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Michelle, erfolgreiche Geschäftsfrau, doch immer noch Papas Liebling, ist 25 Jahre alt und gerade auf dem Weg zum Traualtar als sie erkennt, dass der Mann, der dort auf sie wartet, definitiv der Falsche ist. Sie bricht aus ihrem wohlbehüteten Alltag aus, reißt alle Brücken hinter sich ab und lässt sich auf das Abenteuer Leben ein. Eine berufliche Herausforderung und eine leidenschaftliche Begegnung, die sie nicht mehr loslässt, führen sie fort aus ihrer Heimatstadt Richtung Norden in die große Hansestadt Hamburg. Wir entfliehen dem täglichen Einerlei und begleiten Michelle bei ihren beruflichen Erfolgen aber auch menschlichen Rückschlägen in dem schnellen bunten Leben einer fremden Großstadt. Doch wir verweilen nicht dort. Michelles Liebe zu León, dessen Vergangenheit er vergessen wollte und nun beide einholt, lassen uns weiterreisen, weit fort in den Süden nach Italien … Die Mondfrau riskiert und verliert viel auf ihrer Reise. Indem wir sie begleiten, können wir mit ihr lachen aber auch weinen. Bei ihrem Kampf gegen ihre Einsamkeit in einem fremden Land inmitten einer traditionell italienischen Familie findet Michelle nicht nur ihre große Liebe, sondern Freundschaft, Lust und ein unbändiges Lebensgefühl und schließlich auch sich selbst. Vor dem Hintergrund der wunderschönen italienischen Landschaft mit ihren Weinbergen und dem unverwechselbaren roten Licht eines Abends in der Toskana, beschreibt dieser spannende Roman mit einer gehörigen Portion Selbstironie, Witz und Charme die Freude und das Leid einer jungen Frau, die liebt, über sich selbst hinauswächst und erwachsen wird. Drei Fragen an die Autorin: Was ist das Besondere an der Geschichte von Michelle und León? Beide Charaktere können unterschiedlicher nicht sein und haben Geheimnisse aus ihrer Vergangenheit, die ihre Beziehung belasten. Beide lernen jedoch auch, das sie vertrauen und die Schatten der Vergangenheit aufarbeiten müssen, um ihrer Liebe eine Chance zu geben. Ihre pure Liebes- und Lebenslust und eine gehörige Portion Charme und Witz helfen ihnen auf ihrem Weg. Sind die Figuren in Ihrem Roman genau so, wie Sie sich diese am Anfang vorgestellt haben? Es gibt zahlreiche Handlungsstränge in dem Roman, die detailiert geplant waren und zum Schluss zusammengeführt werden mussten. Einzig Enrica hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ihr Charakter war wesentlich komplizierter und auch weniger sympathisch geplant. Je mehr ich Enrica beim Schreiben jedoch kennengelernt habe, desto mehr hat sie sich gegen diese Rolle gewehrt. Schließlich hat sie sich durchgesetzt (wie immer) und wurde schließlich so, wie wir sie im Roman kennenlernen. Wer und in welcher Stimmung sollte man den Roman La Ragazza Lunare - Die Mondfrau lesen? Ich glaube, man sollte ein Glas Rotwein zu diesem Buch genießen und man sollte ein bisschen Poesie und Sehnsucht im Herzen tragen. Es geht in diesem Buch um große Gefühle, die sollten im eigenen Leben Platz haben sowie der Glaube an die große Liebe. Dann werden Sie dieses Buch lieben.
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Seitenzahl: 695
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La Ragazza Lunare
Die Mondfrau
Alexandra Schulz
© 2023 Alexandra Schulz
Lektorat von: Regina Gertheis
Covergrafik von: ArtTower
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: Alexandra Schulz, Pestalozzistr. 20A, 41542 Dormagen, Germany.
Dieses Buch möchrte ich meinen beiden Töchtern Joeline und Hannah widmen. Sie sind zu jungen, selbstbewussten Frauen herangewachsen, die mit viel Scharfsinn und Intelligenz durch das Leben gehen, aber vor allen Dingen mit einem zugewandten und offenem Herzen den Menschen und ihrer Umwelt begegnen. Die Liebe zu Büchern und die Lust an fantasievollen Geschichten verbindet uns, weshalb La Ragazza Lunare für euch bestimmt ist. Ich bin stolz und glücklich, eure Mutter zu sein.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Widmung
KAPITEL 1 – CINDERELLA IN DEN FALSCHEN SCHUHEN
KAPITEL 2 – NEUE STADT, NEUES GLÜCK?
KAPITEL 3 – KÖNIG DROSSELBART
KAPITEL 4 - DOLCE VITA ODER GRANDE TRISTESSE?
KAPITEL 5 - UNAUSGESPROCHEN
KAPITEL 6 – ALLES AUF ANFANG
KAPITEL 7 – VIVA LAS VEGAS
KAPITEL 8 – VERGESSE NIE, WO DEIN HERZ SCHLÄGT
KAPITEL 9 – NUR EIN TANZ
KAPITEL 10 – YOU CAN’T FIGHT THE MOONLIGHT
KAPITEL 11 – DAS ROSENFEST
KAPITEL 12 - GEHEIMNISSE
KAPITEL 13 – FLORENZ
KAPITEL 14 - DER KAMPF
KAPITEL 15 - ABSCHIED
KAPITEL 16 - HEIMKEHR
KAPITEL 17 - FAMILIE
KAPITEL 18 – ENDLICH ZUHAUSE
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Urheberrechte
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KAPITEL 1 – CINDERELLA IN DEN FALSCHEN SCHUHEN
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Ich erwache erschrocken aus diesem Traum
Das Strahlen des Mondes erfüllt unseren Raum
Fühl deine Nähe, lieg ganz dicht bei dir
Dem Mond entschwunden, für immer bei mir.
KAPITEL 1 – CINDERELLA IN DEN FALSCHEN SCHUHEN
„Jetzt bitte die Erwachsenen noch einmal ihr schönstes Lächeln. Und für alle Kinder: Ameisenscheiße!“
Das letzte Bild vor dem Kölner Rathaus wurde gemacht.
„Oh, mein Gott, was für eine Ausdrucksweise.“ Kopfschüttelnd zog mich meine Mutter in die Richtung des wartenden Autos.
„Michelle, du musst dich noch umziehen und wir müssen dir die Haare hochstecken, keine Ahnung, wie wir das alles in der kurzen Zeit noch schaffen sollen.“
„Was für ein Tag!“ Mit einem Seufzen rutschte mein Vater hinter das Steuer des Oldtimers. „Habt ihr auch bemerkt, wie der Standesbeamte genuschelt hat? Ich überlege immer noch, ob der Mann einfach nur einen Sprachfehler hatte oder gerade aus der Mittagspause gekommen ist.“ Sein aufmunterndes Lächeln traf mich im Rückspiegel. „Nun komm schon, Michelle, so schlimm, dass man gleich weinen muss, war es nun auch nicht. Das ist sicherlich die Aufregung“, versuchte er meine Mutter zu beruhigen, die hektisch den Inhalt ihrer Handtasche durchsuchte.
„Ja, ganz bestimmt.“ Meine Mutter blickte auf. Ohne Taschentuch, doch mit einem Lächeln, das für uns beide reichte. „Gerade das ist doch das Besondere an so einem Tag. Man heiratet schließlich nur einmal im Leben.“
Klar hörte ich die Stimmen des Chors das Ave-Maria singen. Als hätte meine Mutter auch noch ein Zeitarrangement mit dem Wettergott getroffen, brach in diesem Moment die Sonne durch die Wolkendecke. Die feierlichen Stimmen erinnerten mich an eine Beerdigung. Ich versuchte tief durchzuatmen, um das mulmige Gefühl in der Magengegend zu verdrängen. Meine viel zu enge Korsage wurde mir bewusst. Wer um Himmels willen hatte dieses Lied überhaupt ausgesucht? Tief durchatmen, irgendwie würde ich diesen Gang schon schaffen, ich durfte nur nicht vergessen zu atmen. Die Türen der Kirche wurden geschlossen und der glänzende Asphalt verschwand vor meinem Blick. Die Dunkelheit legte sich wie ein kühler Seidenschal um meine Schultern. Ein aufmunternder Druck an meiner Hand ließ mich zu meinem Vater schauen. Sein Zwinkern sagte mir, dass er so weit war. Begleitet von den Stimmen des Chors gingen wir den Gang entlang. Alle waren sie heute erschienen, Freunde, Familie, Bekannte. Vergeblich versuchte ich, über die lächelnden Gesichter hinweg zu sehen. Einfach weiteratmen. Erleichtert bemerkte ich das hohe Fenster über dem Altar. Es zeigte das Bildnis eines Engels. Mit jedem Schritt schienen sich meine Gedanken mehr an ihm festhalten zu wollen. Weit geöffnete Flügel umrahmten ein zartes, fast elfenhaftes Gesicht. Licht schien von der Gestalt auszugehen. Ein Meer aus Farben, deren Töne heller und heller wurden, je näher sie ihn umgaben. Irgendetwas störte mich an seinem Gesicht. Es faszinierte mich gleichermaßen, ohne zu wissen, was meinen Blick festhielt. Mein Vater küsste meine Wange, erneut wurde meine Hand ergriffen. Stefan lächelte mich an. Wieder suchte ich die Augen des Engels. Stolz blickten sie auf mich herab. Der Chor hatte geendet und die plötzliche Stille brachte die Erkenntnis. Seine Augen waren dunkel. Dunkler noch als Bernstein. Dunkel wie Onyx. Wunderschöner, schwarzer Onyx.
Die Worte des Pfarrers klangen wie aus weiter Ferne. „Liebe, Treue, Ehrlichkeit“, ich sah das Licht der Sonne, wie es durch das harte Glas des Fensters brach, „bis dass der Tod euch scheidet“, die Farben bündelten sich, wurden zu einem satten, goldenen Orange „und nun frage ich dich, Michelle“, wie schön es doch aussah … Meine Stimme klang seltsam fremd. Hatte ich wirklich ja gesagt? Dieses eine Wort. Es auszusprechen brauchte weniger Zeit als der Lauf einer Träne. Die Augen des Engels verschwammen vor meinem Blick. Ich spürte den Ring an meinem Finger, wieder der Chor mit seinen hellen Stimmen, die Glocken unerträglich laut. Endlich hatte ich mich entschieden.
Als wäre nun endlich die Zeit gekommen aufzuwachen.
KAPITEL 2 – NEUE STADT, NEUES GLÜCK?
„Meine Güte, wo ist denn jetzt der Karton mit den Tellern?“ Lauras Stimme klang eine Spur gereizter als eben noch bei der Frage nach den Töpfen. Eine Nuance, die mir nicht verborgen blieb.
„Hier irgendwo muss er doch sein.“ Gegen meine Mutlosigkeit ankämpfend auch nur irgendetwas in diesem Wust aus Farbeimern, angetrockneten Pinseln und Klebeband zu finden, schaute ich mich um.
„Ich habe die Kartons, sofort nachdem ich sie geschlossen hatte, beschriftet“, versicherte ich ihr. Das war glatt gelogen.
„Wir müssten ungefähr fünf von diesen Dingern haben, wo Küche draufsteht.“
„Das grenzt die Suche zumindest etwas ein“, erwiderte sie dumpf. Lauras Oberkörper verschwand gerade in einem Karton gefüllt mit Bettwäsche und Tischdecken. Die Aussicht, gerade dort die Teller zu finden, war, meiner Meinung nach, relativ gering.
„Ist doch egal. Stell den Topf auf den Boden, mach eine Kerze an und gib mir einen Löffel.“ Ein wenig Stil musste sein.
„Wo finde ich denn die Löffel?“
Ich stöhnte laut auf.
Wie sehr ich doch Umzüge hasste. Und wie sehr ich mittlerweile Pappkartons hasste. Aber ganz besonders hasste ich es, Hunger zu haben und nicht zu wissen, wie das Essen in meinen Bauch gelangen sollte. Müde setzte ich mich auf meine Luftmatratze, während mein Blick über die halb fertig geklebte Raufaserwand wanderte. Vier Zimmer inmitten von Hamburg konnte ich nun mein eigenes Reich nennen. Beste Wohnlage mit Blick auf den Park. Wie bei einer Diashow setzte sich das letzte Bild meiner Heimatstadt Köln vor mein inneres Auge, gleich gefolgt von Stefans wutverzerrtem Gesicht am Tag unserer Hochzeit. Nein, dann doch lieber hungrig eine Bahn Tapete beobachten, die sich elegant aus dem klebrigen Griff der Wand befreite. Aus dem Bottich direkt neben mir ertönte ein kleiner Erfolgsschrei. Stolz präsentierte mir Laura einen pinkfarbenen Eierlöffel.
„Weißt du was, Laura, nichts gegen deine Kochkünste, aber deine Suppe sieht nicht besonders gelungen aus. Was hältst du davon, wenn wir den anstrengenden Abend unten in der Pizzeria ausklingen lassen?“ Zweifelnd blickten wir beide auf die zarte Rosafärbung der Tomatensuppe.
„Mist, ich glaube, ich habe die doppelte Menge Wasser genommen.“ Lauras Augenaufschlag erinnerte mich an einen Welpen, der den Perserteppich mit dem Hundeklo verwechselt hat. Lachend gab ich ihr mit der Suppentüte einen Klaps auf den Kopf. „Dann komm, lass uns Essen gehen.“
Das Loch in unserer Magengegend trieb uns in Rekordzeit in eine zugige Ecke des italienischen Restaurants. Zu gemusterten Lampenschirmen begrüßte uns die schmalzig seichte Stimme von Eros Ramazotti. Die Bedienung war bereits mit der Speisekarte zur Stelle. Augenblicklich verschwand Lauras Kopf hinter dem quadratmetergroßen Gebilde.
„In Italien würde ich auch nicht verhungern“, vernahm ich sie gedämpft. „Ich kann mich gar nicht entscheiden, was ich essen soll. Da klingt ja ein Gericht leckerer als das andere.“
„Wie wäre es mit Nudeln? Maccheroni al Forno“, überlegte ich laut. „Oder vielleicht Fleisch? Scaloppine al Limone?“ Im Gegensatz zu der bescheidenen Musikauswahl schien die Küche hervorragend ausgestattet zu sein.
„Ich finde zu unserer Plackerei und den Pappkartons passt am besten Pizza“, erwiderte Laura auf meine Überlegungen.
„Also eine große Pizza nach Art des Hauses mit allem Drum und Dran.“
„Und einen Capricciosa Salat.“
„Perfekt.“ Wir waren uns einig.
Kurze Zeit später kam auch schon das Essen. Eros versuchte zwar konsequent, mir den Appetit zu verderben, aber ich versuchte, ihn mindestens genauso konsequent zu überhören. Zufrieden und gesättigt rührte ich mit einem Löffelbiskuit in meiner Zabaione, als ich auf dem gegenüberliegenden Tisch eine Zeitung liegen sah. Auf den zweiten Blick erkannte ich, dass es sich um den Kölner Stadtanzeiger handelte. Ein fast unmerkliches Zucken, ließ mich innehalten. Gerade, wenn ich am wenigsten damit rechnete, wurde ich an meine Vergangenheit erinnert. Mitten in Hamburg. Gerade mal eine Armlänge weit entfernt.
„Komm schon, die Neueröffnung nächste Woche wird bestimmt ein voller Erfolg.“ Laura bemerkte meinen Stimmungswechsel. „Ich will ein Lachen auf deinem Gesicht sehen. Mit gerade einmal fünfundzwanzig bist du die neue Leiterin der innovativsten Modefiliale unseres Unternehmens. Meiner bescheidenen Meinung nach, sogar der ganzen Hamburger Flaniermeile.“ Sie schaute mich mit einem Zwinkern in den Augen an. „Vielleicht kommen ja Kunden, dann verkaufen wir sogar noch etwas.“
Das Lächeln auf meinem Gesicht war ein Versuch, doch es fühlte sich gut an. „Du hast ja Recht. Lass uns auf unsere neue Hamburger Filiale anstoßen und auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit.“
Laura war die zukünftige Leiterin unserer Young-Fashion Abteilung. In der kurzen Zeit, in der wir uns kannten, war sie mir richtig ans Herz gewachsen. Sie war ein echtes Hamburger Deern. Nur so ließ sich erklären, warum sie jenes undefinierbare braun-grau Gepampe, auch Labskaus genannt, als eine herausragende Spezialität beschrieb. Wie sie mir bei der zweiten Flasche Wein vertraulich versicherte, kannte sie die besten In-Lokale einschließlich der attraktivsten Junggesellen in dieser Stadt. Irgendwann in den letzten Umzugstagen hatte ich ihr von meinem Liebesdrama in Köln erzählt. Mehr als alles andere brauchte ich eine Freundin in dieser Stadt.
„Irgendwie siehst du immer noch ein wenig traurig aus“, bemerkte sie. „Nach der Neueröffnung feiern wir unseren Erfolg, dann zeige ich dir das Nachtleben von Hamburg. Wäre doch gelacht, wenn dich das nicht auf andere Gedanken bringen würde.“
„Lass uns die Eröffnung erst einmal hinter uns bringen, dann sehen wir weiter.“ Müde strich ich mir über die Augen. „Sei mir bitte nicht böse, aber ich würde jetzt gerne nach Hause gehen.“
„Ja, du hast Recht. Wir sollten schauen, dass wir in unsere Betten kommen.“
„Du vergisst, dass ich keins habe.“
„Stimmt.“ Meine Freundin verkniff sich ein Grinsen.
Ich winkte den Kellner heran, um zu bezahlen.
„Wir sehen uns nächste Woche im Geschäft, mal wieder Kartons auspacken“, erinnerte ich sie am Ausgang. „Erhole dich bis dahin noch ein bisschen.“
„Das werde ich, Michelle, und lass den Kopf nicht hängen“, sie zwinkerte mir aufmunternd zu, „du hast schließlich vor, eine Stadt zu erobern.“
Sie küsste die frische Abendluft neben meinem Ohr und ließ mich mit meinen Gedanken allein. Langsam machte ich mich auf den Heimweg. Der kühle Wind strich meine Beine entlang. Gerade ging die Herbstsonne hinter den Dächern der Altstadt unter, dabei bastelte der Abend einen Scherenschnitt von den Häusern der Stadt. Beim Hinausgehen hatte ich noch einen Blick auf die Zeitung geworfen. „Leben und feiern in Köln“, lautete die Überschrift eines Artikels. Dort, wo bis vor kurzem noch mein Zuhause war, würde nun keiner mehr feiern. Die Party war vorbei. Und niemand hatte die Hochzeitstorte schwerer verdaut als ich. Meine Schritte stöckelten weiter über das grobe Kopfsteinpflaster. In dieser neuen Stadt versteckte sich unter jedem Pflasterstein eine Frage. Doch im Gegensatz zu Köln waren die Antworten hier noch offen.
Zuhause angekommen ließ ich meinen Mantel in eine leere Ecke des Zimmers fallen, was bei all der Unordnung gar nicht so leicht war. Zu meiner eigenen Verwunderung fand ich auf dem Weg in die Küche einen Flaschenöffner. Allerdings fehlte ein Glas, somit genoss ich Lauras Einweihungsgeschenk, einen tiefroten Chianti, aus meinem Zahnputzbecher. Bequem auf meiner Luftmatratze sitzend, dachte ich wieder an mein neues Leben in dieser Stadt. War die Einsamkeit hier in Hamburg wirklich leichter zu ertragen als mein Leben in Köln? Ich legte meinen Kopf zurück und schloss die Augen. Die Kühle der Wand ließ mich meine Müdigkeit kurz vergessen. Ja, ja und nochmals ja. War es nicht so, dass ich mir das erste Mal in meinem Leben einer Sache hundert Prozent sicher gewesen war? Ich wollte hierhin. Während jedes Atemzuges in dieser fremden Stadt verlor die drückende Luft, die mich wie ein steter Begleiter die letzten Wochen umgeben hatte, mehr und mehr an Wirkung. Manchmal tat es weh, brannte der Sauerstoff in meinen Lungen. Doch ich war hier, das allein zählte. Und doch, der Tag, an dem alles begann, meine überstürzte Abreise aus Köln, die Tränen … anscheinend hatte ich erneut den Knopf meiner eigenen kleine Diashow gedrückt. Denn die Bilder, die folgten waren mir so nah, als wären sie erst gestern geschehen.
Als das Projekt in Hamburg noch in den Anfängen lag, besichtigte ich mit mehreren Führungskräften den Rohbau. Wie ein Primelchen in der Frühlingssonne blickte ich in die Baupläne, dabei sog ich alle Informationen in mich auf. Die Filiale versprach ein voller Erfolg zu werden. Schon bei der Planung wurde an nichts gespart. Der Stress der Hochzeitsvorbereitung steckte mir in den Knochen. In drei Wochen sollte es soweit sein. Grund genug, die Abwechslung einer kleinen Geschäftsreise zu nutzen. Besonders wenn man eigens von der Leitung dazu eingeladen wurde.
Die Idee zu heiraten war mir immer noch ganz fremd. Irgendwann Donnerstagabends lief im Fernsehen eine dieser Sendungen, bei der sich Braut und Bräutigam das Ja-Wort gaben, ohne sich vorher gekannt zu haben. Bei der Überlegung, wie es wohl wäre, einen völlig Fremden zu heiraten, fragte Stefan mich plötzlich. Immer noch war ich im Bann der Fernsehromantik. Im Gegensatz zu dem Fernsehpaar waren Stefan und ich seit sieben Jahren ein Paar. Unsere Eltern waren seit Sandkastenzeiten miteinander befreundet. Jeder war glücklich über die Tatsache, dass wir zusammengefunden hatten. Also, warum nicht heiraten? Die ganze Planung, die jedoch folgte, raubte mir den letzten Nerv. Allen voran meine Mutter, die sich nicht davon abhalten ließ, mir hilfreich unter die Arme zu greifen und mittlerweile die halbe Stadt eingeladen hatte.
Was meinen Ausflug mit der Geschäftsleitung nach Hamburg betraf, sollte ich wider Erwarten die Filiale nicht nur besichtigen, sondern ich bekam das unglaubliche Angebot, sie zu leiten. Während all dem Kirmestrubel, der gerade mein Leben bestimmte, hatte ich doch tatsächlich im Vorbeigehen den Hauptgewinn gezogen. Für einen kurzen Augenblick sah ich mich am Ziel meiner Wünsche. Dieses Angebot wäre für jeden Geschäftsleiter ein Sechser im Lotto gewesen, aber die Personalabteilung wollte mich. Ausdrücklich mich! Bei den Mitteln, die zur Verfügung gestellt wurden, würde die Neueröffnung etwas ganz Besonderes werden. Ja, ich konnte es schaffen. Das wusste ich.
Fieberhaft suchte ich nach einer Lösung, Stefans berufliche Karriere, unsere Hochzeit und Hamburg unter einen Hut zu bringen. Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, doch die Hoffnung auf eine Lösung währte nicht lange. Das Telefongespräch im Hotel mit Stefan verlief kürzer als der wenig überraschende Anruf meiner Eltern unmittelbar danach. Die Meinungen waren die gleichen. Am Ende glaubte ich ihren Worten, glaubte zu verstehen, welchen Egoismus ich meinem Willen zugrunde gelegt hatte, welche Verpflichtungen ich meiner Familie gegenüber hatte und sagte schließlich enttäuscht ab.
Wehmütig hing ich der verpassten Chance abends bei einem Tequila Sunrise nach. Etwas abseits unserer Gruppe lauschte ich halbherzig den Umsatzprognosen meiner Kollegen, die ich für absolut unrealistisch hielt. Die Spitzen des Alkohols stahlen sich effektvoll in den Orangensaft und hinterließen dort ihre Spuren. Wie gerne hätte ich meine Spuren hier in Hamburg hinterlassen. Während der letzten Tage war mir die Stadt ans Herz gewachsen. Ich mochte die Grünanlagen, den windigen Landungssteg und die Spazierwege an der Alster. In Köln beschlich mich oft ein seltsames Fernweh. Das waren die Tage, an denen ich meine Lieblingsstelle am Rhein aufsuchte, in Gedanken an den langen Weg, den dieses Wasser zurückgelegt hatte. Wenn die Sonne schien und ich auf den glitzernden Fluss sah, hatte ich oft das Gefühl im Süden zu sein. Seufzend stellte ich mein Glas beiseite, mir war einfach nicht nach Sonnenaufgang zumute.
„Wissen Sie eigentlich, dass ihre Haare die Farbe eines Sommerabends in der Toskana haben?“
Überrascht drehte ich mich um, dabei suchte ich nach einer passenden Antwort, als ich das erste Mal in seine Augen sah. Es waren dunkle, fast schwarze Augen in einem markanten Gesicht. Schimmernder Onyx, kam es mir in den Sinn. Schimmernder, wunderschöner Onyx. Mein Blick verschwamm und wurde von dem Sog zweier Pupillen fortgetragen. Konnte es möglich sein in einem kurzen Augenblick Abenteuerlust in den Augen eines Menschen zu erkennen? Stärke, Macht, Leidenschaft? Stück für Stück ertrank ich in einer schwarzen Flut, bis zwei Grübchen aufblitzten, die die Stille mit seinem Lächeln füllten.
„Sie haben wirklich ganz besonders schöne Haare und die Farbe erinnert mich an meine Heimat.“
Wie alt mochte er wohl sein? Wieder schaute ich in seine Augen. Fünf Sekunden. Eine Ewigkeit. Wir hätten uns fremder nicht sein können. Seine Haare waren sehr kurz geschnitten und dennoch erkannte ich die tiefschwarze Farbe.
„Können Sie denn auch sprechen?“, fragte er vorsichtig.
Mit einem verschmitzten Lächeln blickte er mich an. Sein Mund wirkte voll und doch zart. Ich stellte mir vor ihn zu fühlen, in ihn zu tauchen. Wie er wohl wäre? Fordernd, sanft?
„Ist die Sonne in der Toskana denn rotblond?“, schoss es aus mir hervor.
Er lachte. Er lachte mich aus und er gefiel mir dabei. Dieser Mann brauchte keinen durchtrainierten Körper, um attraktiv zu wirken. Es grenzte an Maßlosigkeit, dass er ihn trotzdem besaß.
„Nein, das ist sie nicht.“
Natürlich war sie es nicht. Nur Frauen, die gezwungen originell sein wollten, waren es.
Er versuchte, sein Grinsen zu unterdrücken, aber seine Grübchen lächelten weiter. „Wenn nach einem langen Sommerabend, die Sonne hinter den Weinbergen der Toskana untergeht, vermischen sich die letzten Strahlen mit dem Charme der Landschaft. Dabei färben sie das Licht für eine kurze Zeit rot. Rotgold. Es ist wunderschön anzuschauen. So wie Ihre Haare.“ Sein Lächeln wurde intensiver. „So wie Sie.“
Gerade hatte ich noch eine Antwort parat. Sie war wirklich nicht schlecht gewesen. Zumindest kam mir die fahle Erinnerung daran um einiges intelligenter vor als mein hilfloses Grinsen.
„Ich glaube, ich habe mich noch nicht vorgestellt. León Giovanotti.“
„Michelle Gerting.“
„Möchten Sie vielleicht tanzen?“
Statt einer Antwort, nahm er meine Hand und führte mich auf die Tanzfläche. Überall, wo dieser Mann mich berührte, und das tat er schon durch seinen Blick, fühlte ich ein Kribbeln auf meiner Haut, das meine kleinen Härchen, zu Berge stehen ließ. Während wir tanzten, fiel mein Blick auf sein dunkles Seidenhemd, an dem der oberste Knopf geöffnet war. Ob er wohl Brusthaare hat? schoss es mir durch den Kopf. Ich war kurz davor genauer nachzusehen.
„Lass uns spazieren gehen“, murmelte er in mein Haar.
Sein Blick mit einem Lächeln genügten, um meine Arbeitskollegen zurückzulassen und ihm durch die Menge zu folgen. Wir holten meine Jacke von der Garderobe, wie selbstverständlich legte sich sein Arm um meine Schulter. Als ich neben ihm auf die Straße trat, schlug mir die kalte Luft in mein erhitztes Gesicht. Was machte ich hier eigentlich? War ich nicht verlobt? Was würde wohl Stefan davon halten, wenn er mich jetzt bei meinem trauten Nachtspaziergang beobachten könnte? Unauffällig rückte ich ein Stück von meinem Begleiter ab, während ich neben ihm die Alster entlangging, mit meinen Gedanken immer einen Schritt zurück. Das beruhigende Geräusch des Wassers, das leise gegen die glatten Steine des Hafenbeckens schlug, ließ mich freier atmen. Eine Zeitlang gingen wir schweigend die Hafenpromenade entlang. Es war nur ein Spaziergang, beruhigte ich mich. Ein harmloser Spaziergang durch eine Nacht inmitten von Hamburg. León nahm meine Hand. Seine dunkle Stimme lenkte meine Augen auf die ankernden Touristenfähren, die schaukelnd ihren Feierabend zu genießen schienen. Gemeinsam blickten wir auf die Lichter der Boote, die sich wie eine lange Perlenkette um die schlanken Masten schmiegte. Er erzählte aus seiner Heimat Italien, wobei ich erfuhr, dass er seit acht Jahren in Deutschland lebte. Er arbeitete in einem „In-Schuppen“ hier in Hamburg, genauer wollte er sich nicht ausdrücken. „Ich bin dort das Mädchen für alles“, erklärte er lächelnd. Während er mir von den Besonderheiten Hamburgs erzählte, hatte ich das Gefühl, die Stadt nicht mehr länger mit den Augen einer Fremden zu betrachten. Irgendwann verlor ich ein wenig meine Scheu. Ich sprach von meiner Arbeit und warum ich in Hamburg war. Aber sobald sein Daumen nur leicht meinen Handrücken streichelte, spürte ich eine kitzelnde Ameisenarmee an meinem Arm hinaufsteigen, die mich kurz vergessen ließ, weiterzuerzählen. Seine Nähe wirkte wie ein Aphrodisiakum auf mich. Es schien mir unmöglich, mich auch nur kurz seiner Anziehungskraft zu entziehen. León führte mich durch eine enge Gasse, sein Arm legte sich fester um meinen Körper, als ich auf meinen wackligen Absätzen über das Kopfsteinpflaster rutschte. Irgendwann standen wir inmitten eines riesigen Innenhofes, vor uns eine meterlange, graffitibesprühte Hauswand. Mit leuchtenden Farben hatte sich hier jemand mit einem Sonnenuntergang verewigt. Die gekräuselten Wellen des Meeres wirkten in den kräftigen Farben dreidimensional, aber es sah nicht kitschig aus. Ich teilte seine Begeisterung für dieses Bild. Um Léons Mund spielte ein Lächeln. Selbst in der Dunkelheit der Nacht schienen seine Augen zu schimmern. Schließlich setzten wir unseren Spaziergang Arm in Arm fort. Mein Kopf lehnte, viel zu vertraut, an seiner Schulter, als er nach einiger Zeit stehen blieb.
„Wir sind da.“
Überrascht blickte ich mich um. Die Gegend, in der wir uns befanden, wirkte wie ein Geschäftsviertel. Ein Hochhaus mit schmucker Fassade ragte steil vor uns auf. „Wo sind wir?“
„Wir sind bei mir Zuhause“, antwortete er beiläufig. Trotz aller Verklärtheit bemerkte ich, dass unser Spaziergang wohl dieses Ziel hatte. Wie einfältig ich doch war. Ein bisschen Graffitiromantik und schon dachte er, die Sache für sich geklärt zu haben.
„Ich glaube, ich würde jetzt gerne nach Hause fahren …, das heißt in mein Hotel“, verbesserte ich mich unsicher.
Als ich in seine Augen sah, wusste ich, dass er mich küssen würde. Und ich würde seinen Kuss erwidern. Es machte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen. Jeder weitere Gedanke zerschellte an dem Wunsch ihn spüren zu wollen. Seine Hand griff in meine Haare, als er mich zu sich zog. Seine Zunge öffnete meine Lippen. Es waren die azurblauen Wellen des Bildes, die in mir hervorbrachen, als ich verlangend seinen warmen Atem schmeckte. Das erste Mal in meinem Leben empfand ich, die pure Lust in den anderen einzutauchen, mich zu verlieren. Immer wieder strich seine Zunge leicht über meinen Mund, tauchte in ihn ein. Sobald er nachgab, versuchten meine Lippen ihn festzuhalten, ihn tiefer in mich zu ziehen. Er spielte mit mir, mit meinem ganzen Körper. Meine Selbstkontrolle glitt Stück um Stück aus meinen Händen und schmiegte sich in seine. Als er sich irgendwann langsam von mir löste, spürte ich den Schmerz in jeder Faser meines Körpers.
„Ich glaube nicht, dass du allein in dein Hotelzimmer willst“, um seine Mundwinkel zeigte sich ein Lächeln, „aber ich fahre dich natürlich, wenn es dein Wunsch ist.“
Meine Lippen sehnten sich schon wieder nach ihm, doch er hatte sich schon von mir abgewandt und hielt mir die Türe seines Autos auf. Die Luft um mich herum schien sich plötzlich verändert zu haben.
Die Geschäftsleitung hatte uns in einem Hotel nah der Stadtgrenze einquartiert. Nach einer kurzen Fahrt waren wir da. León parkte den Wagen in der Auffahrt und stellte den Motor ab. Eine seltsame Unruhe breitete sich in mir aus, als mir das Ende unserer Fahrt bewusst wurde. Die Nacht war hell, der Vollmond spielte mit dem Glas der Windschutzscheibe und aus dem Radio klangen die letzten, schnurrigen Töne eines Saxofons. Ein Blick in sein Gesicht verriet mir nichts. Er wirkte seltsam entspannt, als er sich mir mit seinem Lächeln zuwandte.
„Ciao Luna, ich wünsche dir morgen eine gute Fahrt. Grüße Köln von mir“
Ich wartete auf einen weiteren Satz. Die Stille, die folgte, nagte an meinen Nerven. Ganz sicher würde er doch noch etwas zum Abschied sagen.
„Vielleicht sieht man sich ja noch einmal.“ Meine Stimme klang seltsam dünn.
„Vielleicht sieht man sich ja noch einmal“, echote er. Es schien fast, als müsste er über die einzelnen Worte nachdenken. „Vielleicht ist ein sehr vages Wort, findest du nicht?“
Mir fiel nichts ein, was ich erwidern konnte und er hatte anscheinend vor, aus seinen Worten ein Rätsel zu machen. „Also dann …“ Ich öffnete die Türe seines Autos. Mein Fuß berührte den Bürgersteig, da zog er mich zurück. Seine Lippen strichen über meine Wange, nah an meinem Ohr spürte ich seinen Atem: „Wir sehen uns. Ganz bestimmt!“ Wieder dieses selbstsichere Lächeln, diesmal kitzelte es an meinem Ohr. Dieser Mann war sich seiner Sache sicher. Auf einmal wurde mir klar; ich war seine Sache. Verdammt! Endlich erwachte ich aus meiner Lethargie, ich musste aus diesem Auto raus, endlich weg von ihm. Jäh löste ich mich aus seinem Griff und sprang aus dem Wagen. Die Drehtür am Eingang des Hotels bekam einen heftigen Schubs, so dass ich beinahe wieder vor seinem Auto gestanden hätte. Was war dieser Mann doch für ein arroganter, selbstgefälliger, anmaßender … Der nette Concierge nicke mir vorsichtig zu, während ich mit großen Schritten durch das Foyer stapfte und kopfschüttelnd in den Aufzug stieg. Warum war ich nur so wütend? Was hatte ich denn erwartet, was noch passieren würde? Jetzt, wo ich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, bemerkte ich erst, wie wenig Einfluss ich doch auf diesen Abend gehabt hatte. Noch bis vor ein paar Minuten war ich der Wirkung dieses Mannes völlig ausgeliefert gewesen. Das lag einzig und alleine daran, dass ich es zugelassen hatte. Seit wann war ich eine Frau, die ohne weiteres mit irgendeinem Unbekannten mitging und sich von ihm dann auch noch einfach so küssen ließ? Das war nicht meine Art. Zumindest hatte ich das bis zum Anfang dieses Abends geglaubt. In meinem Zimmer angekommen, sehnte ich mich plötzlich nach Stefan. Schnell machte ich mich für die Nacht zurecht, dabei fiel mein Blick auf die fremde Frau im Spiegel. Was hast du dir nur dabei gedacht, Michelle? Eine Extraportion eiskaltes Wasser traf mein Gesicht. „Nicht viel vermutlich!“
Diese unleidliche Geschichte sollte ich jetzt einfach vergessen. Mit Beruhigungsformeln, die ich wie ein Mantra vor mich hinmurmelte, versuchte ich mich davon zu überzeugen, dass es nicht viel gab, weswegen ich ein schlechtes Gewissen haben musste. Doch eine beharrliche Stimme in meinem Kopf war wohl anderer Meinung. Stundenlang wälzte ich mich in meinem Bett, dabei sehnte ich mir den Schlaf herbei, der mir meinen inneren Frieden zurückgeben sollte und es schließlich für eine kurze Zeit auch tat.
Nachdem mein Besuch in Hamburg abgeschlossen war, nahm mein Leben in Köln seinen gewohnten Lauf. Wie jeden Morgen ging ich zur Arbeit, kümmerte mich um Kalkulationen und Umsatzplanungen. Doch immer häufiger ertappte ich mich dabei, wie mein Blick aus dem Fenster ging, während in meinen Ohren das Geräusch leiser Wellen nachklang. Es genügte der Gedanke an Leóns Hände, an seine tiefbraunen Augen, um mir zu wünschen, wieder neben ihm am Jungfernstieg zu stehen. Ich verstand mich selbst nicht mehr. Bislang war mein Leben immer in geordneten Bahnen verlaufen. Die Dinge schienen mir, so wie sie waren, klar und richtig zu sein. Ich war doch glücklich mit Stefan. Wir waren es wieder. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er eine kleinere Liaison mit seiner Sekretärin gehabt hatte. Indessen war ich beruflich sehr angespannt, was meine Mutter als Anlass dieser kurzen Affäre sah. Aber das war vorbei. Wir hatten wieder zueinander gefunden. Wieso musste mir ausgerechnet jetzt León begegnen? Und wieso musste jetzt das Angebot meiner Firma kommen? Stefan war nicht bereit gewesen nach einer gemeinsamen Lösung zu suchen. Dabei musste er wissen, wie wichtig diese Chance für mich war. Doch er hatte stärkend meine Mutter in seinem Rücken, die es, genau wie er, als unnötig ansah, die emanzipierten Berufswünsche einer Frau, vor die des Ehemannes zu stellen, insbesondere wenn dies bedeutete, ihre einzige Tochter aus ihrem unmittelbaren Einflussbereich zu entlassen.
An einem kühlen Frühlingsmorgen öffnete ich, wie so oft in den letzten Tagen, die Fenster meines Büros, während ich den Blick nach draußen schweifen ließ. Fink und Star schienen verschlafen zu haben, denn außer dem Absatzgeklapper einiger Fußgänger, war es noch ruhig auf der sonst belebten Einkaufsstraße. In zwei Stunden würden die Geschäfte öffnen und der Trubel beginnen. Mein Blick verlor sich im schon dichten Grün einer Kastanie. Erneut dachte ich an die Pläne des Hamburger Rohbaus. Ich sah das dunkle Glitzern der Alster, hörte wieder das leise Schlagen der Wellen gegen die Kaimauer. Zuerst spürte ich die Tränen auf meiner Wange nicht. Seltsam gleichgültig nahm ich hin, in meinem Büro zu stehen und zu weinen. Ein Gedanke ging mir seit Tagen nicht mehr aus dem Kopf, ganz sicher wäre ich die Richtige für diesen Job gewesen und die Leere, die sich plötzlich in mir ausbreitete, war dunkler als jeder Fluss bei Nacht.
Die Dinge nahmen an einem verregneten Montagnachmittag ihren Lauf. Vielleicht hätte ich ahnen können, dass dieser Tag nicht viel Gutes erwarten ließ, als ich nach einer längeren Geschäftsleitersitzung genervt meine Filiale betrat. Wir hatten geschlagene zwei Stunden mit der Klärung der Frage vergeudet, ob in der neuen Beilage die georderten T-Shirts mit dem V-Ausschnitt auf die kurzen Röcke mit der A-Form passten. Zum Schluss hatten wir das ganze Alphabet durchdiskutiert, dabei waren wir keinen Schritt weitergekommen. Als ich unsere Personalräume betrat, stolperte ich als Erstes über einen ausrangierten Tannenbaum, der mitten im Weg lag. Leise fluchend rieb ich mir den schmerzenden Knöchel. Es gab ein Rundschreiben, wonach das alte Dekorationsmaterial ausgetauscht werden sollte. Seit zwei Wochen nun entleerte die Zentrale ihr Lager und verteilte die neuen Sachen auf die einzelnen Filialen. Auf dem Weg in mein Büro hätte ich eigentlich eine Machete gebraucht, um es unbeschadet erreichen zu können. Leicht gebückt wich ich den Ohren eines Osterhasen aus, während ich mit einem großen Schritt über zwei Rauschgoldengel stieg. Meine Laune besserte sich nicht gerade, als ich bemerkte, dass ich mir eine Laufmasche an einem der spitzen Flügel gerissen hatte. Der Engel kassierte einen Tritt. Augenblicklich überkam mich ein schlechtes Gewissen. Das Öffnen der Tür meines Büros brachte neue Überraschungen.
„Jetzt reicht es aber!“
Mein geplanter Wutausbruch wurde durch das Klingeln des Telefons verschoben. „Ja, bitte!“ Meine Stimme klang härter als beabsichtigt.
„Frau Gerting, hier ist eine Kundin, die sich beschweren möchte.“ Am anderen Ende vernahm ich die zaghafte Stimme meiner Kassiererin.
„Was ist denn los?“, fragte ich etwas freundlicher.
„Der Dame gefallen unsere Schaufensterfiguren nicht.“
„Und warum nicht?“
„Weil sie unbekleidet sind. Sie sagt, so etwas gehört sich nicht.“
Ich verdrehte die Augen gen Himmel. „Wir gestalten im Moment die Fenster neu. Die Puppen werden gleich wieder angezogen.“
Ich hörte, wie die Kassiererin leise mit jemandem sprach.
„Die Kundin meint, der Anblick würde sie in ihrem ästhetischen Empfinden stören.“
„Warum guckt sie dann nicht einfach weg?“, murrte ich in den Hörer.
„Soll ich ihr das sagen?“
„Nein, natürlich nicht. Dann ziehen Sie ihr halt einen Rock an.“
„Wem? Der Kundin?“
„Nein. Der Puppe!“
„Es handelt sich aber um eine Herrenfigur.“
„Dann eben eine Hose“, gab ich genervt zurück. „Und schicken Sie mir bitte sofort Sascha in mein Büro. Oder warten Sie.“ Vor meiner Tür hörte ich jemanden laut „Like a virgin“ singen. „Ich glaube, er ist hier oben.“
Noch während ich den Hörer auflegte, rief ich unseren Gestalter für Interieur und Dekoration zu mir. Kopfschüttelnd schaute ich mich in meinem Büro um. Der ganze Raum war mit alten Schaufensterfiguren vollgestellt. Überall lagen vereinzelt Plastikgliedmaßen herum, was dazu führte, dass ich mir wie in einem Horrorkabinett vorkam. Müde ließ ich mich auf meinen Stuhl fallen, um kurz darauf wieder hochzuspringen. Unter mir erblickte ich eine Plastikhand, die sich in meinen Po gebohrt hatte. „Sascha, komm jetzt bitte sofort zu mir!“
Mit leicht tänzelndem Schritt, immer noch einen Madonna-Song auf den Lippen, kam er durch die Tür. Sascha war, seitdem ich in der Kölner Filiale arbeitete, kreativer Leiter in unserem Haus. Er selbst sah sich jedoch eher als Künstler und „Sascha“ war der dazugehörige Künstlername. Kaum jemand wusste, ob dies nun sein richtiger Vorname war oder wie sein Nachname lautete. Keiner - außer mir. Aus reiner Neugierde hatte ich mir seine Personalakte angeschaut, um festzustellen, dass unser Sascha mit bürgerlichem Namen „Friedrich Müller“ hieß. Als ich ihn einmal im Scherz damit aufzog, sprach er drei Tage kein Wort mit mir. Er war etwas eigen, doch man kam nicht umhin zu bemerken, dass er außergewöhnliche Fähigkeiten besaß, die Fensterflächen unseres Geschäftes zu gestalten. Dabei sah er selbst in der Wahl seiner Farbkombinationen oft wie ein Regenbogen auf Ecstasy aus. Als er jetzt vor mir stand, musste ich trotz aufgestauten Ärgers fast wieder lachen. Mit seinem strahlenden Lächeln machte er es sich auf meiner Tischkante bequem.
„Sascha“, ich machte eine ausladende Bewegung in den Raum, „so geht das nicht. Du kannst mir nicht mein ganzes Büro zustellen.“ Kopfschüttelnd blickte ich auf die Kleidung, die er heute trug. „Lila und Gelb. Wie kommt man denn auf die Idee, so etwas miteinander zu kombinieren?“
„Mann, vielleicht nicht“, flötete er, „aber ich. Wenn man mich anschaut, muss es wehtun, sonst macht es keinen Spaß.“
„Das tut es, Sascha. Ganz gewiss“, erwiderte ich. „Trotzdem, würdest du bitte dafür sorgen, dass diese halben Körperteile aus meinem Büro verschwinden? Ich habe mich eben schon auf eine abgetrennte Plastikhand gesetzt.“
Er schaute mich mit einem naiven Augenaufschlag an.
„War es denn schön?“
„Nein, war es nicht.“ Das Telefon klingelte schon wieder.
„Was ist denn jetzt los?“
„Frau Gerting, hier ist ein Herr, der Sie sprechen möchte“, erklang erneut die Stimme von Frau Wolter. Meine Kassiererin hörte sich immer noch ein wenig ängstlich an und ich fragte mich, ob es wieder an meinem Ton lag.
„Was ist das denn für ein Herr? Hat er auch einen Namen?“
Auf einmal hörte ich seine Stimme: „Ciao Luna, wo ist dein Büro?“
Das konnte doch nicht wahr sein! Erschrocken schaute ich Sascha an, der augenblicklich sein Plastikbein abstellte und neugierig meinen Gesichtsausdruck beobachtete.
„Ähm, fahr die Rolltreppe hoch, dann die erste Tür rechts.“
Mein Herz fing an zu rasen. Das war eindeutig Leóns Stimme am Telefon gewesen. Eigentlich rechnete ich mit einem Besuch von Stefan, der mich zum Mittagessen abholen wollte. Augenblicklich verstärkte sich das wilde Kribbeln in der Magengegend. Eine Minute später betrat tatsächlich León mein Büro. Er sah doch wirklich noch besser aus, als ich ihn in Erinnerung hatte. Dabei hatte ich weiß Gott viel an ihn gedacht. Mit einem frechen Grinsen setzte er sich auf den Stuhl vor meinem Schreibtisch. Meine Nervosität hatte mich wieder voll im Griff. Sascha hatte es sich erneut auf der Tischkante bequem gemacht, während er sichtlich interessiert meinen Besuch beäugte. Bei Situationen, in denen mein Gegenüber nichts sagt, habe ich immer das Gefühl, die Stille füllen zu müssen, aber diesmal wusste ich auch nicht weiter.
„Tja, ähm, Sascha.“ Hilfesuchend schaute ich meinen Mitarbeiter an, der völlig entrückt in Leóns Richtung blickte.
„Sascha!“
„Ja?“
„Bitte räume jetzt mal weiter diese Dinger hier weg.“ Ich gab ihm die Hand, auf der ich eben noch gesessen hatte.
„Och, nee. Jetzt sofort?“
„Ja, bitte.“
Widerwillig stand er auf und klemmte sich einen Torso unter den Arm. Auf dem Weg nach draußen zwinkerte er León zu, der zurücklächelte.
„Die nächste halbe Stunde möchte ich nicht gestört werden.“
Sascha guckte mich zickig an. „Ich dachte, ich soll die Sachen hier wegräumen?“
„Später.“
„Wie die Dame wünscht“, beleidigt rauschte er davon.
Ein weiterer Blick auf León. Voller Hoffnung schloss ich die Augen. Als ich sie öffnete, saß er immer noch auf seinem Platz. Meine Unterlippe musste vom ewigen Draufbeißen mittlerweile völlig zerfasert sein. Er erwartete, dass ich etwas sage. Was zum Teufel sollte ich jetzt sagen?
„Woher ..? Wieso ..? Was willst du eigentlich hier?“
„Ich freue mich auch, dich zu sehen. Wie geht es dir, mein Schatz?“
Die Dreistigkeit Leóns erstaunte mich erneut.
„Wie soll es mir schon gehen? Ich bin überrascht dich zu sehen.“
„Ich war in Köln, ich wollte dich sehen und hier bin ich.“ Er hatte immer noch diesen Blick, der mich völlig fertig machte. „Außerdem wollte ich dich noch einmal küssen.“ Er beugte sich über den Schreibtisch. „Das ist doch Grund genug dir einen kleinen Besuch abzustatten, oder?“
Auch wenn ich mit aller Macht dagegen ankämpfte, zog mich dieser Mann doch augenblicklich in seinen Bann. Er sah einfach nur gefährlich aus – gefährlich gut. Meine Verabredung zum Mittagessen schoss mir durch den Kopf. Stefan konnte augenblicklich durch die Tür kommen.
„León, ich bin verlobt und jeden Moment holt mich Stefan zum Essen ab. Es tut mir leid, aber ich denke nicht, dass das hier wirklich Sinn macht.“
„Du bist also verlobt?“ Er lächelte. Als ob das nun ein Grund wäre zu lächeln. „Und dann küsst du andere Männer, wie seltsam.“
Wollte er mir jetzt den Moralapostel mimen? León lehnte sich bequem in seinem Sitz zurück, wobei die Lachfältchen um seine Augen überdeutlich zu erkennen waren.
„Ich will, dass du nach Hamburg kommst. Brich deine Zelte hier ab, nimm das Angebot deiner Firma an und beweg deinen süßen Hintern Richtung Norden.“
Hatte ich da gerade richtig gehört? Mein Mund stand offen, wie der eines Karpfens beim ersten Landgang. Gott, was war das für ein arroganter Typ! Er stand auf und kam auf mich zu. Sofort war ich auf der Hut und sprang von meinem Stuhl hoch.
„León, hör mir bitte zu. Ich …“ Weiter kam ich nicht.
Er küsste mich wie das letzte Mal und wirklich rein gar nichts hatte sich verändert. Mein Körper reagierte, als wäre er am Verdursten und León meine einzige Quelle. In mir schlug eine aufgestaute Leidenschaft hoch, die ich nicht verstand. Sein Kuss wurde fordernder, das Telefon klingelte - meine Güte, was war denn heute nur los?
„León, hör auf damit. Ich will das nicht. Ich habe hier Freunde, meinen Job, meine Familie, hier lebt der Mann, den ich liebe.“ Ich versuchte, ein Stück von ihm wegzukommen, aber ein Damenoberkörper versperrte mir den Weg. Er blieb ruhig, durch den dünnen Stoff seines T-Shirts konnte ich seinen Herzschlag spüren.
„Du glaubst wirklich, dass das hier dein wahres Leben ist?“ Die Züge seines Gesichtes verrieten seinen nächsten Satz. „Ich habe da meine Zweifel.“ Sein Blick schien sich durch meine Pupillen zu zwängen und nach meinen Gedanken zu greifen.
„Verrate mir, Luna, was willst du wirklich? Wovon träumst du?“
„León, bitte.“
„Und an wen denkst du, wenn dich nachts die Sehnsucht nicht schlafen lässt?“
Mein Körper rief so laut seinen Namen, dass ich Angst hatte, er würde es hören. Behutsam strich er mit seinem Daumen über meine Lippen. „Du kommst mir vor wie ein Dornröschen, das wachgeküsst werden musste. Das habe ich jetzt getan.“
Er wandte sich von mir ab. Ich schaute ihm hinterher, wie er zur Tür ging. Kurz davor drehte er sich noch einmal um. „Wir sind uns völlig fremd, Luna und doch bin ich mir sicher, einen Menschen vor mir zu haben, der seinen Träumen hinterherläuft. Sag du mir, woher ich das weiß.“
Ich gab ihm keine Antwort und er wartete auch nicht darauf.
Kein Ciao Luna, kein weiteres Wort, die Tür ging auf und weg war er.
Konnte nicht irgendjemand kommen und mich schütteln? Das konnte doch nicht wirklich gerade alles passiert sein. Gerade Stefan musste meinen stillen Ruf gehört haben, denn just in diesem Augenblick kam er durch die Tür.
„Wer war das denn gerade?“
Für drei Sekunden stellte ich mir eine Frühlingswiese mit gelben Butterblümchen vor. Dann galt es, völlig entspannt und locker zu wirken. „Wen meinst du?“
„Na, der Typ, der aus deinem Büro gekommen ist. Er hat mich auf dem Gang fast umgerannt.“ Stefan gab mir einen Kuss.
„Ach so, das war ein neuer Einkäufer von uns.“
„Seit wann sehen die denn wie Ninja-Kämpfer aus? Schwarz ist doch im Moment gar nicht im Trend.“ Er schüttelte den Kopf. „Der sah ja beinahe unheimlich aus. Irgendwie hatte er…“
„Was ist, gehen wir?“ Sein Redefluss war mir auch unheimlich.
„Deshalb, Prinzessin, bin ich da.“ Bei dieser Bemerkung zuckte ich fast zusammen.
Saschas Kopf lugte durch die Türe. „Ist er schon weg?“, fragte er enttäuscht.
„Ja! Stefan, bitte fahr mich nach Hause. Verschieben wir das mit dem Essen auf ein anderes Mal, mir geht es nicht so gut.“
„Kommt er denn noch einmal wieder?“
„Ich denke nicht, Sascha. Bitte“, ich schaute ihn flehend an, „räum jetzt mein Büro auf.“
Ich nahm meine Tasche und Stefan half mir in den Mantel.
„Wenn du möchtest, Prinzessin, bringe ich dich auch nach Hause.“
„Nenn mich bitte nicht so, das nervt.“
Fürsorglich nahm er mich in den Arm. „Hattest du einen anstrengenden Tag?“
„Ein bisschen.“
Er wartete, bis Sascha seine Figur aus der Tür gehievt hatte, dann zog er mich näher zu sich. Seine Hand strich langsam an meiner Taille herunter, verlangend drückte er seine Hüfte an meine. „Wie wäre es, wenn ich mir für den Rest des Tages freinehme, damit wir es uns auf unserem Sofa gemütlich machen?“
Nur mit großer Anstrengung widerstand ich der Versuchung in die Tischkante zu beißen.
„Ich will eigentlich nur allein sein. Es tut mir leid, aber mir ist nicht nach Kuscheln auf dem Sofa.“
„Was immer du möchtest“, erwiderte er. „Dann fahre ich gleich wieder in die Firma. Da freut man sich bestimmt, mich zu sehen.“
Na prima, jetzt war Stefan sauer. Was war ich doch für ein Glückspilz! Jahrelang passierte einfach gar nichts in meinem Leben. Jetzt plötzlich tauchte, kurz vor meiner Hochzeit, dieser León auf, um meine schöne, heile Welt durcheinander zu bringen. Ich wollte nichts mehr sehen, nichts mehr hören, sondern das machen, was ich schon einmal versucht hatte. Vergessen, was eben passiert war.
Doch wie es sich so oft mit Dingen verhält, die man sich vornimmt, hätte ich es besser wissen müssen, besonders, weil es mir schon einmal nicht gelungen war. Die Zweifel waren gesät. Schlimmer noch - sie wuchsen täglich. Ich konnte nichts mehr essen, nicht mehr schlafen; León hatte mit seinem Erscheinen einen kleinen Schneeball ins Tal geschickt und je weiter er rollte, desto mehr bekam ich eine Ahnung von der Lawine, die in mir hervorbrechen würde. Alles in mir drängte danach, endlich zu leben, mich zu finden, einfach nur verrückt zu sein. Verrückt nach einem Abenteuer, nach der Liebe, nach was auch immer. Die Vorstellung, von der braven Tochter zur braven Ehefrau zu mutieren machte mir Angst. Je mehr ich versuchte, an meinem alten Leben in Köln festzuhalten, desto größer wurde die Sehnsucht auszubrechen. Stefan zu lieben war mir so zur Gewohnheit geworden, dass ich noch nicht einmal wusste, wann ich damit aufgehört hatte. Aber tief in meinem Inneren wusste ich, dass es geendet hatte.
Nachdem ich bei einer Anprobe im Brautgeschäft weinend zusammengebrochen war, hatte ich meiner Mutter unter Schluchzen meine Zweifel gestanden. Von diesem Tage an übernahm sie die gesamte Planung der Hochzeit. Mich gegen die Gewissheit zu wehren, nicht mehr Herr meiner Gefühle zu sein, verbrauchte meine Kraft, die ich gebraucht hätte, um es klar erkennen zu können.
Am Tag meiner Hochzeit waren dreihundert Gäste geladen, ich kannte weniger als die Hälfte von ihnen. Doch das Kartenhaus, das ich bis dahin mühsam versucht hatte, aufrecht zu erhalten, brach an diesem Tag zusammen; Herzbube, Herzdame, nichts stand mehr an seinem Platz. Ein Foto ist mir noch in Erinnerung geblieben; mein Vater prostet Stefan zu, dabei strahlen beide in die Kamera. Von mir ist nur die Hälfte auf dem Bild zu erkennen, aber immerhin noch mehr, als tatsächlich auf der Hochzeit anwesend war. Die lauten Glockenschläge der Kirche am Ende der Trauung, hatten mir meinen Fehler klar gemacht. Ein furchtbarer Fehler. Der Tag verging, die Gäste gingen und wie wohl jede Braut wusste auch ich, dass meine Hochzeit der Beginn von etwas Neuem sein würde.
Es würde für mich eine Zukunft in Hamburg geben. Ohne Stefan.
KAPITEL 3 – KÖNIG DROSSELBART
Am Tag vor der Neueröffnung mussten wir noch bis tief in die Nacht hinein arbeiten. Doch unsere Überstunden zahlten sich aus. Die Hamburger Kundschaft stürmte unsere Filiale, so dass wir deutlich über den Umsatzprognosen lagen. Selbst die Kasse stimmte am Abend, so kamen wir fast pünktlich aus dem Geschäft heraus.
„Was ist denn jetzt mit dem Hamburger Night-Life?“, wollte Laura von mir wissen, als ich die Türen schloss. Ich fühlte mich nach dem hektischen Tag nicht unbedingt in Ausgehstimmung, aber wirklich gemütlich war meine Wohnung immer noch nicht. Meine Arbeitskollegen schauten mich erwartungsvoll an und schienen auf meinen Startschuss zu warten.
„Warum eigentlich nicht? Wir haben schließlich etwas zu feiern.“ Viel mehr brauchte ich nicht zu sagen. Schon waren wir eine Truppe von ungefähr zwanzig Leuten, die loszog. Laura führte unsere fröhliche Gruppe an. „Lasst uns erst einmal etwas gegen unseren Hunger unternehmen und dann würde ich die Reeperbahn vorschlagen.“
Unter allgemeinem Jubel beschloss ich, diesen Abend dem Spesenkonto zu belasten. Die Firma zahlte und wir waren bester Dinge. Nach einem entspannten Essen landeten wir in einem Club. Es war noch früh am Abend und relativ leer, aber wir machten unsere eigene Party. Laura hatte dieses Etablissement ins Visier genommen, weil dort die Möglichkeit bestand, Mirco zu treffen. Mirco war seit vier Tagen Lauras Lieblingsthema. Sie hatte ihn genau hier kennen gelernt und wohl mehr als nur ein Auge auf ihn geworfen. Er war mit dem Besitzer befreundet, die Chancen standen gut, dass er uns über den Weg lief. Ich dachte gerade, dass Laura eine wirklich attraktive Frau war. Mit ihren langen blonden Haaren und dem ansteckenden Lachen wusste ich immer genau, wo ich sie im Geschäft finden konnte. Es dürfte ihr eigentlich nicht schwerfallen, diesen Mirco von ihren Reizen zu überzeugen. Als ich meinen Blick durch die nebelgeschwängerte Dunkelheit schweifen ließ, bemerkte ich, dass ein paar Dinge in diesem Club anders waren als üblich. Direkt neben der Theke befand sich eine große Bühne mit Laufsteg, überall standen schmale Podeste. Ich wandte mich an Laura und fragte nach.
„Meine Güte, Michelle“, sie schmunzelte, „hier wird getanzt oder besser gesagt gestrippt, allerdings vom Allerfeinsten. Es ist noch ein wenig früh, aber ungefähr um zwölf fängt die Show an. Wenn du die schönsten Mädchen Hamburgs sehen willst, dann warte mal ab.“ Sie zwinkerte mir zu. „Übrigens gibt es hier auch Männer zu sehen.“
„Na, dann bin ich ja mal gespannt“, erwiderte ich etwas matt. Nach dem Essen war ich mittlerweile so müde, dass mir sogar die harte Luftmatratze in meinem Schlafzimmer als die zarteste Versuchung schlechthin erschien. Neben mir hörte ich jemanden lachen. Der Barkeeper hatte versucht, mit drei Zitronen zu jonglieren, wobei eine beinah in dem Ausschnitt einer Dame gelandet wäre. Der Versuch, sie noch zu fangen, brachte auf beiden Seiten eine Menge Spaß. Irgendjemand rief dem Mann eine Bestellung zu, woraufhin er geschickt den Shaker in die Luft schmiss. Fasziniert schaute ich ihm weiter bei seiner Arbeit zu. Er schüttete einige bunte Flüssigkeiten in den Mixer, wobei er die Flaschen hinter sich griff, ohne zu kontrollieren, was er da eigentlich in der Hand hielt. Als er meinen Blick bemerkte, zwinkerte er mir zu. Verschwörerisch beugte er sich über die Theke.
„Ich verrate Ihnen ein Geheimnis.“ Er machte eine kleine Kunstpause. „Ich bin der Wettermann.“
„Wirklich?“ Meine Ohren waren gespitzt.
Er nahm eine Flasche mit einer durchsichtigen Flüssigkeit, wovon er ein paar Tropfen in den Shaker fallen ließ. „Manchmal lasse ich es regnen“, es folgten ein paar klein gehackte Eisstücke, „ab und zu lasse ich es schneien“, ich lächelte ihn an, gespannt was folgte: „und ab und an …“, jetzt kam der Zitronensaft, „lasse ich auch die Sonne scheinen.“
Der Mixer wurde nicht geschüttelt, sondern nur geschwenkt, anschließend bekam der Gast seinen Cocktail serviert.
Der Barkeeper schaute mich an. „Was glauben Sie, was jetzt passiert?“
Neugierig blickte ich auf die Flüssigkeit, die eine seltsame Färbung hatte. Langsam trennten sich die Farben voneinander.
„Ein Regenbogen - wie schön.“ Ich lächelte begeistert. „Sie sind wirklich ein Künstler.“
„Nein, ich bin der Wettermann.“
„Ach ja.“
„Was darf ich Ihnen denn Schönes mixen?“
Ich überlegte kurz. „Ich hätte Lust auf eine Pina Colada.“
Verneinend schüttelte er den Kopf. „Das ist jetzt aber keine wirkliche Herausforderung.“
„Ein Erdbeerdaiquiri?“
„Auch nicht.“
„Dann lasse ich mich doch einfach überraschen.“
Er nickte. „Eine gute Wahl.“
Wieder nahm er einige Flaschen aus dem Regal, dabei versuchte ich herauszufinden, um welches Getränk es sich handelte. Ein paar Sachen erkannte ich, ein Schuss brauner Rum, oh mein Gott, Tequila. „Kommt da auch noch etwas anderes als Alkohol rein?“
Er lächelte. Jetzt schüttete er etwas in den Mixer, das wie Orangen - oder Maracujasaft aussah, noch etwas Sahne, klein gehacktes Eis, dann wurde alles gut durchgeschüttelt. Der nette Barkeeper stellte ein Longdrink Glas auf die Theke. Mein Cocktail hatte eine milchige, orangegoldene Farbe. Garniert wurde das Glas mit einer Sternenfrucht. Hmm, das sah wirklich lecker aus.
„Das ist ein Orange-Moon. Ich hoffe, er schmeckt Ihnen.“ Er grinste breit. „Der geht auf Kosten des Hauses.“
„Dann schmeckt er bestimmt.“ Ich probierte einen großen Schluck und genoss den cremig süßen Geschmack.
„Dieser Cocktail ist einfach göttlich.“
„Ich wusste es.“ Er lächelte selbstbewusst. „Bisher lag ich noch nie falsch mit meiner Vermutung. Es gibt für jeden Menschen den passenden Cocktail. Ihrer ist der Orange-Moon.“
„Das werde ich mir merken.“ Ich versuchte genau so freundlich zu zwinkern wie er und wandte mich wieder meinen Kollegen zu, die sich mittlerweile ausgelassen auf der Tanzfläche amüsierten. Trotz des leckeren Cocktails konnte mich die Stimmung der anderen nicht mitreißen. Ich unterhielt mich noch ein wenig mit Laura und genoss mein Getränk. Sie schaute auf ihre Uhr.
„Die Show müsste gleich anfangen. Wie gesagt, die Männer, die du dort zu sehen bekommst, sind echte Leckerbissen.“
„Gut zu wissen, trotzdem, für mich ist heute Schluss.“ Ich stand auf und nahm meine Tasche. „Ihr könnt ja noch ein wenig feiern, aber ich bin jetzt wirklich reif für mein Bett.“
„Hast du denn mittlerweile eins?“
Ich schaute sie grummelnd an. „Nein.“
„Warte, ich komme mit.“ Laura hatte wohl auch keine Lust mehr, auf Mirco zu warten. Wir verabschiedeten uns von den Unermüdlichen, nicht ohne sie daran zu erinnern, dass sie morgen wieder arbeiten mussten. Mittlerweile hatte sich der Raum mit gut gelaunten Menschen gefüllt. Dicht gedrängt standen sie vor dem Laufsteg, der von Lichtkegeln effektvoll beleuchtet wurde. Eine Frau trat zurück, um sich eine bessere Sicht zu verschaffen, dabei schubste sie mich leicht zur Seite. Als ich zurückblickte, um der Übeltäterin einen bösen Blick zuzuwerfen, sah ich ihn. Er stand auf einer kleinen Empore, abseits des Geschehens. Neben ihm stand eine wunderschöne, leicht bekleidete Tänzerin, der er gerade zärtlich den Hals küsste. Ich blieb wie angewurzelt stehen, was zur Folge hatte, dass Laura auflief und ich erneut nach vorne stolperte. Das nächste Mal, als ich in seine Richtung blickte, schaute ich geradewegs in zwei braune Augen. Wunderschöne Augen, ohne Zweifel. Er lächelte mich an und warf mir eine Kusshand zu. Es sah fast so aus, als hätte er damit gerechnet mich hier zu sehen. Die Tänzerin zog seinen Kopf zu sich herunter, um ihm etwas in sein Ohr zu flüstern.
Hastig ging ich weiter, eifrig bemüht kein weiteres Mal zu stolpern.
„Jetzt sag mir mal bitte, woher du denn den kennst?“ Laura, die immer noch hinter mir war, eilte mir durch meine frei gedrängelte Schneise hinterher.
„Kennen wäre wohl zu viel gesagt, wir haben uns ein- oder zweimal getroffen.“ Endlich hatten wir den Ausgang erreicht. Erleichtert atmete ich tief durch. Zu meiner Verwunderung stellte sich mir Laura in den Weg.
„Er gefällt dir, nicht wahr?“
Ich kämpfte immer noch mit den unterschiedlichsten Emotionen, die der Anblick dieses Mannes hervorgerufen hatte.
„Nein“, log ich.
Sie ließ mich nicht weiter gehen. „Du bist fasziniert von seiner Ausstrahlung, dir gefällt sein Äußeres oder vielleicht sogar die Art wie er küsst? Ist es nicht so?“ Laura kam richtig in Fahrt. „Sag es ruhig, Michelle. Ich höre das alles nicht zum ersten Mal.“
„Nein, Laura, es ist nicht so.“ Mehr und mehr wunderte ich mich über ihr Verhalten. „Was ist denn auf einmal in dich gefahren? Ich habe nichts Derartiges gesagt. Wir haben uns lediglich zwei Mal gesehen, sonst nichts.“ Ich schlug einen Haken um sie, wütend stapfte sie hinter mir her.
„So wie er dich angesehen hat, wäre es das erste Mal, dass er es nur beim Schauen belässt.“
„Laura, reg dich jetzt bitte ab. Er hatte doch seine Freundin dabei, außerdem, und ich glaube ich wiederhole mich, interessiert er mich nicht.“
„Sei mir nicht böse, Michelle, aber bei diesem León würde ich dir raten, vorsichtig zu sein. Er geht wirklich mit jeder ins Bett, die nicht bei drei aus seinem Umkreis verschwunden ist.“
„Wieso sollte er sich nicht amüsieren, wenn er ungebunden ist?“, antwortete ich nicht überzeugend.
„Wenn er das mal wäre. Jede Frau, mit der er zusammen ist, glaubt, ihn fest an ihrer Angel zu haben, aber dem ist nicht so. Er bricht hier auf der Reeperbahn laufend Herzen und, ich unterstelle ihm mal, auch weit über diese Grenzen hinaus. Mit Sicherheit ist er ein attraktiver Mann, aber du wärst die Letzte, die ich in seiner Trophäengalerie sehen möchte.“
„Das wird ganz sicher nicht passieren“, sagte ich entschlossen, um wenigstens Lauras Zweifel zu beseitigen.
Ganz sicher hänge ich dort schon längst und er lacht sich jetzt halb tot, mich hier in Hamburg zu sehen. Zähneknirschend machte ich mich auf meinen Heimweg.