende doch keine superschreckliche Person. Vielleicht war das schlichtweg ihre Art, mit Schicksalsschlägen fertigzuwerden. Bei traurigen Anlässen konnte sie offenbar an nichts anderes als an Torte denken.

Theo bemerkte ihr erfreutes Gesicht. »Magst du Blaubeeren?« Er zog eine Gabel und ein paar Servietten aus seiner Brusttasche und reichte ihr beides. »Guten Appetit.«

Grace versuchte, eine paar Stücke abzustechen. »Woher kanntest du meinen Vater?« Grace reichte Theo ein krümeliges Stück. »Du gehörst zu Portias Familie, oder?«

»Kann man so sagen.« Theo biss von seinem Stück ab und verschmierte sich dabei den Mund mit Blaubeerfüllung. Er lachte verlegen und tupfte ihn sich ab. »Sie ist meine Schwester.«

»Oh.« Grace blinzelte verblüfft. Sie wusste zwar, dass Portia einen jüngeren Bruder hatte oder sogar zwei davon, aber die waren in ihrer Vorstellung immer genauso gewesen wie Portia: makelloser Haarschnitt, elegantes Lächeln. Bei Theo dagegen hing die Krawatte schief, seine Haare waren ein einziges Wirrwarr und am Kinn klebte immer noch ein Rest Blaubeercreme. Doch genau das hatte etwas Tröstliches für Grace, denn von aufgesetzter Perfektion hatte sie für heute echt genug.

»Wie verkraftet es Portia denn?«, fragte sie schließlich vorsichtig, wenn auch eher aus Pflichtgefühl als aus ehrlichem Interesse.

Theo lächelte betrübt. »Im Moment hält sie sich ganz tapfer, aber … es hat sie ziemlich kalt erwischt.«

»Geht uns ganz ähnlich.«

Falls Theo ihren spitzen Tonfall bemerkt hatte, ignorierte er ihn höflich. »Ich bleib noch ein bisschen und helfe ihr mit Dash und … den ganzen Erledigungen.«

Er wohnte in New York, fiel Grace da wieder ein. Und war mit einem Treuhandvermögen, einem Stadthaus an der Upper Eastside und einer Großmutter gesegnet, die mit eiserner Hand regierte. Als ihr Vater ihnen von seiner neuen Familie erzählen wollte, hatte Grace kaum zugehört.

»Mein Bruder Rex hat im Moment so viel mit seinem Studium in London zu tun«, fügte Theo hinzu. »Er lässt sich entschuldigen.«

»Schon okay. Ich kann die Leute sowieso nicht einordnen«, gab sie zu. »Sie haben alle den gleichen Gesichtsausdruck und geben die gleichen Floskeln von sich. ›Mein allerherzlichstes Beileid.‹« Grace seufzte. »Aber was anderes kann man wahrscheinlich auch nicht sagen.«

Theo ließ seine Beine aus dem Baumhaus baumeln, vor und zurück. »Dein Vater hat immerzu von euch erzählt«, sagte er. »Von dir und Hallie.«

Grace blickte auf.

»Wenn ich ihn bei Familienfeiern getroffen habe«, ergänzte Theo. »Zu Weihnachten und bei Geburtstagen.« Er grinste ironisch und erklärte: »Die Coates-Family steht total auf so schicke Empfänge. Er meinte, du wärst richtig gut in der Schule. Vor allem in Naturwissenschaften, oder?«

Sie nickte nachdenklich. Grace war es von Anfang an furchtbar schwergefallen, sich ihren Vater in seinem neuen Leben vorzustellen. Für sie war es leichter gewesen, sich kein konkretes Bild davon zu machen, wie sein Alltag nun aussah. Frühstück an einem fremden Tisch. Abendnachrichten im Fernsehen mit den Füßen auf dem Schoß einer anderen Frau. Aber natürlich hatte er sich in dieser neuen Welt auch mit Leuten unterhalten. Zum Beispiel über sie.

»Astronomie«, sagte sie dann.

»Und deine Schwester geht an die Juilliard School nach New York.« Theo lächelte. »Er war wirklich stolz auf euch beide.«

Zum ersten Mal in dieser Woche spürte Grace, wie in ihr die Tränen aufstiegen. Hastig wandte sie sich ab. »Ich muss jetzt wieder zurück«, sagte sie und schluckte das Weinen hinunter. Sie stand auf und klopfte sich den Staub vom Kleid. »Meine Mutter und Hallie …«

»Ja natürlich. Tut mir leid, dass ich dich aufgehalten habe.« Theo sprang ebenfalls auf, aber Grace winkte ab.

»Du kannst ruhig bleiben, kein Problem.«

»Lieber nicht. Ist ja schließlich dein Versteck.« Theo zeigte in Richtung Leiter. »Nach dir.«

Grace glitt die Leiter hinunter und Theo folgte ihr. Unten standen sie einen Moment lang verlegen da.

»Danke«, sagte Grace unsicher und lächelte verhalten. »Für die Torte.«

»Gern geschehen.« Theo schob seine Hände in die Jackentaschen. »Ich weiß zwar, dass es nichtssagend klingt, aber … mein Beileid.« Ihre Blicke trafen sich, ruhig und ernst. »Es ist ein Verlust. Für alle. Er war ein guter Mensch und hat euch sehr geliebt.«

Grace merkte, wie es um ihre Fassung nahezu geschehen war. Wenn sie jetzt den Mund öffnete und auch nur ein einziges Wort sagte, war sie ihren Tränen hilflos ausgeliefert. Sie wollte nicht weinen, noch nicht – und schon gar nicht vor Theo. Daher nickte sie ihm nur kurz zu und schlang die Arme so fest um ihren Körper, als könnte sie damit verhindern, dass sie zu viel von sich preisgab. Dann eilte sie davon, zurück zum Haus.

III

»Wassolldasheißen, nichts?«

Grace zuckte zusammen, als Hallie ungläubig aufschrie. Seit der Beerdigung war eine Woche vergangen und jetzt saßen sie mit Arthur, einem alten Studienfreund ihres Vaters, im Wohnzimmer. Er sei Johns Nachlassverwalter, hatte er am Telefon mitgeteilt. Deshalb müsse er kurz mit ihrer Mutter ein paar rechtliche Details besprechen.

Dass zu diesen Details der vollständige Ruin der ersten Familie Weston gehörte, hatte er dabei allerdings nicht erwähnt.

»Nichts? Wie kann das denn sein?«, rief Hallie, als ob der grau melierte Arthur der Schuldige wäre und nicht nur der unglückselige Überbringer der schlimmen Nachricht.

Arthur räusperte sich und sah sie betreten an. »Euer Vater ist, sozusagen, intestatus gestorben.«

»Nein, ist er nicht«, rief Hallie. »Er ist in dem Bett dieser Schlampe gestorben!«

»Hallie …« Grace zupfte ihre Schwester am Ärmel – einem langen schwarzen Ärmel, da Hallie sich laut ihrer eigenen Aussage offiziell in Trauer befand und dabei sämtliche Kleidungsstücke aus ihrer frühpubertären Gothic-Phase auftrug. »Lass ihn bitte ausreden.«

»Intestatus bedeutet ohne Testament.« Arthur hüstelte wieder und wich ihren Blicken aus. »Und in solchen Fällen, wenn der Verstorbene seinen Nachlass nicht selbst geregelt hat, gehen sämtliche Vermögenswerte direkt an seine nächsten noch lebenden Angehörigen über.« Er hüstelte erneut. »Also an seine Frau.«

Hallie fluchte vor sich hin. Ihre Mutter saß schweigend neben Grace. Inzwischen wusste Grace ja, dass von ihr keine Reaktion zu erwarten war. Der Dämmerzustand ihrer Mutter war jetzt allerdings von euphorischen, durchmalten Nächten in ihrem Atelier abgelöst worden – Grace hatte sie beinahe gewaltsam zu dem Gespräch mit Arthur nach unten holen müssen. Ihre Finger waren noch mit roter Farbe beschmiert, die aussah wie Blut.

»Aber ich verstehe das nicht«, sagte Grace. »Er muss doch ein Testament verfasst haben, so versessen wie er auf Papierkram war. Das war doch total sein Ding.« Rechnungen, Formulare, amtliche Unterlagen, das war die große Stärke ihres Vaters. Sein Ablagesystem war bis ins Detail ausgeklügelt, und in seinem Büro gab es unzählige Aktenschränke. »Es kommt vor allem aufs Kleingedruckte an«, hatte er einmal gesagt und ihr zugezwinkert, als er Graces Zeugnis in dem dafür vorgesehenen Fach verstaute. Genau das hatte ihn zu einem solchen Finanzgenie gemacht: dass er immer alle Details im Blick behielt, auch die ganz klein gedruckten.

»Es tut mir sehr leid.« Endlich sah Arthur sie an. »Es gab tatsächlich eines, aber als das Baby kam, haben er und Portia es für ungültig erklären lassen … Er hatte immer vor, ein neues aufzusetzen, aber dann hatte er so viel zu tun und … tja, er hat es leider nie geschafft.«

»Wie praktisch für sie«, merkte Hallie bissig an. »So ein Miststück.«

Grace begleitete Arthur zur Tür, dann ging sie in die Küche zu Hallie und ihrer Mutter. Draußen war es immer noch nass und grau, und die Küche war schon immer der wärmste Raum im ganzen Haus gewesen. Die Wände waren gelb gestrichen und ein altertümlicher Herd, der die eine Wand zur Hälfte einnahm, spendete wohlige Wärme.

»Wir werden schon zurechtkommen«, verkündete Hallie und naschte von den Resten einer Schmorpfanne, die ihnen jemand vorbeigebracht hatte. »Wir sind schließlich nicht auf ihn angewiesen. Waren wir noch nie.«

Grace schaltete den Wasserkocher an. »Wir können es meistern. Der Unterhalt, den er in den vergangenen Jahren bezahlt hat, läuft doch bestimmt weiter. Darüber gibt es sicher Unterlagen, ein Scheidungsurteil oder so.«

Ihre Mutter schwieg. »Mom? Die Vereinbarungen für den Unterhalt? Hast du die irgendwo?«

Sie zuckte nur matt die Schultern. »Wir haben das nie gerichtlich festschreiben lassen. Sein Angebot war mehr als reichlich, wir haben das einfach privat geregelt.«

Grace schnappte nach Luft. »Du hattest also keinen Anwalt?«

»Er wollte es so schnell wie möglich über die Bühne bringen, weil ja das Baby unterwegs war.« Ihre Mutter sah erschöpft aus. »Und ich wollte deswegen keinen Streit. Er war ja sowieso weg.«

»Nein, jetzt ist er weg.« Grace stellte Teetassen auf den Tisch und dazu einen Teller Gebäck. Die Torte war nur der Anfang gewesen. Ihre Küche war voll mit Beileidskörben und mitgebrachtem Essen. Was sie auch gut gebrauchen konnten, denn offensichtlich hatten sie ja jetzt nicht mal genügend Geld, um Lebensmittel zu kaufen.

»Ich kapier gar nicht, wieso du jetzt so hektisch bist«, maulte Hallie sie an. »Wenn wir ihm so egal waren, dass er nicht mal so ein bescheuertes Testament auf die Reihe gekriegt hat, dann kann er uns echt gestohlen bleiben.«

»Ach ja?«, gab Grace zurück. »Und wer unterstützt uns jetzt? Wer bezahlt Heizung, Strom und deine ganzen beknackten Serien im Kabelfernsehen?« Hoffnungsvoll wandte sie sich an ihre Mutter: »Wann hast du denn zum letzten Mal ein Bild verkauft?«

ENDE DER LESEPROBE