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Spannend, bodenständig, echt: Der zweite Sauerlandkrimi mit der sympathischen Kommissarin Inka Luhmann Schock beim Stock-Car-Rennen im schönen Sauerland: im hohen Bogen fliegt beim Finish eine Leiche aus dem Kofferraum des Siegerautos. Der Tote war im Autoclub Hesborn sehr beliebt. Aber wie Kommissarin Inka Luhmann bald herausfindet, war er auch bekannt als Bordellbesitzer und Zuhälter. Und deswegen schon verurteilt. Damaliger Ermittler: Inkas Mann, Hauptkommissar Hendrik Luhmann, aktuell in Elternzeit. Auf Inkas Fragen antwortet ihr Mann ausweichend. Verschweigt er etwas? Was wissen seine alten Kollegen? Als ein weiterer Mord geschieht, muss sich Inka fragen, wem sie bei der Jagd nach dem Täter noch vertrauen kann… »Das Autorenduo Welter und Gantenberg hat mit Inka Luhmann eine sympathische Ermittlerin erschaffen, die zwar aus dem Ruhrgebiet kommt, sich aber ihrer Wahlheimat angepasst hat – sie ist unkompliziert und bodenständig.« Westdeutsche Zeitung
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Seitenzahl: 464
Oliver Welter | Michael Gantenberg
Lang sind die Schatten
Inka Luhmann ermittelt im Sauerland
FISCHER E-Books
Samstag, 18:58 Uhr
Keine Sicht war die beste Sicht. Erst wenn man kaum noch etwas sah, zeigte sich, wer wirklich Benzin im Blut hatte. Und wer nur Auto fuhr. Anne Stumpf starrte konzentriert durch den fast undurchdringlichen Schmierfilm aus Matsch, Benzin und Öl auf dem Visier ihres Helms und lächelte grimmig. Es war »crunch time«, wie sie es nannte. Der entscheidende Zeitpunkt in einem Rennen, der aus zehn Kontrahenten einen Gewinner und neun Verlierer machte.
Tagelanger Regen hatte die Stock-Car-Piste des Motorsportclubs Hesborn in ein ackergroßes Oval aus knöcheltiefem Schlamm verwandelt. Darüber lag ein beständiger blauer Abgasdunst, der mit der typisch sauerländischen Mischung aus Regen und Hochnebel für ein Wochenende eine ungewöhnliche Minismoglage über das kleine Dorf südöstlich von Winterberg legte: die »HSK Stock-Car-Challenge«.
Anne Stumpf klammerte ihre feuerfest behandschuhten Hände noch fester um das Lenkrad. Der tiefe Boden, das ramponierte Fahrwerk ihres Autos und die ständigen Schläge in Rücken und Nacken ließen das Holpern über die Piste zu einem reinen Willensakt werden. Man musste den ohrenbetäubenden Motorenlärm, den Gestank der Abgase und das Ächzen und Schaukeln der Karosserie schon lieben, um es auszuhalten. So wie Anne. Stock-Car-Rennen waren nun einmal nichts für Weicheier. Schon gar nicht, wenn man die einzige Frau im Feld war. Und dieses Mal würde sie es den Kerlen zeigen! Nicht so wie in den letzten Jahren.
Anne trat das Gaspedal durch und lenkte scharf links ein. Ihr alter Opel Kadett ächzte wie ein aufgelaufener rostiger Tanker an einem sturmgepeitschten Kliff. Vor ihr tauchte ihr vorletztes Ziel auf. Das Auto mit der Nummer 33. In seinem ersten Leben, vor etwa 15 Jahren, war es ein ganz normaler VW Golf gewesen. Inzwischen war selbst das, was der Umbau zum Stock-Car von der Serienausstattung übrig gelassen hatte, entweder eingedrückt, zerbeult oder schlicht nicht mehr da. Die letzten acht Runden des Finales der »HSK Stock-Car-Challenge« hatten an allen Fahrzeugen ihre Spuren hinterlassen. Sieben waren bereits liegengeblieben und ausgeschieden. Drei waren noch im Rennen. Nur der Fahrer, der als Letzter in einem fahrenden Auto saß, war der Sieger. Oder wenn es nach Anne ging: die Siegerin. Sie liebte diese klare, fast brutale Form des sportlichen Überlebenskampfes. Und die gleichzeitig fast philosophische Dimension dahinter. Wo sonst war wirklich einmal der Letzte zugleich der Erste? Mal abgesehen von biblischen Zitaten.
Anne regulierte ihre Geschwindigkeit nur über das Gaspedal. Die Bremse brauchte sie in dem tiefen Schlamm nicht. Die 33 kam schnell näher. Zu schnell. Anne roch den Grund, bevor sie ihn sah. Ein beißend scharfer Geruch nach verbrennendem Öl drang in ihre offene, mit einem massiven Gitterkäfig gesicherte Fahrgastzelle und ihren Helm. Der Kerl vor ihr hatte einen Defekt! Und jetzt sah sie es. Dichter grauer Rauch stieg aus dem Motorraum auf. Der Golf wurde noch langsamer. Lange würde er vermutlich nicht mehr durchhalten. Aber darauf konnte Anne es nicht ankommen lassen. Sie trat noch einmal aufs Gas und raste auf die Nummer 33 zu. Jetzt kam es auf Fingerspitzengefühl an. Sie musste ihn einerseits hart genug treffen, um ihn endgültig aus dem Rennen zu befördern, und andererseits darauf achten, ihren Kadett dabei nicht so stark zu beschädigen, dass er gleich neben dem Konkurrenten liegenblieb. Damit wäre das Rennen aus und ausgerechnet Dirk Vollmer der Sieger. Ein Umstand, den Anne bereits in den letzten drei Jahren mit unterdrücktem Zorn hatte ertragen müssen.
Ein lautes Kraches und ein markerschütternder Aufprall warf sie in ihre Hosenträgergurte. Ihr Kopf schlug für Sekundenbruchteile unkontrolliert gegen die engen Wände ihrer Sitzschale. Die blauen Flecken und Blutergüsse nahm sie gerne in Kauf, denn sie hatte die 33 voll erwischt. Der Golf verschwand aus ihrem Blickfeld, die schemenhaft vorbeifliegenden Gesichter der johlenden, meist männlichen Zuschauer zeigten ihr, dass nur noch sie und Dirk Vollmer übrig waren.
Fragte sich nur, wo er steckte. Vermutlich auf der gegenüberliegenden Seite des Rundkurses. Sie wusste, dass sein alter Ford Orion im Vergleich mit den Schrotthaufen der anderen acht Teilnehmer, die sich wie Kadaver auf der Strecke verteilten, wie immer fast unversehrt aussah. Zumindest für Stock-Car-Verhältnisse. Es war Vollmers Taktik, sich am Anfang möglichst aus allen Zweikämpfen herauszuhalten und erst dann, wenn nur noch wenige Autos übrig waren, mit überlegenem Fahrzeugzustand den Sieg herauszufahren. Diese Aasgeiertaktik hasste sie an dem Kerl.
Anne schob den rechten Daumen unter ihr Visier und öffnete es. Zum Dreck und dem Lärm der dröhnenden Motoren war nun auch das metallische Ächzen ihrer Stoßdämpfer und der Karosserie zu hören. Das ganze Auto vibrierte. Anne spürte, es war nur noch eine Frage von Minuten, bis auch ihr Kadett sein Leben aushauchen würde.
Plötzlich ein ohrenbetäubender Knall! Anne spürte einen gigantischen Ruck durch ihr Auto fahren. Verdammt, Vollmer hatte sie von hinten erwischt! Und er hatte genug Geschwindigkeit aufgenommen, um sie weiter nach vorne zu drücken. Direkt auf den aufgeschütteten Lehmwall zu, der als Streckenbegrenzung und Schutz der Zuschauer diente. Wenn er sie daran hochschob, würde Annes Kadett sich erst aufstellen, dann nach hinten umfallen und wie ein hilfloses Insekt auf dem Dach oder der Seite liegenbleiben. Vollmers Orion schob weiter. Anne überlegte fieberhaft. Es blieb ihr nichts übrig, als volles Risiko zu gehen. Sie täuschte ein seitliches Ausweichmanöver nach rechts an, zog blitzartig die Handbremse und lenkte scharf links ein. Ihr Kadett stellte sich quer zu Vollmers Orion. Für einen Moment konnte Anne die verbissen zusammengekniffenen Augen im Helm ihres Gegners sehen. Wieder krachte es! Wieder hatte Vollmer sie erwischt. Aber, wie Anne gehofft hatte, nicht in der Höhe ihrer Tür, sondern weiter hinten. Am Heck. Hoffnung stieg in ihr auf. Ihr Plan könnte tatsächlich aufgehen! Sie trat die Kupplung durch, nahm die Hände vom Lenkrad und verkreuzte sie vor der Brust. Dann knallte ihr Kopf auch schon gegen den Sitz, während ihr Wagen sich überschlug. Schlamm und Matsch drückten sich durch die Fensteröffnung ins Wageninnere. Eine tiefe erdige Feuchte legte sich über Abgas- und Kondensdämpfe. Für einen entsetzlich langen Moment drehte sich die Welt vor Annes Augen. Sie war eingeschlossen in die Trommel einer gigantischen Waschmaschine mit Verbrennungsmotor. Mit Urgewalt wurde sie in ihrem Sitz hin- und hergeworfen. Bis das Auto mit einem erneuten dumpfen Knall zischend und schwankend zum Stehen kam. Auf den Rädern! Und der Motor lief! Und was sie jetzt sah, ließ ihr Herz einen Moment aussetzen. Vollmers Orion kam neben ihr schwankend auf dem Dach zum Stillstand! Durch Annes plötzliches Manöver war er mit Vollgas an ihrem Heck vorbei und in den Begrenzungswall gerast. Dort hatte er sich aufgestellt und war selbst umgefallen. Anne starrte ungläubig auf ihren kaltgestellten Gegner. Sie hatte gewonnen!
Sie stieß einen Schrei aus und trat das Gaspedal vor Freude durch. Ihr Motor heulte ohrenbetäubend auf. Mit euphorisch jubelnden Schlägen auf das Lenkrad drehte sie eine Ehrenrunde und winkte mit hochgeklapptem Visier in die Zuschauerreihen.
Aber niemand applaudierte oder winkte zurück. Anne sah in entsetzte Gesichter, die sich entweder schockiert abwandten oder in Richtung von Vollmers Auto zeigten. Was war da los? Gleich würde sie es wissen. Sie bog um die letzte Kurve und sah den Orion. Er lag rauchend auf dem Dach, wie ein besiegter Drache. Vollmer selbst stand daneben. Ihm ging es gut. Nicht jedoch dem, was unter dem geöffneten Kofferraum seines Autos im Pistenschlamm lag. Der Körper eines toten Mannes.
Wieder schrie Anne auf. Nur diesmal vor Entsetzen.
Samstag, 19:04 Uhr
»Einmal Sex On The Beach.«
Inka sah über das üppig mit Früchten, Zuckerkristallen und Strohhalmlametta verzierte Cocktailglas vor sich auf das Grinsen des Barkeepers dahinter.
»Ist nicht von mir, sondern von dem Herrn dahinten«, fügte er hinzu und deutete mit dem Kopf den Tresen der prächtigen hölzernen Bar entlang.
Was blieb Inka übrig, als den Blick zu heben? Er fiel auf einen dicklichen Halbglatzenträger im Anzug mit Fliege. Sein zurückgegeltes, zu langes Resthaar und das aufgesetzte Verführerlächeln unter einem schmalen Clark-Gable-Bärtchen ließen Inka ungläubig blinzeln. Was für ein Schmacko, dachte Inka. Zwei Cocktailkirschen und ein Papierschirmchen hinters Ohr und der Kerl ging in seiner Lächerlichkeit selbst als Longdrink durch. Was ihn offenbar nicht davon abhielt, Frauen ohne Begleitung als Freiwild zu betrachten.
Inka schob den Cocktail weg und winkte den Barkeeper heran.
»Die Cocktailidee ist nicht schlecht, aber ich trinke Mai Thai. Und ich zahle selbst«, sagte sie.
Der Barkeeper lächelte, nahm den Cocktail und gab ihn seinem rechtmäßigen Besitzer zurück. Der Schmacko lächelte jovial, und Inka ahnte, was kam. Typen, die Frauen in Hotelbars mit zweideutigen Cocktails anmachten, hatten ein Problem. Sie kannten die Bedeutung des Wortes »Nein« nicht. Wie zum Beweis kam der Typ jetzt auf Inka zu.
»Wenn Sie keinen Sex On The Beach möchten, können wir den Strand auch weglassen. Zimmer Hundertvier«, hauchte er Inka zu, als er an ihr vorbei in Richtung Gastraum schlenderte.
Inka beschloss, nicht mal den Kopf darüber zu schütteln. Zumal der Barkeeper gerade ihren Mai Thai servierte. Sie bedankte sich, nahm das Glas, sog am Strohhalm und spürte, wie der erste Schluck sie sofort entspannte. Sie sah sich um.
Die Bar des »Landhaus Reinecke« war, wie das gesamte Haus, ein Musterbeispiel für Sauerländer Understatement. Zum einen, weil der Titel »Landhaus« eine echte Untertreibung für das elegante Vier-Sterne-Hotelrestaurant war. Und zum anderen, weil man hier keine phantasievollen Kunstnamen brauchte, um Kunden anzulocken. Das Hotel nannte sich schlicht nach dem Ort, vor dessen Toren es sich malerisch an die Uferlandschaft des Möhnesees schmiegte: Reinecke.
Inka stellte ihr Glas ab. Sie hatte ihre Handtasche über die Lehne des Barhockers gehängt und rutschte etwas unwohl auf der Sitzfläche herum. Irgendwie vertrug sich ihr langes schwarzes Abendkleid nicht mit der Architektur des Stuhles. Bei jeder Bewegung drohte es sich an den Fußrasten des Hockers oder an den hohen Absätzen ihrer neuen Peter-Kaiser-Pumps zu verfangen, die sie sich nach monatelangem Überlegen gegönnt hatte. Sie sah sich beim ersten Versuch, hier wieder aufzustehen, schon undamenhaft zu Boden gehen. Der Barkeeper schien ihre Gedanken zu erraten.
»Falls Sie Hilfe benötigen, lassen Sie es mich wissen«, lächelte er.
»Brauche ich in der Tat«, sagte Inka. »Würden Sie eine Minute auf meinen Platz achten?«
Sie stand auf, kontrolliert, aber elegant. Manchmal war es echt eine Plage, eine Dame zu sein. Aber der Anlass lohnte sich.
Inka schritt aus der Bar über leicht knarzenden Parkettboden in Richtung Speiseraum, wo sich an etwa zwanzig Tischen Paare, kleinere Gesellschaften oder Geschäftsleute regionale Köstlichkeiten schmecken ließen. Inkas Blick blieb an einem gutaussehenden blonden Hünen hängen, der mit einigen Männern an einem Tisch saß. Sein sympathisch gepflegter Holzfäller-Look wirkte in seinem eleganten Anzug seltsam deplatziert. Der hätte ihr mal einen Cocktail spendieren sollen, dachte Inka. Bei dem hätte sie auch zu »Sex On The Beach« nicht nein gesagt. Jedenfalls nicht zweimal.
Sie bog nach rechts in die Hotellobby. Die großzügige Eingangshalle präsentierte sich in beigefarbenem Marmor, erhellt von einem glitzernden Kronleuchter. Inka wusste, wie herrlich kühl es hier im Sommer war. Und im Winter ließ der Duft eines prächtig prasselnden Kaminfeuers kein Frösteln aufkommen.
Mit einem kurzen Blick zur Rezeption wandte sich Inka nach rechts, vorbei an einer scheinbar unzerstörbaren ledernen Sitzgruppe zu einer Marmortreppe neben dem Eingang. Die Toiletten lagen im Kellergeschoss. Sie raffte ihr Kleid und machte sich mit klackernden Absätzen leicht seitenversetzt an den Abstieg.
Die Treppe endete in einem Vorraum. Ein Display an der Wand versorgte Touristen mit Infos zu sämtlichen Sehenswürdigkeiten der näheren Umgebung auf Scheckkartengröße. Der Blickfang allerdings war ein alter Holzschrank direkt daneben, der sich als antike Telefonvermittlung entpuppte. Inka gefiel, wie würdig und zugleich uneitel das gute Stück hier unten an alte Zeiten erinnerte.
Links des Treppenabsatzes führte eine Tür zu den Toilettenräumen. Eine leichte Zitrusnote in der stickigen Luft hatte ihre liebe Mühe mit einem deutlichen Hauch Modergeruch. Ein Schild an einem großen weißen Heizkörper enthüllte den Grund: »Heizung bitte nicht abstellen. Schwitzwände.« Der hohe Grundwasserspiegel und unterirdisches Sickerwasser waren wohl der Preis für die exklusive Seelage des Hotels, dachte Inka. Auch solche Dinge nannte man im Sauerland beim Namen.
Inka betrat die leere Damentoilette und sah in eine Spiegelwand über zwei Waschbecken, die die gesamte Front des Vorraumes einnahm. Sie legte ihre Handtasche ab, schloss die Tür und betrachtete sich nicht ganz unzufrieden. Das dezente Make-up, die schicke Hochsteckfrisur, das neue Kleid … Ein ungewohnter, aber kein schlechter Anblick, selbst für einen Jeanstyp wie sie. Das freie Wochenende würde ihr guttun. Und noch wichtiger: Sie würde es auch genießen können, weil die Mutter in ihr wusste, dass alle ihre Lieben erstklassig versorgt waren. Mia und Tom, ihre beiden sieben- und fünfjährigen Kinder, waren bei »Omma und Oppa Brilon« untergebracht. Wie im gesamten westfälischen Großraum hatten die Kinder irgendwann angefangen, ihre Großeltern nicht nach ihren Namen zu benennen, sondern nach den Orten, in denen sie lebten. Inkas eigene Eltern waren deshalb nicht Lisbeth und Horst Hensler, sondern Omma und Oppa Dortmund, und Hennes Eltern eben Omma und Oppa Brilon, statt Brigitte und Alfons Luhmann. Und die würden sich heute Abend gewohnt übertrieben um ihre Enkelkinder und Inkas großen, unerzogenen, aber umso liebenswürdigeren Hund »Böse« kümmern. Henne, Inkas Mann Hendrik, würde ihr eigener Job sein. Sie spürte, wie sich bei dem Gedanken an die Verheißungen des Abends ein wohliges Ziehen in der Leistengegend ausbreitete. Sie verdrängte ihre Vorfreude und wandte sich in Richtung der Toilettenkabinen, als sie plötzlich stutzte. Da klangen Schritte draußen auf der Treppe. Männerschritte, nicht die etwas staksigen Schritte einer Frau im Abendkleid. Inka hielt inne und horchte. Die Schritte kamen näher und stoppten vor der Verbindungstür zum Toilettenvorraum. Vielleicht jemand, der die Telefonanlage zum ersten Mal sah. Aber dann schwang die Tür zum Vorraum auf und schloss sich wieder. Stille. Das Gluckern eines Heizungsrohrs wirkte plötzlich unnatürlich laut. Inka hörte leicht keuchenden Atem. Eine Gänsehaut kroch ihren Rücken hinunter. Der Mann draußen machte keine Anstalten, die Tür zur Herrentoilette zu öffnen. Also suchte er etwas anderes. Was, wurde Inka klar, als sich zu ihrem Entsetzen die Tür zur Damentoilette öffnete. Plötzlich stand der Schmacko aus der Bar vor ihr!
»Dachte ich mir doch, dass ich dich hier treffe«, sagte er klebrig lächelnd.
»Selber schuld, das hättest du auch angenehmer haben können.«
Inka wollte etwas erwidern, aber der Kerl machte einen entschlossenen Schritt auf sie zu. Inka sah sich angsterfüllt um. Hinter ihr der Waschtisch, neben ihr der Toilettenraum, vor ihr der Schmacko. Flucht war unmöglich. Und ihre polizeilichen Kampfsporterfahrungen nützten ihr in einem engen Abendkleid so viel wie ein Wassergutschein in der Wüste. Fieberhaft tasteten ihre Hände nach einer Waffe. Da war nur ihre Handtasche. Der Typ kam einen weiteren Schritt auf sie zu.
»Wie wäre es, wenn du dich einfach ein bisschen entspannst?«, fragte er.
Inka ging in Abwehrposition, sie spürte schon seine schwitzigen Pfoten auf ihrer Schulter. Vielleicht konnte sie wenigstens einen Tritt landen. Doch plötzlich wurde der Schmacko von einer Naturgewalt nach hinten gerissen! Inka sah erschrocken auf. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass die Tür sich noch einmal geöffnet hatte und hinter dem Schmacko wie aus dem Nichts der blonde Hüne aus dem Gastraum stand. Er fackelte nicht lange, packte den Schmacko an Gürtel und Sakkokragen und schleuderte den quiekenden Mann zur Tür, von wo er ihn mit einem gekonnten Tritt in den Hintern in den Toilettenvorraum beförderte. Man hörte stolpernde Schritte, den dumpfen Aufprall von Fleischmasse auf Metall und einen wimmernden Fluch.
»Ups, der Heizkörper, nehme ich an«, sagte der Hüne und hielt Inka breit grinsend seine Pranke hin.
»Hendrik Luhmann. Meine Freunde nennen mich Henne.«
»Inka«, entgegnete Inka mit trockenem Mund. »Inka äh … Hensler.« Aber noch bevor sie seine Hand ergreifen konnte, brachen die beiden in schallendes Gelächter aus. So laut, dass der Schmacko wieder in der Tür erschien.
»Kann ich dann wieder kellnern gehen?«, fragte er ächzend.
»Können Sie. Und Sie waren spitze«, sagte Henne und drückte dem Mann einen Fünfziger in die Hand. Inka musterte ihn mitleidig.
»Und ich verspreche, beim nächsten Kennenlernjubiläum ist mein Mann etwas zurückhaltender.«
»Versprochen«, sagt Henne und wandte sich an Inka. »Darf ich Sie vielleicht auf einen Cocktail einladen?«
»Gerne«, sagte sie. »Wie wär’s mit Sex On The Beach?«
Samstag, 20:31 Uhr
»Ich warne dich. Wenn du mich zu lange warten lässt, rette ich mir ’ne andere Jungfrau«, rief Henne in Richtung der seit gut zehn Minuten verschlossenen Badezimmertür.
»Ich bezweifle, dass du im Umkreis von zwanzig Kilometern auch nur eine findest«, kam es aus dem Bad zurück.
Henne grinste, entzündete die letzte von sieben Kerzen auf einem silbernen Leuchter und stellte die Musik aus seiner mitgebrachten Mini-MP3-Anlage ein wenig leiser. Wie die Flasche Sekt auf dem Nachttisch wollte auch Van Morrison wohltemperiert sein. Henne selbst hatte sich längst von seinem Anzug befreit und lag in Boxershorts und offenem Hemd auf dem breiten Himmelbett der Suite, die er und Inka sich zur Feier des Jahrestages ihres Kennenlernens gegönnt hatten.
Vor genau sieben Jahren hatten sich ihre Wege gekreuzt. Hier, im Haus Reinecke. Henne, damals Kriminaloberkommissar in Brilon, hatte mit einigen Kollegen die offizielle Verabschiedung eines pensionierten Vorgesetzten gefeiert. Inka, damals Kriminalkommissarin in Dortmund, hatte sich auf der Kommunionsfeier ihres Patenkindes Jolanda gelangweilt. Irgendwann nach dem Abendessen hatte sie ihren Platz an der Familientafel gegen einen Hocker an der Bar getauscht, um sich einen Cocktail zu gönnen. Was von der Originalversion des Bar-Schmackos damals missverstanden wurde. Ganz wie in Inkas und Hennes Rollenspiel hatte er Inkas »Nein« eher als Einladung verstanden, sie auf die Toilette zu verfolgen und zu belästigen. Der Rest war Geschichte: Henne, nie ganz außer Dienst, hatte schon beim Essen ein Auge auf Inka geworfen, die Situation mit Bulleninstinkt richtig eingeschätzt und den Typen auch damals mit Schwung an die Schwitzwasserheizung befördert.
Seitdem lieferten sich Inka und Henne an jedem ihrer Jahrestage einen spielerischen Streit. Während Hennes Version der Geschichte jedes Jahr um mindestens eine tödliche Gefahr reicher wurde, war Inka sicher, dass ihre Nahkampfausbildung trotz Abendkleid ausgereicht hätte, den Kerl auf Abstand zu halten. Trotzdem ließ Inka ihrem Helden und sich die Freude über seine Tat. Wer wurde im 21. Jahrhundert schon buchstäblich von einem blonden Ritter gerettet?
»Zwanzig Kilometer für eine Jungfrau sind nichts. Hab ich schon erwähnt, dass ich Jäger und Sammler bin?«, fragte Henne mit vorfreudig ungeduldigem Blick in Richtung Bad. Unter der Tür fiel ein Lichtstrahl einige Zentimeter auf das Parkett, alle paar Sekunden unterbrochen von geschäftigen Schatten. Keine Jungfrau der Welt hätte ihn vom gelegentlichen Plätschern des Wassers, dem Klacken von Schminkgegenständen auf Badezimmerporzellan und einem geheimnisvollen Rascheln wegbewegen können. Er hatte keine Ahnung, was genau ihn erwartete, aber ihm war klar, dass sich das Warten lohnen würde.
»Dann jage und sammle«, kam es aus dem Bad. »Aber deine sieben Köstlichkeiten kannst du dann vergessen.«
Henne grinste. Die Sektflasche in der Hand, füllte er zwei Gläser. Natürlich wusste er, worauf sich Inkas Anspielung bezog.
Die Köstlichkeiten waren der zweite Teil ihres Kennenlernens gewesen. Und der eigentliche Beginn ihrer Beziehung. Nachdem sie damals noch in der Bar des »Haus Reinecke« ihre Telefonnummern ausgetauscht hatten, hatte Henne sein Versprechen, sich zu melden, keine drei Tage später mit einer Einladung zum Essen eingelöst. Ein Chinese in Arnsberg. Neutraler Boden. Und sehr abergläubischer Boden, denn Inkas beiläufige Bemerkung, dass ihre gemeinsam bestellte Platte nur sieben statt der angekündigten acht Köstlichkeiten enthielt, hatte den Gastwirt fast in den Selbstmord getrieben! Henne und Inka mussten minutenlang auf den entsetzten Mann einreden, bevor Henne ihm das Gesicht gerettet hatte, indem er kurzerhand ein paar Glückskekse in das Menü einrechnete. Womit er wieder einmal der Retter gewesen war. Diesmal der eines romantischen Kennenlernabends, der mit Inkas und Hennes erstem Kuss vor dem Maximilianbrunnen in der Altstadt von Arnsberg geendet hatte.
»Okay, dann halt keine Jungfrau«, rief er Richtung Bad und stellte Gläser und Flasche neben das Bett. Die Vorfreude machte sich langsam in seinen Boxershorts bemerkbar. »In meinem Alter ist man eh nicht mehr so wählerisch.«
»Schade«, hörte er Inka sagen. »Dann kann ich das ja wohl wieder wegpacken.« Henne setzte sich auf und wandte sich zum Badezimmer. Von der Badezimmerbeleuchtung hinter ihr illuminiert wie eine engelsgleiche Erscheinung, posierte Inka verführerisch im Türrahmen. Sie warf den Kopf in den Nacken, schmiegte lasziv den Rücken an das kühle Holz und ließ ihren Arm von der Hüfte an aufwärts gleiten. Sie genoss jede Sekunde von Hennes ungläubigem Blick.
»Wow«, stammelte er und sah mit offenem Mund an seiner Frau herunter. Sie trug einen weißen Spitzen-BH auf wohlgebräunter Haut, dazu ein passendes Höschen und als Krönung einen rüschenbesetzten Strumpfhalter um die Taille, den je zwei zarte Schnüre mit durchscheinend weißen Strümpfen verbanden. Henne schluckte. Wo andere Männer aus seinem Freundeskreis sich gelegentlich über die Figur ihrer Frauen nach dem einen oder anderen Kind und Ehejahr beschwerten, fand er, dass Inka mit jedem Tag vollkommener wurde. Natürlich hatten zwei Schwangerschaften die ein oder andere zarte Spur hinterlassen, aber Henne liebte jede einzelne davon. Für ihn waren es keine Altersspuren, sondern Insignien der Liebe, die Inka einzigartig machten. Er war stolz, dass seine Frau kein austauschbares Katalogwesen mit Botoxabo und Silikoneinlagen war. Sie war seine Göttin der Fruchtbarkeit.
»Sieben Jahre, zwei Kinder und einen Typen wie mich. Und du wirst trotzdem immer schöner«, sagte er fast andächtig. Inka stolzierte zum Bett, klappte mit ihrem Zeigefinger spielerisch seinen Unterkiefer hoch und übernahm ihr etwas übervolles Sektglas.
»Und du immer träger«, neckte sie ihn. »Vor sieben Jahren hätte ich es in diesem Aufzug gar nicht bis zum Bett geschafft.«
»Vor sieben Jahren hattest du ja auch nicht so was an«, sagte er und nestelte an ihren Strumpfhaltern. Dann prosteten die beiden sich zu.
»Also«, sagte Henne und nahm Inka ihr Glas wieder ab. »Sieben Köstlichkeiten sind versprochen, und diesmal rechne ich keine Kekse mit ein.« Er sah auf Inkas verführerisch duftenden Körper, den sie jetzt vor ihm auf das Laken drapierte. Sie lächelte ihn an.
»Ein Mund, zwei Ohren, ein Hals. Die anderen drei Sachen darfst du dir aussuchen …«
Henne lächelte verschmitzt und stellte die Gläser neben dem Bett ab.
»Und die Reihenfolge überlässt du auch mir?«
Anstelle einer Antwort legte Inka ihre Hände um seinen muskulösen Nacken und zog ihn zu sich heran. Doch Henne hielt inne.
»Halt«, sagte er. »Jetzt kommt doch immer der Moment, in dem irgendein Handy klingelt. Meins ist aus. Deins auch?«
»Ja. Und jetzt red nicht, mach lieber.«
Henne legte gerade seine Lippen auf Köstlichkeit Nummer eins, als es an die Zimmertür klopfte.
»Frau Luhmann?«, tönte eine unsichere Stimme von draußen. Henne sah ungläubig in die entschuldigend blickenden Augen seiner Frau.
»Irgendwie muss ich halt erreichbar sein, wenn ich das Handy schon ausmache«, sagte sie und setzte sich auf, während Henne enttäuscht auf die linke Betthälfte rollte. »Kinder oder Job?«, rief Inka Richtung Tür.
»Eher der Job. Ein Kommissar Pfeil möchte Sie sprechen. Dringend.«
Samstag, 21:22 Uhr
»Sagen Sie mir nur, was ich noch nicht weiß.«
Inka sah von ihrer modisch sehr fragwürdigen Kombination aus zu großen Herrengummistiefeln und einem schlechtsitzenden Jogginganzug zu Hauptkommissar Georg Pfeil. Ihr untersetzter Kollege, mit deutlichem Bauchansatz und lichtem Haarkranz, betrachtete sie mit gewohnt jovial-tadeligem Blick. Inka wusste, er würde sich vermutlich nie damit abfinden, dass man sie an seiner statt vor etwa einem Jahr zur Dezernatsleiterin Abteilung Kapitalverbrechen der Kriminalpolizei Brilon ernannt hatte.
Ebenso fragte Pfeil sich vermutlich, warum sie im Lieferwagen des Hotelrestaurants »Haus Reinecke« vorgefahren war und warum die Gummistiefel ganz offensichtlich nicht ihre eigenen waren. Sollte er. Es ging ihn nichts an.
Inka war ohnehin alles andere als begeistert, dass sie ihre Wäsche gegen den ausgeleierten Jogginganzug hatte tauschen müssen. Ihre Zivilkleidung war bei der hektischen Umziehaktion im Hotelzimmer ein Opfer der umfallenden Sektflasche geworden, so dass nur das vom Hotel eilig organisierte Ausweichoutfit Inka vor einem Auftritt im Bademantel bewahrt hatte. Zu ihrem Glück war ein Fahrer des Hotels ohnehin gerade auf dem Sprung, um ein paar Gäste von einer Feier in Winterberg abzuholen. Auf einen Dienstwagen hätte Inka ewig warten müssen, eine Taxifahrt vom Möhnesee hier herauf hätte ein Vermögen gekostet. Und die Fahrt im eigenen Auto hätten Henne oder Inka eventuell mit ihren Führerscheinen bezahlt. Zwei Cocktails und ein Glas Sekt hatten ihre Wirkung hinterlassen. Auch wenn sich Inka schlagartig wieder nüchtern fühlte.
»Was wissen Sie denn noch nicht?«, fragte Pfeil.
Sie standen im knöcheltiefen Schlamm der Stock-Car-Piste des Motorsportclubs Hesborn und sahen auf eine Szenerie, die eher einem Autounfall glich als einem Tatort. Die Scheinwerfer der KTU tauchten einen zerbeulten Ford Orion in gleißend helles Licht. Der Wagen lag auf dem Dach und streckte seine Räder in den stockfinsteren Nachthimmel. Der Regen hatte sich mit dem Nebel verzogen. Allerdings waren die empfindliche Kühle und der böige, raue Wind nicht viel angenehmer. Das rotweiße Polizei-Absperrband um das Fahrzeug erzeugte mit jedem Windstoß ein lautes Knattern.
Statt einer Antwort hockte Inka sich neben den leblosen Körper vor den beiden im Schlamm. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und betrachtete den Toten.
»Männliche Leiche, zweiundvierzig Jahre alt, einsneunundachtzig groß, neunzig Kilo schwer«, zitierte Pfeil aus seinem »kleinen Schwarzen«, wie er es nannte, seinem Notizbuch.
Inka sah überrascht auf.
»Und das wissen Sie, weil …?«
»Ich ihn identifiziert habe.«
Inka atmete ungeduldig aus. Pfeil machte es wie üblich spannend. »Mladen Konicic. Eindeutig, trotz des üblen Zustands«, sagte er.
Inka betrachtete den Leichnam und stellte fest, dass Pfeil nicht übertrieben hatte. Der Kopf des Mannes sah aus wie nach zehn Runden Schwergewichtsboxen. Zahlreiche Schnitte und Stoßverletzungen waren über den Schädel verteilt und entstellten das fahlgraue Gesicht und die Reste einer ehemals topmodischen Frisur. Der Mann trug eine goldene Kette um den Hals, dazu ein passendes Armband am rechten Handgelenk. Das linke Handgelenk zierte ein übergroßer goldener Chronograph, dessen Protzigkeit nur von einem goldenen Ring am rechten Ringfinger übertroffen wurde.
»Ein Raubmotiv können wir jedenfalls schon mal vergessen«, sagte Pfeil überflüssigerweise. Trotz der Vielzahl von Verletzungen fiel Inka das gepflegte Gesamtbild des Mannes auf. Das betraf auch seine Hände. Der Tote war offenbar niemand, der zu Lebzeiten handwerklich gearbeitet hatte. Auch seine Kleidung passte ins Bild. Der Mann trug teure Designerjeans, ein modisches Oberhemd und Edelsneakers. Allerdings war auch die Kleidung in einem Zustand, als hätte der Mann einen Waschmaschinenschleudergang mit zehn Kilo Steinen hinter sich. Oder eben ein Stock-Car-Rennen, eingesperrt in einem Kofferraum.
»Sie kannten ihn?«, fragte Inka, ohne Pfeil anzusehen.
»Wer kennt den nicht?«, grinste Pfeil zurück. Und als würde ihm im selben Moment etwas einfallen, fügte er hinzu: »Tschuldigung. Ich meinte, wenn man von hier kommt.«
Inka atmete bemüht geduldig durch. Sie war seit gut einem Jahr Sauerländerin und direkte Vorgesetzte von Pfeil, aber den Makel der Zugezogenen würde sie vermutlich nie loswerden.
»Danke für die Erinnerung«, sagte Inka. »Dann haben Sie außer dem Namen sicher noch mehr für mich. Gerne auch in der Version für Zugezogene.«
Pfeil lächelte sie schief an.
»Der Typ ist Serbe mit deutschem Pass. Wohnt drüben in Sundern. Und macht, was Serben mit deutschem Pass halt so machen.«
Inka warf ihm nur einen Blick zu, der deutlich machte, dass sie das Frage-und-Antwort-Spiel jetzt leid war. Pfeils schiefes Lächeln verschwand.
»Er betreibt eine Sportwettenagentur und einen Nachtclub, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Prostitution?«
Pfeil nickte.
»Alles aktenkundig. Dazu illegales Glücksspiel, Betrug, bandenmäßige Erpressung, Drogen- und sogar Menschenhandel. Das volle Programm.«
»Und so einer läuft hier frei rum?«, fragte Inka.
»Konicic war clever. Wir konnten ihm nie was nachweisen. Gut, jetzt brauchen wir’s nicht mehr.«
Inka stand wieder auf.
»Ich sehe mir mal seine Akte an. Wissen wir schon etwas über die Todesursache?«, fragte sie. Pfeil schüttelte den Kopf.
»Kein Blut«, stellte Inka mit einem Blick in den offenen, ausgeschlachteten Kofferraum über ihr fest. Sie sah nichts als blankes verbeultes Blech.
»Er war schon tot, als ihn jemand da rein gelegt hat«, überlegte sie laut. »Fragt sich, wann, wo und wie er umgebracht wurde. Oder gibt es irgendwas, was gegen Mord spricht?«
»Nee, nach einem Unfall hätte sich wohl kaum jemand die Mühe gemacht, ihn in den Kofferraum eines Stock-Cars zu verfrachten.«
Pfeil nickte und deutete auf den auffälligen Umbau des Autos.
»Und dass ihn jemand entsorgen wollte und das Auto mit einem Schrottwagen verwechselt hat, können wir ausschließen.« Inka gab ihm recht. Nur die grobe Karosserieform des Autos erinnerte noch an sein früheres Leben als Familienkutsche. Für das Stock-Car-Rennen hatte man die gesamte Innenausstattung bis auf Fahrersitz, Schaltung und Armaturenbrett entfernt und einen Stahlrahmen zur Stabilisierung in den Innenraum geschweißt. Sämtliche Scheiben waren durch schweres Maschendrahtgitter ersetzt, Lampen und Blinker mit Klebeband abgeklebt. Eine Startnummer war mit groben Strichen auf beide Türen gepinselt.
»Es gibt noch eine Kleinigkeit. Unser Täter musste nämlich richtig arbeiten, um den Kofferraum zu öffnen.« Pfeil deutete mit seinem Kugelschreiber auf mehrere metallisch graue Punkte in der Kofferraummulde des hinteren Kotflügels.
»Ich habe nachgefragt. Damit beim Rennen nichts aufgeht, schweißen die hier alle beweglichen Teile der Autos, also Türen, Motorhaube und Kofferraum, punktmäßig zu. Klar geht bei einem Crash trotzdem mal was fliegen, aber das hier sind Spuren von Hebelwirkungen.«
Inka folgte seinem Kuli und fuhr mit ihren latexbehandschuhten Fingern über die aufgebrochenen Schweißpunkte und zwei zueinander passende Beulen im hinteren Kotflügel und dem Kofferraumdeckel.
»Jemand hat den Kofferraumdeckel aufgebrochen, den Toten abgelegt und den Deckel danach wieder per Kofferraumschloss verriegelt«, sagte Inka.
»Allerdings ohne Fingerabrücke zu hinterlassen. Und das Aufbruchswerkzeug klärt die KTU noch.«
Inka nickte.
»Dass das ein Rennwagen ist, war ja nicht zu übersehen, also wollte der Täter vermutlich, dass der Kofferraum aufgeht und man die Leiche findet.«
»Und er kannte das Umfeld hier mit dem bevorstehenden Rennen.«
»Wissen wir, wo das Auto vor dem Rennen stand?«
Pfeil deutete mit dem Kinn zu einem einstöckigen Gebäude mit Walmdach hinüber, das etwas abseits der Piste stand. Dahinter ragte ein höheres Gebäude mit Flachdach und großem Garagentor hervor. Mehr konnte Inka im Licht der Schweinwerfer nicht erkennen. Außerhalb des Tatortlichtkegels erschien die Welt noch dunkler.
»Das Vereinsheim des Motorsportclubs. Daneben steht die Schrauberhalle, wo die Autos vorbereitet und präpariert werden.«
Inka beschattete die Augen mit einer Hand und deutete auf einen parkplatzähnlichen Bereich neben der Halle, der mit einem improvisierten Zaun aus Holzpaletten und Trassierband umgeben war.
»Und das neben der Halle?«, frage Inka.
Pfeil setzte ein arrogantes Lächeln auf, das er mit einem leichten Kopfschütteln garnierte.
»Nicht zu fassen«, sagte er, »aber die nennen das tatsächlich ›parc fermé‹. Wie in der Formel Eins.«
»Und für die Nicht-Motorsportler unter uns?«, fragte Inka wieder ungeduldig.
»Unmittelbar vor und nach dem Rennen darf keiner mehr an die Autos ran. Chancengleichheit und so. Deshalb stellt man sie in einem geschlossenen Bereich ab. Den ›parc fermé‹. Ist französisch für …« Er überlegte einen Moment und fand offenbar keine exakte Übersetzung. »Für ›geschlossener Bereich‹ halt. Und da standen die Autos auch letzte Nacht vor dem Rennen. Unbewacht, es hätte also jeder rangekonnt.«
»Aber vor dem Rennen hat niemand etwas bemerkt?«
»Offenbar nicht. Und bevor Sie mich jetzt nach weiteren Spuren fragen …«, er deutete mit dem Kopf in Richtung eines Notarztwagens, der auf einem improvisierten Parkplatz in etwa hundert Meter Entfernung stand. Davor unterhielt sich ein junger Mann mit einem Notarzt, während er Eingaben auf einem leuchtenden Tablet-PC-Display machte. »… Porbeck hat gesichert, was zu sichern war.«
Inka nickte mit einem letzten Blick auf die Szenerie, duckte sich unter dem knatternden Flatterband hindurch und ging. Viele Spuren, dachte sie, wird es nicht geben. Dafür hatten der Regen, mehrere Stock-Car-Rennen und eine Horde von Zuschauern gesorgt.
Klaus Porbeck bedankte sich bei dem Notarzt und kam seiner Chefin entgegen. Dabei fiel Inka auf, dass der junge Forensiker ein ähnliches Samstagabend-Tatortoutfit trug wie sie. Jogginganzug zu Gummistiefeln. Allerdings war Inka sicher, dass man ihn wohl kaum aus einer ähnlich vielversprechend delikaten Situation geholt hatte. Porbeck war Single und eher der schüchterne Typ. Ähnlich wie Inka arbeitete auch er erst gut ein Jahr im Dezernat in Brilon. Sein offizieller Titel »Forensiker« war eine weit untertriebene Umschreibung für »wissenschaftliches Mädchen für alles«. Er leitete nicht nur das, was man im Sauerland Kriminaltechnische Untersuchung, also Spurensicherung nannte, sondern war als ehemaliger Metzgergeselle und medizinischer Quereinsteiger auch Gerichtsmediziner und Sachverständiger in technischen Dingen.
»Hallo, Frau Luhmann«, rief er schon von weitem, begann seinen Bericht aber erst, als er bei Inka stand und sie per Handschlag begrüßt hatte. Freundlich, direkt, kompetent. Inka mochte seine frische, jugendliche Art und die fast verspielte Technikaffinität. Porbeck kannte sich bestens in allen Fragen moderner Kommunikation aus, was bedeutete, dass er sich nie von seinem obligatorischen Tablet-PC trennte. Die Vielseitigkeit dieses Gerätes im Vergleich zu den Notizbüchern, die Inka und Pfeil noch immer nutzten, hatte Inka schon in ihrem ersten gemeinsamen Fall viel Zeit gespart.
»Also, viel habe ich noch nicht«, sagte er. »Das Ganze lief wahrscheinlich so ab: Im Finallauf dieser ›HSK Stock-Car-Challenge‹ hat sich wohl das Auto von einem«, er tippte auf sein Tablet und sah nach, »Dirk Vollmer überschlagen. Als es auf dem Dach liegen blieb, öffnete sich der Kofferraum und die Leiche von Mladen Konicic fiel raus. Dass das nicht in den Vorläufen vorher passiert ist, war reiner Zufall. Jetzt fragen Sie sich sicher, wie der Tote da reingekommen ist.«
Inka nickte, Porbeck fuhr fort.
»Gute Frage. Aber ich weiß es noch nicht. Am gesamten Auto gibt es, bis auf die ausgehebelten Schweißpunkte am Kofferraum, bislang keine verwertbaren Spuren. Der Täter hat die Kofferraumhaube aufgebrochen und nur lose per Schloss verriegelt. Deshalb konnte sie sich auch bei dem Überschlag öffnen. Tut mir leid, mehr haben wir nicht. Was der Regen nicht schon weggespült hatte, hat das Rennen besorgt. Nur eins ist sicher …«
»Selbst ist Konicic jedenfalls nicht reingestiegen«, ergänzte Inka. »Er war schon tot.«
Porbeck nickte mit einem anerkennenden Lächeln und vergrößerte auf seinem Tablet einige Detailaufnahmen vom Körper des Toten.
»Damit kommen wir zum Inneren des Kofferraums. Das ist natürlich übersät mit Spuren. Ich nehme an vom Opfer. Wir haben gesichert, was möglich war. Der Körper des Toten selbst weist einige Schnitt- und Stoßwunden auf, ein paar Knochenbrüche konnte ich auch feststellen. Aber: Alles postmortale Verletzungen aufgrund der vielen massiven Aufpralleinwirkungen während des Rennens.«
Inka nickte. Das klang einleuchtend.
»Irgendeine Ahnung, wann und woran er gestorben ist?«, fragte Inka.
Porbeck schüttelte den Kopf und verdunkelte das Display seines Computers.
»Kann ich erst sagen, wenn ich ihn in Brilon auf dem Tisch hatte«, antwortete er. Inka wusste, dass sie es dabei belassen sollte. Porbeck war kein Mann für voreilige Schlüsse. Dafür waren seine Untersuchungsergebnisse umso solider, wenn man ihm die Zeit für gründliche Arbeit ließ.
»Danke«, sagte Inka. »Sie halten mich auf dem Laufenden?«
Porbeck nickte. Aber statt sich, wie gewöhnlich, wieder mit Elan seinen Ermittlungen zu widmen, sah er zu Boden. Nach einem Jahr kannte Inka ihn gut genug, um zu wissen, dass er noch etwas auf dem Herzen hatte.
»Sonst noch was?«, fragte sie und hoffte inständig, er würde sich nicht wie Pfeil jedes Wort aus der Nase ziehen lassen.
Porbeck sah zu dem kleinen Walmdachgebäude hinüber. Ein großes beleuchtetes Schild mit Rennsportmotiven und einem Werbebanner für eine Autotuningfirma wies es als Vereinsheim des MSC Hesborn aus. Auf einer Kunststoffbank vor dem halbdunklen Eingang saß eine junge burschikose Frau in einem völlig verdreckten Rennoverall. Zwischen ihren männlich gespreizten Beinen stand ein übergroßer Pokal, neben ihr auf der Bank ein riesiger Siegerkranz mit buntem Fahnenschmuck.
»Anne Stumpf, die Siegerin des Finallaufs«, sagte Porbeck. »Ich glaube, sie gibt sich eine Mitschuld.«
Man merkte ihm an, dass die junge Frau ihm trotz aller Professionalität irgendwie leidtat.
»Porbeck?!«
Ein lauter Ruf riss die beiden jäh aus ihren Überlegungen. Inka und der Forensiker wandten sich in Richtung Rennstrecke, wo Pfeil gestikulierend neben der Leiche Mladen Konicics und zwei weiteren Männern in Gummistiefeln und schwarzen Overalls stand, die einen grauen Kunststoffsarg in den Pistendreck gestellt hatten.
»Die Bestatter wollen wissen, wo sie den Kerl abladen sollen!«, rief Pfeil.
»Sieht aus, als würde ich gebraucht.« Porbeck stapfte schon durch den Matsch, als Inka noch etwas einfiel.
»Ach, Porbeck, haben Sie eine Ahnung, wo Marlies und Kemperdick stecken?«
Inka hatte die beiden letzten Mitglieder ihres Ermittlerteams noch nicht am Tatort gesehen, hatte Pfeil aber bereits in Reinecke per Handy gebeten, die beiden zu benachrichtigen.
Porbeck zuckte die Schultern. Doch im selben Moment zerschnitten ein Paar Autoscheinwerfer die Dunkelheit des Parkplatzes hinter dem Vereinsheim. Es war Kemperdicks Golf GTI, dem nicht nur Kemperdick selber, sondern auch Marlies Röggen entstieg. Die beiden sahen sich um, entdeckten Inka und kamen direkt zu ihr. Wie üblich sah man Röggen äußerlich nicht an, dass man sie bei irgendetwas gestört haben könnte. Sie trug modische Gummistiefel, einen langen, damenhaften Regenmantel und hatte das Haar unter einer passenden Mütze hochgesteckt. Inka wusste sofort, ihr dezentes Make-up war wasserfest. Wie immer, wenn sie Marlies begegnete, fragte sie sich, wie die Frau es anstellte, selbst zu den unmöglichsten Tages- und Nachtzeiten wie aus dem Ei gepellt auszusehen. Und das trotz zwanzig Jahren Altersunterschied zwischen ihnen beiden.
»Entschuldige die Verspätung«, sagte Marlies außer Atem. »Kemperdick hat mich mitgenommen.«
Marlies Röggen war die Einzige in Inkas Team, mit der sie sich seit einer grausamen Mordserie im letzten Jahr duzte. Während Inkas ersten Falles hatte Röggen nicht nur ihren Mann verloren, sondern auch noch Inka das Leben gerettet. Was die Beziehung der beiden Frauen auch auf eine zweite, privatere Ebene gestellt hatte.
Kemperdick wirkte, verglichen mit seiner Kollegin, deutlich müde. Er stakste in Baseballjacke, Jeans und dem Anlass entsprechenden Outdoorstiefeln durch den Schlamm: Seinem geschmeidigen Gang und den Muskelbewegungen unter der engen Jacke sah man selbst zu dieser Tageszeit an, welche Athletik sich unter seiner Kleidung verbarg.
»Ihr kommt nicht eine Minute zu früh.« Inka brachte sie kurz auf den letzten Ermittlungsstand.
»Pfeil und ich wollen gerade mit den Zeugenbefragungen anfangen.« Inka deutete auf das Vereinsheim, dessen seitliches Panoramafenster einen Lichtschein auf den tiefen kalten Matsch warf. Eine Trutzburg der Normalität, umtost von einem Meer des brutalen Wahnsinns, dachte Inka. So oder so ähnlich sahen das wohl auch die Mitglieder des MSC Hesborn, die sich im Inneren des Vereinsheims um einen Holztresen drängten.
»Pfeil kümmert sich um Dirk Vollmer, den Vereinsvorsitzenden, der sich überschlagen hat. Wäre nett, wenn ihr euch die anderen Zeugen vornehmen könntet.«
»Geht klar. Und du?«, fragte Marlies.
»Ich kümmere mich mal um die tragische Siegerin der ›HSK Stock-Car-Challenge 2014‹«, sagte Inka und war schon auf dem Weg zu der Kunststoffbank vor dem Eingang zum Vereinsheim.
»Guten Abend, Frau Stumpf. Inka Luhmann. Ich bin die leitende Ermittlerin.«
Inka hielt der Frau ihren Polizeiausweis hin. Allerdings hätte auch ihr Schwimmbad-Abo genügt, denn der starre Blick der tragischen Siegerin verlor sich irgendwo in der nassdunklen Ferne hinter der hell erleuchteten Corona der Rennstrecke. »Sie haben den Toten … zutage befördert?«
»Sagen Sie mir bitte nur, ob ich irgendwie daran schuld bin, dass Mladen tot ist.« Anne Stumpfs brüchige Stimme schien so gar nicht zu ihren harten, fast männlichen Gesichtszügen zu passen. Inka beruhigte die junge Frau.
»Ich darf Ihnen keine Einzelheiten nennen. Aber dass er durch Ihre Schuld während des Rennens starb, können wir ausschließen.«
Erleichterung legte sich über die Trauer im Gesicht der jungen Frau. Ein gutes Zeichen für Inka.
»Sie duzen ihn. Also kannten Sie den Toten?«, fragte sie.
»Wer kannte den nicht?«, fragte Anne Stumpf zurück und Inka bemerkte, dass sie diesen Satz nun schon zum zweiten Mal hörte.
»Und wie standen Sie zu ihm?«
Anstelle einer Antwort deutete die junge Frau auf den Pokal zwischen ihren Beinen.
»Das hier habe ich eigentlich nur ihm zu verdanken. Ich habe zum ersten Mal gewonnen.« Ein ungläubiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Ausgerechnet als Mladen stirbt, hat hier zum ersten Mal überhaupt eine Frau gewonnen. Und das nur, weil er mich gefördert hat. Er hat mir mein Auto besorgt, Ersatzteile, Spezialwerkzeug, hat mir Tipps gegeben …« Sie sah Inka an. »Ich weiß, was Sie denken. Ohne Hintergedanken.«
Inka nickte beeindruckt. Das stand im krassen Gegensatz zu dem gerissenen Berufskriminellen, den Pfeil ihr geschildert hatte.
»Heißt das, Mladen Konicic war so was wie Ihr Mentor?«, fragte Inka.
»Für mich auf jeden Fall. Aber für den Club war er noch mehr. Er hat viele unterstützt. Organisatorisch, aber auch mit Geld.« Sie senkte den Blick. »Viel mehr als dieser Vollmer.«
Inka sah auf ihre Notizen. »Sie meinen Dirk Vollmer, in dessen Auto der Tote lag.«
Anne Stumpf nickte. »Clubvorsitzender, Dauersieger der Challenge und großer Zampano, weil er die entsprechende Kohle hat. Sie wissen schon.« Sie deutete mit dem rechten Daumen vage hinter sich. Inkas Blick fiel auf ein großes Werbeschild für einen Hersteller von Autotuningteilen, der »Vollmer Tuningparts GmbH«. Ihr fiel ein, dass sie auf dem Weg hierher keine drei Straßen weiter an dessen Hauptsitz und Produktionsstätte vorbeigekommen waren. Anne sah vorsichtig in Richtung Eingang und senkte die Stimme.
»Vollmer nutzt den Club nur für seine Zwecke«, sagte sie bitter. »Der will nur verkaufen. Mladen dagegen …« Sie seufzte, als ihr die Endgültigkeit ihrer Worte bewusst wurde. »Mladen hat sich in der kurzen Zeit hier auch um die Menschen gekümmert. Wussten Sie, dass er sogar Problemkids aus dem Pott alte Autos aus seiner Heimat besorgt hat und ihnen hier Schrauberpraktika und so vermittelt hat?«
»Nein. Aber warum holte er alte Autos aus Serbien, wenn hier die Schrottplätze voll davon sind?«
Ein fast melancholisches Lächeln legte sich auf Anne Stumpfs Gesicht. »Habe ich ihn auch gefragt. Und er hat gesagt, dass man aus Schrott auch nur Schrott bauen kann. Klar, die Autos, die er holt, sind dieselben Baujahre und Modelle wie auf dem Schrott. Aber weil die Leute in Serbien ärmer sind, pflegen sie sie, bis es nicht mehr geht. Und wenn sie dann ausgemustert werden, kommen sie auch durch keinen TÜV der Welt mehr. Aber die meisten Teile sind noch original.«
»Und das macht den Unterschied?«, fragte Inka und notierte sich die Informationen.
Anne deutete wehmütig auf den Pokal neben sich.
»Sieht so aus.«
»War denn im Club bekannt, womit Mladen Konicic sein Geld verdiente?«
»Sie meinen den Nachtclub und die Sportwetten? Klar. Erst mal kennt ihn ja sowieso jeder. Und er hat auch nie ein Geheimnis daraus gemacht. Aber soweit ich weiß, ist doch alles sauber.«
Inka ließ das unkommentiert. »Sie sagten eben ›in der kurzen Zeit‹. Was meinen Sie damit?«
»Dass Mladen noch nicht mal ein Jahr hier Mitglied war. Irgendwann letzten Sommer hat er sich ein Rennen angeguckt und ist spontan eingetreten.«
»Und das hat angesichts seines Rufes keine Diskussion ausgelöst?«
»Doch, klar. Vor allem Vollmer war dagegen. Angeblich wegen Mladens Ruf. Aber in Wirklichkeit hatte er wohl Angst um seine Vormachtstellung im Verein. Tja, und als sich dann rausgestellt hat, dass Mladen privat ganz anders ist, waren plötzlich so gut wie alle Mitglieder für seinen Eintritt.«
»Und Vollmer hat das einfach so hingenommen?«
Anne Stumpf zuckte die Schultern. »Ja, irgendwie war er plötzlich zumindest nicht mehr dagegen.«
Inka stellte der jungen Frau noch einige Fragen zum organisatorischen Ablauf der Challenge, dann erhob sie sich.
»Danke, Frau Stumpf. Tut mir leid, dass Ihr Sieg ausgerechnet auf so einen traurigen Tag fällt. Ich melde mich bei Ihnen, falls wir noch Fragen haben. Und wenn Ihnen noch etwas einfällt, egal was …« Sie beendete den Satz mit einer Karte, die sie der jungen Frau hinhielt. Als Anne Stumpf keine Anstalten machte, sie zu nehmen, steckte Inka sie in die Schleife des Siegerkranzes, der im Regen, der Dunkelheit und der Trauer der jungen Frau wirkte, als würde er auch auf einer Beerdigung eine angemessene Figur machen.
Inka öffnete die Tür zum Vereinsheim und stand augenblicklich in einem Dunstschwall aus feuchter erdiger Wärme, vermischt mit dem Geruch von Bier, Schweiß und Zigarettenrauch. Entweder hatte sich das auch in NRW mittlerweile gültige totale Rauchverbot noch nicht bis hierher herumgesprochen, oder es war allen Anwesenden herzlich egal. Inka sah sich um.
An der rechten Seite des großen, gelblich gestrichenen Raumes öffnete sich das Panoramafenster, das Inka bereits vom Tatort aus bemerkt hatte, zur Strecke. In der Mitte des Raumes standen zwei Tischreihen mit Stühlen. Pokale und Trophäen waren ordentlich in einer Regalreihe aufgestellt, immer wieder unterbrochen von Fotos actionreicher Rennszenen im Großformat oder gekonnt inszeniertem Product-Placement der »Vollmer Tuningparts GmbH«: Felgen, Pedale, Sitze, Spoiler. Stimmengewirr erfüllte den Raum. Die Sitzreihen an den Tischen waren gut gefüllt, aber die meisten drängelten sich rund um den Holztresen, der die hintere rechte Ecke des Raumes halbkreisförmig umgab.
Pfeil bemerkte Inka als Erstes und beendete sein Gespräch mit einem untersetzten Mann Ende vierzig in professioneller, weißer Rennkleidung. Der Mann lehnte mit einem Glas Pils lässig am Tresen. Es war zum einen der Respektabstand, den seine Nachbarn zu ihm wahrten, und zum anderen die steife Aura eines betuchten Freizeitsportlers, der Inka sofort an Dirk Vollmer denken ließ. Falls der Mann auch Inka bemerkte, ließ er sich nichts anmerken. Er gönnte Pfeil nur ein angedeutetes Nicken, als der seine Befragung beendete. Inka zeigte auf eine freie Ecke an einem der Tische und versammelte ihr Team um sich.
»Und?«, fragte sie in die Runde.
Kemperdick übernahm das Wort: »Dass die Konicic hier keinen Schrein aufgestellt haben, ist schon alles.« Was Röggen bestätigte.
»Wir haben bis jetzt mit zwei Rennteilnehmern und zwei passiven Mitgliedern gesprochen. Keiner hat was gesehen, aber alle singen Loblieder auf Mladen Konicic. Tenor: Wenn der Mann Feinde hatte, dann sicher nicht hier.«
Inka sah Pfeil an. »Und Sie?«
»Dieselbe Nummer«, sagte er mit einem Blick in sein kleines Schwarzes. »Ich hatte Dirk Vollmer vor der Flinte, Vorsitzender und großer Zampano hier. Der hat sogar noch eine Oktave heller als alle anderen gesungen.«
Inka musterte Pfeil nachdenklich.
»Obwohl Alpha-Männchen dafür bekannt sind, dass sie keinen neben sich dulden?«, fragte sie. Pfeil nickte wissend.
»Wenn dieser Vollmer Konicic auch nur einmal aufrichtig die Hand gegeben hat, lauf ich zu Fuß zurück nach Brilon.«
Inka berichtete ihrem Team, dass sich die Ergebnisse mit denen ihrer Befragung von Anne Stumpf deckten.
»Dann haben wir also ein beliebtes Opfer, das zwar nachweislich, oder besser nicht nachweislich, kriminell war, sich aber ungefähr vor einem Jahr zumindest privat zum Wohltäter und Gutmenschen gemausert hat. Das passt zwar nicht zusammen, aber ich denke, das reicht mal für einen ersten Eindruck. Alibis können wir erst überprüfen, wenn wir den möglichen Tatablauf rekonstruiert haben. Und das geht sicher nicht, bevor wir den Todeszeitpunkt kennen«, sagte Inka mit einem Blick auf die Uhr. »Sehen wir zu, dass wir die Befragungen der restlichen Anwesenden heute Abend noch hinbekommen. Für Abwesende oder eventuelle weitere Zeugen machen wir eine Liste. Mehr kriegen wir bei der Dunkelheit und dem Regen heute eh nicht mehr zusammen.«
Sonntag, 09:25 Uhr
»Kaffee, Körnerbrötchen, Bio-Eier … Sogar Obst?! Nicht schlecht für einen Kerl.«
Inka stand im Bademantel und feuchtem Handtuchturban um den Kopf vor dem gedeckten Frühstückstisch und sah zum Herd, wo Henne in Jeans, T-Shirt und Strubbelfrisur eine Pfanne schwenkte. Dem Geruch nach zu urteilen, wollte er zumindest auf einen letzten Rest Testosteron beim Frühstück nicht verzichten.
»Keine Sorge. Ein bisschen Speck konnte ich mir nicht verkneifen«, grinste er, wandte sich mit der Pfanne zum Tisch und platzierte drei Scheiben braungebrutzelten Bacon auf seinen Teller. Nicht ohne Inka einen Kuss auf die Wange zu drücken.
»Morgen.«
»Heißt das, du verzeihst mir?«, fragte sie mit einem Anflug von schlechtem Gewissen.
»Das heißt, mir ist völlig klar, dass ein Toter in Hesborn wichtiger ist als ein Jubiläum im Hotel«, antwortete er großzügig. »Und dass du mit einem Mord an der Backe vermutlich den Sonntag nicht zu Hause verbringst.«
Er lächelte sie an, und etwas in seinem Blick ließ Inka nicht nur die Nacht in dem Hotel vermissen. Sie lächelte dankbar zurück. Was das Verständnis für berufliche Zwänge anging, hatte es auch sein Gutes, einen Bullen zum Mann zu haben. Sie setzte sich und als Henne ihr Kaffee einschenkte und der warme würzige Duft in ihre Nase stieg, ertappte sie sich sogar dabei, wie sie die Ruhe und die entspannte Atmosphäre genoss. Die Kinder und der Hund waren noch immer bei Omma und Oppa Brilon. Auch wenn Inka Tom, Mia und Böse vermisste, war es eine Wohltat, dass sich ausnahmsweise niemand lautstark um Frühstücksflocken stritt, sich gegenseitig die Schuld für wilde Milchkleckereien zuschob und kein großer, schwarzer Mischling einem zwischen den Beinen herumwuselte, weil ja bei jeder Mahlzeit immer etwas Verwertbares auf dem Boden landete.
»Aber bevor du meinst, du kommst mir so einfach davon«, grinste Henne und versenkte die Pfanne in der Spüle. »Ich sag dir später, wie du es wiedergutmachen kannst.« Er setzte sich zu ihr.
In der letzten Nacht war Inka erst spät wieder nach Hause gekommen. Zu spät, um dort weiterzumachen, wo sie und Henne im Haus Reinecke unterbrochen worden waren. Inka hatte ihn noch aus Hesborn angerufen und dabei erfahren, dass der Hotelfahrer auch ihn zu Hause abgesetzt hatte. Henne hatte sich noch einen Spätfilm angesehen und war dann schlafen gegangen. Mit einer frühen Rückkehr seiner Frau hatte er ohnehin nicht gerechnet. Dafür aber mit ein wenig mehr Informationen.
»Und was machst du heute?«, fragte Henne, während er zwei Scheiben Bacon auf eine Brötchenhälfte mit Ei legte.
Inka gönnte sich einen Schluck Kaffee, bevor sie antwortete. Die Vermengung von Beruflichem und Privatem war ein heikles Thema zwischen ihnen beiden. Nicht zuletzt deshalb, weil das Lebensmodell, das Inka und Henne für sich ausgesucht hatten, in doppelter Hinsicht Sprengpotential barg. Es war schon ungewöhnlich genug, dass Henne sich als Mann um Kinder, Hund und Haushalt kümmerte, während Inka die Brötchen verdiente. Vor allem im Sauerland. Auch wenn hier, wie überall anders, immer mehr Frauen immer mehr zum gemeinsamen Familieneinkommen beitrugen, das althergebrachte Rollenverständnis von arbeitendem Mann und einer Frau, die sich um die Familie kümmerte, war noch immer der Klassiker.
Vielleicht nicht ganz zu Unrecht, wie Inka immer dann dachte, wenn sie mal wieder Kleinigkeiten nervten. Wie der von Henne gnadenlos auf Bowlinghemd plattgebügelte Stehkragen einer frisch angezogenen Bluse. Es waren immer nur Kleinigkeiten, die störten, aber genau die zeigten, welche Tücken die ach so wunderbare Rollentauschtheorie in der Praxis barg. Hinzu kam, dass Inka ihre eigene Mutterrolle nie ganz ablegen konnte. Privat neigte sie dazu, Henne mehr gutgemeinte Ratschläge zu geben, als sein Stolz verkraften konnte. Das Resultat waren dann eine gewisse Beratungsresistenz und plattgebügelte Blusenkragen. Beides hatte das Potential, Inka dann und wann in den Wahnsinn zu treiben.
Beruflich verhielt es sich genau andersherum. Inka versah ihren Dienst nicht nur in genau dem Beruf, den auch Henne jahrelang ausgeübt hatte, sondern obendrein auch noch als Zugezogene in seinem ehemaligen Revier. Was ebenso viele gutgemeinte Ratschläge von Henne an Inka nach sich zog. Gekontert mit derselben Form verletzten Stolzes. Nur diesmal auf Inkas Seite.
Um des lieben Friedens willen hatten die beiden sich auf ein klassisches »Mein Job, dein Job-Modell« geeinigt und sich gegenseitige Einmischungen weitestgehend verboten. Aber im Zuge von Inkas erstem Mordfall hatten sie bemerkt, dass gegenseitige Ratschläge in homöopathischen Dosen sich durchaus als hilfreich erwiesen. Die Frage war nur, wie man die richtige Dosierung fand. Inka beschloss, es vorsichtig anzugehen.
»Heute habe ich nur Routinekram. Ich warte auf Porbecks Obduktionsbericht und nehme mir mal in Ruhe ein paar alte Akten vor.«
Sie sah Henne beiläufig an. War da beim Erwähnen der Akten ein kurzes Zucken zu sehen gewesen?
»Und du?«, fragte sie. Um das Thema nicht unnötig zu vertiefen.
»Ich habe meinen Vater angerufen«, erklärte Henne zwischen zwei Bissen Brötchen. »Er bringt gleich die Kinder und den Hund und fährt uns nach Reinecke, damit ich das Auto abholen kann. Und deinen geliehenen Jogginganzug und die Gummistiefel zurückbringe.«
»Stimmt, die habe ich total vergessen. Haben die eigentlich noch was gesagt? Ich meine wegen unserer …«, sie suchte nach dem passenden Wort, »überstürzten Abreise?«
»Haben sie«, antwortete Henne kryptisch. Anstelle einer Antwort drückte er zwei Tasten auf seinem Handy und schob ihr grinsend ein pdf-Dokument in seinem Display hinüber.
»Mit einem Gutschein für eine Übernachtung. Weil wir ja gar nicht zum Schlafen gekommen sind.«
Inka lächelte breit.
»Was würde ich bloß ohne dich machen?«
»Weiß ich, ehrlich gesagt, auch nicht.«
Henne lächelte zurück und versteckte sich für die nächste zögerliche Frage ein wenig hinter seinem Brötchen.
»Weiß man schon, wer der Tote ist?«
»Ein gewisser Mladen Konicic, sagt Pfeil.«
Inka sah Henne an, dass er längst wusste, wer der Tote war. Gegen die Buschtrommeln des Sauerlandes war jede Highspeed-Telefonleitung ein lahmer Telegraphendraht.
»Kanntest du ihn?«
Henne nahm sich einen Moment Zeit für seine Antwort.
»Wer kannte den nicht?«, fragte er und Inka stellte den Zähler für diesen Satz auf drei.
Sonntag, 10:12 Uhr
Die moderne, dreifachverglaste Haupteingangstür des Briloner Polizeireviers fiel krachend ins Schloss und erzeugte ein hohles Echo auf den sonntäglich verwaisten Fluren. Das Klacken von Inkas Schritten verhallte, wo sonst Stimmengewirr, Türenschlagen und das allgemeine Summen der alltäglichen Hektik für den typischen Soundtrack des Polizeialltags sorgte.
So unangenehm Inka die Arbeit an Sonntagen auch war, die Akribikerin in ihr genoss die Klarheit der strengen, fast klösterlichen Ruhe. Wenigstens konnte man so effektiv arbeiten. Doch offenbar war Inka nicht die Einzige, die so dachte. Sie sah, dass die Tür zum Büro ihres Vorgesetzten Polizeirat Klaus Halverscheid nur angelehnt war. Inka hielt davor inne. Als sie geschäftiges Papiergeraschel hörte, klopfte sie.
»Herein!«, kam es von drinnen.
Inka öffnete die Tür und trat ein. Halverscheid saß, wie üblich ein wenig verloren, in seinem futuristisch wirkenden, rückenschonenden Stuhl. Inka hatte ihren Chef vor etwas mehr als einem Jahr kennengelernt. Von Anfang an hatte der seriöse Mann mit dem grauen Haar, dem altersgerechten Bauchansatz und den gepflegten Anzügen auf sie wie ein lebender Anachronismus gewirkt. Auch wenn er kompetent, verlässlich und ein allgemein guter Chef war, seine zunehmende Überforderung durch den modernen Polizeialltag schien er mit jedem Tag weniger verbergen zu können. Mit Mitte sechzig war er ein Dinosaurier, den es ins 21. Jahrhundert verschlagen hatte.
Als Inka eintrat, sah Halverscheid von seinen Papieren auf. Überrascht wirkte er nicht.
»Frau Luhmann.« Er lächelte. »Hätte mich auch gewundert, wenn ich Sie heute nicht getroffen hätte. Hesborn, nehme ich an.«
Inka nickte. »Ich wollte mir die Akten über das Opfer Mladen Konicic einmal ansehen. Und ich habe gehofft, dass Porbeck vielleicht schon erste Obduktionsergebnisse hat. Und Sie? Auch schon dran?«
Halverscheid sah von Inka auf seine Unterlagen und schien sich seine Antwort überlegen zu müssen.
»Nicht nur«, sagte er schließlich. »Ich habe gestern die offizielle Nachricht erhalten, dass gegen mich intern ermittelt wird.«
Inka erinnerte sich. Mitten in den Ermittlungen an ihrem ersten Fall hatte Halverscheid ihr gestanden, warum Inkas Kollege Hauptkommissar Pfeil wohl nie wirklich gut auf sie zu sprechen sein würde. Als Halverscheid etliche Monate zuvor selbst erst einige Tage frisch im Amt war, war er alkoholisiert in eine allgemeine Verkehrskontrolle geraten. Er hatte noch keine Einsicht in die Dienstpläne nehmen können und war ausgerechnet seiner eigenen neuen Dienststelle ins Netz gegangen. Der zuständige Beamte war Georg Pfeil gewesen. Allerdings hatte der Halverscheid davonkommen lassen. In der stillschweigenden Erwartung, dafür den neuen Posten der Dezernatsleitung Abteilung Kapitalverbrechen zu bekommen. Als Halverscheid über dessen Besetzung jedoch nicht nach Abhängigkeiten, sondern nach Kompetenz entschieden und den Posten an Inka vergeben hatte, hatte Halverscheid nicht nur Pfeil persönlich gegen sich aufgebracht, sondern sich auch intern angreifbar gemacht. Doch er hatte Inka etwas versprochen.
»Sie haben tatsächlich Wort gehalten und sich selbst angezeigt?«, fragte Inka.
Halverscheid lächelte schwach. »Direkt nach unseren Mordermittlungen damals.«
Inka nickte beeindruckt. »Auch wenn nie eine Blutprobe entnommen wurde und die Sache nach drei Monaten verjährt gewesen wäre?«, fragte sie. Halverscheid sah sie mit mildem Lächeln an.