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27 Geschichten und ein Gedicht über Menschen in ihrer Vielfalt, sei es der sprachgewandte Aussteiger, die schöne Alkoholikerin, die einsame Hundehalterin, die schrullige Klavierlehrerin oder der traurige Syrer.
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Seitenzahl: 160
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Anke Voigt wird 1959 als erstes von fünf Kindern im Ostseebad Kühlungsborn geboren. Den größten Teil ihrer Kindheit sowie die Ausbildung zum Wirtschaftskaufmann verbringt sie im thüringischen Altenburg, bis sie an der Weimarer Musikhochschule „Franz Liszt“ ein Gesangsstudium beginnt. Es folgt das Engagement beim Rundfunkchor Berlin, dem sie bis 2020 angehört. 1995 zieht sie mit Mann und drei Kindern ins Brandenburgische Fredersdorf, wo bald darauf das vierte Kind geboren wird. Seit vielen Jahren erteilt sie Instrumental- und Gesangsunterricht, was sie auch jetzt als Rentnerin noch lange fortzuführen gedenkt. In ihrer Freizeit widmet sie sich dem Schreiben. Sie ist Mitglied zweier Schreibwerkstätten in Erkner und Rahnsdorf und des Freien Deutschen Autorenverbandes.
Anke Voigt mag die Menschen in ihrer ganzen bunten Verschiedenheit, sei es der im Wohnwagen umherziehende Aussteiger, der traurige Syrer oder die einsame Hundehalterin, die schöne Alkoholikerin oder die schrullige Klavierlehrerin. Sie genießt den Händedruck nach Corona, hat kindliches Mitleid mit einem Mörder, erschrickt über eigene Vorurteile und genießt die Erinnerung ans Haarewaschen.
In siebenundzwanzig kurzen Geschichten und einem Gedicht verarbeitet die Autorin ihre Begegnungen und Erlebnisse. Einiges ist genauso passiert, anderes mit Fantasie vermischt und manchmal überwiegt das Fantasierte. Doch keine der Geschichten wäre ohne das Beobachtete entstanden.
Erinnerungen sind voller Launen.
Bilder von Erlebtem, selbst kleinste Details,
können uns so berühren,
dass es uns die Kehle zuschnürt.
Paulo Coelho
Menschen, an denen nichts auszusetzen ist,
haben nur einen, allerdings entscheidenden Fehler:
sie sind uninteressant.
Zsa Zsa Gabor
Lakritz und Zigarette
Petzi
Verlorene Schwestern
Frollein Ostermann
Die letzten Bewohner des Fachwerkhauses
Sonntagsausflug in die Pilze
Mein Bruder Marcus
Wolfram
Gesichter
Gertruds Lichterbaum
Es sollte wirklich nur Spaß sein
Einfach nur vertrauen
Der unverhoffte Händedruck
Der Brief, der alles hätte verändern können
Höhenangst, die kommt und geht
Der Tag, an dem die Zöpfe fielen
Original von Hand geschrieben
Steffan, mit zwei F in der Mitte
Das dicke Mädchen
Mein Sohn – ein Punk
Halim
Lorchens Haarwäsche
Gerlinde
Im Fundbüro
Herbstgeflüster
Nächtliches Duo
Das Jubiläumskonzert des alten Liedermachers
Einsam, kahl und wunderschön
Ich war an den Müggelsee geradelt, dort ein bisschen herumgelaufen und saß nun mit einem Pappbecher-Kaffee auf einer der breiten Bänke, auf denen man sogar zu Corona-Zeiten Gesellschaft bekam, sofern man auf einem äußersten Ende saß. Ich schaute auf die sich leicht kräuselnde Wasseroberfläche und genoss die letzten Herbstsonnenstrahlen. Mein Fahrrad lehnte am Papierkorb, der erstaunlicherweise einmal nicht überquoll. Spaziergänger kamen auf meine Bank zu, liefen vorbei und entfernten sich wieder. Keiner von ihnen wollte mir ein Gespräch anbieten. Vielleicht war es ihnen schon zu kühl. Sie hinterließen lediglich ihre Geruchsfetzen. Manche schwebten sofort weiter, andere blieben eine Weile in der Luft hängen, ehe sie sich übers Wasser verzogen oder in den Park verwehten.
Ein Duft ließ mich plötzlich aufmerken, oder besser gesagt: aufriechen. Aufhorchen – aufblicken – aufriechen? Gibt es das Wort? Ein Mann hatte den Duft hinterlassen. Ein älterer Herr, gut gekleidet, elegant, aufrecht. Ein Raucher.
Es gibt Raucher, die schlecht riechen und welche, die fast gar nicht riechen. Und es gibt, ziemlich selten, Raucher, die gut riechen. Es kommt auf die Mischung an. Und eben diese spezielle Mischung hatte mich aufriechen lassen. Woher kannte ich sie? Sie schien mir so vertraut, doch im Moment konnte ich sie partout nicht einordnen.
Ich schloss die Augen, wollte mich erinnern. Es ließ mir keine Ruhe. Dieser Duft musste jemandem gehört haben, den ich sehr gemocht hatte, denn mit einem Male erfassten mich Sehnsucht, Traurigkeit, Geborgenheit, alles auf einmal. Was geschah da mit mir? Wer hatte diesen Geruch mit sich herumgetragen? Es muss vor sehr langer Zeit gewesen sein …
Plötzlich fiel es mir ein. Es war diese Mischung aus Zigarette und Lakritz, die mir gerade begegnet war. Und da sah ich ihn. Mein Opa, seit über fünfzig Jahren tot, saß mir gegenüber im grauen Ohrensessel, hielt eine Zigarette in der Hand und zog genüsslich an ihr. Die Asche an der Spitze war fast drei Zentimeter lang und neigte sich beachtlich nach unten.
„Pass auf, Öpi, dein Anzug!“, rief ich. Er lächelte mich an, nickte mir dankend zu und balancierte die Zigarette zum Aschenbecher, um sie abzustreifen. Nichts war danebengegangen. Er schaffte es immer.
„Möchtest du auch?“, fragte er, nachdem er den Rest der Zigarette ausgedrückt hatte, und hielt mir das Lakritz-Döschen entgegen. Opa roch so gut. Gern wäre ich auf seinen Schoß geklettert, aber das war mir verboten.
„Ja“, strahlte ich, ergriff mit spitzen Fingern eine der runden schwarzen Scheiben und steckte sie in den Mund. Ich liebte Lakritz, besonders diese herben, harten, die an den Zähnen kleben blieben, wenn man versuchte, sie zu zerbeißen. Sie mussten gelutscht werden. Auf Opas Schreibtisch lagen immer welche und ich durfte jederzeit von ihnen nehmen, sollte nur Bescheid sagen, wenn die Dose leer war.
„Ich gehe in den Garten. Kommst du mit?“, fragte Opa mich. Er knöpfte das Jackett zu und setzte die Baskenmütze auf, ohne die er niemals, weder Sommers noch Winters, das Haus verließ. Auch ein Jackett trug er immer. Es spielte keine Rolle, ob er einen der hellgrauen, mit zart kariertem Dunkelgrau besetzten Anzüge oder eine Kombination aus Sakko und Hose anhatte. Selten nur sah ich ihn in Hemdsärmeln und niemals mehr seiner Hautflächen als die an den Händen, im Gesicht und am Hals, allesamt faltig und mit bräunlichen Flecken verziert. Sogar bei seinen seltenen Strandbesuchen, wenn ich gar zu sehr gebettelt hatte, dass er doch mitkommen solle, saß er voll bekleidet im Sand. Die Sommer waren damals aber auch noch nicht so heiß.
„Du kannst ein bisschen schaukeln“, meinte Opa und griff nach der Harke. Ich wusste, dass er mich im Garten schnell vergaß. Von der Schaukel aus beobachtete ich, wie er sich seinen Blumenbeeten widmete, die welken Blätter von den Blüten knipste, Unkraut herauszupfte. Er begutachtete den Reifestand der Beeren, Äpfel oder Tomaten, ging darin voll auf und war nur – aber dann sofort – zur Stelle, wenn ich mich beim Spielen verletzte oder barfuß auf eine Biene trat. Wenn mein Opa Wunden versorgte, tat er das so liebevoll, dass man fast glücklich war, sich diese zugezogen zu haben.
Zu seinen ständigen Aufgaben gehörte es, allabendlich den Bürgersteig vorm Grundstück zu reinigen. Zuerst fegte er die Steinplatten ab. Dann kämmte er mit der Harke den sandigen Boden rechts und links der Platten. Dabei entstand ein wunderschönes Streifenmuster, welches ich um nichts auf der Welt mit meinen Fußtritten zerstört hätte.
Mein Opa war ein empfindsamer Mann, der keinen Lärm und kein Kindergewusel vertrug. Deshalb wurde ich oft von ihm ferngehalten. Ich weiß nicht, ob das in seinem Sinne war, oder ob es die anderen Erwachsenen mit ihrer Fürsorge ihm gegenüber übertrieben, denn wenn ich es trotz strengen Verbotes schaffte, mich unterm Flügel zu verstecken, um seinem wunderbaren Klavierspiel zu lauschen, schickte er mich niemals fort. Bis heute bin ich mir ziemlich sicher, dass er mich immer bemerkt hat.
Mein Opa war schwul. Ich erfuhr es erst kürzlich durch eine Tante. Ob es meine Oma wusste? Wenn ja, muss sie in ständiger Angst gelebt haben, dass es herauskommt. Sie war so unglaublich auf ihren guten Ruf bedacht. Aber es waren ja auch andere Zeiten. Vier Kinder haben die beiden miteinander gezeugt. In den Sommerferien, direkt nach einem kurzen Familienurlaub, reiste Opa nach München, wo er seinen Freund traf, mit dem er nicht nur gemeinsam musizierte und der eigentlich sein Liebster war. Die vielen Künstler, ob Maler, Dichter oder Musiker, die Opa besuchten, wurden von Oma freundlich behandelt und gut bewirtet. Es war vor meiner Zeit. Ich habe all diese Männer nie persönlich kennengelernt. Aber mein Opa hat mir von ihnen erzählt, besonders von dem Sänger, der mit seiner Stimme Glas zum Zerspringen brachte und auch von dem Geigenlehrer aus München, für den er komponierte.
Es macht mich sehr traurig, wenn ich daran denke, was für ein falsches Leben dieser sanfte Mann führen musste. Aber ohne dieses falsche Leben wären meine Mutter, die Tante und die Onkels und auch ich nie auf die Welt gekommen. Vielleicht war er ja trotzdem zufrieden …
Es war frisch geworden, mich fröstelte. Ich warf einen letzten Blick auf den Müggelsee und radelte nach Hause, noch immer ein wenig von dem Geruch nach Lakritz und Zigarette in der Nase.
Am Heiligabend meines fünften Weihnachtsfestes saß ein riesiger Teddy neben dem Weihnachtsbaum. Mit warmen goldbraunen Augen, in denen sich die vielen flackernden Kerzen unseres Tannenbaumes spiegelten, sah er mich an. Zögernd näherte ich mich ihm und hoffte von ganzem Herzen, dass er für mich und nicht für eine meiner jüngeren Schwestern bestimmt war, denn ich hatte ihn auf der Stelle ins Herz geschlossen.
„Na, nun geh doch schon hin zu ihm. Er ist für dich“, sagte Mama, die mich und mein zauderndes Verhalten beobachtet hatte.
Ich fiel fast vornüber, als ich ihn auf den Arm nahm. Sein Kopf war doppelt so groß wie meiner, seine Schnauze größer als meine Faust. Im Stehen reichte er mir bis zur Brust.
Ich nannte ihn Petzi, nach dem Braunbären, der im viel zu engen Gehege unseres heimatlichen Inselzoos Tag für Tag seine Runden trabte, tanzte oder Männchen machte, der mir unendlich leidtat und nach jedem Besuch nächtelang nicht mehr aus dem Kopf ging. Mein Petzi sollte niemals eingesperrt werden, niemals auf Befehl tanzen müssen.
Fortan begleitete der Teddy mein Leben. Er schlief mit mir in einem Bett und nahm dabei viel Platz ein. Ich sang ihm Lieder vor und redete mit ihm. Ich kümmerte mich gut um ihn. Er sollte meine Liebe spüren, denn ich zweifelte keinen Moment daran, dass er eines Tages zum Leben erwachen würde. Dann sollte er mich genauso gern haben wie ich ihn. Damit er nicht fror, zog ich ihm einen Pullover und die Trainingshose der kleinen Schwester an. Auch Schuhe bekam er. Es waren blauweiße Bettschuhe, von denen es bei uns in allen Größen reichlich gab, denn Oma Tiktak strickte jedes Jahr neue für mich und meine Geschwister. Oma Tiktak hieß so, weil sie unsere Uhr-Oma war, denn in ihrem Zimmer hing eine große Uhr mit einem goldenen Pendel an der Wand. Die schlug mit einem wunderschönen Klang die halben und die vollen Stunden und wurde nur nachts abgestellt.
Ich vertraute Petzi alle meine Sorgen an. Geduldig und kommentarlos hörte er zu und schaute mich liebevoll an. Wenn mir nach Weinen zumute war, kuschelte er sich an mich. Er tröstete ganz ohne Worte. Nur wenn ich ihn ein wenig vornüberbeugte, brummte er freundlich. Manchmal hielt ich mein Ohr ganz dicht an seine breite Schnauze, um zu hören, ob er schon atmete. Nie war auch nur das leiseste Schnaufen zu hören. Aber ich hatte Geduld.
Gemeinsam mit mir wurde Petzi älter. Eines Tages verlor er ein Auge. Es war aus Glas wie das rechte meines Opas, der im ersten Weltkrieg von Granatsplittern getroffen worden war. Petzis Auge hatte allerdings im Gegensatz zu dem vom Opa auf der Rückseite eine Öse und konnte einfach wieder angenäht werden. Das Opa-Auge konnte nie wieder am Opa festgemacht werden. Es musste jeden Abend und auch während der Mittagsruhe herausgenommen werden, weil es beim Schlafen drückte. Dann schwamm es in einem Glas mit Wasser und wir schlichen heimlich ins Zimmer, um es zu betrachten. Opa bekam davon nichts mit, denn auch sein rechtes Ohr hatten die Splitter verletzt und ertauben lassen. Wenn er auf dem gesunden Ohr lag, hörte er nichts. Er behauptete, dass dies ein großer Vorteil sei, weil er so die unliebsamen Geräusche ausblenden könne. Ein weiterer Vorteil war, dass er als Kriegsverletzter nicht in den zweiten Weltkrieg einrücken musste. Opa half mir beim Annähen. Er kannte sich aus mit Nadel und Faden, weil er in seiner Freizeit Kissenbezüge und Papierkörbe bestickte.
Auch als sich Petzis Lippen vom vielen Küssen ablösten und in Fransen von der Schnauze herabhingen, war es Opa, der kurzerhand diese Fransen abschnitt und dem Teddy mit schwarzem Garn einen neuen Mund stickte, der dem alten aufs Haar glich und bis heute hält.
Petzis Fell wurde im Laufe der Jahre dünner. An einigen Stellen begann Holzwolle herauszurieseln. Aber das war später. Da lebte Opa schon nicht mehr. Ich war nicht so geschickt in Handarbeiten. Beim Versuch, die Wunden zu stopfen, nähte ich aus Versehen die Arme am Körper fest, so dass Petzis Gelenke sich nicht mehr drehen ließen und versteiften.
Auch seine Stimme hat nachgelassen. Sie wurde heiserer und reagiert manchmal überhaupt nicht mehr, egal wie weit ich ihn vornüberbeuge.
Bei aller guter Fürsorge ist Petzi nie zum Leben erwacht, aber irgendwie hat er für mich doch immer gelebt.
Heute sitzt er auf einem der sechs Stühle an meinem Tisch. Nur wenn Besuch kommt, muss er diesen Platz räumen. Er wird in einem Jahr sechzig, ein beachtliches Alter für einen Bären. Seit vielen Jahren trägt er ein Jäckchen und eine kurze Hose meines Sohnes, der inzwischen längst erwachsen ist. Ich habe beschlossen, Petzi nicht mehr umzuziehen, um sein dünnes Fell zu schonen und die herausrieselnde Holzwolle festzuhalten. Manchmal kommt es noch vor, dass ich mit ihm rede, aber das erzählen Sie bitte niemanden weiter.
Hast du schon einmal einen Mörder getroffen? Einen richtig echten? Einen, der wirklich jemanden umgebracht hat? Mir ist einer begegnet. Vor vielen Jahren. Und ich muss sagen: Mörder sehen nicht unbedingt wie Mörder aus. Im Gegenteil: Sie können sogar äußerst sympathisch wirken. Oder Mitleid erregen. Zumindest bei einem Kind, wie ich es damals war. Bis heute kann ich mich an seinen warmen weichen Händedruck erinnern, ihn förmlich spüren. „Riesen-Patschhändchen“, hatte ich gedacht und dabei die runden Hände des kleinen Bruders wie durch eine starke Lupe vergrößert vor mir gesehen. Nein, wie ein Verbrecher wirkte er nicht, dieser Mann mit den traurigen Augen und der vorsichtigen Stimme. Bis heute fühle ich, wenn ich an ihn denke, mehr Bedauern als Entsetzen über seine Tat. Das ist falsch. Ich weiß das. Es gibt keinen einzigen Grund, einen anderen Menschen zu töten…
Es geschah an einem Sonntagnachmittag. Ich war zwölf Jahre alt und hatte wenige Tage zuvor meine erste Brille bekommen. Wir waren auf dem Weg zum Insel-Zoo, die ganze Familie, beide Eltern und alle fünf Kinder. Mutter schob den Sportwagen mit dem kleinen Bruder. Die beiden jüngsten Schwestern hielten sich rechts und links am Wagen fest und Vater trabte träumend nebenher. Elke hatte sich zu mir gesellt und plapperte unentwegt auf mich ein. Voll konzentriert auf meine Füße, die die Ritzen zwischen den Gehwegplatten nicht berühren durften, und erstaunt darüber, wie deutlich diese mit Brille zu sehen waren, hörte ich nur halb hin.
Plötzlich spürte ich einen starken Schmerz an der Stirn. Ich war gegen einen Laternenpfahl gekracht. Das passierte mir häufig. Manchmal waren es Verkehrsschilder, manchmal Straßenbäume oder Betonmaste. Die Begegnungen mit letzteren waren besonders schmerzhaft.
„Pass doch auf!“, schimpfte Mutter genervt und Elke redete einfach weiter. Sternenumschwirrt kämpfte ich gegen die Tränen und gewann den Kampf.
„Alles gut?“, fragte Vater, von dem Knall aus seinen Tagträumen aufgeschreckt.
Ich nickte vorsichtig.
„Das wird bestimmt eine fette Beule“, stellte er fest, pustete mir über die Stirn und sagte: „Bis du heiratest, ist alles wieder gut.“
Ich war froh, dass die Brille beim Aufprall nicht zerbrochen war, denn dann hätte ich sicher Ärger bekommen.
„Wo ist Dicki?“, rief Mutter plötzlich panisch aus.
Dicki war der Spitzname unserer jüngsten Schwester. Sie hatte ihn schon vor Jahren von Vater bekommen, weil sie ein bisschen kräftiger war als wir anderen Kinder. Wir nannten sie so, bis sie Schulkind wurde. Erst dann bekam sie ihren echten Namen zurück, denn sie sollte nicht von den Mitschülern gehänselt werden. Ich glaube, die Kleine erfuhr erst mit sechs Jahren, wie sie wirklich heißt.
„Die ist wohl wieder mal vorgerannt“, sagte Vater ungerührt. Wo nahm er nur immer diese Ruhe her? „Lauf doch schnell mal zur Ampel!“, befahl er mir. „Nicht, dass die noch ganz allein über die Straße marschiert.“
Ich gehorchte und fand Dicki tatsächlich an der Ampel. Brav auf Grün wartend stand sie dort, Hand in Hand mit einem fremden Mann.
„Entschuldigung, das ist meine kleine Schwester“, sagte ich mutig zu dem Fremden.
„Ja, ja, ich will ihr doch gar nichts antun“, antwortete der Mann freundlich, gab mir die Hand und hielt mit seiner anderen die der Kleinen weiterhin fest umschlungen. „Ich habe auch eine Tochter in dem Alter“, fuhr er fort. „Na ja, eigentlich ist sie inzwischen viel älter. Sie ist jetzt vierzehn … Vierzehn Jahre! Ich kann mir das einfach nicht vorstellen. Wie sie wohl aussieht? Als ich sie das letzte Mal sah, war sie so alt wie deine kleine Schwester. Ist sie sechs? Sie sieht aus wie sechs …“ Er beachtete mein scheues Kopfnicken nicht und redete weiter. „Ich habe sie seit acht Jahren nicht mehr gesehen. Meine Frau auch nicht. Die wollen nichts von mir wissen. Meine Familie möchte nichts mehr mit mir zu tun haben.“
„Warum?“, fragte ich schüchtern. Ich sprach nicht gern mit fremden Menschen, aber dieser Mann sah so traurig aus. Er machte mich irgendwie neugierig.
„Weil ich … Ich habe im Gefängnis gesessen – acht Jahre lang … Hab mich mit einem Mann geprügelt. Er ist gestorben. Ich hatte zu viel getrunken. Wir hatten beide zu viel getrunken … Heute bin ich entlassen worden.“
Auf dieses unglaubliche Geständnis konnte ich nichts erwidern. Ich stand da, schaute den Mann fassungslos und – ja, ich gebe es zu – auch ein wenig fasziniert an und spürte, wie mein Körper zu zittern begann.
„Was machen Sie mit meinem Kind?!“ Der Rest der Familie war an der Ampel angekommen. „Lassen Sie sofort meine Tochter los!“, zeterte Mutter und riss Dicki von der Hand des Mannes, der augenblicklich verstummte.
Dicki begann zu weinen, die Ampel schaltete auf Grün und wir überquerten die Straße. Als ich mich umdrehte, stand der traurige Mörder noch immer an der Bordsteinkante und schaute uns hinterher.
„Der war im Gefängnis, weil er einen Mann ermordet hat“, erzählte ich meinen Eltern, und meine Stimme klang vor Aufregung ganz seltsam.
Vater strich mir über den Kopf. „Ach, mein Mädelchen, du glaubst aber auch wirklich alles, was man dir so auftischt. Du denkst doch nicht ernsthaft, dass der unsere Dicki entführen wollte?“, spottete er.
Inzwischen waren wir am Teich angekommen, auf dem sich der Insel-Zoo befand. „Das war ein echter Mörder. Er hat es mir selbst erzählt. Ich glaube, der wollte Dicki als Ersatz für seine verlorene Tochter mitnehmen“, versuchte ich es bei Elke. Doch die interessierte sich nur für die Ratten, die aus dem Ufergras hervorsprangen. Enttäuscht gab ich auf.
Über eine Brücke gelangten wir zu den Tieren. Als wir an dem engen Käfig von Petz, dem ehemaligen Zirkusbären, ankamen, fragte ich mich, ob der Mörder wohl auch in solch einer kleinen Zelle gesessen hatte.
Am nächsten Tag hatte ich Orchesterprobe in der Musikschule. Katharina, meine beste Freundin, die gemeinsam mit mir die erste Geige spielte, saß neben mir. „Ich muss dir dann unbedingt was erzählen“, raunte ich ihr zu und konnte kaum das Ende der Probe erwarten. Ich war sicher, dass Katharina mir zuhören würde, dass mir endlich jemand die Geschichte mit dem Mörder glauben würde.