Das Hexenhaus - Anke Voigt - E-Book

Das Hexenhaus E-Book

Anke Voigt

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Beschreibung

25 Kurzgeschichten über die Liebe, die Liebe zur Sprache und über das Leben an sich; geschaffen aus Erlebtem, Beobachtetem und Fantasie; Geschichten über Hexen, Baumhasser, rote Socken, Hundemenschen und Musikliebhaber.

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Seitenzahl: 130

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Die Autorin

Anke Voigt wurde 1959 im Ostseebad Kühlungsborn geboren. Ihre Kindheit und Ausbildung zum „Wirtschaftskaufmann“ verbrachte sie im thüringischen Altenburg, bis sie an die Weimarer Musikhochschule „Franz Liszt“ ging, um dort Gesang zu studieren. Es folgte ein Engagement beim Rundfunkchor Berlin, wofür sie erst nach Berlin und später ins Brandenburgische Fredersdorf zog. Seit 2021 gibt sie als Freiberuflerin Instrumental- und Gesangsunterricht und widmet sich dem Schreiben.

Das Buch

Anke Voigt schreibt über die Liebe, über die Liebe zur Sprache und über das Leben an sich. Sei es nun das dezent demente Bratwurstabenteuer oder die Geschichte über vermeintlich wertlosen Krempel, der bei „Bares für Rares“ kein Händlerkärtchen bekommen würde, der aber einen unschätzbaren emotionalen Wert birgt. Mit viel Engagement schafft sie aus Erlebnissen, Beobachtungen und Fantasien kurze und kompakte Geschichten, in denen wir einen ihr ganz eigenen Blickwinkel auf die Welt erhaschen können. Da dürfen ebenso wenig die Erzählungen über Hexen, Hundemenschen und Baumhasser fehlen, wie die über Musikliebende, Genossen oder Zwillingspuppen. In diesem Buch vereint sie 25 Kurzgeschichten über normale Menschen wie uns. (Theresa Voigt)

Glück entsteht oft durch

Aufmerksamkeit in kleinen Dingen,

Unglück oft durch

Vernachlässigung kleiner Dinge.

Wilhelm Busch

Nicht die Vollkommenen,

sondern die Unvollkommenen

brauchen unsere Liebe

Oscar Wilde

Inhalt

Das Hexenhaus

Der Poet

Der junge Freund

Das Sommerfest

Unter Espen träumen

Glühwürmchen-Zeit

Geliebter Krempel

Hana

Dorothea

Nur ein Freund

Babsis kurzes Leben

Der Junge, der ein Hund sein wollte

Die stummen Boten

Smalltalk auf norddeutsch

Vernissage

Jürgens Beerdigung

Einladung zum Neujahrskonzert

Die Zwillingspuppen

Angelika muss nachdenken

Maxim und die Wörter

Letzter Tag am Meer

Briefe

Hausmusik mit Prominenz

Hilde Lieblichs Lesung

Im Gedenken an die Kadertante

Das Hexenhaus

Neulich hat es geschneit. Es war der erste Schnee in diesem Jahr. Und obwohl er fast noch im Herabfallen taute, zog ich meine Winterstiefel an, stopfte mir Handschuhe in die Jackentaschen und ging hinaus, den ersten Schnee zu begrüßen, ihn auf der Haut zu spüren. Das hatte ich schon als Kind getan, habe diese Gewohnheit in all den Jahren meines bisherigen Lebens beibehalten. Nun ist der Winter wirklich da, dachten wir als Kinder. Endlich Schnee, freute ich mich jetzt. Damals gab es viel mehr davon. Jedenfalls in meiner Erinnerung.

Übermütig streckte ich meine Zunge heraus, um das kühle Weiß zu schmecken. Als mir mein Tun bewusst wurde, schaute ich mich erschrocken nach allen Seiten um. „Lass das! Was sollen denn die Leute denken?“, hörte ich meine Mutter sagen, als stünde sie, die doch seit Jahren tot ist, direkt neben mir. Nach kurzem Innehalten schob ich die Zunge noch weiter heraus. „Ist mir doch egal, was die anderen denken“, dachte ich und lachte übermütig über mein eigenes Erschrecken wenige Sekunden zuvor.

Auf meinem planlosen Weg durch den Winter kam ich bald ans Hexenhaus. Das Häuschen steht jetzt schon seit sieben Jahren leer. Jemand hat die Fenster eingeschlagen. Die Eingangstür wurde aus den Angeln gerissen. Ein großes Loch klafft in der Dachziegeldecke. Das war neu. Auf jedem meiner Spaziergänge, die mich hier vorbeiführen, entdecke ich mehr Zerstörung. Und obwohl die Besitzerin nicht mehr lebt, tut es weh, diesen Verfall zu sehen.

Hier hat Oma Elly gewohnt. Bis zu ihrem Tod vor sieben Jahren. Die Kinder des Dorfes nannten sie Hexe. Auch meine Tochter. Bis ich es ihr verbot.

Ich lernte Oma Elly auf einem meiner Spaziergänge kennen. Sie war mit dem Fahrrad gestürzt, saß nun am Rande des Fußweges und rieb sich die Knie. Ich half ihr aufzustehen. Sie war erstaunlich leicht. Ob ich ihr mit dem Fahrrad helfen könne, ihr sei so taumelig, bat sie mich. Also schob ich ihr Rad mit den Einkaufsbeuteln zu beiden Seiten des Lenkers nach Hause.

„Hier ist es schon“, sagte sie, als wir nach nur wenigen Schritten vor einem ziemlich verfallenen Häuschen ankamen. Ein großer dunkler Hund, in dem ich Merkmale von Schnauzer, Schäferhund und Pudel zu entdecken glaubte, sprang uns schwanzwedelnd entgegen. Obwohl ich ziemlichen Respekt vor Hunden habe, wirkte dieses Exemplar so lieb und harmlos, dass ich es sofort mit Streicheleinheiten versorgen wollte. „Weg, Bruno“, rief die Frau und schob den Hund von mir fort.

Ich balancierte das Fahrrad durch eine Schar Hühner und lehnte es mitsamt dem Einkauf an die Hauswand, konzentriert darauf bedacht, mir nicht zu viel von den Ausscheidungen dieser gefiederten Tierchen ins Schuhsohlenprofil zu treten. Im hinteren Teil des Gartens entdeckte ich ein paar Enten, die eine auf einem Zaunpfosten sitzende getigerte Katze so lange vollschnatterten, bis diese genervt herabsprang und im Gebüsch des Nachbargartens verschwand. Hier gibt es tatsächlich noch ein Stück echtes Dorf, dachte ich begeistert.

Damals lebte ich erst seit kurzem in dem Ort, der zwar auf der Silbe -dorf endet, jedoch mit der ursprünglichen landwirtschaftlichen Siedlungsform nicht mehr viel gemein hat. Die letzte Kuh ist vor Jahren gestorben und nie durch eine neue ersetzt worden. Die Gänse in unserer Nebenstraße mussten dem Zorn des Nachbarn weichen und der Schweinestall von Bauer Schmidt wurde zum Kinderzimmer umgestaltet, da das Wohnhaus keinen Platz für das ungewollte fünfte Kind bot. Immerhin ist Herr Schmidt geblieben, was er immer war: Bauer. Sein kleines Feld bringt bis heute Getreide und Futterrüben im Wechsel hervor, wenn auch ohne finanziellen Gewinn für ihn. Mit jedem Jahr wird unser altes Dorf mehr zu einer Vorstadtsiedlung. Was bewegt einen Großstädter dazu, aufs Land zu ziehen, wenn er weder Gänse noch Hunde oder holperige Sandstraßen liebt? Ist es ausschließlich der Wunsch nach einem eigenen Grundstück mit einem eigenen Haus drauf, einem eigenen Pool, gepflasterter Riesenterrasse und möglichst wenigen dieser störenden, Schatten werfenden Bäume? Doch ich schweife ab…

„Kann ich noch irgendetwas für Sie tun“, fragte ich die Frau. Sie schien mich vergessen zu haben. Statt zu antworten, griff sie nach einem Körnertopf, der auf dem Fensterbrett bereitstand, und begann die Hühner zu füttern. Ich verabschiedete mich, was sie ebenfalls ignorierte, und ging. Als ich das Gartentor schloss, las ich ihren Namen: Elly Kuhn.

„Das ist doch die Hexe“, rief meine Tochter, als ich zu Hause von meinem Erlebnis berichtete. „Mama, du warst echt bei der Hexe?“

„Nenn sie nie wieder so! Ihr Name ist Elly Kuhn“, schimpfte ich mit meinem Kind, das erschrocken zu weinen begann.

„Weißt du, was die früher mit denen, von denen sie glaubten, dass es Hexen seien, gemacht haben?“ Woher sollte sie es wissen? Es tat mir leid, dass ich so heftig reagiert hatte. Ich nahm sie in den Arm und entschuldigte mich bei ihr.

Die Schulkinder blieben nach der Schule an ihrem Gartenzaun stehen, berichtete meine Tochter, nachdem sie sich beruhigt hatte. Der Hund sei so süß, aber immer, wenn ihn jemand streichelte, käme die Hexe, nein die Frau Kuhn, „Entschuldigung Mama!“, um sie anzumeckern. Sie habe dann ganz böse Augen und rede manchmal total wirres Zeugs. „Die Jungs ärgern sie, rütteln am Zaun und rufen ihr Ausdrücke zu. Dann rennen sie weg. Das nennen sie Mutprobe. – Aber die ist wirklich echt gruselig.“ Meine Tochter schüttelte sich. „Die Sechstklässler sagen, dass sie eine echte Hexe ist und man aufpassen muss, dass sie einen nicht im Dunkeln erwischt. Es gibt doch wirklich keine Hexen, oder, Mama?“

„Wie kann man nur solch einen Quatsch glauben!“, erwiderte ich. Dann fiel mir der Hundefänger meiner Kindheit ein. Hätten wir uns damals seine Gefährlichkeit ausreden lassen? Wir wollten an den bösen Mann glauben, der Hunde einfängt und im Lieferwagen mitnimmt, um sie schließlich zu töten. Hinterfragten wir jemals die Absurdität unseres angeblichen Wissens? Wir waren Kinder. Wir brauchten diese Geschichten. Wir brauchten unsere seltsamen Figuren, unsere Originale. Wir wollten uns gruseln.

Als ich ein paar Tage später am Haus von Elly Kuhn vorbeikam, zupfte sie Unkraut in dem kleinen Asternbeet gleich hinterm Zaun. Ich gebe zu, dass ich den Weg, in der Hoffnung sie zu treffen, bewusst gewählt hatte. Die Berichte meiner Tochter hatten mich neugierig gemacht. Die Frau begrüßte mich erfreut. Meinen Unmut wegen ihrer Unfreundlichkeit vor Tagen hatte ich nach dem, was meine Tochter mir erzählt hatte, längst von mir geschoben. Ich blieb am Gartentor stehen, um ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Diesmal war sie sehr aufgeschlossen und mir zugewandt. Natürlich erkenne sie mich wieder. Was für eine Frage, empörte sie sich. Wir sprachen über Belangloses wie Hühnerfutter, Hitze und Unkrautjäten. Als ich dazu ansetzte, ihr von meiner Tochter zu erzählen und davon, wie gut ihr der große dunkle Hund gefalle, kehrte sich ihr Blick seltsam nach innen, so dass ich das Thema schnell wechselte und mich dann auch bald verabschiedete.

Fortan lenkte ich häufiger meine Spaziergänge in Elly Kuhns Richtung. Jedes Mal freute sie sich aufrichtig, mich zu sehen. „Schön, dass ich Sie kennengelernt habe“, sagte sie mehr als einmal, „denn ich habe so gar niemanden mehr.“ Manchmal unterhielten wir uns am Gartenzaun, manchmal bat sie mich herein. Dann saßen wir auf der Bank neben dem Eingang. Sie erzählte mir von ihren Eltern, vom Großvater, den sie sehr gemocht hat und von den vielen verschiedenen Hunden, die sie im Laufe ihres langen Lebens begleiteten und an die sie sich alle noch erinnern konnte. Sie genoss es, eine Zuhörerin zu haben. Auch vom Krieg erzählte sie und davon, wie ihre Familie sich von Giersch-Salat, Brennnesselsuppe und selbst angebautem Gemüse ernähren musste. „Wir Dörfler hatten es besser als die Städter“, sagte sie. Noch heute baue sie ein bisschen eigenes Gemüse an, fügte sie hinzu. Man wisse ja nie. Aber Giersch und Brennnesseln habe sie nie wieder gegessen. Ich hörte ihr gern zu. Sie hatte so viele Dinge erlebt, ihr Leben war ganz anders verlaufen als meins, welches ein halbes Jahrhundert später begonnen hatte. Sie erzählte sehr bildhaft und ich träumte nachts ihre Geschichten weiter.

Es gab aber auch Tage, an denen sie in sich gekehrt war und nur wenig sagte, und es gab die Gespräche, die mittendrin abbrachen, weil irgendeine Macht sie der Realität entzog, wie zum Beispiel, als es um den Tod ihrer Töchter ging.

Es hatte lange gedauert, bis sie mit mir über dieses Thema reden konnte. Ich hatte sie nur ein einziges Mal gefragt, ob sie Kinder habe, woraufhin sie seltsam zu murmeln und zu schimpfen begann, um anschließend in eine Art Starre zu verfallen. Ich traute mich nie wieder zu fragen.

„Irmgard wurde nur vier“, erzählte sie mir eines Tages dann doch. „Sie war ein süßes aufgewecktes Mädchen. So neugierig. Musste alles untersuchen. Und voller Fantasie. Stundenlang konnte sie ganz allein im Garten spielen… Sie ist in die Grube gefallen. Ich merkte es zu spät… Ich konnte sie nicht retten. Niemand konnte sie mehr retten.“ Wir saßen auf der Bank, als sie es mir erzählte. Ich nahm ihre Hand und sie ließ es zu. „Die Margot starb mit neunzehn an Lungenentzündung“, fuhr sie nach einer Weile fort. „Sie war schon immer kränklich gewesen…“ Dann sagte sie nichts mehr. Auch nicht, als ich sie ansprach. Sie war an einem Ort, wo ich sie nicht mehr erreichen konnte. Ich ging dann einfach. Es war ja nicht das erste Mal, dass ich sie in diesem Zustand erlebte, und ich wusste inzwischen, dass man sie dann lieber allein mit sich ließ.

Im Haus selbst bin ich nie gewesen. Bis zu ihrem Tode nicht. Es hat sich nicht ergeben.

Sie bot mir niemals etwas an, weder zu essen noch zu trinken. Nur einmal kochte sie Kaffee für uns. „Warten Sie einen Moment“, sagte sie, wies auf die Bank und verschwand im Haus. Ich schaute dem Picken und Scharren ihrer Hühner zu und nutzte die Gelegenheit, ihren Hund zu streicheln. Schnell zog ich die Hand vom Tier zurück, als sie mit einem Tablett und zwei Tassen Kaffee herauskam. „Ich möchte, dass Sie Oma Elly zu mir sagen. Sie sind doch meine Freundin.“ Sie war ganz verlegen, als sie das sagte. Sie setzte sich neben mich auf die Bank, griff umständlich durch meine Armbeuge und sagte glücklich lächelnd: „Prost“. Eine zweite Tasse gab es nicht.

Von da an waren wir Frau Helga und Oma Elly. Auf das „Frau“ vor dem Namen bestand sie. Ich konnte es ihr bis zum Schluss nicht ausreden. Manchmal schien sie irritiert, dass ich sie duzte. Das war an solchen Tagen, an denen sie plötzlich aufstand, mit den Hühnern oder der Katze zu reden begann oder ins Haus ging und mich völlig vergaß. Meiner anfänglichen Vermutung, Elly Kuhn habe Alzheimer, widersprach, dass sie mich immer erkannte und auch sonst ihren Alltag gut allein meisterte. Sie fuhr mit dem Rad einkaufen, versorgte ihre Tiere regelmäßig, pflegte den Garten. Auch die Geschichten, die sie mir erzählte, wiederholten sich nicht, setzten aber oft dort an, wo sie bei einem meiner vorherigen Besuche aufgehört hatten.

Ob sie denn gar keine Freunde habe, fragte ich sie einmal. „Die wollen nichts von mir wissen. Die meisten hier im Dorf sind wirklich sehr seltsam“, sagte sie, fügte aber sofort hinzu: „Ich habe ja dich, Frau Helga. Du bist meine Freundin.“ Dabei strahlten ihre Augen über den großen leeren Tränensäcken. Ich musste lächeln, weniger aus Freude über ihre Feststellung, mich als einzige Freundin zu haben, als viel mehr über ihre Aussage, dass die Menschen hier seltsam seien. Für mich war Oma Elly selbst die Seltsamkeit in Person.

94 Jahre lebte sie in diesem Haus. Hier war sie geboren worden und hier starb sie vor sieben Jahren. Ein paar Sechstklässler entdeckten sie inmitten ihrer gackernden Hühner. Sie rührte sich nicht, selbst als die Kinder den winselnden Hund streichelten. Der Körnertopf war über den Hof gerollt und völlig leergefressen.

Es hatte aufgehört zu schneien. Die Spuren an meiner Kleidung und auf den Haaren waren getaut und versickert, die Wege vom Wind vollständig trockengefegt. Noch immer stand ich vor dem Hexenhaus. Mit Oma Elly ist ein weiteres Stück Dorf verloren gegangen, dachte ich. Sie war nicht nur ein Dorforiginal. Sie war ein Teil dieses Dorfes, das sie niemals verlassen hat. Sie war etwas Besonderes. Man musste sich nur die Mühe machen sie kennenzulernen.

Die Kinder, die jetzt die Grundschule besuchen, wissen nicht mehr, dass in dieser verfallenen Hütte einst die „Hexe“ gewohnt hat. Kaum einer erinnert sich mehr an Elly Kuhn, die über neunzig Jahre in unserem Ort gelebt hat, in dem Häuschen, welches vor vielen Jahrzehnten ihr Großvater kurz nach dem ersten Weltkrieg für seine Familie baute, die hier ihre Kindheit verbrachte, den zweiten Weltkrieg überlebte, zwei Kindern das Leben schenkte, um sie bald wieder zu verlieren, die heiratete, um kurz darauf Witwe zu sein. Sie war mit den Jahren immer stiller geworden und hatte doch nie ihren Lebensmut verloren. Und wenn ihr am Ende des Lebens der Verstand manchmal einen Streich spielte, dann wohl deshalb, weil sie einfach zu viele schlimme Dinge erlebt hatte, die im Alter als Erinnerungsbrocken zu ihr zurückkehrten, um ihr Inneres zu erschüttern.

Der Poet

Er nahm mich sofort gefangen, noch bevor er zu reden begann. Nach dem Einsteigen blieb er dicht neben der Tür stehen und ließ seinen Blick aufmerksam durch den S-Bahn-Wagen schweifen. Gleich kommt etwas, dachte ich und ließ mein Buch sinken.

Wie ein Obdachloser sah er nicht aus, ein wenig unordentlich zwar, ungekämmte, struppige Haare, Löcher in den nicht ganz sauberen Hosen, aber das ist ja heutzutage nichts Besonderes. Für einen auf der Straße Lebenden wirkte er zu wach und zu selbstbewusst. Ich schätzte ihn auf Ende zwanzig.

Er war mir auf Anhieb sympathisch, wohl vor allem, weil er mich stark an einen mir sehr nahe stehenden Menschen erinnerte. Der gleiche offene, interessierte, etwas flatterhafte Blick. Für einen kurzen Moment sah ich einen kleinen Jungen vor mir, einen Jungen voller Wissbegier, unruhig, sensibel, alles verstehen wollend und damit Lehrer und andere Erwachsene zur Verzweiflung treibend.