Lachmöwe - Gisa Pauly - E-Book
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Gisa Pauly

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  • Herausgeber: Piper ebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

15 Jahre Mamma Carlotta – und kein bisschen ruhiger! Die italienischste Bewohnerin Sylts ist wieder im Einsatz.

Nudeln kochen und auf die Nordsee starren? Doch nicht mit Mamma Carlotta! Auch in ihrem 15. Fall stolpert die Kult-Ermittlerin wieder mittenrein in die abgründigen Seiten der Sylt-Idylle.

Bisher 1,8 Millionen Mal gingen die rasanten Bücher um Hobby-Detektivin Mamma Carlotta über den Ladentisch. Mit dem 15. Fall „Lachmöwe“ dürfte Bestseller-Autorin Gisa Pauly mit Leichtigkeit über die nächste Millionenhürde springen. Denn wenn „die italienische Miss Marple von Sylt“ (Brigitte) der Polizei unter die Arme greift, kann selbst der beste Kommissar einpacken!

Dieses Mal wird es besonders turbulent: Tote Pflegerinnen, verdächtige Kindermädchen und rüstige Rentner halten Mamma Carlotta auf Trab. Und ein solch ausgefuchster Mörder ist selbst der Ikone des Sylt-Krimis noch nicht untergekommen. Wie gut, dass nun Rentner Richard an ihrer Seite ist. Denn die Jagd nach dem Täter verlangt dem rüstigen Power-Duo alles ab.

Perfekte Cozy Crime für Ihre Strandlektüre – machen Sie Urlaub mit Mama Carlotta!

Bücher für den Urlaub gibt es viele. Hervorragende Regionalkrimis ebenso. Doch kaum ein anderer Nordsee-Krimi bringt das Lebensgefühl auf Sylt mit so viel Charme und Situationskomik auf den Punkt wie die Mamma Carlotta-Reihe. Lassen Sie die Seele baumeln und schmökern Sie nach Herzenslust – „Lachmöwe“ ist ein pures Vergnügen und ein perfekter Tipp für Ihre Urlaubslektüre.

Der SPIEGEL-Bestseller #1 – ein Grund zum Feiern!

15 Jahre Mamma Carlotta, 15 unglaubliche Fälle, zahllose begeisterte Fans und kein Ende in Sicht! Geht es nach Autorin Gisa Pauly, wird sie die Welt so lange mit lustigen Regio-Krimis bereichern, bis ihr die Zutaten für den perfekten Nordsee-Roman ausgehen. Das wird sicher nie der Fall sein – denn Mamma Carlotta hat noch viel vor!

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Für Carlotta Capella,

die es schon seit fünfzehn Jahren mit mir aushält

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Covergestaltung: Martina Eisele

Covermotiv: Bigstock (Elenamiv; Life on White; Olgagi; Seregam;

sittipong; YesPhotographers) und Shutterstock.com

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Inhalt

Cover & Impressum

1 – Carlotta Capella war …

2 – Erik erschrak, als der …

3 – Mamma Carlotta war …

4 – Sören bekam das …

5 – Mamma Carlotta war …

6 – Erik stöhnte auf, …

7 – Mamma Carlotta wusste …

8 – Während Erik hinter …

9 – Eine Familiengeschichte! …

10 – Der Leiter der KTU …

1

Carlotta Capella war mit einem guten Schlaf gesegnet. Nur in Vollmondnächten wurde sie von wirren Träumen heimgesucht, die sie weckten und aus dem Bett trieben. Zu Hause in ihrem umbrischen Dorf ging sie dann, vor allem in Sommernächten, in den Garten, schimpfte leise mit dem Mond, wenn er grell silbern am Himmel stand, horchte auf das Heulen eines Hundes und auf die Schritte der Nachbarin, die ebenso unter dem Vollmond litt wie Mamma Carlotta. Dann zogen sie beide ein Bettjäckchen über ihre Nachthemden, das Carlotta von ihrer Mutter und die Nachbarin von ihrer Schwiegermutter gehäkelt bekommen hatte, stellten sich an den Zaun und plauderten den Ärger über den Vollmond weg, bis er schließlich blasser wurde und im grauen Tagesanbruch unterging.

Auf Sylt war das anders. Hier war die Nacht auch im Hochsommer kalt, in diesem Fall besonders, weil sich gegen Abend ein Wind erhoben hatte, der die Sommerwärme des Tages vertrieb. Außerdem war auf Sylt nicht zu erwarten, dass sich eine Verbündete fand, der es nichts ausmachte, bei Nacht das Haus zu verlassen und sich mit einer anderen im Nachthemd die Zeit zu vertreiben. Ihr Bettjäckchen hatte Carlotta natürlich nicht mit nach Sylt genommen, sie hätte sich schon eine dicke Strickjacke um den Körper wickeln müssen. Aber allein wäre sie im Garten auf jeden Fall geblieben. Die Sylter harrten im Hause aus, spontane Plaudereien am Gartenzaun waren selbst am helllichten Tag nur selten möglich. Und Mamma Carlotta mochte sich nicht vorstellen, wie ihr Schwiegersohn reagieren würde, wenn ihm später zu Ohren kam, dass seine Schwiegermutter außer Haus im Nachthemd gesichtet worden war.

Also würde sie am Fenster stehen bleiben, in den Garten starren, das Spiel des Windes mit den Bäumen betrachten und hoffen, dass es sie ermüden würde. Vielleicht war es dann möglich, noch einmal in den Schlaf zu finden.

Sie lehnte die Stirn an die kühle Scheibe, als sie leicht zu schwanken begann, merkte, dass ihre Augenlider schwer wurden, und wollte gerade die Gardinen schließen und einen Versuch unternehmen, wieder einzuschlafen, da machte sie im Nachbargarten eine Bewegung aus. Kein Baum, der vom Wind bewegt, kein Busch, der von ihm gerüttelt wurde, nein, eine Person, die sich geduckt davonmachte. Woher war sie gekommen? Aus dem Gemüsegarten der Familie Kemmertöns? Oder aus dem kleinen Holzhaus, das an der Grenze zum Grundstück der Wolfs stand? Das war vor ein paar Jahren erbaut worden und wurde von den Kemmertöns an Feriengäste vermietet. Zurzeit wohnte dort eine Frau, die am Osterweg als Pflegerin eingestellt worden war. Sie war allein aus Polen nach Sylt gekommen, um sich einer demenzkranken Frau anzunehmen, die auf Hilfe angewiesen war. Konnte es sein, dass sie Besuch von einem Mann bekommen hatte? Ein Mann, der offenbar nicht gesehen werden wollte?

Mamma Carlotta war schlagartig hellwach, in ihrem Kopf kreisten die Ideen. Ein verheirateter Mann, der mit der Polin ein Verhältnis begonnen hatte? Ein Mann, der aus anderen Gründen nicht offen bekennen wollte, dass er die Nacht mit ihr verbrachte? War die Frau, die dort wohnte, womöglich doch verheiratet und hatte in ihrer Heimat eine Familie, für die sie in Deutschland arbeitete? An Schlaf war nicht mehr zu denken. Hatte es sich überhaupt um einen Mann gehandelt? Nein, es hätte auch eine Frau gewesen sein können. Carlotta hatte nur eine Gestalt gesehen, die dunkel gekleidet war und sich geduckt bewegt hatte. So wie jemand, der nicht gesehen werden wollte. Vielleicht ein Dieb? Jemand, der der armen Frau, die fern von der Heimat dafür sorgte, dass ihre Familie genug zu essen hatte, das wenige, das sie besaß, gestohlen hatte? Mamma Carlotta war alarmiert. Sie würde ihren Schwiegersohn beim Frühstücken fragen. Oder … besser nicht. Wenn jemand in das Ferienhaus eingebrochen war, dann gab es bald eine Anzeige, und Erik würde dafür sorgen, dass der Dieb gestellt, überführt und verurteilt wurde. Dann war es früh genug, ihm von ihrer Beobachtung zu erzählen. Vorher würde er das, was sie ihm sagte, ja doch nur mit einer wegwerfenden Geste abtun, die sie mittlerweile gut genug kannte. Wenn seine Schwiegermutter sich in seine Arbeit einmischen wollte, konnte Kriminalhauptkommissar Erik Wolf sehr ungemütlich werden.

Mamma Carlottas Lider begannen zu flattern, ihr Kopf wurde schwer, der Schlaf kam zurück. Mit schleppenden Schritten ging sie zum Bett und ließ sich auf die Matratze sinken. Gott sei Dank, sie würde noch eine Mütze Schlaf abbekommen! Dieser Gedanke war ihr letzter, ehe sie tatsächlich einschlief.

2

Erik erschrak, als der linke Blinker den Takt zu schlagen begann. »Ich Idiot!«

Da hatte er doch tatsächlich den Weg genommen, der ihm in all den Jahren in Fleisch und Blut übergegangen war, die Richtung, die er blindlings einschlug, wenn er in Gedanken war. Und das war er an diesem Morgen! Die Staatsanwältin hatte angerufen. Tilla! So musste er sie jetzt nennen. Ungern, aber was blieb ihm anderes übrig? Von Anfang an hatte er sie nicht ausstehen, ihre ruppige, unfreundliche Art nicht leiden können. Wenn sie ihn anrief, brachte sie nicht einmal die Höflichkeit auf, ihn zu begrüßen oder sich gar nach seinem Befinden zu erkundigen. Nein, sie fiel immer gleich mit ihrem Anliegen ins Haus und zeigte ihm dann mit der Verächtlichkeit, die sie beherrschte wie keine Zweite, mit diesem Naserümpfen, das er vor sich sah, obwohl sie in Flensburg an ihrem Schreibtisch saß, was sie von ihm hielt. Nichts nämlich! Er war zu träge, zu trödelig, zu leidenschaftslos und zu umständlich. Alles andere als ein gewiefter Kriminalbeamter, der auf Zack war. Erst recht kein attraktiver Mann, keiner, der sich gut und modisch kleidete, der mehr für sein Äußeres tat, als regelmäßig zum Friseur zu gehen und seinen Schnauzer zu pflegen. Schon seit Jahren war er für sie wegen seiner Mittelmäßigkeit ein rotes Tuch. Bis vor einigen Monaten war das so gewesen. Dann allerdings hatte sich etwas geändert. Noch immer konnte er nicht sagen, was eigentlich passiert war. Oder vielmehr … er wollte es nicht.

Er fuhr auf den Parkplatz, der voller Baufahrzeuge stand, auch ein Kran war dort aufgestellt worden. Das Polizeirevier Westerland, das seit Jahren in dem alten Gebäude am Kirchenweg untergebracht war, musste unbedingt renoviert werden. Aber schnell hatte sich herausgestellt, dass es nicht damit getan sein würde, den Anstrich der Räume und die Fußböden zu erneuern. Es waren eklatante Schäden an dem alten Gemäuer festgestellt worden, die umfangreiche Umbaumaßnahmen erforderlich machten. Und das würde lange dauern. So war die gesamte Polizei in ein paar hässliche Container umgesiedelt worden, die neben dem Telekom-Gebäude errichtet worden waren. Die Kriminalpolizei hatte Glück gehabt, ihr waren ein paar Büroräume in der oberen Etage des Telekom-Gebäudes überlassen worden. Und Erik, mit der Stimme der Staatsanwältin im Ohr und ihren Worten in den Gedanken, war daran vorbeigefahren, die Kjeirstraße bis zu ihrem Ende, und dann in den Kirchenweg eingebogen. Erst als er die Lieferwagen der Baufirma am Straßenrand gesehen hatte, war ihm schlagartig klar geworden, dass er den Weg zur Arbeit gefahren war, der ihm seit Jahren vertraut war. Tilla würde mit Spott nicht sparen, wenn sie davon erführe.

Tilla! Was für ein exaltierter Name! Aber er passte zu ihr. Ende des vorigen Jahres war es passiert. Sie hatten an einer Hotelbar mehrere Cocktails getrunken, und Erik war der Fehler unterlaufen, die Staatsanwältin zu küssen. Unter Alkoholeinfluss, wohlgemerkt! So was zählte doch nicht. Noch heute bereute er es bitter und konnte sich überhaupt nicht erklären, wie es dazu gekommen war. Wenn sie wenigstens darüber hinweggegangen wäre und diese dumme Angelegenheit so schnell wie möglich vergessen hätte. Aber nein! Sie duzte ihn seitdem und machte keinen Hehl daraus, dass sich zwischen ihr und dem Kriminalhauptkommissar von Sylt im zwischenmenschlichen Bereich etwas verändert hatte.

Während Erik auf dem Parkplatz wendete, um wieder in den Kirchenweg einzubiegen und zum Telekom-Gebäude zurückzufahren, brummte er ungehalten vor sich hin. Alle Streifenpolizisten von Sylt tuschelten vermutlich darüber, dass Erik Wolf und Dr. Tilla Speck etwas miteinander hatten. Erik mochte sich gar nicht vorstellen, welche Blüten Klatsch und Tratsch mittlerweile trieben.

Langsam fuhr er die Kjeirstraße zurück und bog auf den Parkplatz neben den Containern ein. Dort war für ihn ein Platz reserviert, an dem sein Name stand. Sein Mitarbeiter Sören Kretschmer stand neben seinem Rennrad, das er sorgfältig am Fahrradständer angekettet hatte, und wartete auf ihn.

»Warum hat das so lange gedauert, Chef?«

Erik antwortete nicht, sondern ging an ihm vorbei in den Container, an dem ein großes Schild mit der Aufschrift Polizeirevier Sylt – Wache prangte. Er trat durch die Tür, die den Hinweis trug: Bitte hier klingeln/anmelden, allerdings ohne zu klingeln, und erst recht, ohne sich anzumelden. Polizeimeister Enno Mierendorf und Obermeister Rudi Engdahl beschäftigten sich dort in aller Seelenruhe mit ein paar Handtaschen- und diversen Ladendiebstählen. Zurzeit ereignete sich nicht viel auf Sylt, obwohl die Saison schon begonnen hatte. Die Touristen aus Nordrhein-Westfalen hatten die Insel als Erste gestürmt, viele Feriengäste aus anderen Bundesländern würden an diesem Wochenende folgen. Erik ließ sich auf den neuesten Stand der träge laufenden Ermittlungen bringen, dann verließ er den Container wieder und ging zum Eingang des Telekom-Gebäudes, in dem Sören bereits verschwunden war. Wenn Tilla gesehen hätte, mit welcher Gemütlichkeit im Revierzimmer gearbeitet wurde! Sie wäre hellauf entsetzt gewesen.

Erik musste lange auf den Aufzug warten, Sören war natürlich zu Fuß in die dritte Etage hochgestiegen, er nutzte ja jede Gelegenheit zur körperlichen Ertüchtigung. Seit sie ihr Büro im Telekom-Gebäude hatten, ermahnte Sören seinen Chef häufig, etwas für seine Fitness zu tun. »Jeden Tag ein paarmal hier hoch und wieder runter, das bringt schon was!«

Doch Erik fand jedes Mal einen neuen Grund, warum es ihm gerade an diesem Tag nicht möglich war. Mal wollte er nicht in Schweiß geraten und sein frisches Hemd ruinieren, mal wollte er nicht mit Atemnot oben ankommen, wo jemand auf ihn wartete, dem er sich fit und ausgeruht präsentieren wollte, und dann wieder hatte er einfach keine Lust. So wie an diesem Tag. Es fiel ihm wesentlich leichter, lange auf den Aufzug zu warten, als die Treppen hochzusteigen. Er besaß eben mehr Geduld als Bewegungsdrang. Außerdem konnte er hier, vor der Lifttür, die sich nicht öffnete, in Ruhe in sich gehen.

Insgesamt dachte er viel mehr über Dr. Tilla Speck nach, als ihm recht war und als irgendjemand ahnte. Seine Schwiegermutter versuchte ja oft, seine Ideen anzustoßen und in Tillas Richtung zu schieben. Wenn sie dann verzweifelte, weil er nicht reagierte, hatte sie keine Ahnung, dass er längst in Gedanken bei der Staatsanwältin war. Ihr letzter Fall hatte sie noch näher zueinandergeführt. Wieder hatte er sie geküsst. Und diesmal konnte er sich nicht darauf berufen, dass Alkoholeinfluss seine Sinne vernebelt hatte. Nun fielen ihm auch wieder ihre Worte ein. Es war am Strand gewesen, bei Dunkelheit, in einem Strandkorb, in dem sie sich verstecken konnten. Sie hatte ihm gestanden, dass sie nicht wegen der Ermittlungen nach Sylt gekommen war, sondern seinetwegen. Und er hatte nichts darauf erwidert, hatte die Worte zwischen ihnen stehen und dann davonfliegen lassen, war später nicht darauf zurückgekommen und hatte sich in letzter Zeit oft gefragt, was seine Verschlossenheit wohl bei ihr anrichtete. Welche Frau hielt es aus, den Blick auf ihre Gefühle freizugeben und keine Erwiderung zu erhalten? Als er sich diese Frage zum ersten Mal gestellt hatte, war ihm klar geworden, wie schäbig er sich benommen hatte. Notgedrungen hatte er sie angerufen und war sich noch erbärmlicher vorgekommen, als sie sich darüber freute.

Endlich öffnete sich die Tür des Aufzugs, zwei Telekom-Angestellte schoben einen Stuhl und mehrere Pakete heraus und warfen ihm eine Erklärung zu, warum es so lange gedauert hatte. Er hörte gar nicht zu, winkte ab, als hätte er alle Zeit der Welt, und stieg in den Aufzug. Heute Morgen hatte Tilla ihn angerufen, weil sie nach Sylt kommen wollte. Frühere Nachbarn aus Flensburg hatten endlich ein Haus auf Sylt gefunden, in Eriks Nähe, und die Staatsanwältin eingeladen, sie bald zu besuchen.

»Stell dir vor, sie wohnen auch am Süder Wung. Da könnte ich doch mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Ich werde die Gerckes besuchen, mir ihr neues Haus ansehen, mich zu Carlotta in die Küche setzen, ihr beim Kochen zusehen und abends etwas mit dir unternehmen. Wie wär’s mit der Bar vom Hotel Windrose?« Sie hatte leise gelacht. »Wir haben immer noch nicht unser Versprechen eingelöst. Der Barkeeper wartet noch darauf, uns alle Cocktails zu mixen, die er im Repertoire hat.«

Und er? Er hatte zugesagt und behauptet, er freue sich über ihren Besuch. Zum Glück hatte sie gleich ergänzt, sie habe wieder ein Hotelzimmer gebucht. Allerdings nicht im Hotel Windrose, dort war nichts mehr frei gewesen, sondern im Horizont, in dem seine Tochter ihre Ausbildung machte. Aber egal! Hauptsache Hotelzimmer! Erik lebte nach wie vor in der Angst, seine Schwiegermutter könne der Staatsanwältin das Gästezimmer anbieten. Tja, und nun freute er sich tatsächlich. Auch deswegen, weil sie das Gespräch begonnen hatte, indem sie ihren Namen nannte und Erik begrüßte. Dass sie ihn duzte, hatte auch den Vorteil, dass sie nicht mehr seinen Nachnamen auf ihn abschoss, so wie früher, sondern ihn beim Vornamen nannte, der viel weicher und freundlicher über ihre Lippen kam. Und am Ende des Gesprächs hatte sie noch liebenswürdige Worte gefunden, ehe sie den Hörer auflegte. Es hatte also tatsächlich etwas gefruchtet, dass er sich ein Herz gefasst und ihr erklärt hatte, wie sehr ihn ihre Unhöflichkeit aufbrachte.

Sein Mitarbeiter Sören Kretschmer, frischgebackener Oberkommissar, hatte schon seine Akten aus dem Schrank genommen und grinste ihn an. »Haben Sie wieder den Aufzug genommen?«

Er war ein sportlicher junger Mann von Ende zwanzig, der auf ein Auto verzichtete und jeden Weg mit seinem Rennrad zurücklegte. Demzufolge war er schlank und muskulös, nur sein Gesicht war kugelrund. Heimlich verglich Erik ihn manchmal mit einem gesunden Landarbeiter, der den ganzen Tag an der frischen Luft verbrachte und sich von der Sonne bescheinen ließ. Sörens Gesicht sah immer aus wie ein rotbackiger Apfel.

Um das Thema seiner Unsportlichkeit nicht weiter zu vertiefen, sagte Erik: »Die Staatsanwältin wird heute kommen.« Es hatte ja keinen Sinn, den Besuch zu verschweigen. Sören nahm, wenn Mamma Carlotta auf Sylt war, jede Mahlzeit im Hause Wolf ein. Er würde der Staatsanwältin also begegnen, das war nicht zu vermeiden.

Sören ließ seinen Blick über die Akten schweifen. »Wir haben kein Kapitalverbrechen zurzeit.«

»Ihr Besuch ist mehr privater Natur.«

Über Sörens Gesicht ging ein Grinsen, das Erik überhaupt nicht gefiel. Schnell ergänzte er: »Am Ende der Straße ist eine neue Familie eingezogen. Frühere Nachbarn von der Staatsanwältin aus Flensburg. Die haben sie eingeladen, ihr neues Haus zu besichtigen. Und dann wird sie eben auch einen Besuch bei uns machen. Ist ja klar.«

3

Mamma Carlotta war alles andere als ausgeschlafen. Wie immer nach einer Vollmondnacht. Diesmal half nicht einmal ein doppelter Espresso, es musste ein zweiter her. Stöhnend ließ sie sich auf einen Stuhl sinken und betrachtete den Frühstückstisch, die Teller, von denen das Rührei gekratzt worden war, die Marmeladenflecken und Krümel auf der Tischdecke, die Butter, die zu glänzen begann. Ihr selbst hätte es den Magen umgedreht, wenn man sie zu einem derart opulenten Frühstück nötigte. Ein guter Espresso oder zwei, dazu ein Zwieback, das reichte ihr vollkommen. Die Gewohnheit der Deutschen, sich schon am frühen Morgen den Bauch vollzuschlagen, würde sie nie übernehmen. Anders als Lucia. Ihre Tochter hatte noch gar nicht lange auf Sylt gelebt, da schwärmte sie schon von Rührei und Schinken und sogar von Lachs und Leberwurst zum Frühstück. Und sie bestand darauf, dass ihre Kinder erst zur Schule aufbrachen, wenn sie nicht nur mit Liebe und Geborgenheit, sondern auch mit vielen Sattmachern und Vitaminen gefüttert worden waren.

»La mia piccola!«

Die Gedanken an Lucia waren noch immer schwer zu ertragen. Die Frage, warum der Fahrer des Lkw ausgerechnet in dem Augenblick das Steuer verrissen hatte, als Lucia ihm entgegenkam, war noch immer so quälend wie vorher. Sie würde keine Antwort bekommen, Lucias plötzlicher Tod hatte eine Wunde aufgerissen, die nie verheilen würde. Aber doch vernarbte sie allmählich und tat nicht mehr ganz so weh.

Kükeltje, die kleine schwarze Katze der Familie Wolf, schien zu spüren, dass die Herrin von Küche und Kühlschrank schweren Gedanken nachhing. Schnurrend ging sie Carlotta um die Beine und sprang schließlich auf ihren Schoß. Aus dem Warmen, Weichen wurde tatsächlich ein Trost. Mamma Carlotta drückte die Katze an sich und merkte, dass die Gedanken an Lucia erträglicher wurden.

Als es an der Haustür läutete, hätte Mamma Carlotta es beinahe nicht bemerkt. Erik hatte – nachdem sein Sohn Felix lange genug gedrängt hatte – eine neue Klingel angeschafft, die bei jeder Benutzung eine Melodie produzierte. Carlotta überlegte gerade, wer das Radio angestellt haben mochte, als ihr klar wurde, dass Beethovens Unvollendete von jemandem ausgelöst worden war, der vor der Haustür stand.

Es war die Nachbarin, die gleich noch einmal den Daumen auf die Klingel drückte, weil sie auf Im weißen Rössl am Wolfgangsee hoffte. Frau Kemmertöns war dann aber auch mit dem Radetzkymarsch hochzufrieden und ließ sich ins Haus ziehen, ohne darauf zu bestehen, das gesamte Repertoire der Melodieklingel auszuprobieren.

Mamma Carlotta war überrascht über den frühen Besuch. Frau Kemmertöns arbeitete halbtags am Infostand des Kurhauses. Wenn sie morgens Dienst hatte, war zwischen Frühstück und Arbeitsbeginn keine Zeit, einen Besuch zu machen, wenn sie erst nachmittags antreten musste, ließ sie sich Zeit mit dem Start in den Tag und fand deswegen genauso wenig Zeit für einen Besuch. Das war heute anders, und Mamma Carlotta wurde schnell klar, woran es lag: In Frau Kemmertöns schlummerte eine Neuigkeit, die rausmusste.

Besonders gesprächig war die Nachbarin nicht. Sie hielt es so wie Erik und die meisten anderen Friesen: Was gesagt werden musste, wurde gesagt, aber darüber hinaus hielt man den Mund. Auch deswegen, weil das ganze Gerede schrecklich anstrengend war. Und Anstrengungen, die sich vermeiden ließen, wich Frau Kemmertöns gern aus. Sie war in Carlottas Alter, Anfang sechzig, von ähnlicher Statur, was bedeutete, dass sie überall gut gepolstert war, und trug auch ähnliche Kleidung wie Mamma Carlotta. In diesem Fall einen geblümten Sommerrock und eine weiße Bluse mit einem tiefen Ausschnitt. Carlotta warf einen Blick auf die gerötete, schweißglänzende Haut ihres Dekolletés und war nun überzeugt, dass Frau Kemmertöns einem Skandal auf die Spur gekommen war. Vielleicht würde gleich ihre Brust zu vibrieren beginnen, eine Fähigkeit, die Carlotta bisher bei keiner anderen Frau beobachtet hatte und die sie immer wieder zum Staunen brachte. Wenn die Nachbarin echauffiert war, geriet ihre Brust in atemberaubende Schwingungen. Genau genommen das einzig Dynamische an Frau Kemmertöns’ Körper.

»Stellen Sie sich vor …«, begann sie.

Eine sehr verheißungsvolle Einführung, für die Mamma Carlotta behände die richtige Atmosphäre schaffte. Sie drückte Frau Kemmertöns auf einen Stuhl, bediente die Espressomaschine, huschte in den Vorrat und holte eine Packung Cantuccini, stellte mit großem Geklirr das Frühstücksgeschirr auf die Spüle und schob die Krümel mit ihrer rechten Handkante in die linke Handfläche. Das alles, während Frau Kemmertöns nicht weiter als bis »… was ich heute Nacht gesehen habe …« gekommen war. Verblüfft starrte sie auf die Gebäckschale, als wüsste sie nicht, wie sie vor ihr erschienen war. Das Tempo der Schwiegermutter von Kriminalhauptkommissar Wolf war ihr oft unheimlich, und sie hatte sich sogar schon einmal bewogen gefühlt, ein ernstes Gespräch mit ihr zu führen, weil sie fürchtete, dass die Geschwindigkeit, mit der Carlotta durch den Alltag rauschte, gesundheitsschädlich war. Sie hatte sich noch nicht einmal in die richtige Sitzposition geschaukelt, da dampfte schon der Espresso vor ihr.

»Ich kann nämlich bei Vollmond nicht schlafen.«

Was Frau Kemmertöns gesehen hatte, war zu deren Bedauern für Mamma Carlotta nicht ganz so aufregend, wie sie gehofft hatte. Sie erfuhr umgehend, dass sie nicht die Einzige war, die des Nachts eine skandalöse Beobachtung gemacht hatte.

»Natürlich nicht zum ersten Mal«, fuhr Frau Kemmertöns fort.

Das allerdings war Carlotta neu. »Sie bekommt öfter Herrenbesuch di notte? Mitten in der Nacht?«

Jetzt war sie davon überzeugt, dass die Gestalt, die sie gesehen hatte, männlich gewesen war, so wie natürlich auch deren Anliegen typisch männlich gewesen sein musste.

»Die hat ein Verhältnis«, stellte Frau Kemmertöns fest, mit einer Stimme, die so gespenstisch klang, als könnte auch von Exorzismus oder mehrköpfigen Höllenhunden die Rede sein. »Vermutlich mit einem verheirateten Mann. Einen Grund muss es ja haben, dass er sich nur bei Dunkelheit zu ihr schleicht. Und immer unter einem schwarzen Umhang mit Kapuze.«

»Madonna!«

Im Nu kam jeder männliche Anwohner vom Süder Wung in Verdacht, wurde aber gleich wieder verworfen. Nein, in der Nachbarschaft wohnten nur achtbare Ehepaare, zudem noch viele in einem Alter, das amouröse Abenteuer von vornherein ausschloss. Obwohl … Frau Kemmertöns fand den Einwand, dass ein höheres Alter eine Ehefrau in Sicherheit wog, nicht ganz stichhaltig. Aber als Carlotta einen Hinweis auf Herrn Kemmertöns gab, stimmte sie zu. Die Vorstellung, dass ihr Jupp sich auf eine derartige Anstrengung einließ, erschien ihr nun auch absurd.

»Es muss also jemand sein, der nicht in der Nähe wohnt. Vielleicht in Westerland? Oder ein Feriengast?«

Sie beratschlagten ausgiebig, obwohl sie wussten, dass ihnen keine Erleuchtung kommen würde, und hatten eigentlich auch gar nicht die Absicht, eine Lösung für diese Denksportaufgabe zu finden. Das Erörtern der vielen Möglichkeiten, das Rätseln, das Grübeln und Beratschlagen machte ihnen Freude genug. Am Ende waren sämtliche Einwohner von Wenningstedt einmal kurz ins grelle Licht des Verdachts geraten, aber genauso schnell wieder in den Schatten der Unbescholtenheit gestoßen worden. Etwas länger blieb ein neu Hinzugezogener im Zentrum des Misstrauens stehen, aber auch er landete schließlich auf der Seite der Unschuldigen.

»Obwohl …« Frau Kemmertöns fand einen Künstler generell verdächtig. »Er ist Sänger, hat überall in Deutschland Auftritte, geht manchmal auf Tournee … Wie soll seine Frau da den Überblick über seine Freizeit behalten?«

Diese Frau war Felix’ neue Lehrerin, Hedda Gercke, die selbstverständlich über jeden Zweifel erhaben war, weil Lehrer das nach Carlottas Meinung ganz automatisch waren. Sie bestand darauf, dass ein Lehrer immer recht hatte, moralisch integer war und stets als gutes Vorbild herhalten konnte. Sie war davon überzeugt, dass ein Pädagoge mit Abschluss seines Studiums auch seine Ausbildung zum Moralapostel vollendete. So war das zu ihrer Zeit gewesen, und sie wollte einfach, dass sich daran nichts änderte, obwohl ihre Enkelkinder ihr schon mit einigen Gegenbeispielen gekommen waren. Auch Frau Kemmertöns hatte schon davon gehört, dass die Lehrer von heute nicht mehr das waren, was sie in ihrer Kindheit gewesen waren, aber schließlich fand auch sie, dass man zu wenig von den Gerckes wisse, um über sie urteilen zu können. »Und es soll ja auch Künstler geben, die ein ganz normales, solides Leben führen.« Bei diesem Satz verblasste die Röte auf ihrem Dekolleté, und das Vibrieren hatte ein Ende. Von da an kehrten sie genüsslich nach draußen, was sie von der Familie wussten, die vor ein paar Wochen ein Haus am Ende der Straße bezogen hatte. Beide Anfang vierzig, wusste Frau Kemmertöns zu berichten, und mit drei Kindern gesegnet.

Dazu konnte Mamma Carlotta etwas sagen, die sich schon einmal über die Tochter der Familie Gercke gewundert hatte. »Die trägt einen Hahnenkamm auf dem Kopf. Rot gefärbt. Und mindestens ein Dutzend Ringe in jedem Ohrläppchen. Sogar die Oberlippe hat sie durchstochen.« Sie schüttelte sich. »Und sie ist von oben bis unten tätowiert.«

Ob diese Tatsache für ausgeprägte pädagogische Fähigkeiten der Mutter sprach, war ein Gesprächsthema, das einen weiteren Espresso überdauerte, dann kam die Nachbarin mit einem Spruch, den Mamma Carlotta noch nicht kannte. »Pfarrers Kinder, Müllers Vieh geraten selten oder nie.«

Diese Aussage bot noch einmal eine Menge Gesprächsstoff. Aus dem Morgen wurde schon ein sonniger Vormittag, als ein lauter Schrei durch das Küchenfenster hereindrang, das Carlotta gekippt hatte, als Klatsch und Tratsch die Atmosphäre in der Küche aufgeheizt hatten. Eine männliche Stimme!

»War das etwa mein Jupp?« Frau Kemmertöns horchte angestrengt. Scheinbar konnte sie sich nicht vorstellen, dass ihr Mann, der noch übergewichtiger und phlegmatischer war als sie selbst, zu einer solchen Gefühlsaufwallung fähig war.

Dann ein weiterer Schrei. Lauter und verzweifelter. Ein Schrei, der durch Schluchzen zerrissen wurde. Von einer hellen Stimme, auch männlich, aber jünger.

»Was ist da los?« Mamma Carlotta ging ans Küchenfenster und schob ihr Ohr an die Öffnung. »Sì, Signora, das kommt wirklich aus Ihrem Giardino.«

4

Sören bekam das Grinsen gar nicht mehr aus dem Gesicht. »Weiß Ihre Schwiegermutter schon, dass heute hoher Besuch erwartet wird?« Er rieb sich die Hände. »Das wird ein Festmahl.«

Erik starrte auf eine Aktennotiz, als wäre sie überaus wichtig für die nächsten dienstlichen Schritte, die er zu tun gedachte. »Sie wird es erst eine Stunde vorher erfahren. Wenn keine Zeit mehr ist, die Menüfolge zu ändern und das Beste vom Besten auf den Tisch zu bringen. Wenn die Staatsanwältin sich selbst zum Essen einlädt, dann muss sie mit dem vorliebnehmen, was sie bekommt. Basta.«

Aber Sören winkte ab. »Alles, was die Signora kocht, ist lecker. Die Staatsanwältin wird hingerissen sein. So wie immer.«

Das befürchtete Erik auch. Wenn er an das Gejubel in seiner Küche dachte, wäre ihm glatt daran gelegen, von einem Mord gehindert zu werden, rechtzeitig Feierabend zu machen.

Sörens Gesicht wurde mit einem Mal ernst. Er setzte sich auf die Schreibtischkante seines Chefs, als wollte er ein Gespräch mit ihm führen, das Nähe brauchte. »Sie müssen mir nichts mehr vormachen, Chef. Ich weiß doch, wie die Sache aussieht. Also können Sie es ruhig zugeben. Ich mochte die Staatsanwältin ja genauso wenig wie Sie, aber seit sie ihre weiche Seite zeigt, habe ich meine Meinung geändert. In Wirklichkeit ist sie viel netter, als ich vorher gedacht habe. Und Sie können ruhig zugeben, dass Sie Ihre Meinung ebenfalls geändert haben. Dass die Dame ziemlich attraktiv ist, wussten wir doch schon vorher. Nun ist sie auch noch ganz umgänglich geworden. Was wollen Sie mehr? Sie sollten sich endlich zu Ihren Gefühlen bekennen.«

»Gefühle?« Erik starrte seinen Mitarbeiter an, als hätte dieser etwas Unanständiges von sich gegeben. »Sie glauben doch nicht etwa …«

»Doch, das glaube ich.« Sören erhob sich von der Schreibtischkante und ging zur Tür. »Mal ganz ehrlich, Chef! Jede andere Frau hätte Ihnen schon den Marsch geblasen. Ein Kuss, ein romantischer Abend am Strand, noch ein Kuss … und dann Sendepause! Wirklich erstaunlich, dass die Staatsanwältin sich so was bieten lässt. Oder haben Sie zwischendurch mal ihre Nummer gewählt? Nur um zu wissen, wie es ihr geht?« Er wartete Eriks Antwort nicht ab. »Nein, haben Sie nicht.«

»Doch! Einmal habe ich sie angerufen.«

»Um ihr frohe Weihnachten zu wünschen? Na toll! Die Frauen, die ich kenne, wären sauer. Stocksauer! Die würden Sie mit dem A… mit dem Allerwertesten nicht mehr angucken. Aber was macht die Staatsanwältin? Ausgerechnet sie, die wir für so kaltschnäuzig gehalten haben, ruft an, weil sie auf Sylt ist, und will Sie besuchen. Schon mal darüber nachgedacht, warum?«

Erik saß mit offenem Mund da und blieb auch so sitzen, als Sören sein Büro bereits verlassen hatte. Als sein Telefon zu klingeln begann, dauerte es eine Weile, bis er sich in der Lage sah, zum Hörer zu greifen.

Dann allerdings ging ein Ruck durch seinen Körper. »Was? Am Süder Wung?« Er ließ sich die Hausnummer noch einmal sagen und stöhnte auf. »Das sind meine Nachbarn.« Er stand schon auf und griff nach seiner Jacke, als er das Telefonat noch nicht einmal beendet hatte. »Bin sofort da.«

Nur kurz dachte er an den frommen Wunsch, der ihm noch vor wenigen Minuten durch den Kopf gegangen war. Nun hatte er sich erfüllt. Er hatte einen Mord am Hals.

5

Mamma Carlotta war nicht mehr zu halten. Sie sprang auf, lief ins Wohnzimmer und von dort auf die Terrasse, Kükeltje auf den Fersen, die scheinbar glaubte, dass am Ende dieses Parcours ein Töpfchen mit Sahne wartete. Wieder waren Stimmen zu hören, diesmal aber leiser, doch noch immer erregt. Irgendetwas geschah auf der anderen Seite des Gartenzauns.

Sie eilte zurück und wäre in der Diele beinahe mit Frau Kemmertöns zusammengestoßen, die es noch nicht weiter als bis dorthin geschafft hatte. Carlotta griff nach ihren Oberarmen und drehte sie Richtung Haustür. »Wir gehen vorne rum.«

Frau Kemmertöns ließ sich widerstandslos aus dem Haus schieben und akzeptierte, dass die Schwiegermutter von Kriminalhauptkommissar Wolf viel eher an ihrem Gartentor ankam als sie selbst.

Herr Kemmertöns stand vor der Treppe, die zu seinem Haus hinaufführte, und versuchte, sich die Haare zu raufen, was nicht möglich war, da sein Haupthaar ihn schon vor Jahren verlassen hatte. Nervös fuhr er sich über die Glatze und sagte immer wieder: »Klei mi ann Mors.«

Damit richtete er sich wohl an den Mann, der auf der unteren Treppenstufe saß, den Kopf auf die Brust gelegt, die Hände vors Gesicht geschlagen.

Carlotta schätzte ihn auf Anfang sechzig. Seine Figur war schlank und drahtig, sie hätte einem jungen Mann gehören können, aber seine Hände waren die eines Älteren. Er hatte glattes, dunkles Haar, das sich an den Schläfen bereits lichtete, aber nur wenige graue Strähnen aufwies. Seine Jeans waren nach der neuesten Mode, mit abgeschabten Knien und ein paar durchlöcherten Stellen, wie sie bei jungen Leuten zu sehen waren. Mamma Carlotta hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass ihr Enkel sie, wenn er seine Jeans anzog, an den Landstreicher in ihrem Dorf erinnerte, der sich freute, wenn eine der Frauen sich bereit erklärte, seine Hose zu flicken. Aber mittlerweile hatte sie gelernt, dass jemand, der solche Jeans trug, mit der Mode ging. Auch das bunte Hemd des Mannes wirkte sehr modisch, die Slipper, die er an den nackten Füßen trug, ebenfalls. Sie hatten sogar den gleichen Farbton wie das Hemd. Ein Mann, der auf sein Äußeres achtete.

»Klei mi ann Mors!« Herr Kemmertöns schien weder Mamma Carlotta noch seine Frau wahrzunehmen.

Frau Kemmertöns machte einen energischen Schritt nach vorne. »Was ist los, Jupp?«

Er wies zur Tür des Holzhauses, die offen stand. »Da! Sie ist tot!«

Carlotta war in zwei, drei Schritten an der Tür und setzte vorsichtig einen Fuß in das Ferienhaus. Es hatte keinen Vorraum, sie stand gleich in einem kleinen Wohnzimmer. Am anderen Ende gab es eine Tür, die in eine winzige Schlafkammer führte.

Josef Kemmertöns erschien hinter ihr. »Gehen Sie da nicht rein, Signora.«

Sie wollte nach dem Grund fragen, unterließ es aber. Die Antwort lag auf der Hand. »Wir müssen meinen Schwiegersohn anrufen.«

»Schon erledigt. Ich habe gleich den Notruf gewählt.«

»Und Sie sind ganz sicher …?«

»Tausendprozentig! Die Frau kann nicht mehr leben. Alles voller Blut.«

Wieder fuhr er sich mit beiden Händen über den Schädel, ging zur Eingangstür und blieb dort stehen, als wollte er kontrollieren, dass Carlotta das Haus verließ. Sie tat es notgedrungen, obwohl die geöffnete Schlafzimmertür einen unwiderstehlichen Reiz auf sie ausübte. Die Neugier zog sie dorthin, aber die Angst vor dem, was sie zu sehen bekommen würde, hielt sie zurück. Und dann kam noch die Befürchtung hinzu, dass es dort Spuren geben könnte, die nicht zerstört werden durften. Als diese Sorge sich in ihr breitmachte, folgte sie Herrn Kemmertöns bereitwillig nach draußen. Ein schrecklicher Gedanke, dass der Leiter der Kriminaltechnischen Untersuchungsstelle Spuren in der Nähe einer Toten fand, die – nach langer und mühevoller Ermittlungsarbeit – der Schwiegermutter des Kriminalhauptkommissars zugeordnet wurden. Diese Angst war schließlich stärker als ihre Neugier.

Außerdem gab es vor dem Holzhaus noch etwas zu tun. Der Mann, der noch immer auf der unteren Treppenstufe saß und nach wie vor nicht aufblickte, brauchte Trost, Zuwendung, ein offenes Ohr, um sich auszusprechen. Scheinbar hatte er die Leiche entdeckt und war ganz starr vor Entsetzen. Carlotta hockte sich neben ihn und legte eine Hand auf seinen Rücken. Er zuckte unter ihrer Berührung zusammen und sah auf. Seine Augen waren trocken, scheinbar war er zu aufgewühlt zum Weinen. Er starrte sie an, als hätte sie etwas gesagt, was ihn bis ins Mark erschüttert hatte. In Wirklichkeit schwieg sie, weil auch Carlotta Capella wusste, dass es Gelegenheiten gab, in denen mehr zu erreichen war, wenn kein Wort fiel. Was sollte man auch einem Mann sagen, der gerade den Tod gesehen hatte, dem vor Augen geführt worden war, wozu Menschen fähig waren?

»Wer sind Sie?«, fragte er mit einer Stimme, die sich anhörte, als sei ihm ihr Name völlig egal.

In diesem Augenblick erkannte sie ihn. Der Besitzer der Wäscherei Janssen, zu dem sie kürzlich die Wohnzimmergardinen gebracht hatte, die von Eriks Pfeifentabak ganz gelb geworden waren. Er war so freundlich gewesen, sie am nächsten Tag mit seinem Lieferwagen zurückzubringen und gleich wieder aufzuhängen, ohne dafür eine Gebühr zu verlangen. Damit hatte er sich Carlottas Sympathie erworben.

»Sono Carlotta Capella«, antwortete sie mit sanfter Stimme und zeigte zum Nachbarhaus. »Ich komme aus Italien, bin bei meinem Schwiegersohn und den Enkeln zu Besuch.«

Entweder war ihm ihre Antwort gleichgültig, oder er hatte sie nicht verstanden, was ihm ebenso gleichgültig war.

»Herr Janssen …« Sie stockte, weil ihr einfiel, dass er einen anderen Namen trug als den, der über der Tür der Wäscherei stand.

»Er heißt Keno Verbeck«, korrigierte Josef Kemmertöns. »Seine Frau ist eine geborene Janssen.«

»Ah, sì.« Jetzt fiel es ihr wieder ein. Keno Verbeck hatte eingeheiratet und führte die Wäscherei mit seiner Frau gemeinsam, so hatte sie bei einer kleinen Plauderei herausgefunden. Seine Frau ließ sich allerdings nur selten im Laden blicken. Selten? Nein, eigentlich nie. Vermutlich hatte sie mit Haus, Garten und Kindern genug zu tun.

Autos fuhren vor, Motoren erstarben, Türen schlugen, eilige Schritte kamen aufs Gartentor zu. Die Mordkommission war im Anmarsch.

»Klei mi ann Mors«, sagte Herr Kemmertöns schon wieder.

Carlotta wandte sich an seine Frau. »Was heißt das?«

»Kratz mich am Hintern«, antwortete Frau Kemmertöns stoisch und schien nicht bereit, Mamma Carlotta zu erklären, weshalb der Todesfall in ihrem Ferienhaus jemanden dazu bringen sollte, sich der blank gescheuerten Hose ihres Mannes zu nähern.

6

Erik stöhnte auf, als er seine Schwiegermutter sah. »War ja klar.«

Sören grinste, ergriff aber – wie immer – sofort Partei für die Schwiegermutter seines Chefs. »Wenn etwas im Nachbarhaus passiert, ist es doch ganz normal, dass sie es mitbekommt.«

»Ist es auch normal«, entgegnete Erik gereizt, »dass sie sich gleich einmischt? Warum kann sie nicht wie andere Frauen hinter der Gardine stehen und heimlich beobachten, was sich tut?«

Sörens Grinsen wurde noch breiter. »Das ist eben nicht ihre Art.«

Mamma Carlotta sprang in die Höhe, als sie ihren Schwiegersohn erblickte. »Enrico, eine tote Frau …«

Er ließ sie nicht zu Wort kommen und sah sich um, als hätte er sie gar nicht gesehen. »Wo ist die Leiche? Wer hat sie gefunden?«

»In dem Holzhaus«, begann Mamma Carlotta, schwieg dann aber, was nur eins bedeuten konnte: Sie hatte die Tote nicht gefunden, sie hatte sie nicht einmal gesehen, hatte lediglich davon gehört. Erik bedachte seine Schwiegermutter nur deshalb nicht mit einem vernichtenden Blick, weil er ihr zugutehielt, dass sie herunterschluckte, was sie ihm eigentlich gern entgegengehaspelt hätte.

Herr Kemmertöns trat einen Schritt vor und zeigte auf Keno, der sich langsam und schwerfällig erhob, als würde er von einer gewaltigen Last auf seinen Schultern niedergedrückt. »Moin.«

»Sie sind …?« Erik betrachtete den Mann, der ihm vage bekannt vorkam.

»Keno Verbeck. Von der Wäscherei Janssen.«

»Ach ja.« Erik ärgerte sich insgeheim. Wenn seine Schwiegermutter nicht auf der Insel war, brachte er immer seine Hemden in die Wäscherei Janssen. Er hätte den Besitzer oder vielmehr den Ehemann der Besitzerin wirklich auf der Stelle erkennen müssen. »Bitte führen Sie mich zu der Toten.«

Keno Verbeck zeigte zu der offenen Tür des Holzhauses. »Ich gehe da nicht noch einmal rein.«

Erik hatte Verständnis für ihn. Er gab Sören einen Wink, und gemeinsam begaben die beiden sich zum Tatort, auf das Schlimmste gefasst.

»Sie kennen die Tote?«

Nun stiegen Keno Verbeck Tränen in die Augen. »Alena.« Er räusperte sich umständlich. »Alena Sorokin. Sie arbeitet für mich.«

Erik wandte sich der Eingangstür des Holzhauses zu. Ärgerlich schüttelte er die Stimme seiner Schwiegermutter ab, die ihm folgte. Sie zischte in seinen Rücken, als gäbe es wirklich etwas, was für ihn von Bedeutung sein könnte: »Enrico, ich habe in der letzten Nacht etwas gesehen …«

»Verschon mich mit deinen Geschichten«, brummte er, ohne sich umzusehen. »Ich brauche keine Spekulationen und Halbwahrheiten, ich brauche Fakten. Das solltest du mittlerweile wissen.«

»Aber ich habe …«

Erik macht einen schnellen Schritt in das Haus hinein, um dem Gesichtsfeld seiner Schwiegermutter zu entkommen und damit ihrem Drang, ihm etwas mitzuteilen, was er nicht hören wollte. Sören folgte ihm zügig, murmelte aber etwas, was sich so anhörte, als hätte man sich ruhig anhören können, was die Signora zu berichten habe. Doch Erik ließ ihn genauso wenig zu Wort kommen. Jetzt ging es um einen toten Menschen, nur um ihn. Die Suche nach dem Mörder durfte erst später beginnen. Und damit hatte seine Schwiegermutter nichts zu tun. Gar nichts.

Wie immer gingen sie langsam und bedächtig, bewegten sich auf das Opfer zu wie ein Konfirmand auf den Altar. Mit Ehrfurcht und Respekt. Erik hatte es schon immer so gehalten, und Sören hatte es ihm gleichgetan. Einem Toten, dem das Leben mit Gewalt genommen worden war, sollte nicht ein zweites Mal Gewalt angetan werden, indem er wie eine Sache behandelt wurde.

Beide schluckten, als sie an das Bett traten, auf dem eine Frau lag, auf dem Rücken, die Arme mit gewölbten Handflächen auf den Unterbauch gelegt, als hätte sie im letzten Moment versucht, die tödlichen Stiche abzuwenden oder die entsetzliche Wunde zu verdecken. Von ihrem Gesicht war nicht viel zu sehen, die langen, dunklen Haare waren ihr über die Augen gefallen. Sören stöhnte leise, als er das viele Blut sah. Es war aus einer klaffenden Wunde ausgetreten. Nein, nicht eine! Mehrmals hatte der Täter zugestochen. Anscheinend, um ganz sicherzugehen. Die Frau war vermutlich gar nicht dazu gekommen, sich zu wehren, den Stichen auszuweichen, auf den Angriff zu reagieren. Es schien, dass sie noch immer in ihrer Schlafposition lag, den Kopf nach hinten gebogen, den Mund leicht geöffnet, die Beine von sich gestreckt. Die dünne Zudecke hatte nichts abwehren oder verhindern können.

Die beiden Polizisten blieben stehen und sahen sich um. Auf keinen Fall wollten sie irgendwelche Spuren vernichten, indem sie den Tatort durchsuchten, bevor die Kriminaltechnische Untersuchungsstelle ihre Arbeit getan hatte.

»Hass«, flüsterte Sören. »Hass muss die Motivation gewesen sein.«

Erik strich sich über seinen Schnauzer, immer wieder, wie es seine Art war, wenn er nachdachte. »Vergessen Sie nicht, was Dr. Hillmot uns häufig erklärt hat. Täter, die zustechen, tun es oft mehrfach, um sicherzugehen, dass das Opfer wirklich tot ist. Das wirkt dann manchmal wie eine Tat im Blutrausch, ist es aber nicht immer.«

»Dr. Hillmot …« Sörens Blick veränderte sich, er glättete seine dünnen, blonden Haare, sah an sich herab, als fragte er sich, ob er passend gekleidet sei. Erik hätte gelächelt, wenn sie sich nicht in Gegenwart einer Leiche befunden hätten. Sören schien in diesem Moment einzufallen, dass Dr. Hillmot pensioniert war, dass in wenigen Augenblicken seine Nachfolgerin am Tatort erscheinen würde. Dr. Antje Mikkelsen, die junge, hübsche Gerichtsmedizinerin, die es schaffte, Eriks Mitarbeiter durch bloßes Erscheinen aus der Fassung zu bringen. Bei ihrem letzten Mordfall hatte sie noch an Dr. Hillmots Seite gearbeitet, und jedes Mal, wenn sie erschienen war, war Sören in eine Art Schockstarre verfallen. Erik war in Sorge, dass die Zusammenarbeit mit Dr. Mikkelsen die Urteilsfähigkeit seines Mitarbeiters entscheidend trüben konnte. Als sie einmal an seinem Küchentisch gelandet war, weil seine Schwiegermutter natürlich die Gelegenheit genutzt hatte, die Dottoressa genauer in Augenschein zu nehmen, hatte Sören jedenfalls dagesessen wie ein Einfaltspinsel und kaum ein vernünftiges Wort herausgebracht.

Erik berührte kurz seinen Arm. »Sie sind ein Profi«, raunte er. »Sie lassen sich nicht von einer attraktiven Gerichtsmedizinerin durcheinanderbringen.«

Sören nickte wie ein Schuljunge, der genau wusste, dass er die Rechenaufgaben auch am nächsten Tag nicht würde lösen können, wenn er es sich auch vornahm.

Vor dem Haus waren weitere Stimmen zu hören, Gerätschaften klirrten, Herr Kemmertöns schien Freude daran zu haben, zackige Anweisungen zu erteilen. Aber das Ganze wurde natürlich von der Stimme einer italienischen Signora übertönt, die sich für sachverständig hielt, weil sie schon eine Menge von der Arbeit ihres Schwiegersohns mitbekommen hatte.

Erik seufzte. »Gehen wir. Vetterich braucht jetzt freie Bahn.«

Der Chef der Spurensicherung war bekannt für seine stoische Gemütsruhe und seine spärliche Kommunikation. »Tatort oder Fundort?«, fragte er statt einer Begrüßung, als er eintrat.

»Beides«, antwortete Erik genauso knapp und folgte dann Kommissar Vetterichs wedelnder Hand, der niemanden in seiner Nähe haben wollte, der ihm eine Spur zertrampeln konnte.

»Haben Sie etwas verändert? Oder Ihre …?« Er nickte nach draußen und verdrehte die Augen.

Erik wusste, er meinte seine Schwiegermutter, die nach Ansicht des Spurenfahnders viel zu viel und zu laut redete, sich zu schnell bewegte, ihn ständig mit ihrer Gastfreundschaft in Bedrängnis brachte und deren aufdringliche Liebenswürdigkeit ihm suspekt war.

»Sie hat dieses Zimmer nicht betreten«, antwortete Erik und hoffte, dass er recht hatte. »Höchstens den Wohnraum. Sie musste ja sichergehen, dass niemand Hilfe brauchte.«

Er strich sich erneut über seinen Schnauzer. Lieber Himmel! Nun verteidigte er seine Schwiegermutter sogar schon!

Er sah sich um, ehe er Kommissar Vetterich und seinen Mitarbeitern das Feld überließ. »Sieht nicht so aus, als wäre das Zimmer durchsucht worden.«

Sören ging ihm voraus und warf einen Blick über die Schulter zurück. »Ob etwas gestohlen wurde, werden wir wahrscheinlich schnell feststellen können. Die Habseligkeiten des Opfers sind ja sehr überschaubar.«

»Tatwaffe?« Diese Frage wurde Erik von Kommissar Vetterich in den Rücken geworfen.

»Wenn Sie keine sehen, hat der Täter sie mitgenommen«, warf Erik zurück. »Oder glauben Sie, ich hätte sie eingesteckt?«

Die Staatsanwältin nannte Vetterich gerne eine Schnarchnase, womit sie unrecht hatte, denn wenn er auch langsam arbeitete, er tat es sehr gründlich und effizient. Womit sie aber recht hatte, war, wenn sie ihn mit einem griesgrämigen Eisbär verglich. Froh gelaunt war Vetterich eigentlich nie, und wenn er es war, sorgte er dafür, dass es niemand mitbekam. An diesem Tag erschien er Erik, dem es meist nichts ausmachte, von Vetterich angeblafft zu werden, besonders grantig. Nur sehr selten schimpfte er zurück, weil es sich bei Vetterich nicht lohnte. Er nahm es ja, wenn überhaupt, nur am Rande zur Kenntnis. Bewirken konnte man bei ihm so oder so nichts.

Erik blieb im Wohnzimmer in der Nähe des Fensters stehen und sah sich um. Die typische Einrichtung einer Ferienwohnung. Billige Möbel, Accessoires, die in der Wohnung des Besitzers ausrangiert worden waren, eine Gemütlichkeit, die durch Sammeltassen und künstliche Blumen hervorgerufen werden sollte. Die dunkelroten Samtkissen mit dem Zierquadrat aus Brokatstoff in der Mitte lagen zerknautscht in einer Sofaecke, als hätte die Tote sich dort vor dem Schlafengehen ausgestreckt, die Kissen in den Nacken geschoben und sich etwas im Fernsehen angeschaut. Ein Buch mit einem polnischen Titel lag auf dem Tisch, ein paar Schuhe standen darunter, klein, zierlich, aus schwarzem Leder, mit halbhohen Absätzen.

»Nichts anfassen!«, dröhnte es aus dem Schlafzimmer, und Erik und Sören bewegten sich folgsam zur Tür. Der Tasche, die daneben an einem Haken hing, warf Erik nur einen begehrlichen Blick zu. Er würde warten müssen, bis Vetterich fertig war. Der konnte sehr ungemütlich werden, wenn ihm jemand ins Handwerk pfuschte.

Als Erik aus dem Haus trat, hatte sich Keno Verbeck gerade von der Treppenstufe erhoben und lehnte sich ans Geländer, neben sich Eriks Schwiegermutter in Habachtstellung, falls Verbeck umzusinken drohte. Frau Kemmertöns stand zwei Stufen höher, als bereitete sie ihre Flucht ins Haus vor, ihr Mann hielt sich an einer Harke fest, mit der er die Trauer notfalls abwehren würde, wenn sie ihn angreifen sollte.

Erik versuchte, über Keno Verbecks Erschütterung hinwegzusehen. »Sie sprachen davon, dass Frau … dass die Tote Ihre Mitarbeiterin gewesen sei. Hat sie in der Wäscherei gearbeitet?«

Keno Verbeck schüttelte den Kopf. »Ich habe sie als Pflegerin eingestellt. Meine Schwiegermutter war lange dement. Frau Sorokin hat sie bis zu ihrem Tod gepflegt.«

Erik erinnerte sich schwach an die alte Frau Janssen, die lange in der Wäscherei mitgearbeitet hatte, bis sie dann keine Hilfe mehr gewesen war, sondern die Ordnung ins Chaos verwandelte, die Namen der Kunden verwechselte und die Schmutz- und Bügelwäsche durcheinanderwarf. Als Tochter und Schwiegersohn es endlich schafften, ihr das Zepter aus der Hand zu nehmen, war aus ihrer leichten Demenz längst eine mittelgradige geworden. Von da an hatte Erik sie gelegentlich an der Seite einer ihm fremden Frau spazieren gehen sehen. Womöglich war das Alena Sorokin gewesen.

»Sie hat sich rührend um sie gekümmert«, ergänzte Keno Verbeck. »So konnte Mutter zu Hause bleiben und musste nicht ins Altenheim. Alena hat sie rund um die Uhr betreut.«

Erik runzelte die Stirn. »Rund um die Uhr?«

Ehe er weiter nachfragen konnte, bekam er schon die Antwort. »Damals hat sie bei uns im Haus gewohnt.«

Warum sie noch immer auf Sylt war, konnte Erik nicht fragen, denn in diesem Augenblick erschien ein Kopf über der Hecke. Jemand, der den Bürgersteig entlangging, war auf die Betriebsamkeit im Garten der Kemmertöns aufmerksam geworden, in dem es sonst immer sehr ruhig zuging.

»Moin! Kein Wunder, dass bei euch niemand öffnet.«

7

Mamma Carlotta wusste, wie sie es schaffte, sich unauffällig zu verhalten, aber trotzdem immer alles mitzubekommen, was sie wissen wollte. Und wenn es um Eriks Arbeit ging, wollte sie unbedingt so viel wie möglich erfahren. Es gab nichts Spannenderes für sie. Jedes Mal, wenn sie nach einem Besuch auf Sylt in ihrem Dorf den Polizisten traf, der selten mehr zu tun hatte, als sich um Parksünder oder Handtaschendiebstähle zu kümmern, berichtete sie ihm, was ihr Schwiegersohn, der Kriminalhauptkommissar, auf Sylt zu erledigen hatte. Antonio strich sich dann jedes Mal erschöpft über die Stirn und erklärte, dass er einen solchen Stress niemals aushalten würde. Guido, Carlottas Ältester, behauptete dann jedoch, er habe die ausschweifenden Erzählungen der Mutter gemeint, die einem italienischen Dorfpolizisten, der an Ruhe gewöhnt war, durchaus den Schweiß auf die Stirn treiben könnten.

In diesem Fall hatte Carlotta sich hinter Frau Kemmertöns geklemmt und so getan, als wäre sie nur deshalb noch hier, weil die Nachbarin moralische Unterstützung nötig hatte. Es war ja nicht leicht, mit der Tatsache fertigzuwerden, dass eine Frau auf ihrem Grund und Boden der Tod ereilt hatte. Da konnte sie die Nachbarin doch nicht einfach stehen lassen und wieder nach Hause gehen! Dio mio, undenkbar! Jeder wusste ja, dass Jupp Kemmertöns zu den unsensiblen Männern gehörte, die nichts von angemessenen Aufheiterungen in Form von Blumen, Süßigkeiten oder Hilfe bei der Hausarbeit verstanden. Frau Kemmertöns würde allein mit dem Schock fertigwerden müssen, da brauchte sie unbedingt die Hilfe einer Nachbarin, das musste sogar Erik einsehen, der seiner Schwiegermutter einen gereizten Blick zugeworfen hatte, als er aus dem Haus getreten war. Sie hatte ihn mit dem reinsten Gewissen der Welt erwidert, sich auf dieselbe Treppenstufe wie Frau Kemmertöns gestellt und nach ihrem Arm gegriffen, um zu zeigen, dass es keineswegs die Neugier war, die sie hier hielt. Ob Erik ihr glaubte oder nicht, das spielte keine Rolle. Der Trotz fiel ihr diesmal besonders leicht, weil sie sich ungerecht behandelt fühlte. Sie hatte Erik etwas Wichtiges mitzuteilen! Und er hatte es nicht hören wollen. Allora, dann eben nicht! So musste er es wohl selbst herausfinden. Wenn er ihr anschließend Vorwürfe machte, würde sie ihn daran erinnern, dass er sich eine Menge Ermittlungsarbeit hätte ersparen können, wenn er gleich auf sie gehört hätte. Ihr stand nicht nur eine Menge Trotz zu, sondern sogar ein gehöriges Maß an Groll. Sie durfte tödlich beleidigt sein, weil ihr Schwiegersohn sie schlecht behandelte. Das machte manches einfacher.

Jetzt fuhr sie zur Hecke herum und vergaß den Ärger auf ihren Schwiegersohn so schnell, dass sie mal wieder die Erste war, die begriff, was geschah. Diese Stimme kannte sie doch! Natürlich hatte sie auch längst festgestellt, wem das sorgfältig aufgesteckte, blonde Haar gehörte, als Erik noch begriffsstutzig dreinsah und nicht wusste, woher die Stimme gekommen war.

»Tilla!«

Carlotta sah noch, dass er zusammenzuckte, und hoffte kurz und inständig, dass er sich nicht anmerken ließ, was ihm durch den Kopf ging. Das Erscheinen der Staatsanwältin würde keine reine Freude hervorrufen, daran hatte sich nicht viel geändert, wenn die Beziehung der beiden auch anders geworden war. Noch immer schaffte es Dr. Tilla Speck eher, Erik zu verwirren als zu erfreuen oder gar zu beglücken. Nach wie vor zeigte er deutlich, dass sie ihn verunsicherte. Unglaublich nach dem, was zwischen den beiden geschehen war. Sie, seine Schwiegermutter, wusste ja, dass er sie geküsst hatte. Ein einziges Mal, wie er behauptete, versehentlich, weil er betrunken gewesen war, aber einmal auch sehr innig, da war sie Zeugin gewesen. Nicht nur sie, sondern auch viele andere, wenn sich auch außer ihr niemand dafür interessiert hatte. Dass es danach nie ein Treffen zwischen den beiden gegeben hatte, verstand sie nach wie vor nicht. Bei jedem Telefonat von Italien nach Sylt hatte sie nach Tilla gefragt, aber immer nur zu hören bekommen, er habe keine Ahnung, wie es ihr gehe. Irgendwann war in ihr der Verdacht entstanden, Erik könnte seiner Schwiegermutter etwas vormachen und nicht zugeben wollen, dass er längst mit der Staatsanwältin zusammen war. Aber die Kinder hatten es bestätigt: Tilla Speck war im Hause Wolf nicht mehr gesehen worden, und Reisen nach Flensburg hatte es auch nicht gegeben. Carlotta verstand die Welt nicht mehr. Schrecklich, dass Erik so gar nichts Italienisches an sich hatte!

Sie lief auf das Gartentor zu, hinter dem sich die Staatsanwältin nun in voller Pracht zeigte. Was sie sehen ließ, passte zu der Frisur und dem Make-up, das auf der Hecke geprangt hatte. Nun konnten alle erkennen, dass sie ein weißes, kniekurzes Sommerkleid trug, mit einem Ausschnitt, der ihr Dekolleté betonte, und hochhackigen Schuhen, auf denen sie energisch in den Garten stöckelte. Jupp Kemmertöns fielen die Augen aus dem Kopf, seine Frau begriff erstaunlich flink, dass der ungebetene Gast die Staatsanwältin war, die sie schon bei den Wolfs kennengelernt hatte. Man sah ihr an, dass sie sich Sorgen machte, nun als Gastgeberin auftreten zu müssen, aber zum Glück ließ Tilla Speck schnell erkennen, noch ehe Frau Kemmertöns die Likörkaraffe geholt hatte, dass ihr Auftauchen zufälliger Natur war und sie keine Bewirtung erwartete.

Wie immer begrüßte sie Carlotta mit einer herzlichen Umarmung und dann Erik mit zwei hingehauchten Küssen, einmal auf seine linke, dann auf seine rechte Gesichtshälfte, was er nicht leiden konnte, das wusste Mamma Carlotta. Aber zum Glück hatte er nun auf seine Miene so etwas wie Wiedersehensfreude gemalt. Das erleichterte seine Schwiegermutter sehr.

»Ich habe gerade bei euch geläutet.«

Erik wies zu der offenen Tür des Holzhauses. »Du kommst genau richtig. Wir haben einen neuen Fall.«

Die Staatsanwältin blickte auf ihre Armbanduhr. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich einen privaten Besuch auf Sylt machen will.«

Carlotta wusste, was er dachte. Bisher hatte Erik angenommen, dass Tilla Speck vor allem für ihren Beruf lebte, das hatte er seiner Schwiegermutter oft erzählt. Noch nie hatte sie für eine Ermittlung keine Zeit gehabt, weil ihr ein privater Termin dazwischengekommen war, nie hatte sie von Freunden oder Verwandten gesprochen, mit denen sie sich traf, nie von einem Hobby, dem sie in ihrer Freizeit nachging. Immer war die Staatsanwältin zur Stelle gewesen, wenn es etwas zu ermitteln gab, noch spätabends konnte man sie im Büro antreffen. Carlotta nickte zufrieden. Sie hatte doch immer gewusst, dass Erik die Staatsanwältin ganz falsch einschätzte.

»Die Gerckes haben früher im Nachbarhaus gewohnt«, erklärte die Staatsanwältin. »Sie haben lange gesucht, bis sie ein Haus auf Sylt gefunden haben. Die Mutter von Frau Gercke ist krank, sie lebt in Wenningstedt. Ihre Tochter möchte ihr zur Seite stehen.«

»Wie nett«, sagte Erik mechanisch und ließ damit durchblicken, dass ihn das Schicksal der früheren Nachbarn von Tilla Speck überhaupt nicht interessierte. »Aber wenn du schon mal hier bist …« Er schlug ihr vor, die Angelegenheit in seinem Haus zu besprechen, und setzte Vetterich darüber in Kenntnis, dass sie nebenan zu finden seien, falls sich Fragen ergäben oder interessante Neuigkeiten zu vermelden seien. Mamma Carlotta hastete Erik und Tilla Speck voraus, klagte darüber, dass ihr Schwiegersohn es nicht für nötig gehalten hatte, sie über den Besuch der Staatsanwältin zu unterrichten, und überlegte fieberhaft, ob sie für einen kleinen Imbiss genug im Haus hatte.

Den blauen Porsche, der langsam den Süder Wung hinabfuhr, bemerkte sie trotzdem. Sie blieb stehen und drehte sich zu Sören um, der prompt so aussah, als litte er unter einem akuten Anfall geistiger Verwirrung. Er schien nicht stehen zu bleiben, um Dr. Antje Mikkelsen aus dem Auto zu helfen und sie zu begrüßen, sondern weil er nicht mehr wusste, wie man ein Bein vors andere setzte. Erik zögerte kurz, sah, wie der Porsche vor dem Hause Kemmertöns hielt, und rief Sören zu: »Um die Gerichtsmedizinerin kümmern Sie sich am besten allein, Sören.« Er zwinkerte ihm zu. »Wenn sie die Leiche in Augenschein genommen hat, kommen Sie mit ihr zusammen rüber.«

Sören nickte. Zu einer Bestätigung mit frischer, klarer Stimme war er scheinbar nicht fähig.

»Ich verlasse mich auf Sie.« Erik zwinkerte noch einmal. »Währenddessen setze ich die Staatsanwältin über alles in Kenntnis, was wir wissen.«

Mamma Carlotta schloss eilig die Tür auf und hoffte, dass weder Erik noch Tilla etwas gegen ihre Anwesenheit einzuwenden hatten. Nun war wieder Fingerspitzengefühl gefragt. Sie würde sich intensiv mit der Zubereitung von Espressi und Bruschette befassen müssen, damit Erik glauben konnte, sie würde nichts von dem mitbekommen, was er der Staatsanwältin über die Arbeit berichtete. Er selbst war ja nicht fähig, zuzuhören, während er etwas Wichtiges tat, was für seine Schwiegermutter zu den leichtesten Übungen zählte.

8

Während Erik hinter der Staatsanwältin auf die Tür seines Hauses zuging, dachte er an die Gardinenpredigt, die Sören ihm gehalten hatte. Tilla Speck bot einen wirklich hübschen Anblick von hinten. Das Sommerkleid schwang um ihre Knie, ihre runden Waden ließen sie tatkräftig und bodenständig erscheinen, obwohl sie vermutlich ständig High Heels trug, um ihre Beine schlanker erscheinen zu lassen. Ihm aber gefiel das Runde an ihr, das gestand er sich in diesem Augenblick das erste Mal ein. Ihre runden Hüften, der pralle Busen, das pauswangige Gesicht … ja, sie war eine sehr attraktive Frau. Und er war ein ausgemachter Idiot, dass er es nicht zu würdigen wusste. Eine solche Frau ließ man nicht vergeblich warten.

Seine Schwiegermutter hastete in die Küche und verschwand in der Vorratskammer. Erik überlegte, ob er Tilla ins Wohnzimmer führen sollte, um ihr zu zeigen, dass sie ein besonderer Gast war. Oder auf die Terrasse? Aber er wusste nicht, ob Mamma Carlotta die Gartenmöbel schon abgewischt hatte, auf die der Wind Nacht für Nacht den Sand rieseln ließ, den er vom Strand über die Insel trug. Aber ehe er einen Entschluss gefasst hatte, ging Tilla schon unaufgefordert in die Küche. Sie betrat ja nie einen anderen Raum, wenn sie bei ihm war.

»Mach dir bloß keine Umstände, Carlotta«, rief sie zur Tür der Vorratskammer. »Ein Espresso reicht. Wir wollen ja nur kurz über den Todesfall reden.«

Aber Erik winkte ab. »Irgendwas wird sie schon finden, was sie uns vorsetzen kann.« Er rückte der Staatsanwältin den Stuhl zurecht, was er noch nie getan hatte, dann holte er drei Espressotassen aus dem Schrank und machte sich höchstpersönlich an die Kaffeeherstellung. Als er sich umdrehte, um die Tassen auf den Tisch zu stellen, bemerkte er, dass Tilla ihn beobachtete. Das Lächeln, das in ihren Augen stand, gefiel ihm. Früher hatte sie ihn immer so abschätzig angeblickt, er hatte sich ständig gerügt gefühlt, oft ohne zu wissen, warum.

»Was ist mit deinem Besuch?«, fragte er. »Wirst du nicht erwartet?«

Tilla holte ihr Handy aus der Tasche und wählte eine Nummer. Erik hörte die tiefe Stimme eines älteren Herrn, der sich am anderen Ende meldete. Er hatte offenbar kein Problem damit, dass die Staatsanwältin sich verspäten würde.

»Hedda hat es nicht leicht«, sagte sie, während sie ihr Handy zurücksteckte. »Nicht nur, dass sie sich um ihre kranke Mutter kümmern muss, nun ist auch noch ihr Schwiegervater bei ihr eingezogen. Er hat sich den Arm gebrochen und kann sich nicht mehr allein versorgen.« Sie seufzte. »Puh! Drei Kinder hat sie auch noch, einen Beruf ebenfalls und einen Mann, der ständig unterwegs ist. Manche Frauen lasten sich mit der Familie ganz schön was auf.« Sie lächelte Mamma Carlotta an, die mit einem Ciabatta-Brot und drei Tomaten aus der Vorratskammer kam. »Und was haben sie davon? Oft bekommen sie nicht einmal ein bisschen Dank.«

Erik setzte sich zu ihr. »Hast du deswegen keine Familie?«

Er erschrak, als die Frage heraus war. Wie konnte er sich anmaßen, eine so persönliche Sache anzusprechen?

Aber Tilla schien nicht gekränkt zu sein. »Anfänglich war mir mein Beruf tatsächlich wichtiger. Und später … da hat sich einfach nicht der richtige Mann gefunden, mit dem ich gern Kinder gehabt hätte.«

Beinahe hätte er sie gefragt, ob sie das heute bedauerte. Aber im letzten Augenblick konnte er es herunterschlucken. Das wäre wirklich zu viel gewesen, zu privat, zu persönlich, zu intim.

Seine Schwiegermutter schob das Brot in den Ofen und begann, die Tomaten zu würfeln.

»Im Grunde weiß ich noch nicht viel. Eine gewisse Alena Sorokin, Polin. In Deutschland, um eine demenzkranke, alte Dame zu betreuen. Die ist allerdings inzwischen verstorben. Warum sie noch auf der Insel ist, weiß ich nicht«, fasste Erik die Lage zusammen. Er runzelte die Stirn. Diese Frage hatte er gerade an Keno Verbeck richten wollen, als die Staatsanwältin unvermittelt aufgetaucht war. »Sören wird gleich mit der Gerichtsmedizinerin kommen, dann erfahren wir mehr.«

»Und die Schnarchnase?«, fragte Tilla Speck. »Die braucht vermutlich noch eine ganze Weile?«

Diesmal ärgerte sich Erik nicht so sehr wie sonst. Sie hatte lächelnd gefragt, nicht verächtlich, er konnte ihr verzeihen.

»Wer hat die Tote eigentlich gefunden?«

Darauf konnte Erik keine Antwort geben. »Vermutlich Verbeck«, murmelte er. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass Herr Kemmertöns das Haus betritt, ohne dazu aufgefordert zu werden. Aber ihr Arbeitgeber …« Er strich sich über den Schnauzer und dachte nach, bis ihm einfiel, dass die Staatsanwältin es nicht leiden konnte, wenn er sich viel Zeit mit dem Überlegen und Reden ließ. Diesmal lächelte sie zum Glück. »Vielleicht hat er auf sie gewartet, hat sich gewundert, dass sie ihren Dienst nicht antrat …«

»Was für einen Dienst? Ich denke, die alte Dame, die sie betreut hat, ist gestorben?«

»Stimmt. Aber er hat davon gesprochen, dass die Tote seine Mitarbeiterin ist.« Wieder glättete Erik seinen Schnauzer. »Wir müssen warten. Sören wird sich Keno Verbeck sicherlich noch mal vornehmen.«

»Keno Verbeck«, wiederholte Tilla Speck langsam. »Der Name kommt mir bekannt vor.« Sie legte den Kopf schräg, als lauschte sie auf den Rhythmus von Carlottas Küchenmesser. Dann kam ihr eine Erleuchtung. »Das ist der Vater von Hedda Gercke.«

Erik sah sie verständnislos an. »Wer ist Hedda Gercke?«

»Meine frühere Nachbarin aus Flensburg.«

»Die du heute besuchen willst?«

»Messerscharf kombiniert, Herr Hauptkommissar.«

Erik merkte, dass sie sich über ihn lustig machte, aber es störte ihn nicht. Sie lächelte dabei, und mit diesem Lächeln durfte sie vieles sagen und tun, was ihn früher auf die Palme gebracht hätte. »Erzähl mir, was du weißt.«

9

Eine Familiengeschichte! Genau Mamma Carlottas Ding. Während sie die roten Zwiebeln für die Bruschette würfelte, hörte sie aufmerksam zu. Daraus brauchte sie nicht einmal einen Hehl zu machen, schließlich ging es nur ganz am Rande um den Todesfall im Nachbarhaus. Dass sie an fremden Schicksalen immer sehr interessiert war, durfte jeder wissen.