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Romantisch, sexy, dramatisch: Ein Male/Male-Roman zum Eintauchen und Mitfiebern! Nachdem sein Vater einen landesweiten Skandal verursachte, der ihn ins Gefängnis und seine Familie in die Klatschblätter brachte, will Tom Worthington eigentlich nur eines: sein Studium schnell und unkompliziert zu Ende bringen. Dass sein neuer Mitbewohner vom ersten Tag an versucht, ihn aus dem gemeinsamen Zimmer zu ekeln, ist da sein kleinstes Problem. Für den schwulen Reese Anders ist die Vorstellung, mit einem Mann wie Tom - attraktiv, selbstbewusst, eindeutig hetero - zusammenleben zu müssen, mehr als nur unangenehm. Der Student leidet noch immer schwer unter den Erinnerungen an seine frühere WG und einen Vorfall, der so schrecklich war, dass er sein Leben von einen auf den anderen Tag veränderte. Doch je näher er Tom kennenlernt, desto mehr gelingt es Reese, sich mit der Situation - und mit Tom - anzufreunden. Doch was, wenn zwischen ihnen mehr ist als nur Freundschaft? (ca. 450 Seiten)
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Seitenzahl: 542
Titel
Zu diesem Buch
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Epilog
Die Autorin
Impressum
AMY JO COUSINS
Roman
Ins Deutsche übertragenvon Michaela Link
Zu diesem Buch
Nachdem sein Vater einen landesweiten Skandal verursachte, der ihn ins Gefängnis und seine Familie in die Klatschblätter brachte, will Tom Worthington eigentlich nur eines: sein Studium schnell und unkompliziert zu Ende bringen. Dass sein neuer Mitbewohner vom ersten Tag an versucht, ihn aus dem gemeinsamen Zimmer zu ekeln, ist da sein kleinstes Problem. Für den schwulen Reese Anders ist die Vorstellung, mit einem Mann wie Tom – attraktiv, selbstbewusst, eindeutig hetero – zusammenleben zu müssen, mehr als nur unangenehm. Der Student leidet noch immer schwer unter den Erinnerungen an seine frühere WG und einen Vorfall, der so schrecklich war, dass er sein Leben von einen auf den anderen Tag veränderte. Doch je näher er Tom kennenlernt, desto mehr gelingt es Reese, sich mit der Situation – und mit Tom – anzufreunden. Doch was, wenn zwischen ihnen mehr ist als nur Freundschaft?
Für Tamsen.
Danke, dass du meine Jungs aus den berüchtigten Gebieten Bostons ferngehalten hast. Eines Tages werden wir schrullige alte Damen mit aufmüpfigen Enkeln sein, die wegen unserer anrüchigen Bücher die Augen verdrehen werden. Das wird super!
Sein Bett fehlte.
Tom war total erschöpft. Ein dumpfer Schmerz zog sich vom Nacken bis zum Hinterkopf hinauf und strahlte bis zur Stirn aus. Seine Augen juckten und waren trocken, er fühlte sich am ganzen Körper schmuddelig, und wenn er nicht bald seine Reisetasche abstellen konnte, würde ihm noch der Arm abfallen.
Er war achtundvierzig Stunden ohne Pause gefahren, und das Einzige, was ihn während der letzten zwölf Stunden aufrecht gehalten hatte, war die Aussicht auf eine heiße Dusche und ein Bett gewesen, ein richtiges göttliches Bett am Ende des Weges.
Aber sein Bett war nicht da.
Er öffnete die Tür des Wohnheimzimmers und checkte noch einmal die Zahl auf dem Schild über dem Anschlagbrett, das mit Zitaten, Comics und Fotos bedeckt war, denen er vor Müdigkeit keine Beachtung schenkte. Das Verlangen nach Schlaf machte sich mit Macht bemerkbar. Es war nicht undenkbar, dass er sich die Zimmernummer einbildete.
23 B.
Nein. Die hatte in dem Brief des Wohnheims gestanden, den er seit Juli in seinem Portemonnaie mit sich herumgetragen hatte. Die Worte: »Sie sind für eine Unterbringung außerhalb des Campus im Frances Perkins House für zurückkehrende Studenten vorgemerkt worden«,waren während der letzten zwei Monate ein Mantra für ihn gewesen. Wobei der Ausdruck »zurückkehrend« eine höfliche Formulierung für »zu alt, um die Kinder in den Wohnheimen zu ertragen« war. Den Sommer über hatte er in Boston wie ein Herumtreiber gelebt und gewusst, dass er vor dem ersten September noch zehn Riesen auftreiben musste.
Er war verdammt nah dran gewesen, sich diese Zimmernummer auf den Hintern tätowieren zu lassen, so glücklich war er darüber, das Zimmer ergattert zu haben. Es hatte sich nämlich herausgestellt, dass es einen tatsächlich über Nacht in einen ganz neuen Menschen verwandeln konnte, wenn man auf einmal alles verlor.
Er rief sich zur Ordnung, bevor er erneut begann, sich zwanghaft mit allem zu beschäftigen, was ihm neu war und mit dem er fortan zurechtkommen musste. Er trat drei Schritte in den Raum hinein.
Mist! Er ließ die Reisetasche fallen.
Dies war sein Zuhause für die nächsten Monate, mit Bett oder ohne. Verdammt, warum sollte er sich heute Abend darüber den Kopf zerbrechen? In der rechten Hälfte des Raums wohnte offensichtlich ein anderer Student. An der Wand stand längsseits ein säuberlich gemachtes Bett, außerdem ein hölzerner Schreibtisch und in der Ecke am Fenster ein Bücherregal. Doch die linke Hälfte des Raums war in so etwas wie ein Wohnzimmer umgestaltet worden, der Schreibtisch begraben unter einem Turm von Unterhaltungselektronik, eine Kombination aus Fernseher, DVD-Player und Stereoanlage; und sein Bett – da war sein Bett, verdammt noch mal! – war mit Haufen von Kissen in eine Couch verwandelt worden.
Im Ernst. Er wusste nicht einmal, dass Kissen in dieser Form hergestellt wurden, lange schmale Zylinder, die sich über die ganze Länge des Bettes an der Wand aufreihten, mit einer weiteren irren Ansammlung von Deko-Kissen, die das gesamte Bett überhäuften. Das Ganze sah so bequem aus, dass er binnen Sekunden darauf in komatösen Schlaf hätte sinken können. Aber nach dem beschissen wohlsortierten Farbschema zu urteilen, war sein neuer Zimmerspezi vielleicht nicht der Typ, der einen ungewaschenen, stinkenden Kerl zu schätzen wusste, der auf seinen Designerkissen ins Koma fiel.
Er dachte an den einzigen Bettbezug tief in seiner Reisetasche und fragte sich, ob er sich noch lange genug wach halten konnte, um ihn herauszukramen und sein Bett frisch zu beziehen.
Tom bückte sich und zog den Reißverschluss der Tasche auf. Es hatte keinen Sinn zu lamentieren. Er sollte es einfach hinter sich bringen. Vielleicht sollte er eine Notiz an der Tür hinterlassen, damit sein Mitbewohner wusste, dass er ihn nicht wecken sollte. Vorausgesetzt, er hatte es nicht mit einem Arschloch zu tun, das das als eine Art Herausforderung ansehen würde.
Wenn irgendjemand ihn vor dem Morgengrauen weckte, würde er ihm in die Hand beißen.
Wo war jetzt verdammt noch mal dieses Bettzeug?
Er hörte, wie hinter ihm die Tür geöffnet wurde, aber seine Reaktionsgeschwindigkeit war durch den Schlafmangel so verzögert, dass er immer noch darüber rätselte, was das für ein Geräusch war, als hinter ihm eine helle Stimme ertönte.
»Nicht dass ich die Aussicht nicht zu schätzen wüsste, Babe, aber was zum Teufel …?«
Tom stand auf, drehte sich so schnell um, dass ihm schwindlig wurde, und streckte eine Hand aus, um sich festzuhalten. Der Typ, der direkt hinter ihn getreten war, prallte zurück, hielt abwehrend die Hände hoch und riss den Kopf zurück. Beinahe so, als dächte er, Tom würde sich auf ihn stürzen.
Es war so offensichtlich, dass der Mann nicht angefasst werden wollte, dass Tom, der im Begriff gewesen war, sich am Arm seines Mitbewohners festzuhalten, die Hand an seine eigene Schulter zurückzog und dann um sein Gleichgewicht ringen musste, um nicht über seine eigenen Füße zu stolpern.
»Tut mir leid«, murmelte er, obwohl er nicht recht wusste, wofür er sich entschuldigte. Wahrscheinlich dafür, dass er hier war – nach dem Ausdruck auf dem Gesicht seines Gegenübers zu schließen, kein Anlass für ein überschwängliches Freudenfest.
Sein Mitbewohner verzog das Gesicht und wedelte mit der Hand, offenbar, als wollte er sagen: Schon gut.
Er sah Tom einen Moment lang an und sprach kein Wort. Schließlich zog er eine Augenbraue hoch und schaute vielsagend von Tom zu der halb geöffneten Reisetasche auf dem Boden, aus der zerknitterte Klamotten quollen wie die Füllung eines alten Sofas mit einem Riss in der Sitzfläche.
Tom folgte seinem Blick. Er ertappte sich dabei, wie sein Kopf auf die Brust sank und er beinahe eingenickt wäre. Er stellte sich wieder richtig hin.
Worüber hatten sie eben gesprochen?
»Alter.« Der Mann wedelte mit der Hand vor Toms Gesicht herum.
Wach auf, Mann!
»Was zum Teufel machst du in meinem Zimmer?«
Oh, klar. Zeit, sich vorzustellen.
»Ich bin dein Mitbewohner.« Er konnte nicht erkennen, ob auf dem Gesicht seines Gegenübers Schreck oder Ärger stand. Fuck! Wie hieß er noch gleich? Sein Name stand zusammen mit weiteren Informationen auf einem Blatt, unter anderem einer Entschuldigung, dass sie kein Einzelzimmer für ihn hätten wie für die meisten Studenten im Perkins House, aber alles, woran Tom sich erinnern konnte, war die 23 B. Verdammt! Damit konnte er nicht gerade Eindruck schinden. »Tut mir leid. – Tom.« Er streckte die Hand aus.
»Zum Teufel, nein!« Der Mann hatte den Anstand, ein wenig beschämt zu wirken, als Tom angesichts seines vehementen Leugnens einen Schritt zurücktrat. Aber er gab nicht klein bei. »Ich habe keinen Mitbewohner. Die Dekanin hat mir ein Einzelzimmer versprochen. Ich bin seit drei Tagen hier. Niemand hat mir irgendetwas über einen Mitbewohner erzählt.«
Er hätte Tom leidgetan, wäre er nicht so verflucht erschöpft gewesen. Zum Teufel mit den Kissen! Wenn es sein musste, würde er sich einfach auf den Boden legen und sich in ein Sweatshirt wickeln. »Entschuldigung, Mann. In dem Brief steht 23 B.« Er hielt das zerknitterte Schreiben hoch, das er zwei Monate lang in seinem Portemonnaie aufbewahrt hatte. Er hätte es beinahe wieder weggerissen, als der Typ danach griff. Er musste sich ins Gedächtnis rufen, dass er tatsächlich hier war, wieder auf dem College nach fünfzehnmonatiger Abwesenheit, und er brauchte diesen Brief nicht mehr, um es sich selbst zu beweisen. Er ließ ihn los.
»Scheiße! Scheiße!« Der Junge funkelte den Brief an und begann, zwischen Tom und der Tür auf- und abzugehen, als dächte er daran, in den Flur hinauszustürzen und um Hilfe zu rufen, damit jemand den Eindringling aus seinem Zimmer entfernte. »Aber es ist mir versprochen worden.«
Als er unbedacht kurz aufschaute, entdeckte Tom erschrocken, dass ihm Tränen in den Augen standen. Sie drohten sorgfältig aufgetragenen schwarzen Eyeliner zu verschmieren, der die von einem dichten Wimpernkranz umgebenen Augen einrahmte. Das erschien Tom so ungewöhnlich, dass er beschloss, sich seinen neuen Mitbewohner einmal genauer anzuschauen.
Der Bursche sah in etwa so aus wie ein magerer britischer Rockstar: Enge schwarze Jeans saßen tief auf seinen Hüften und wurden von einem nietenbesetzten Metallgürtel hochgehalten. Er trug ein hautenges T-Shirt mit einem Bandnamen darauf, den man bestimmt kennen musste. Dazu leuchtend grüne Chucks und ein breites Armband, das zu dem Gürtel passte. Er hatte glattes pechschwarzes Haar, das ihm übers Gesicht fiel und ein Auge fast verdeckte, was seinen zornigen Blicken einen seltsamen Pirateneffekt gab. Er blickte Tom an, als wäre er ein Haufen Scheiße, der aus seinem Stall befördert werden müsste.
Ärger stieg in ihm hoch. Fuck! Wenn er mit diesem Typen in Streit geriet, würde ihn das aufregen, und es würde viel länger dauern, bis er sich endlich hinlegen und einschlafen konnte. Er war zu müde, um eine Debatte durchzustehen. Schließlich musste er sich endlich irgendwo hinhauen, wo auch immer, und es war kein Witz gewesen, dass er sich auch auf den Boden legen würde. Ihm fielen lauter lustige Bemerkungen über zerstrittene Zimmergenossen ein, die mit Klebeband eine Linie durch die Mitte des Raumes gezogen hatten und einander untersagten, diese Linie zu überqueren.
Der Mann machte einen Schritt zurück und warf ihm den Brief förmlich ins Gesicht. »Hör mal, ich weiß nicht, warum sie dir diesen, diesen Wisch geschickt haben, aber die Dekanin hat mir ein Einzelzimmer versprochen. Und ich bin mir sicher, dass das Ganze ein Versehen ist.« Er verschränkte die Arme über seiner mageren Brust und nickte.
»Klasse, Alter! Ich freue mich riesig für dich. Obwohl ich verdammt noch mal nicht den blassesten Schimmer habe, wovon du redest.« Regel Nummer eins: Leute, die große Töne spuckten, wenn er todmüde war, gehörten erschossen. »Aber es ist Sonntagabend, neun Uhr. Niemand wird diese Geschichte vor morgen früh aufklären. Und weil ich diesen beschissenen Wisch habe, auf dem steht, dass ich hier schlafen soll, kann ich vielleicht einfach …«, ein gewaltiges Gähnen überkam ihn und ließ ihn mitten im Satz innehalten, »… tut mir leid, hier schlafen.«
Während seiner kleinen Ansprache sah er Zweifel in den Augen des anderen Mannes aufschimmern. Wirklich, es gab nichts, was sie heute Abend deswegen unternehmen konnten. Vielleicht würde er morgen herausfinden, dass das College doch ein Einzelzimmer für ihn aufgetrieben hatte. Wenn ja, waren das gute Nachrichten für alle Beteiligten.
Nach den ganzen Monaten, in denen er keinen Fuß vor die Tür hatte setzen können, ohne von Menschen umlagert zu werden, freute Tom sich darauf, endlich für sich und unbeobachtet zu sein. Ein schönes anonymes Einzelzimmer, ganz gleich, wie klein und beschissen es war, in einem Wohnheim außerhalb des Campus, wo niemand ihn kannte, würde himmlisch sein.
Aber das hatte Zeit bis morgen. Heute Abend ließ sich nichts machen. Und er wollte schlafen, verdammt noch mal! »Bitte. Wenn ich jetzt nicht endlich schlafen kann, falle ich tot um.« Betteln war durchaus eine Option.
Vielleicht würde es sich zu seinen Gunsten auswirken, dass er zu müde war, um zu diskutieren. Sein vielleicht vorübergehender Mitbewohner seufzte und pustete sich die Ponyfransen aus den Augen. Der Mann betrachtete das Bett voller Bedauern.
»Ich habe Bettzeug mit«, meinte Tom. »Ich werde deine Sachen nicht schmutzig machen. Sag mir bloß, wohin ich deine Kissen und die anderen Dinge für heute Nacht räumen kann. Morgen sehen wir weiter.«
Er wusste nicht, warum er diesem Mann nicht sagte, er sollte sich verpissen und ihn in Ruhe lassen, und sich dann einfach auf das Bett schmiss, das von Rechts wegen ihm gehörte. Vielleicht wegen dieser verdächtig glänzenden Augen, die in dem Moment klar geworden waren, in dem der Typ gesehen hatte, dass Toms Brief echt war, so zerknittert und speckig vom vielen Lesen er auch sein mochte. Aus welchem Grund auch immer, Tom hatte keine Lust, Streit zu suchen oder sich mit Gewalt sein Recht zu erzwingen, um diesen Mann dazu zu bringen, klein beizugeben.
Er wollte sich nur für die Nacht hinhauen. Eine Nacht unter einem Dach, das ihm zustand, und sei es auch nur vorübergehend.
Am Ende war der Typ zu nett, um ein großes Tamtam wegen der unangenehmen Situation zu machen. Tom konnte sehen, wie er den Widerstand aufgab, zumindest für heute Abend. Seine Schultern, die vorher ganz angespannt gewesen waren, sackten herunter, und seine Hände entspannten sich und hingen lose und offen an seinen Seiten herunter.
»Ah, fuck!« Seine Stimme war tiefer, als er aufhörte, zornig zu keifen. Geschmeidiger. »Nur, lass mich das machen. Okay? Geh und hol dir einen Imbiss oder so. In fünfzehn Minuten ist alles fertig.« Er betrachtete noch einmal das Bett-Sofa. »Oder sagen wir: zwanzig.«
Schließlich erzählte er Tom noch von einer Bar auf der anderen Straßenseite, wo anständige Mahlzeiten und Bier in sauberen Gläsern serviert wurden. »Nicht dass ich dort gewesen wäre. Ich muss noch zehn Monate warten«, sagte er, hielt die Tür auf und schob Tom stumm hinaus. Er presste sich gegen das Türblatt, als Tom sich vorbeizwängte.
Das war eigenartig, denn das Perkins House war angeblich für ältere zurückkehrende Studenten gedacht, die sich nicht mit dem Chaos und dem Lärm der Wohnheime abgeben wollten. Oder für skandalbelastete Studenten wie Tom, die das College nur allzu gern auf Abstand hielt. Die Tür war fast geschlossen, als Tom sich noch einmal kurz umdrehte. »Hey, du!«
Der Türspalt wurde breiter, und der Mann schaute heraus. Der größte Teil seines Körpers war hinter der Tür versteckt.
»Wie heißt du eigentlich?«
»Reese. Reese Anders.« Er streckte nicht die Hand aus. Schloss nur die Tür.
Tom ließ seine Reisetasche bei einem Typen zurück, dessen Namen er gerade mal drei Sekunden kannte, und ging über die Straße.
In der Bar setzte er sich auf das rissige rote Vinyl eines runden Hockers und stöhnte beim Anblick der Zapfhähne für die vielen Biersorten aus örtlichen Brauereien. Der Barkeeper war alt und ums Kinn herum ergraut, und er kaute auf einem zerbissenen Rührstäbchen herum. Tom bestellte ein Pint von was auch immer am Zapfhahn am billigsten war und errötete ein wenig. Er war sich aber darüber im Klaren, dass der Rest des Geldes in seinem Portemonnaie, wie viel es auch sein mochte, bis zum nächsten Wochenende reichen musste. Denn dann wollte er für ein paar Nachtschichten mit dem Taxi in die Stadt fahren.
Als der Barkeeper sich seinen Ausweis zeigen ließ, wusste Tom nicht, ob er ihn vorführen wollte oder wirklich dachte, er sei noch nicht volljährig. In diesem Winter wurde er zweiundzwanzig, aber er fühlte sich ungefähr wie hundertdrei. Wenn es ihm gelänge, an den Wochenenden genug Geld zu verdienen, sei es mit legitimen Taxifahrten oder ohne Taxameter, konnte er sich von Montag bis Freitag auf seine Kurse konzentrieren. Aber sein Budget würde ihm in diesem Jahr nicht viel mehr erlauben als Instantnudeln und billige Limonade in Zweiliterflaschen, daher konnte er das miese Gefühl, knauserig zu wirken, gleich jetzt überwinden.
Er hatte außerdem seit dem Morgen nichts gegessen. Als der Barkeeper ein Pint von etwas, das so bleich war wie Stroh, auf den Untersetzer knallte – der offensichtlich zum dritten oder vierten Mal benutzt wurde –, fügte Tom seiner Rechnung eine Schachtel Pommes mit Käsesauce hinzu.
Im Laufe des letzten Jahres hatte er sich daran gewöhnt, solchen Müll zu essen. Erstaunlich, wie teuer gute Lebensmittel waren. Aber Junkfood war einfach überall günstig.
Er nickte über seinen Pommes ein, obwohl noch immer ein halbes Pint vor ihm stand.
»Hey, Mann!« Einen Augenblick dachte er, er würde sich selbst zuhören, wie er mit Reese sprach. Der Bursche gab ihm das Gefühl, uralt zu sein. Wahrscheinlich galt das Gleiche für den Barkeeper, der ihn beobachtete. »Gehen Sie nach Hause, bevor Sie mit dem Gesicht voran in das fettige Zeug fallen, Sie Gänseblümchen.«
Tom stand auf, kippte den Rest seines Bieres in einem einzigen langen Zug herunter und schob das Glas und zwei Dollar Trinkgeld über den Tresen.
»Danke, Mann.«
Als er wieder im Zimmer war, war Reese nirgendwo zu sehen. Er war wahrscheinlich losgezogen, um einige Freunde aufzutreiben und über das Arschloch zu meckern, das in seinem schönen, schick hergerichteten Zimmer aufgekreuzt war. Was verständlich war, wenn er keinen Mitbewohner erwartet hatte. Aber die meisten der Kissen waren vom Bett verschwunden und in den zweiten Kleiderschrank im Raum geräumt worden. Toms beschissenes Bettzeug musste immer noch in seiner Reisetasche liegen, denn das Bett war mit zusammenpassender, glänzend bronzefarbener Satinwäsche bezogen – und mit Kopfkissenbezügen auf zwei Kissen, die offensichtlich dazugehörten.
Auf einem der Kissen stand ein zusammengefaltetes Stück weißes Notizpapier.
T – schlaf einfach in diesem Bettzeug. Das Bett war bereits gemacht. Außerdem sind deine Laken wirklich jämmerlich. Ernsthaft. – R.
Er zog Jeans, T-Shirt und Socken aus und ließ sie einfach zu seinen Füßen auf den Boden fallen. Einen Moment hatte er ein schlechtes Gewissen, als er zwischen die Laken schlüpfte, und fragte sich, ob er nicht vorher schnell noch duschen sollte. Aber zwischen dem gemurmelten Fluch, als er begriff, dass er das Deckenlicht angelassen hatte und dass der Schalter am anderen Ende des Zimmers an der Tür war, und dem zweiten Gähnen binnen einer Stunde, das die Kieferknochen knacken ließ, schlief er ein.
Er hörte Reese nicht hereinkommen.
Irgendwann – Gott allein wusste, wie viele keineswegs ausreichende Stunden Nachholschlaf später – fiel ekelhaft helles Sonnenlicht durch das vorhanglose Fenster. Die Geräusche einer anderen Person, die sich im Raum bewegte, Schubladen öffnete und schloss und auch die eine oder andere Tür betätigte, riss ihn zumindest so weit aus seinem Koma, dass er feststellte, dass Reese sich offenbar anzog.
»Hey, Mann.« Toms Stimme war kratzig. Er machte sich nicht die Mühe, die Augen zu öffnen, und blinzelte, obwohl sie geschlossen waren. »Reese.«
»Was?«
»Besteht irgendeine Chance, dass du die Rollos runterlassen könntest, Mann? Ich brauche noch zwei Stunden, bevor ich wieder ein Mensch bin.«
Ein Schnauben, das klang, als wollte er ein Lachen verbergen. Dann das kurze Sirren einer Schnur, die durch einen Miniflaschenzug lief, gefolgt von der Glückseligkeit gedämpften Lichts.
»Danke, Mann.« Tom schob den Kopf unter eins der Kissen, die weicher waren als ein Babyhintern und die er bestimmt nicht klauen würde. »Ich werde gleich als Erstes zur Wohnheimverwaltung gehen, okay?«
Etwas, das klang wie »Da sind wir schon zu zweit«, bahnte sich einen Weg durch den Daunenflausch um seinen Kopf herum. Und dann versank er wieder in Schlaf.
Stunden später stritt Tom mit einer Frau hinter der zerschrammten Holztheke des Büros der Wohnheimverwaltung herum, bis sie ihn anfuhr.
»Es liegt bei Ihnen, Mr Worthington. Wenn Sie lieber warten möchten, um festzustellen, ob Sie nächstes Semester ein Einzelzimmer bekommen können, können wir Ihr Reimmatrikulationsdatum verschieben. Aber im Perkins House gibt es keine freien Einzelzimmer, ganz gleich, wie oft Sie mir sagen, dass es welche geben müsse.«
Tom stieß den Atem aus und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. »Es ist bloß …« Er versuchte herauszufinden, was ihn davon abhielt, diese arme Frau wieder an ihre Arbeit gehen zu lassen. »Dieser Typ, Reese, er schien sich ziemlich sicher zu sein, dass niemand sonst in seinem Zimmer sein sollte. Und er sieht mich an, als sei ich ein Serienmörder oder so.« Ihm fiel noch etwas ein. »Ich weiß nicht einmal, ob er letzte Nacht dort geschlafen hat.«
»Sie werden bestimmt eine Lösung finden.« Sie schlug den Ordner mit seiner Akte zu und bedachte Tom mit einem strahlenden Lächeln. »Wenn nicht, können Sie in ein paar Wochen gern zurückkommen und nachfragen, ob etwas frei geworden ist.«
Dieser Wink mit dem Zaunpfahl war unmissverständlich.
Nachdem er seine Chancen abgeschrieben hatte, hier irgendwie weiterzukommen, ging er zurück zum Wohnheim, immer noch verkatert von Müdigkeit und dem Gefühl, nach einer Ewigkeit, in der er auf der Überholspur gelebt hatte, zu einem plötzlichen Stillstand gekommen zu sein. Alle um ihn herum, die Studenten, die den Hof überquerten oder im Postbüro des Campus nach Post fragten oder riesige weiße Target-Einkaufstüten in die Wohnheime schleppten, schienen sich im schnellen Vorlauf zu bewegen, während er wie durch Watte dahintrottete. Er war desorientiert und verbittert.
Es half nicht, sich das Gehirn zu zermartern, nur um am Ende bei Verdammt, ich bin immer noch müde! anzulangen.
Da er freihatte bis zu dem Termin mit seinem Studienberater um vier Uhr nachmittags, schien es ein guter Plan zu sein, sich noch einmal hinzuhauen.
Erst als er wieder bei seinem Zimmer ankam, zumindest momentan seinem Zimmer, und die Musik hinter der geschlossenen Tür dröhnen hörte, wurde ihm klar, dass sein Zimmer heute vielleicht nicht das ruhigste Fleckchen auf dem Campus sein würde.
Er wappnete sich und schob den Schlüssel ins Schloss und fühlte sich dabei so sehr als Gast, dass er halbherzig anklopfte, ein Klopfen, das über dem Techno-Mist gewiss nicht zu hören war. Erst dann trat er ein.
Entweder hatte sein Mitbewohner Ohren wie eine Fledermaus, oder er hatte die Tür in Erwartung von Toms Rückkehr beobachtet, denn Reese hatte sich wie ein unverrückbarer Gegenstand, der jeden aufhalten würde, der eintrat, mitten im Raum aufgepflanzt, die Hände in die Hüften gestemmt. Er war mit nichts bekleidet als einer abgeschnittenen schwarzen Jogginghose. Unter ihm lag ausgerollt eine Yogamatte auf dem Boden.
»Nun?« Es war nicht wirklich eine Frage. Mehr eine Forderung.
Tom zuckte die Schultern. »Sie haben mir gesagt, ich hätte keine Chance.« Er warf seinen Rucksack auf das Bett, in dem er heute Nacht anscheinend immer noch schlafen würde, und redete laut genug, um sich im Lärm der Tanzmusik Gehör zu verschaffen. Techno mit Yoga? Er kämpfte die Neugier nieder, die in ihm erwacht war. Das ging ihn nichts an. »Und du?«
Keine andere Antwort als das elegante, aber ungeduldige Wedeln einer Hand, eine Geste, von der Tom bereits ausgeknobelt hatte, dass sie bedeutete, dass Reese sich nicht für die Antwort auf die vorangegangene Frage interessierte und sie daher übersprang.
Da war nichts zu machen.
Tom hob abermals die Stimme und sah vielsagend zur Stereoanlage hinüber. »Hör mal, ich brauche noch ein wenig Schlaf, bevor ich mich um vier mit meinem Studienberater treffe. Besteht irgendeine Chance, dass wir die Technomusik für ein oder zwei Stunden ausmachen können?«
Reese schnappte sich eine Fernbedienung von seinem Bett und richtete sie auf den Receiver.
Gesegnete Stille.
Bis der Typ wieder drauflosquatschte. Tom ließ sich auf die Bettkante sinken und tat sein Bestes, so auszusehen, als höre er zu, während er seine Schuhe aufschnürte.
»Sieh mal, wie heißt du noch gleich? Tom?« Er nickte und schleuderte seine Laufschuhe von den Füßen. »Du kannst nicht hierbleiben.«
»Tut mir leid, Mann. Aber eine andere Möglichkeit habe ich nicht. Glaub mir, wenn ich dir von der Pelle rücken könnte, würde ich es tun.«
»Hast du überhaupt versucht, diese Luschen bei der Wohnheimverwaltung davon zu überzeugen, dass sie es vermasselt haben? Scheiße!« Der Typ ging auf und ab, drei Schritte und umdrehen, drei Schritte und umdrehen, quer durch die kleine Schneise, in der nichts im Weg stand. »Diese Mistkerle könnten mit zwei Händen und einer Taschenlampe ihre eigenen Arschlöcher nicht finden.«
Tom zuckte zusammen. »Sehr anschaulich. Aber es ist nichts zu machen. Ich kann sonst nirgendwohin. Du kannst mir nicht die Schuld daran geben, dass sie die Sache nicht in Ordnung bringen. Wir sitzen einfach miteinander fest.«
Reese’ Lachen war kurz und bitter. »Klar, nun, sie haben nicht unbedingt eine brillante Erfolgsbilanz mit mir und Mitbewohnern.« Tom merkte, dass etwas wie Wut oder Trauer in den sarkastischen Worten und dem heftigen Kopfschütteln mitschwang. Doch das Kissen an seiner Hüfte sang quasi wie die Sirenen zu Odysseus, und Reese machte ohnehin nicht den Eindruck, als sei er wirklich gegen forschende Fragen gewappnet.
Tom zuckte die Achseln und stand auf, um aus seinen Jeans zu schlüpfen. Er hatte vor, in seinen Boxershorts und einem T-Shirt zu pennen. Es war lange her, seit er sich vor einem Fremden ausgezogen hatte, zumindest in einer Situation, in der nicht genug Alkohol im Spiel gewesen war, um ein Schlachtschiff zu versenken, und er war sich merkwürdig bewusst, dass Reese ihn beobachtete.
Nicht wie ein Perverser ihn ansehen würde. Mehr wie jemand, der einen Plan ausheckte, wie er ihn um die Ecke bringen konnte. Spekulativ. Als nähme er mit den Augen Maß und überlegte, wo er Toms Leiche verstecken könnte.
Er schlug die Daunendecke zurück, weil er sich in der morgendlichen Septemberhitze eines Sommers, der nicht enden wollte, nicht den Arsch abschwitzen wollte, dann glitt er darunter und drehte sich auf den Bauch. Der Junge konnte weiterreden, wenn er wollte. Tom war sich ziemlich sicher, dass er einen Luftangriffsalarm verschlafen konnte – und erst recht einen mürrischen Zwanzigjährigen. Er boxte ein Kissen zurecht und klemmte es sich unter die Wange.
»Du kannst nicht hierbleiben!« Der Typ kriegte sich einfach nicht ein. Und immer noch das Auf und Ab durch den Raum.
Tom war es leid, seine Augen hin- und herwandern zu lassen. Es war offensichtlich, dass es das Beste war, ihnen einen Moment Ruhe zu gönnen.
Nur einen Moment. »Keine Sorge. Ich bin kaum hier.«
»Es ist mir egal, ob du einmal im Quartal vorbeischaust, Alter. Es kommt nicht infrage, dass du einen Schlüssel zu diesem Zimmer hast.«
»Tut mir leid.« Er dämmerte jetzt wirklich weg. »Alles wird gut.«
»Nein, wird es nicht. Ich bin schwul, du Idiot.«
Tom konnte an dem dramatischen Schnörkel im Tonfall erkennen, dass dies eine große Sache sein sollte, daher unternahm er tapfer noch einmal die Anstrengung, ein Auge einen Spaltbreit zu öffnen. »Ist mir aufgefallen. Und?«
Was, soweit es Tom betraf, Antwort genug war. Schließlich waren weder die Regenbogenfahnen an der Tür und den Wänden zu übersehen noch die Schwarz-Weiß-Poster von nackten Menschen, die allesamt männlich waren.
Reese’ sexuelle Orientierung war hier nicht gerade ein Staatsgeheimnis.
So überraschte es ihn nicht, dass Reese diese Antwort nicht als zufriedenstellend erachtete.
»Und? Ich lutsche Schwänze und küsse Männer, und du erzählst mir, dass das für dich okay ist?« Tom merkte bei diesen letzten Sätzen ein wenig auf. Reese konnte es nicht fassen, kam zwei Schritte näher und beugte sich über das Bett.
»In dieser Reihenfolge?«
»Was?«
»Du tust es in dieser Reihenfolge? Schwänze lutschen und dann küssen? Kommt mir vor, als wäre das ein wenig verkehrt herum.« Dieses Gespräch vermochte es endlich, ihn halbwegs zu wecken. Er öffnete die Augen, stützte den Kopf auf eine Faust und beobachtete, wie Reese sich auf den hölzernen Schreibtischstuhl warf.
»Ernsthaft? Darauf willst du mit diesem Gespräch hinaus?« Er schnappte sich einen Stift aus dem Becher auf dem Schreibtisch und begann, damit zwischen seinen weit gespreizten Beinen auf die Sitzkante zu klopfen. »Du willst über Blowjobs reden?«
Tom zog eine Schulter hoch. »Ich meine ja bloß. Auf keinen Fall würdest du ein Mädchen dazu bringen, da mitzumachen.«
»Ja, nun, Männer haben manchmal eine pragmatischere Herangehensweise an Sex. Und könnten wir bitte nicht über Vaginas reden? Das ist nicht mein Ding.«
»Nichts für ungut. Wenn du es so nennst, ist es auch nicht mein Ding«, sagte Tom und lachte. Er ließ den Kopf wieder fallen, hielt die Augen jedoch geöffnet. Reese griff nach einem metallgrauen Stoffstreifen, der sich als ein Stretchstirnband erwies, und zog ihn sich über den Kopf. Dann schob er das Band bis an den Haaransatz zurück und strich sich sein kinnlanges ebenholzschwarzes Haar aus dem Gesicht. Tom wurde bewusst, dass er Reese’ ganzes Gesicht zuvor tatsächlich noch nicht gesehen hatte. Er hatte es bis jetzt unter dieser Fülle glatten, dichten dunklen Haares verborgen gehabt.
Er sah gut aus. Bekam wahrscheinlich jede Menge Schwanz-zuerst-Küssen-später-Action, dachte Tom und verkniff sich ein Grinsen. Aber ernsthaft, mit seiner dramatisch blassen Haut und den hohen Wangenknochen sowie den vollen Lippen und dem schmalen, aber muskulösen Sixpack, das er über dem Taillenbund seiner Jogginghose zur Schau stellte, hätte er ein Model für eine dieser Kleiderfirmen sein können, deren Kataloge mehr wie hochkarätige Pornos aussahen als wie Verkaufsheftchen.
Und jetzt war definitiv Zeit für sein Nickerchen. Er hatte jetzt keine Lust, darüber nachzudenken, wie schwule Kerle es wahrscheinlich mit seinem jungen Mitbewohner treiben wollten, dazu war er einfach zu müde.
»Ich schalte mal ab, Mann. Können wir das heute Abend weiter besprechen?« Er rollte sich mit dem Gesicht zur Wand, um seine Worte zu betonen.
»Ich werde nicht, unter keinen Umständen, mit homophoben Sportskanonen und ihren Arschlöchern von Kumpeln rumhängen.« Der Typ war wie ein Terrier, der wie wild einen Knochen mit seinen winzigen Zähnen abnagte.
Tom sagte sich, dass er nicht antworten sollte. Dass er dem Mann Zeit geben sollte, sich wieder abzuregen. Er konnte ja nicht ewig weiterschwadronieren.
»Ich bin kein Sportler mehr.« Es war wirklich ein Jammer, dass er es nicht mal fertigbrachte, seinen eigenen Rat zu beherzigen.
»Aber du warst Sportler!« Reese stürzte sich praktisch auf ihn und sagte wie der Schurke aus einem Comic: »Aha!«
Obwohl er sich zur Wand gedreht und die Augen geschlossen hatte, war sich Tom sicher, dass Reese seinen Zeigefinger melodramatisch in die Luft gestreckt hatte.
»Oh Gott, halt den Mund! Ich war auch mal Jungfrau, aber alles ändert sich. Und ich habe hier keine Arschlöcher von Kumpeln. Nicht mehr. Also, wie wär’s, wenn wir es dabei belassen würden und du mich ignorieren und so tun kannst, als wäre ich nicht hier?«
Keine Antwort. Gelobt sei Gott! Eine Menge Barfußgestampfe, was keine große Sache war, da das ohnehin ziemlich leise vonstattenging, und ein bisschen aggressives Aufziehen und Schließen von Schubladen. Wenn Reese dachte, dass solch ein nonverbaler Protest ihn vertreiben könnte, hatte er sich geschnitten. Keine Chance.
Er war fast eingeschlafen, als er hörte, wie die Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Reese hatte den Raum verlassen.
Tom wäre allerdings erheblich weniger entspannt gewesen, wenn er noch realisiert hätte, was Reese im Weggehen sagte: »Wollen doch mal sehen, ob du das ignorieren kannst.«
Tom kehrte spätabends in sein Zimmer zurück, nach einem wenig ermutigenden Treffen mit seinem Studienberater und geschlagenen vier Stunden in der Bibliothek, wo er versucht hatte, die für das Semester vorausgesetzte Lektüre für sein Hauptseminar über Geschäftsethik zu überfliegen. Ha! Als hätte er das nötig!
Der Professor war berüchtigt für die knallharten Fragen, mit denen er die Studenten in seinem Kurs am ersten Tag löcherte. Jeder, der es durch diese Stunde schaffte, ohne zu weinen oder gesagt zu bekommen, er solle sich sonst wohin scheren, durfte in dem Kurs bleiben. Nach diesem ersten grässlichen Tag verwandelte sich der Prof dann in einen strengen, aber leidenschaftlichen Lehrer. »Die Herde ausdünnen«,nannte er es. Tom hatte gedacht, dass er reichlich Zeit haben würde, die Literatur aus der Bibliothek in Boston auszuleihen, und das war auch keine Hürde gewesen. Aber die Zeit zu finden, um über die gesellschaftliche Verantwortung von Firmen gegenüber den Gemeinden zu lesen, in denen sie angesiedelt waren, war schwieriger gewesen, als er gedacht hatte. Denn er verbrachte jeden wachen Moment damit, Taxi zu fahren, um die Semestergebühr vor der Deadline für die Immatrikulation zusammenzukratzen.
Natürlich war es nicht so, als würde er den Playboy oder die Entertainment Weekly lesen. Selbst für jemanden wie Tom mit einem Abschluss in Wirtschaft war es schwer, bei über siebenhundert Seiten über die ethischen und philosophischen Fragen des Produkthaftungsgesetzes wach zu bleiben. Dieser Scheiß war besser als Schlaftabletten, um ihn direkt in den Schlummermodus zu bringen.
Wie dem auch sei, er musste nur noch fünfzig Seiten runterreißen, die ihm mehr wie fünfhundert vorkamen, bis er damit fertig sein würde, im Lehrbuchglossar all die Worte nachzuschlagen, die er nicht kannte. Und er hatte beschlossen, dass es okay wäre, in seinem Zimmer zu lernen. Er musste es nur schaffen, aufzutauchen und Hi! zu sagen, ohne dass dieser Typ ihn gleich wieder für ein Arschloch hielt, wovon er ja leider überzeugt zu sein schien, seit Tom durch die Tür getreten war.
Als er das pinkfarbene Halstuch erblickte, das um den Türknauf ihres Zimmers gebunden war, stöhnte er laut auf.
»Ich glaub’s ja nicht!«
Für den Fall, dass er nicht wusste, dass das eine One-Night-Stand-Fahne war, hatte Reese einen Zettel an die Tür gepinnt, mit großen Druckbuchstaben und einem Pfeil, der auf das Halstuch zeigte. DU WEISST, WAS DAS BEDEUTET, STIMMT’S? KOMM SPÄTER WIEDER. ERHEBLICH SPÄTER.
Scheiße! Fantastisch.
Tom warf seinen Rucksack auf den Boden, lehnte sich gegen die Wand und ließ sich langsam hinabgleiten. Klasse! Auf keinen Fall würde er jetzt den ganzen Weg zurück in die Bibliothek gehen. Er nahm an, dass Reese während dieses Schwanzlutsch-Gesprächs vorhin einen festen Freund erwähnt hätte, wenn es einen gäbe, also war dies vielleicht eine beiläufige Affäre. Eine neue Masche des Rachesex. Man konnte es auch Vertreib-deinen-Mitbewohner-Sex nennen.
Er würde einfach im Flur rumhängen, in der Hoffnung darauf, dass der Typ, den sein Mitbewohner aufgelesen hatte, auf schnelles Rein-raus ohne weiteres Liebesspiel stand. Nach einer Weile stützte Tom den Text auf seinem Schoß ab, rutschte noch ein Stück herunter und versuchte, sich auf Steuergesetze für gemeinnützige Organisationen in den USA zu konzentrieren.
Es dauerte nicht lange, bis seine Aufmerksamkeit nachließ.
Sobald er sich hingesetzt hatte, waren die einzigen Geräusche das Umblättern einer Seite und gelegentlich ein »Hi« eines vorbeigehenden Mitbewohners desselben Flurs, sonst war es still.
Deshalb konnte er die Laute, die durch die geschlossene Tür ihres Zimmers drangen, unmöglich ignorieren.
Das erste leise Stöhnen drang unter der Unterkante der Tür, dieser winzigen Spalte, hindurch. Tom verband es mit der Action hinter der soliden Holztür. Es schlich sich in sein Unterbewusstsein, ohne dass er es wirklich bemerkte. Erst als er seine Jeans zurechtzupfte, sich auf dem Boden anders hinsetzte und den Stoff von seinem Schritt wegzog, wurde ihm klar, dass sein Schwanz aufgewacht war und registrierte, dass etwas im Gange war, was ihn ein wenig kribbelig machte.
Was sollte das? Die Abgabenordnung der USA war nie im Leben aufregend genug, um ihm einen leichten Ständer zu bescheren.
Ein leises Stöhnen hinter der Tür machte ihm klar, dass er jetzt schon seit einigen Minuten den drängenden Lauten des Geschlechtsaktes lauschte. Jedenfalls schon lange genug, dass sein Schwanz es bemerkte. Obwohl er ein wenig überrascht war, dass ihn die Geräusche von zwei Männern erregten, die es miteinander trieben, war offensichtlich, dass sein Körper vollkommen einverstanden damit war, einem privaten Porno zu lauschen.
Gelegenheitsvoyeurismus oder was immer der Ausdruck dafür war mit anzuhören, wie jemand anders zur Sache kam, war anscheinend sein Ding.
Er lachte verlegen, froh darüber, dass sonst niemand in der Nähe war, und sah, wie er angesichts dieser Vorstellung errötete. Dann richtete er den Blick wieder auf die Seite. Den Kopf wieder frei zu kriegen für die Paragrafen zur Besteuerung war allerdings eine ziemlich große Herausforderung, denn das Stöhnen im Raum wurde immer intensiver und lauter. Tom begann, alle paar Sekunden den Flur hinunterzuschauen. Er wollte nicht, dass jemand vorbeikam und ihn hier sitzen sah, wie er darauf lauschte, wie irgendein Kerl es besorgt kriegte, was ihm oder jedem anderen innerhalb von sechs oder sieben Metern Umkreis jetzt unmöglich entgehen konnte.
Der Junge, der stöhnte, übertrieb es auch ein wenig, mit dem Oh Gott! und dem Ja.
»Du drehst keinen Porno, Kumpel. Immer mit der Ruhe.«
Klasse! Jetzt führte er schon Selbstgespräche über zwei Typen beim Ficken.
Und wirklich, was wusste er schon? Er kannte Reese ganze vierundzwanzig Stunden, und so ziemlich als Erstes brachte der Junge einen Typen mit in ihr Zimmer und ging zur Sache. Nach allem, was er hörte, machten sie gerade einen Porno. Der Mann konnte Scheinwerfer und eine Kamera auf einem Dreifuß dort drin haben. Filmte er sich womöglich selbst? Wie er diesen Burschen nahm oder genommen wurde?
Tom verlagerte sein Gewicht von einer Seite auf die andere, aber seine Arschbacken waren taub vom langen Sitzen auf dem harten Boden. Seine Gedanken darüber, wie gern sein Mitbewohner Sex hatte, kamen ihm vor wie eine schwerwiegende Verletzung der Privatsphäre, aber es war nicht so, als versuchte der Bursche, es zu verbergen. Im Gegenteil, Reese hatte ziemlich deutlich gemacht, dass er versuchen würde, ihn mit schwulen Sexspielen zu verschrecken.
Tom wollte verdammt sein, wenn er als Erster auch nur mit der Wimper zuckte.
»Ich kann den ganzen Tag lang mit anhören, wie zwei Typen es treiben, Junge. Das wird dich nicht weiterbringen«, sagte er zu dem leeren Flur, vielleicht ein wenig lauter als geplant.
Doch jetzt, da er den Gedanken im Kopf hatte, konnte er nicht davon ablassen. Wurde Reese gefickt, oder war er derjenige, der das übernahm? Die Stimme, die jetzt »Härter, hör nicht auf!« bettelte, klang nicht wirklich wie seine, aber Tom hatte schließlich keinerlei akustische Erfahrung wie der Typ Sex hatte, um Vergleiche anstellen zu können. Wenn er hätte raten müssen – und seine Unfähigkeit aufzuhören, darüber nachzudenken, bedeutete, dass er raten würde –, würde er sagen, der Junge war jemand, der es sich gerne besorgen ließ. Vielleicht lag es daran, dass er irgendwie schlank und klein war und dieses kinnlange Haar und den hübschen Mund hatte …
Scheiße! Hübscher Mund? Woher zum Teufel war dieser Gedanke gekommen?
Oh Gott! Er musste aufhören, über diesen Mist nachzudenken. Er durchwühlte seinen Rucksack, fand seinen alten iPod, stopfte sich die Stöpsel in die Ohren und drückte hastig auf Play. Er griff nach dem Lehrbuch auf seinem Schoß und presste es fester gegen seine Knie.
Konzentrier dich. Steuerparadiese. Nicht schwuler Sex.
Er schaffte es ungefähr drei Sekunden, bevor seine Hand zu dem iPod hinunterglitt und er auf Pause drückte, beinahe als habe er Angst, jemand würde sehen, dass er die Musik ausschaltete, die einen Moment lang das Stöhnen und die lauten Rufe der Ekstase aus seinem Zimmer übertönt hatte. Er wusste, dass es lächerlich war, die Ohrstöpsel drin zu lassen, damit es aussah, als versuche er, die Laute auszublenden, die aus seinem Zimmer kamen. Er setzte einen halb angewiderten Gesichtsausdruck auf, damit niemand auf die Idee käme, dass er irgendetwas anderes war als gelangweilt und total abgeturnt, so wie jeder Hetero es sein würde.
Aber er lauschte trotzdem und konnte sich nicht daran hindern zu versuchen, sich genau vorzustellen, was geschah.
»Ja, lutsch mich, Reese. Lutsch – ahhh …«
Scheiße!
Nur einige wenige Worte, aber das war alles, was er brauchte. Also doch kein Sex. Obwohl es vielleicht als Sex durchging, wenn man schwul war und einen Blowjob bekam. Oder wenn man jemandem einen blies, was Reese in diesem Moment offensichtlich tat. Er lutschte den Schwanz eines anderen Typen und tat es außerdem ziemlich gut, nach dem unaufhörlichen Strom von Flehen und Lob des anderen Mannes in seinem Zimmer zu urteilen.
Tom bekam das Bild nicht aus dem Kopf. Reese’ Lippen, die sich fest um einen Schwanz schlossen, die Augen geschlossen, während die Wimpern auf seinen Wangen ruhten, diese dichte Strähne dunklen Haares, die ihm ins Gesicht fiel, während er den Kopf auf- und abbewegte, auf und ab – und so heftig lutschte, dass man es in seinen verdammten Eiern spüren konnte …
What. The. Fuck.
Mit einer ruckartigen Handbewegung schaltete Tom die Musik wieder ein, riss die Knie hoch und verschränkte die Arme darauf, dann ließ er den Kopf sinken und verbarg sein Gesicht.
Denn er stellte sich keinen anderen Mann vor, der gerade einen Blowjob von seinem Mitbewohner bekam – sondern sich selbst. Tom verstand sich auf alles Mögliche, aber Selbstbetrug gehörte verdammt noch mal nicht dazu. Als er sich ausgemalt hatte, wie es wäre, einen Blowjob von Reese zu bekommen, war der Schwanz, an dem der Junge lutschte, sein eigener gewesen. Und Tom war hart wie ein Stein von dieser Vorstellung geworden. Sein Schwanz bettelte geradezu um ein wenig Aufmerksamkeit und weckte in ihm die Frage, ob er mit einer schnellen Sitzung im Badezimmer davonkommen würde, ohne gestört zu werden.
»Scheiße, nein.«
Den nächsten Teil sagte er nicht laut.
Ich werde nicht masturbieren und daran denken, dass Reese meinen Schwanz lutscht. Verflucht noch mal, auf keinen Fall! Denn genau das täte ein Homo, und ich werde über diesen Scheiß jetzt nicht einmal nachdenken.
Er erkannte, dass es nicht unbedingt das Gleiche war, jetzt nicht über diesen Scheiß nachzudenken und den Gedanken gänzlich zu leugnen. Er ließ eine Hand auf den Schoß fallen und drückte seinen Schwanz durch seine Jeans, erbebte unter der Ekstase, die durch ihn hindurchschoss. Fuck! Dies war nicht der richtige Zeitpunkt. Er hatte sich nicht während der letzten fünfzehn Monate den Arsch aufgerissen, damit er hierher zurückkonnte, nur um sich ablenken zu lassen, indem er seine Zeit damit verbrachte, über Schwanzlutschen nachzudenken.
Obwohl mitten in seinem letzten Semester am Carlisle dieser Mist passiert war, hatte das College ihm gestattet, seine Kurse ohne Strafe zu wiederholen, und Tom war wild entschlossen, seine Kurse mit Auszeichnung zu bestehen. Ein Abschluss nach weiteren drei Semestern mit einem glänzenden Zeugnis war das Einzige, was zwischen ihm und einem Job stand, bei dem er zehn Dollar die Stunde verdiente.
Im vergangenen Jahr hatte er reichlich Zeit allein verbracht, um zu begreifen, wie viel schöner sein Leben sein würde, wenn er nicht jeden verdammten Penny dreimal umdrehen und darben musste. Deshalb würde er von diesem Campus direkt in die Reihen derer marschieren, die einen einträglichen Job hatten. Und das würde er sich ganz allein verdient haben.
Sex konnte warten. Er war ohnehin nicht so schwer zu bekommen, wenn er ein wenig Dampf ablassen musste. Aber all diese tiefschürfenden Gedanken, von denen er einfach wusste, dass sie notwendig sein würden, mussten warten. Dass er sich seinen männlichen Mitbewohner vorstellte, wie er seinen Schwanz lutschte, und dass ihm das schneller einen Ständer verpasste als jeder Porno mit Frauen, den er sich je angesehen hatte – mit dieser Tatsache musste er sich allerdings beschäftigen. Klar, aber später.
Bisher hatte er es geschafft, diese Tatsache während des größten Teils seines ganzen Sexlebens bis jetzt zu ignorieren, nicht wahr? Es hatte keinen Sinn, das jetzt zu ändern, nur weil sein Schwanz endlich aufwachte nach einem Jahr, in dem er viel zu viel Stress gehabt hatte, um an Sex zu denken, und außerdem ziemlich konstant obdachlos gewesen war. Sich auf jemandes Couch zu hauen oder in einem Auto zu schlafen waren todsichere Lustkiller. Dafür konnte er sich verbürgen.
Außerdem war klar, dass sein hübscher Mitbewohner ihn verabscheute. Und er würde seinen Platz im Perkins House garantiert nicht aufgeben und in eines der Wohnheime auf dem Campus ziehen. Das würde ohne Zweifel ins Chaos führen. Dort konnte er hundert Leuten über den Weg laufen, die alles über ihn wussten und deren Klatsch sich wie ein Lauffeuer verbreiten würde. Also würde Reese ihn weiterhin hassen.
Er atmete tief ein und stieß die Luft dann in einem langen, langsamen Schschsch durch die Zähne wieder aus.
Konzentrier dich. Konzentrier dich auf den Unterricht und darauf, glatte Einser zu machen. Für alles andere würde keine Zeit sein. Er musste immer noch jedes Wochenende in die Stadt fahren und rund um die Uhr im Taxi sitzen, wenn er in der Lage sein wollte, für das zweite Semester zu bezahlen, sobald die Gebühr fällig wurde. Solosessions in der Dusche mussten genügen, wenn sein Schwanz darauf beharrte, doch wach zu bleiben. Anderenfalls konnte er immer noch in eine Bar gehen und ein Mädchen mit einer eigenen Wohnung oder einem Zimmer aufreißen. Das war ihm nie schwergefallen, und er war sich vollauf darüber im Klaren, dass es nicht daran lag, dass er so charmant zur Damenwelt war. Er wusste, dass er gut aussah, groß und blond und mit einem Körper, dem man das moderate Gewichtheben ansah, das er neben dem Joggen praktizierte. Mehr als eine Braut hatte ihn angequatscht, bevor er auch nur auf den Gedanken gekommen war, sie anzumachen.
»Du hast traurige Augen«, hatte ein Mädchen ihm im vergangenen Sommer gesagt, bevor sie ihn aufs Bett gestoßen hatte und auf ihn geklettert war.
Traurige Augen. Na, super. Wenn Erschöpfung und die ständige Angst, dass er es nicht schaffen könnte, seine Sache durchzuziehen, ihm glückliche Augen beschert hätten, hätte er sich in die Klapse einliefern lassen.
Er hatte ziemlich lange mit geschlossenen Augen und gesenktem Kopf dagesessen und war schläfrig geworden. Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als er endlich den Kopf hob – sein Ständer war größtenteils verschwunden – und die Musik vorsichtig auf Pause schaltete, um die Pornoszene zu checken.
Stille. Gott sei Dank! Er schaltete die Musik wieder ein und konnte sie nun auch genießen, jetzt, da er sich nicht mehr fragte, ob er neben den Geräuschen seiner Lieblingsband noch etwas anderes hören konnte. Wenn Reese’ Fickkumpan nicht bald abzog, würde er ihnen ein Höflichkeitsklopfen gönnen, bevor er hineinging. Diese kleine Rechthaberei nach dem Motto »Mein schwules Testosteron ist rauer als dein Hetero-Testosteron« (halbwegs hetero, dachte er, schob diese Überlegung jedoch entschieden beiseite), die aller Wahrscheinlichkeit nach folgen würde, würde den Kumpan nicht gerade glücklich machen.
Nach den Narben, die er sich im vergangenen Jahr in diversen Kämpfen zugezogen hatte, würde ihn ein wenig Mann-zu-Mann-Action nicht schreiend davonlaufen lassen. Höchstens eine Brechstange und ein Haufen Dynamit unterm Arsch würden ihn aus diesem Zimmer herauskriegen.
Das Achtung-ich-komme-rein-Klopfen erwies sich als unnötig. Überraschend kurze Zeit später öffnete sich die Tür an seiner linken Schulter, und ein noch schmächtigerer, kleinerer Mann als Reese trat heraus. Er beugte sich noch einmal hinein, wahrscheinlich, wie Tom ohne hinzuschauen annahm, um sich einen Abschiedskuss abzuholen. Der Bursche sah noch jünger aus als Reese und hatte einen kurzen Schopf leuchtend pinkfarbenen Haares, das vom Bett sichtlich zerrauft war und teilweise auch wie ursprünglich hochgegelt zu Berge stand.
Der Junge war verblüfft, dass Tom draußen vor dem Zimmer auf dem Boden kampiert hatte, jedenfalls nach seinem Hüpfer rückwärts zu urteilen, nachdem er fast über ihn gestolpert wäre. Er grinste auf Tom herab, die Lider auf Halbmast. Ein Ausdruck, den Tom als Schläfrigkeit à la »Mir ist gerade das Hirn aus dem Kopf gevögelt worden, und am liebsten würde ich jetzt pennen« erkannte. Der Typ war eine wandelnde Reklame für sexuelle Befriedigung, und er würde sich wahrscheinlich hinhauen, sobald er es zurück zu seinem eigenen Bett geschafft hatte.
Tom schob die Steuerlektüre in seinen Rucksack und steckte den iPod vorsichtig ein – wenn dieses Ding kaputtging, würde er seine liebe Not haben, es zu ersetzen –, und er spürte, dass Reese neben ihm stand und ihn durchdringend ansah und zweifellos sonst wohin wünschte.
»Willst du wirklich reinkommen? Hier stinkt es wahrscheinlich nach rein und raus.« Der Versuch, ihn zu verschrecken, war jetzt nicht einmal mehr subtil. Tom seufzte, stemmte sich mit einer Hand von dem staubigen Boden hoch und stand auf.
Es machte ihm keinen Spaß, seine Körpergröße einzusetzen, um einen kleineren Mann herumzuschubsen, aber er trat dicht vor Reese hin, der nicht zurückwich, und baute sich vor ihm auf. Der Mann hatte recht. Er konnte den Sex an ihm riechen, und er sagte seinem Schwanz, dass er sich beruhigen solle, als das Ding kribbelige Anzeichen zeigte, wieder aufzuwachen. Reese’ Lippen waren geschwollen und rot, seine Augen waren schmal, und er blinzelte nicht einmal, als er zu Tom emporstarrte.
»Hör zu, Junge. Du hast keine Ahnung, womit ich in letzter Zeit fertigwerden musste.« Er senkte sein Gesicht noch näher auf das von Reese hinab, bis er Reese’ Nasenflügel beben und ihn erbleichen sah. Mist! Er erschreckte den Jungen tatsächlich. Er trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. »Ein Raum, der nach Sex riecht, kommt auch nicht entfernt auf die Liste der Dinge, die mir zu schaffen machen, also schraub deine Hoffnungen nicht allzu hoch, dass ich bei dem Gedanken, dass du in unserem Zimmer irgendeinem Typen einen Blowjob gegeben hast, schreiend den Flur hinunterlaufe.«
»Es ist mein Zimmer.«
Immer noch auf Krawall gebürstet.
»Wenn du dich dann besser fühlst, nenne es, wie du willst.« Er betrat den Raum und warf seinen Rucksack über die Rückenlehne dessen, was er jetzt seinen Schreibtischstuhl nannte. »Aber ich werde jede Nacht hier schlafen. Und wenn ich es leid bin, im Flur zu sitzen, werde ich mich nicht unbedingt daran erinnern anzuklopfen, bevor ich hereinkomme.«
Reese stieß ein spöttisches Lachen aus und schlug die Tür zu, als er Tom hinein folgte.
»Und wenn ich einfach weitermache? Was dann? Wirst du dasitzen und zusehen, wie ich irgendeinen Typen lutsche?«
Tom war viel zu müde, um darüber noch lachen zu können. Er rieb sich das Gesicht und gähnte. Beim Anblick seines Bettes machte sein Gehirn dicht. »Oh Gott, Junge! Bilde dir nichts ein. An den meisten Tagen bin ich so müde, dass du an den Schwänzen des halben Colleges ersticken könntest. Ich würde die Schlange vor der Tür wahrscheinlich nicht einmal bemerken, bevor ich mich hinhaue.«
Er erhaschte einen Blick auf Reese, als dieser sich sein T-Shirt über den Kopf zog, und zwar tatsächlich ein wenig gehemmt. Zwei Männer waren in ihrem Zimmer gerade splitternackt gewesen, und es fühlte sich … peinlich an, sich auszuziehen. Der Mann kaute leicht auf der Unterlippe und runzelte die Stirn, als sei er unsicher, was er als Nächstes tun sollte. Er hatte offensichtlich nicht damit gerechnet, dass sein großer Plan wie ein fehlerhafter Feuerwerkskörper einfach verpuffen würde.
Tom zog Jeans, Socken und Schuhe praktisch gleichzeitig aus, sodass sie sich in einem Haufen auf dem Boden türmten, und kam sich vor wie in dem Film Und täglich grüßt das Murmeltier, weil er genau das Gleiche machte wie am vergangenen Abend, während sein Mitbewohner ihn mit säuerlicher Miene dabei beobachtete. Gut zu wissen, dass er in vierundzwanzig Stunden absolut keinen Fortschritt erzielt hatte.
»Außerdem bist du eine Schlampe. Kannst du deine Kleider nicht in den Wäschekorb legen?«
Tom wandte Reese wiederum den Rücken zu, als er ins Bett stieg. Es fühlte sich wie ein Fortschritt an, dass der Typ ihn anmeckerte, weil er unordentlich war – ein übliches Mitbewohnerproblem. Vielleicht hatte die Tatsache, dass er angesichts Reese’ sexueller Herausforderung nicht klein beigegeben hatte, den Mann davon überzeugt, dass er nicht weichen würde. Sie waren offensichtlich nicht beste Freunde für die Ewigkeit, aber vielleicht konnten sie eine gewöhnliche verbitterte Mitbewohnerbeziehung führen, in der keiner den anderen mochte, sie aber einander größtenteils ignorierten. »Habe keinen. Aber ich werde mir eine Kiste oder so besorgen, okay? Ich hau mich hin, Junge. Schlaf gut.«
Es kümmerte ihn nicht einmal, dass die Deckenlampe immer noch grell leuchtete und den ganzen Raum erhellte. Ein Kissen über dem Kopf verschaffte ihm genug Dunkelheit, und selbst wenn Reese mit den beleidigten schweren Seufzern und dem allgemeinen Herumstapfen in ihrem Zimmer weitermachen würde, wusste Tom, dass er binnen Minuten weg sein würde.
Bevor er eingeschlafen war, hörte er ein schwaches Klicken, und das Licht, das unter die Ränder des Kissens drang, verschwand.
Ahhh, wunderbar! Er schob sich das Kissen wieder unter den Kopf und blieb auf der Seite zusammengerollt liegen, das Gesicht zur Wand gedreht. Er konnte hören, dass Reese sich durch den finsteren Raum bewegte, und das Rascheln seiner Kleider, als er sich auszog, hörte sich in der Dunkelheit ziemlich laut an. Tom weigerte sich, es sich vorzustellen. Er nahm wahr, wie Stoff über Haut glitt, als Reese in sein eigenes Bett stieg. Tom stellte sich vor, wie es wäre, zu hören, wie ihre langsamen Atemzüge sich in einem Kontrapunkt mischten, der nach und nach in synchronisiertes, müheloses Ein- und Ausatmen driftete.
Und während er lauschte, wie sein Mitbewohner in der Dunkelheit atmete, schlief er ein.
Nach drei weiteren Tagen, in denen er sich mit Reese das Zimmer geteilt hatte, hing Toms Beherrschung am seidenen Faden, und früh am Freitagmorgen fuhr er mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung und des schlechten Gewissens in seinem sorgfältig gewarteten BMW los.
Reese hatte seinen Plan nicht aufgegeben, Tom dazu zu bringen auszuziehen, indem er ihn mit seinem Schwulsein bombardierte, aber er hatte nur an einem der vergangenen Abende einen anderen Mann mit in ihr Zimmer gebracht. Er hatte keinen Hinweis an die Tür gepinnt, aber das pinkfarbene Halstuch war wieder trotzig an den Türknauf geknotet. Wahrscheinlich wollte der Junge ihm nicht den Schock verpassen, in waschechten schwulen Sex hineinzuplatzen, nackte Männer in Pose, ganz gleich, was vielleicht drohte. Tom hatte geseufzt und sich wieder im Flur auf den Boden gesetzt, entschlossen, sich nicht vertreiben zu lassen. Er hatte in einem Buch auf dem Schoß gelesen, die Ohrstöpsel wieder in den Ohren, aber er hatte sich dabei ertappt, dass er mit einem Finger über dem Schalter des iPods zögerte. Er ließ den Apparat aus.
Er fühlte sich wie ein Perverser, als er das Sexleben seines Mitbewohners belauschte, aber war das nicht genau das, was Reese wollte? Ihn zu zwingen zuzuhören? Und Tom konnte die unwiderstehliche nagende Neugier nicht leugnen, die ihn gepackt hatte.
Wieder war die einzige Stimme, die er hörte, nicht die seines Mitbewohners. Diesmal war es ein anderer Mann, nicht so wortreich wie der letzte Typ, aber er erging sich in einem unaufhörlichen Ächzen und Stöhnen und scherte sich definitiv nicht darum, wer ihn hörte. Sein Schrei am Ende war laut genug, um in den Stockwerken unter ihnen gehört zu werden, und Tom hatte erneut einen Ständer gehabt, der nicht weggehen wollte, bis er durch seine Jeans in die Spitze seines Schwanzes kniff und so fest zudrückte, dass der Schmerz das starke, klebrige heiße Pulsieren wenigstens teilweise erstickte, das den Eindruck erweckte, als könne er in seinem Schwanz seinen Herzschlag spüren.
Reese hatte ihn nur eine Sekunde angesehen, während er sein Date zur Tür hinauskomplimentierte, nur Minuten nach diesem Orgasmusgebrüll, das Tote hätte wecken können. Es war, als wüsste er bereits, was er vorfinden würde. Sie hatten einander einen Moment in die Augen geschaut, und keiner von ihnen hatte geblinzelt. Die Haut unter Reese’ dunklen Augen war tiefpurpurn umschattet, und sein Gesicht war noch bleicher als gewöhnlich. Was immer er an Kitzel verspürte, wenn er Tom mit diesem Spielchen reizen wollte, es bescherte auch ihm offensichtlich nicht viel Freude. Entweder das, oder er lag die ganze Nacht wach und schmiedete Pläne für Toms Ableben, statt zu schlafen.
Doch das war nicht Toms Problem. Früher oder später würde der Junge sich beruhigen, und sie konnten ihr Leben weiterleben. Oder zumindest würde Tom es so halten. Wenn Reese den Rest des Jahres vor Groll sieden und schäumen wollte, konnte er sich selbst damit verrückt machen. Tom musste arbeiten und brauchte nur einen sicheren Ort, um sich in den Stunden, in denen er sich nicht den Arsch aufriss, um seine Seminararbeiten zu schreiben, hinhauen konnte.
Es war nicht sein Problem. Genau.
Das sagte er sich auch, als er den Versuch zu schlafen endgültig aufgab und sich auf dem Weg aus ihrem Zimmer sein Handtuch schnappte, um um zwei Uhr morgens zu den Duschen zu gehen.
Er ließ das Licht aus, weil er keine Aufmerksamkeit erregen wollte. Oder vielleicht wollte er sich auch nicht im Spiegel anschauen und sich selbst ins Gesicht sehen, während er seine Shorts und sein Handtuch auf den Haken vor den Duschen hängte und nackt in die dunkle Kabine trat. Er drehte das Wasser auf, bis es so heiß war, dass es ihn verbrühte, und er litt einige Minuten lang unter dem Brennen. Aber am Ende gab er nach. Er hatte gewusst, dass er es tun würde. Er stellte das Wasser auf warm, lehnte sich an die Wand, den Kopf auf den Unterarm gestützt, und ergriff seinen Schwanz. Er streichelte ihn langsam, beinah schmerzhaft, zog seine Hand auf und ab, bis er heftig erschauerte und so schnell kam, dass es wehtat. Und die ganze Zeit über dachte er an Reese. Reese’ schmale Hüften in diesen tief sitzenden Jogginghosen, in denen sich seine Beckenknochen darüber abzeichneten, weil er selbst für seine schmale Figur zu mager war. Reese’ Haar, das ihm immer ins Gesicht fiel, was seine Art war, die Menschen um ihn herum auszublenden. Tom stellte sich vor, sein Haar wegzustreichen und es mit den Händen weit nach hinten zu ziehen.
Reese’ Mund. Diese Lippen, die er jetzt zweimal gesehen hatte, geschwollen vom Schwanzlutschen und stark gerötet davon, wie er sie um die Zähne gezogen hatte. Er wusste, dass dieser Mund heiß und nass sein würde, und eine starke Zunge seinen Schwanz streicheln würde, während Reese ihn lutschte, bis er kam.
Er war so was von im Eimer.
Das warme Wasser regnete auf ihn herab und wusch den Schweiß von seinem Körper. Er zitterte ein wenig von den Nachwehen des stärksten Orgasmus, den er seit Jahren gehabt hatte – von dem Gedanken an den Mund seines Mitbewohners.
Er behielt seine Gedanken über diese kleine spätnächtliche Fantasie für sich. Oder vielmehr schob er das Eingeständnis zur Seite, dass er dem Drang überhaupt nachgegeben hatte. Er hatte seit Monaten keinen Sex mehr gehabt, der es wert gewesen wäre, sich darüber Fantasien hinzugeben. Er war zu ausgelaugt gewesen, um sich von irgendwelchen Dingen erregen zu lassen, aber ein Bett und ein Dach überm Kopf weckten anscheinend den Geschlechtstrieb.
Es war nur natürlich: Wenn jemand ihm seine eigene private Sexshow unter die Nase rieb, war es kein Wunder, dass er sich in die Idee verbiss, einen Blowjob zu bekommen. Und wenn er mit jemandem zusammenwohnte, der, obwohl es nicht so klang, als würde er selbst oft befriedigt werden, eindeutig darauf stand, Schwänze zu lutschen, dann war es nicht besonders überraschend, dass diese Person sich in Toms Masturbationsfantasien drängte. Es war doch eigentlich zu erwarten gewesen.
Er schnaubte und schalt sich einen Idioten, während er den Duschkopf so hielt, dass er sein Sperma von der gefliesten Wand den Abfluss hinunterspülen konnte. Selbst wenn er wollte, hatte es verdammt noch mal keinen Sinn zu leugnen, dass er zu einer schwulen Sexfantasie abgespritzt hatte. Aber wen kümmerte das schon! Was ein Mann sich zusammenfantasierte, hatte nichts damit zu tun, was er im realen Leben machte. Jeder Mann, den er kannte, hatte Fantasien über heiße Dreier mit Bräuten, die sich wie Playboyhäschen stapelten, und der einzige Mann, den er kannte und der tatsächlich einen Dreier gehabt hatte, hatte den größten Teil der Nacht damit verbracht, das Haar eines der Mädchen zu halten, während sie in eine Toilette kotzte, weil alle so betrunken gewesen waren, dass niemand wirklich wusste, was er tat.
Das wahre Leben war viel weniger heiß als Fantasien. Darum hatte man sie. Das bedeutete nicht, dass das wahre Leben jemals den Dingen entsprechen würde, die man sich ausdachte.
Trotzdem, als er es zurück zu ihrem Zimmer geschafft hatte, hatte er die Tür so leise wie möglich geöffnet, damit er niemanden aufweckte. Er hatte sich genauso leise angezogen und die Klamotten in seine Tasche gestopft und war aus dem Raum geschlichen, ohne mehr als einmal auf den Hügel zu schauen, den der schlafende Reese in seinem Doppelbett auf der gegenüberliegenden Seite des Raums bildete; er hatte seine Bettdecke kaum hoch genug gezogen, um seinen Hintern zu bedecken, und seine Schulterblätter zeichneten sich zart in dem schwachen Licht ab, das von den Straßenlaternen durchs Fenster fiel.
Tom würde das ganze Wochenende Taxi fahren – und wenn nötig, hier und da ein Nickerchen in seinem Wagen machen, um Geld für ein Motel zu sparen. Er würde fahren, bis er zu müde war, um überhaupt noch an irgendetwas zu denken. Dann würde er sich auf die Rückbank hauen und einige Stunden später von einem Wecker geweckt werden, immer noch müde und desorientiert vom Schlafmangel. Er würde nicht die Energie haben, über irgendetwas anderes nachzudenken, als genug Geld für sein Girokonto einzusacken, damit er den Scheck für die nächsten Studiengebühren ausschreiben konnte. Und vielleicht würden fast zweiundsiebzig Stunden Privatsphäre dafür sorgen, dass Reese sich an die Vorstellung gewöhnte, dass Tom werktags da sein würde. Allerdings auch dann – außer zum Schlafen – nie allzu lange. Reese war bestimmt aufgefallen, dass Tom versucht hatte, seinem Mitbewohner so viel Freiraum wie möglich zu geben.
Die Sonne schob sich gerade über den Horizont, als er auf der Mass Pike nach Osten in Richtung Boston fuhr. Die sanft gewellten Hügel zogen sich zu beiden Seiten des Highways hin, während der Verkehr zunahm, je näher er der Stadt kam.