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"Bora Cosic ist der große alte, listig-heitere Mann der serbischen Avantgarde, stark in der Polemik und noch besser in der Erinnerung." Marko Martin, Neue Zürcher Zeitung"Auch Berlin ist ein Zustand." Unter diesem Motto schreibt Bora Cosic seine Erinnerungen an "Eine kurze Kindheit in Agram" fort, die in seiner Exilheimat Berlin lange Schatten wirft. In einer Reihe kurzer, an Walter Benjamin geschulter Reflexionen umkreist Cosic Alltagsphänomene der Großstadt und ihrer Architektur als vieldeutige Zeichen der europäischen bürgerlichen Kultur und des Schreibens. Dabei spürt er in Details wie dem Grundriss seiner eigenen Altbauwohnung, einer Gebäudefassade, einer Tür oder eines Aufzugs Metaphern für die moderne Psyche und Gesellschaft auf. So setzt er Berlin als Inbegriff des 20. Jahrhunderts in einer Art philosophischer Ausgrabung neu zusammen. Skeptisch gegenüber totalitären Geltungsansprüchen, betont er das Subjektive und Tentative seiner eigenen Betrachtungsweise, die die Dinge nur in Gestalt ihrer langen Schatten erfassen kann. Bora Cosic folgt in diesem Buch nicht nur den Schatten auf gewöhnlichen Gebäudemauern. Er erzählt in seinem unverwechselbaren ironischen und lakonischen Stil auch von der Mauer durch Berlin, dem geteilten Deutschland und von deren Ursachen in der europäischen Geistesgeschichte."
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Seitenzahl: 88
Veröffentlichungsjahr: 2014
Inhalt
[Cover]
Titel
Zitat
Ab ovo
Auswahl
Stempel
Wächter
Landvermesser
Teiresias’ Fenster
Schwankender Weltenplan
Vermessen
Zäsur
Ungerechtigkeit der Perspektive
Durchgang
Vorwort
Philosophie des Korridors
Brüder / Schwestern
Winkel
Kenner der Anspielungen
Kleine Geometrie der bürgerlichen Klasse
Euklid, Parkettleger
Verkehrte Geschichte
Geteiltes Zimmer
Himmel
Ansichtssache
Bernstein
Fotograf
Untermieter
Anthologie
Alkoven
Gezeichnetes Nichts
Laden
Mosschuchin
Raubtierkäfig
Punische Kriege
Nachträglich zusammengestellt
Astronomie
Babylonische Bibliothek
Poststation
Schachtel
Trias, Jura, Kreide
Der Baum im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
Ordentliche Tiere
Begräbnis
Mandat
Kiosk
Doppelhund
Kritik der Plattform
Gott des Nichts
Tagebuch der Riesen
Wertpapiere
Straße im Norden
Verfallsvorbild
Medusa
Vom Zubehör des zwanzigsten Jahrhunderts
Chodorowsky
Nachwort
Zitatnachweis
Autorenporträt
Übersetzerporträt
Über das Buch
Impressum
Berlin kam mir wie eine Stadt von Buben vor, denen man am Tage zuvor Seitengewehre und Helme, Stöcke und Pfeifen, richtige Fahrräder und Anzüge geschenkt hatte. Ich traf sie bei ihrem ersten Ausgang; sie hatten sich noch nicht an die Veränderung gewöhnt, und jeder brüstete sich mit dem, was er gestern bekommen hatte.
BORISPASTERNAK
Auch Berlin ist ein Zustand.
IRENAVRKLJAN
Lange Schatten in Berlin
Ab ovo
Irgendwo muss ein Handbuch für den Aufenthalt im zwanzigsten Jahrhundert existiert haben, nur bin ich nie drangekommen. So lebte ich ein gutes Stück des Jahrhunderts ohne jede Anleitung, und das sieht man mir und meinem Leben deutlich an. Was besagter Leitfaden enthielt – jeder Bürger dieser Zeit hätte ihn bitter nötig gehabt –, muss ich mir selbst ausdenken. Bestimmt beschrieb darin einer, der klüger war als ich, Einrichtungen wie den Bürgersteig oder die Eingänge zu städtischen Gebäuden einschließlich der Treppenhäuser bis in die letzte Einzelheit. Und erläuterte den Sinn eines Aufzugs inklusive sämtlicher Details der Anlage. Denn manche sind mit einer kleinen, gepolsterten Bank ausgestattet, andere nicht. In den meisten hängt ein Spiegel, oft geschliffen und mit Zeichnungen verziert, ausgeführt in einer besonderen Technik, die Teile des Glases erblinden lässt. So kann, wer Aufzug fährt, erst sein Spiegelbild und dann das Bild einer jungen Frau betrachten, das solcherart auf dem Glas aufgebracht wurde. Bestimmt hat schon jemand über die Lage der Rastplätze nachgedacht, die sich zwischen zwei Stockwerken befinden, wo es keine Türen gibt, höchstens ein Fenster, und das ist oft genug blind, so dass man nicht sehen kann, was im Hof geschieht. Damit die, die zu Fuß gehen, ganz unbeeinflusst von draußen Atem schöpfen können.
Dazu gesellt sich eine Fantasie über den Teppich, der, gehalten von Messingstäben, die Stufen hinabgleitet. Wie Endlospapier, eingespannt in der Rotationspresse oder einer Schreibmaschine. Vielleicht ist es ein ehemals fliegender und nun gelandeter Teppich, vielleicht eine Replik der Rolltreppen in Kaufhäusern und U-Bahnhöfen. Vielleicht sind Treppen ganz allgemein Varianten von etwas. Denn selbst vollkommen neue Phänomene wie die Vorrichtungen, die uns in den Untergrund transportieren, könnten das endlich zum Vorschein gekommene Original und alle Treppen der Vergangenheit lediglich Vorläufer der heutigen Version sein. Das Handbuch dürfte zudem etwas über Sinn und Zweck der Geländer sowie der Schlüssel enthalten haben, mit denen wir unsere Wohnungstüren öffnen, natürlich einschließlich der Konnotationen, welche die Psychoanalyse dieser vorzeitlichen Erfindung zusprach. Diese Wissenschaft dürfte sich auch mit dem kleinen Guckloch in der Tür beschäftigt haben, ein Glasauge, das auf der Innenseite von einem Lid verschlossen ist. Unsere Großmütter nannten das Ding Spion. Er erlaubt einen Blick auf Besucher, die durch das Glas völlig deformiert erscheinen. Würde man sich auf ihr Bild im Spion stützen, man ließe sie niemals ein, denn sie wirken wie Monster mit Minikopf und Riesenleib. Sollten sie ein hübsches Päckchen in der Hand halten, schaut es so aus, als wollten sie uns mit einem riesigen Ziegelstein den Schädel einschlagen.
All diese Dinge hätten in dem Buch, das im zwanzigsten, dem bürgerlichen, städtischen Jahrhundert unentbehrlich gewesen wäre, notwendig vermerkt sein müssen. Nun, da dieses Jahrhundert und unser darin gelebtes Leben vergeht, müssen wir uns selbst zusammenreimen, wie wir in ihm hätten leben sollen und im Großen und Ganzen nicht gelebt haben. Wir haben es nur bis vor die Tür geschafft, die wir für unsere Wohnungstür hielten, aber die Wohnung, unsere Wohnung, haben wir nie richtig betreten. Deswegen ist mir das Treppenhaus so wichtig, eine Art vorbereitender Raum, Vorrede zum Text, womöglich ohne Inhalt, der drinnen eingeschlossen sein mag. Denn unser Leben im 20. Jahrhundert hatte keinen Inhalt, es war ein einziger Wirrwarr, so unordentlich wie russische Romane. In denen, wie in unserem Leben, alles durcheinandergeraten ist, Stühle, Uhren, Wetter, Kranke und kleine Kinder, die in der Ecke lernen. Ein Mädchen spielt Klavier, es gibt Streit, ein festliches Mittagessen, bei dem der Oma plötzlich schlecht wird. Lauter solche Sachen, die ich nie ohne Rest in ein System bringen kann. Deswegen konnte ich das Handbuch nicht finden, es wäre ziemlich schwer zu schreiben gewesen. Jetzt, im Rückblick, lässt sich ein Leitfaden über die Art, wie wir hätten leben sollen, viel leichter zusammenstellen. Und lustiger obendrein, weil man Dinge, die sich zugetragen haben, mit solchen kombinieren kann, die sich hätten zutragen sollen. Phänomene im Projekt sind sowieso immer interessanter als Phänomene, die aus Projekten hervorgehen.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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