Noch einmal mit dir - Amy Jo Cousins - E-Book

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Amy Jo Cousins

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Beschreibung

Jack Tarkington ist am absoluten Tiefpunkt angekommen. Eigentlich sollte er längst auf dem Weg nach Paris sein, um dort sein letztes Studienjahr zu verbringen. Stattdessen wurde er vom College suspendiert, weil sein Temperament einmal zu viel mit ihm durchgegangen ist. Ihm bleibt keine andere Wahl, als in seine kleine Heimatstadt in Iowa zurückzukehren. Die erste Person, die ihm dort über den Weg läuft, ist ausgerechnet Miguel, mit dem ihn schon früher mehr als nur eine Freundschaft verbunden hat. Doch die beiden sind damals nicht im Guten auseinandergegangen. Und selbst wenn Miguel ihm eine zweite Chance gibt, ist Jack sich nicht sicher, ob er diese überhaupt verdient hat ... (ca. 450 Seiten)

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Seitenzahl: 413

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

1

2

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20

Epilog

Die Autorin

Die Romane von Amy Jo Cousins bei LYX.digital

Impressum

AMY JO COUSINS

Noch einmal

mit dir

Roman

Ins Deutsche übertragen

von Michaela Link

Zu diesem Buch

Jack Tarkington ist am absoluten Tiefpunkt angekommen. Eigentlich sollte er längst auf dem Weg nach Paris sein, um dort sein letztes Studienjahr zu verbringen. Stattdessen wurde er vom College suspendiert, weil sein Temperament einmal zu viel mit ihm durchgegangen ist. Ihm bleibt keine andere Wahl, als in seine kleine Heimatstadt in Iowa zurückzukehren. Die erste Person, die ihm dort über den Weg läuft, ist ausgerechnet Miguel, mit dem ihn schon früher mehr als nur eine Freundschaft verbunden hat. Doch die beiden sind damals nicht im Guten auseinandergegangen. Und selbst wenn Miguel ihm eine zweite Chance gibt, ist Jack sich nicht sicher, ob er diese überhaupt verdient hat …

Für Jodie, die mir gezeigt hat, dass man immer wieder sein Leben ändern kann. Danke für die Triathlons, die Klettertouren, die Kardamomkapseln, Blondie und dafür, dass du mir damals beim Babysitten nicht den Hals gebrochen hast. Ich wusste, dass ich irgendwann ein Buch schreiben würde, in dem der Song »Wagon Wheel« vorkommt, sobald ich ihn dir und John vorgespielt hätte und du sagen würdest: »Hey, Kleine, du spielst die Gitarre. Und ich bin mit dem Banjo dabei.«

1

Das Mädchen, das ihm mit ihrem endlosen Monolog über interdisziplinäre Medienforschung zweitausend Kilometer lang das Ohr abgekaut hatte – von der Ostküste den ganzen Weg bis zu den Maisfeldern von Iowa –, setzte ihn kurz vor dem Morgengrauen mit Reisetasche und Banjokasten am Bordstein ab.

Jack Tarkington war wieder zu Hause.

Die altmodischen schmiedeeisernen Straßenlaternen beleuchteten gleichmäßig den Gehsteig mit ihrem gelben Lichtschein. Jacks Vater hatte einen wahren Feldzug gegen die Anschaffung dieser teuren Laternen geführt, die mithilfe von Steuergeldern finanziert worden waren. Doch die Bürger in der Stadt hatten in einem eigens dafür abgehaltenen Referendum mit großer Mehrheit dafür gestimmt. Auf dem peinlichen Höhepunkt seiner Kampagne hatte sein Vater ein Laken mit der Aufschrift Stadtrat-Faschisten, verzieht euch! aus Jacks Schlafzimmerfenster gehängt – vermutlich weil es im ersten Stock lag und so für vorbeifahrende Autofahrer gut sichtbar war.

Jack fand die Straßenlaternen irgendwie hübsch. Sie waren zwar etwas altbacken, so als versuchte Colchester Falls zu angestrengt, eine charmante Ostküstenstadt zu imitieren — eine wie die, die er gerade verlassen hatte —, aber süß. Und auf der menschenleeren Hauptgeschäftsstraße, die Colchester Falls pfeilgerade durchzog, nur unterbrochen von den kleinen Buckeln der Bahnschienen, erweckte der schummrige Lichtschein den Eindruck, dass die Zeit seit der Gründung der Stadt vor fast hundertfünfzig Jahren stehen geblieben war.

Die Schaufenster der Geschäfte waren dunkel, die Türen nicht vergittert – eine solche Sicherheitsmaßnahme wäre niemandem in dieser verschlafenen Stadt in den Sinn gekommen. Verschlossen mit einem simplen Türschloss, das Licht ausgeschaltet, bis die Läden gegen zehn Uhr wieder öffnen würden. Oder gar nicht, falls es ein Sonntag wäre. Jack rieb sich das Gesicht und versuchte, sich daran zu erinnern, welcher Tag war.

In der vergangenen Woche waren die Dinge so schnell aus dem Ruder gelaufen und hatten ihn überrollt, dass auch ihm klargeworden war, wie gründlich er alles vermasselt hatte.

Mit trübsinnigem Blick schaute er die verlassene Straße entlang. Jack überlegte, wo er die Zeit totschlagen konnte, bis er sich zu Hause sehen lassen konnte. Definitiv nicht vor der ersten Kanne Kaffee.

Niemand erwartete ihn dort. Zumindest nicht vor Ende dieses Monats. Er hatte nicht gewusst, wie er seinen Eltern beibringen sollte, was geschehen war. Daher hatten sie keine Ahnung, dass er kommen würde.

Es gibt einfach keine gute Art und Weise zu verkünden, dass man von der Uni geflogen ist, weil man jemanden schikaniert hat. Das kann man drehen und wenden, wie man will.

Der Zorn über die verdammte Ungerechtigkeit des Ganzen kam abermals in ihm hoch, aber er kämpfte dagegen an. Es hatte keinen Sinn, den Straßenlaternen etwas vorzuheulen. Er hatte es schon immer vorgezogen, dort zu jammern, wo ihn jemand hören konnte.

Einen Häuserblock hinter den Bahngleisen fiel Licht aus einem der Läden. Vielleicht hatte hier ein Café aufgemacht, seit er die Stadt im vergangenen Herbst verlassen hatte. Im Laufe des Jahres kam er nur nach Hause, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ, und blieb während der vorlesungsfreien Zeit lieber in dem dann ziemlich leeren Wohnheim, wenn man es ihm erlaubte. Manchmal ergatterte er auch eine Einladung ins Elternhaus eines Freundes und verbrachte dort die Ferien. Möglicherweise war in dieser elenden Stadt während seiner langen Abwesenheit ja tatsächlich einmal etwas Cooles passiert.

Als er seine Reisetasche auf ihren Rädern quer über die Bahngleise zerrte, scheuerte der Griff an seinen blasigen Fingerkuppen, und die überbeanspruchten Sehnen in seinem Handgelenk machten sich bemerkbar. In der vergangenen Woche hatte er pausenlos gespielt, um den Lärm und die Stimmen in seinem Kopf auszublenden. Nur wenn er Musik machte, ließ die Panik nach.

Du hast es so übel vermasselt, dass du es niemals wieder in Ordnung bringen kannst, Junge. Und das alles, nachdem du endlich von hier weg warst, du blöder Scheißkerl. Ich kann es nicht fassen, dass du wieder hier bist.

Er hatte geplant, den Sommer in Boston zu verbringen und ein Praktikum bei Partners in Health zu absolvieren, um das Hochgefühl, aus den richtigen Gründen arm zu sein, genießen zu können. Nämlich weil man sich opferte und darauf hinarbeitete, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, was auch immer das bedeutete. Und nicht, weil man als Fabrikarbeiter seine Schichten versäumte – in dem einzigen Job, den man als Kabelmonteur nach Stilllegung des Kraftwerks gefunden hatte.

Jack schüttelte so heftig den Kopf, dass es wehtat und er dadurch diese Todesspirale des Jammerns durchbrach. Er hatte schnell gelernt, dass niemand Zeit mit einem armen Jungen verbringen wollte, der darüber lamentierte, arm zu sein, weil seine Eltern Versager waren.

Schluck es runter und summe lieber ein Bela-Fleck-Solo.

Er konzentrierte sich auf etwas Heiteres und ignorierte die Schmerzen in seiner Hand. Es war schwieriger, als es aussah, auf dem beengten Vordersitz eines Minis Banjo zu spielen, aber solange er vorsichtig an den Saiten zupfte, hatte er den größten Teil des quälenden Monologs der Fahrerin ignorieren können. Zumindest hatte er einen Vorwand gehabt, um seine Antworten auf ein Grunzen und Nicken zu beschränken, während er auf seine Fingerkuppen starrte, die er über die Saiten huschen ließ.

Zumindest waren die Gehsteige hier im Flachland eben. Er erinnerte sich an seine ersten Monate auf dem Campus in Carlisle, als er frühzeitig für einen Sommerkurs für Erstsemester dort eingetroffen war. Er hatte sich von einem jungen Mann auf seinem Flur ein Fahrrad geborgt, entschlossen, die Stadt und die umliegende Gegend zu erkunden, nur um dann festzustellen, dass er den Campus gar nicht verlassen konnte. Denn das College lag in einem Tal zwischen Hügeln. Jede Straße, die von dort wegführte, ging bergauf, und mit seinen Fahrradkünsten aus der Prärie war er der hügeligen Landschaft der Ostküste keineswegs gewachsen gewesen.

Am Ende war er über das baumbestandene, grüne Gelände gekurvt, immer noch benommen davon, dass er es tatsächlich geschafft hatte. Dass er dem kleinen Kaff von zu Hause entflohen war und es bis ins Land des Wohlstands und der Kennebunkport-Yuppies geschafft hatte. Er war überrascht gewesen festzustellen, dass die meisten Kids in seinen Erstsemesterkursen die gleichen Vampire-Weekend- und LMFAO-T-Shirts trugen wie die Bauerntölpel, die er daheim zurückgelassen hatte.

Na schön, die meisten der Kids im College hatten ihre Shirts bei einem Konzert gekauft und nicht im Internet. Trotzdem. Er hatte etwas anderes erwartet, hatte … mehr erwartet. Irgendwelche Dramen und ein ganz neues Leben. Einen ganz neuen Jack vielleicht. Aber im Wesentlichen war es dort nur das Gleiche in Grün, nur in einer anderen Stadt.

Bis auf einmal alles zusammenstürzte wegen Tom Worthington, dieser kleinen Ratte, und seinem betrügerischen Mistkerl von Vater. Sie waren beide totale Arschlöcher. Wie der Vater so der Sohn. Der eine kostete Jack seinen Collegefonds, der andere seinen Studienplatz am Carlisle-College.

Sein rechtes Augenlid zuckte, ein sicheres Zeichen, dass er etwas ignorierte, aber er summte einfach lauter, während das Scharren seiner Reisetasche über den Boden ihm folgte. An dem billigen Gepäckstück fehlte mindestens ein Rad, sodass er die große, schwere Tasche eher hinter sich herschleifte als dass sie rollte. Der Schmerz in den Fingerkuppen und dem Handgelenk strahlte jetzt bis in die Schulter hinauf.

Am Rand des warmen Lichtscheins aus dem einzigen Laden, der auf der Hauptgeschäftsstraße erleuchtet war, hielt er inne und zögerte einen Moment lang, näherzutreten. In Innern rührte sich nichts hinter den eleganten Lettern der Leuchtschrift im Schaufenster.

Vargas Farm Table & Kitchen.

Er trat ins Licht und hob eine Hand an das Glas. Zeichnete die Schnörkel am V nach und legte verwundert den Kopf schräg.

Nein. Das konnte nicht sein.

Selbst in einem Städtchen im ländlichen Iowa gab es mehr als eine Familie mit dem Namen Vargas. Und die Familie, die er gekannt hatte, vielmehr deren jüngsten Sohn, hatte niemals erwähnt, dass sie im Ort einen Laden eröffnen wollten.

Nicht dass er bei seinen seltenen Besuchen daheim tatsächlich irgendein Familienmitglied der Vargas’ gesehen hatte. Es war leichter, sich in seinem Zimmer zu verstecken und jedem auszuweichen, den er bereits enttäuscht hatte. Das musste er wohl auch auf die lange Liste dummer Entscheidungen setzen, die er getroffen hatte.

Im Inneren des Ladens konnte er die groben Holzregale und Tische erkennen, die gerammelt voll waren mit fremd aussehenden Kisten, Krügen und Behältern. Normalerweise konnte er die meisten Marken aus einer Entfernung von zwanzig Metern identifizieren. Aber nichts auf diesen Regalen sah vertraut aus. Die beleuchteten Delikatessenvitrinen im hinteren Teil des Ladens waren mit verschiedenen Käsesorten gefüllt, aber nichts erinnerte an das satte Gelb eines Cheddars oder die orangefarbenen Ränder eines weißen Munsterkäses. Es gab überhaupt keinen orangefarbenen Käse, alles sah blässlich aus.

Er wusste, woran er war. Es gab auch an der Ostküste Gourmetläden, obwohl Jack niemals flüssig genug war, um dort einzukaufen. Aber er hatte reichlich Zeit damit verbracht, sich an einem einzigen schwarzen Kaffee festzuhalten und so zu tun, als hätte er keinen Hunger, während sein wohlhabender Kommilitone Rusty ohne mit der Wimper zu zucken zwanzig Dollar für ein Mittagessen aus dem Fenster warf. Es war unheimlich, einen dieser Läden in seiner Heimatstadt zu sehen, am Arsch der Welt.

Irgendwie zu vornehm für Colchester Falls, einer Stadt, in der es weder Austern – für die die gleichnamige englische Stadt berühmt war – noch Wasserfälle gab. Den Namen der Stadt hatten sich offensichtlich ein paar Bauern ausgedacht, die so tun wollten, als wären sie etwas Besseres.

Er schleifte seine Tasche zur Tür, obwohl er das Schild mit der Aufschrift Geschlossen an einem Knopf in Bauchhöhe hängen sah, und rüttelte an der Klinke.

Abgeschlossen.

Natürlich.

Er ließ den Kopf nach vorn sinken. Er bumste gegen das kühle Glas, und eine Welle der Erschöpfung schlug über ihm zusammen. Dann hob er den Kopf wieder, zog einen Ärmel über seinen Handballen und wischte über das Glas, weil er Angst hatte, einen Riesenfettfleck von seiner Stirn auf der blitzsauberen Tür zu hinterlassen.

Nach dreißig ungewaschenen Stunden in einem winzigen Auto und einer Fahrt quer durchs Land roch niemand mehr wie frische Gänseblümchen.

Nun war er hier, speckig und nach Zigaretten stinkend, weil er im Auto geraucht hatte. Und er schleppte alles mit sich herum, was er besaß, in einer ausgebeulten Tasche, in die ein Japaner gepasst hätte.

Da trat Miguel Vargas – der erste Junge, den er je geküsst hatte, der Junge, mit dem er gekämpft und gesungen hatte und den er zurückgelassen hatte, um gen Osten zu ziehen, weit weg von dem Provinzkaff, in dem sie aufgewachsen waren – aus einem Nebenraum, den Jack noch nicht bemerkt hatte, und schloss die Tür auf.

Jack Tarkington.

Ohne Scheiß.

Mike Vargas blieb in der Tür des Anbaus stehen und sah sich den schlanken Jungen mit dem dunklen Haar und dem schmalen, hippen Bärtchen näher an. Er war es gewohnt, dass gelegentlich frühmorgens ein Farmer oder Lastwagenfahrer an seine Tür hämmerte. Die Einheimischen wussten jedoch, dass sie nach hinten kommen mussten, wo Mike bis zu den Ellbogen in Backwaren und vorbereiteten Delikatessen steckte und den Laden für das Tagesgeschäft herrichtete. Er verkaufte mehr als nur ein paar Tassen Kaffee an der Hintertür, bevor der Laden überhaupt öffnete.

Aus dem Laden selbst drangen nie irgendwelche Geräusche. Selbst wenn er morgens um sieben öffnete, gab es so früh am Tag nur wenige Kunden. Er hatte dem Stadtrat eine Sondererlaubnis abschwatzen müssen, um überhaupt so früh öffnen zu dürfen. Aber er hatte an die Angestellten der anderen zwei Dutzend Läden und Geschäfte in der Innenstadt erinnert und die Ratsherren davon überzeugt, dass sein Geschäft kein frühmorgendlicher Drogenumschlagplatz war, sondern ein Delikatessenladen mit dem Besten von der Farm seiner Familie.

Das frühmorgendliche Geschäft war noch nicht so recht angelaufen, aber Mike war zuversichtlich, dass das noch kommen würde. Früher oder später wurden alle ihren eigenen Kaffee und ihr eigenes Müsli leid. Und sobald er sie daran gewöhnt hatte, in seinen Laden zu kommen, bevor sie ihren eigenen aufmachten, würde ein Besuch in der Vargas-Kitchen für jeden, der im Geschäftsviertel der Innenstadt arbeitete, zu einem gewohnheitsmäßigen Stopp werden.

Was es erheblich vornehmer klingen ließ, als es war. Zwölf Häuserblocks gruppierten sich um den Knotenpunkt der Hauptgeschäftsstraße und der Eisenbahnschienen. Er war in seinen Jugendtagen durch diese kleinstädtischen Straßen getobt, und jetzt verfluchte Mike wie jeder andere Geschäftsbesitzer die Teenager, die am Wochenende des Klassentreffens das ganze Stadtzentrum mit Klopapier zumüllten. Das anschließend fällige Saubermachen war immer ein ganz besonderer Spaß, vor allem wenn es auch noch regnete.

Manchmal vermisste er die wilden Zeiten.

Der Typ, mit dem er in der Junior High am meisten herumgehangen hatte, stand nun auf der anderen Seite der Ladentür und sah Mike mit großen Augen und ziemlich zerzaustem Haar an. Einen Moment lang fragte Mike sich, ob es wirklich bereits Juli sein konnte, bevor er sich daran erinnerte, dass er definitiv unlängst seine Steuern gezahlt hatte.

Das Loch, das sie in die Kasse gerissen hatten, schmerzte immer noch ein bisschen. Es war wirklich immer noch April. Zu früh für die Sommerferien, schrecklich spät für die Frühjahrspause. Und Jack hatte geschworen, dass er nie wieder einen Fuß nach Colchester Falls setzen würde, selbst wenn es bedeutete, unbezahlte Praktika anzunehmen und Couchsurfing zu betreiben, wenn sein Wohnheim geschlossen war. Er war schon zwei Monate vor Studienbeginn aufgebrochen und hatte an einem Sommerprogramm für Studenten mit gutem Schulabschluss teilgenommen. Dadurch hatte er ihren letzten gemeinsamen Sommer drastisch abgekürzt. Natürlich hatte Mike damals erwartet, sie würden in Verbindung bleiben, würden immer Freunde sein oder mehr als das. Aber zum Teufel, kein Mensch wusste, was Jack heute so trieb. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, Mike zu besuchen, als er das letzte Mal zu Hause gewesen war. Wenn Mr Tarkington es nicht erwähnt hätte, als er einmal auf einen Kaffee hereingekommen war, wäre Jacks letzter Besuch daheim vollkommen unentdeckt geblieben. Mike schüttelte den Kopf und schloss die Tür auf.

»Ich dachte, du würdest erst zurückkommen, wenn wir dir einen roten Teppich ausrollen«, sagte er und kam sich irgendwie dumm dabei vor, dass er die Tür aufhielt, während Jack einfach nur dastand und ihn anstarrte.

Jack hatte eine Reisetasche von der Größe einer kleinen Kuh hinter sich stehen und sah fix und fertig aus. Er taumelte. »Arbeitest du hier?«

Die Frage schmerzte mehr als ein bisschen. »Das ist mein Laden.« Mike versuchte zu lächeln, als er es sagte, verspürte aber diesen alten, wohlvertrauten Drang, mit dem einzigen Jungen zu konkurrieren, der ihm das Wasser reichen konnte.

»Der Laden gehört dir?«

»Er gehört der Familie«, gab Mike zu, sagte sich jedoch, dass das seine Leistung nicht schmälerte. »Aber es war meine Idee, und ich leite dieses Geschäftsfeld.«

»Du wolltest schon immer weg von dieser Farm.« Jack drückte den Rücken durch, und seine Augen leuchteten auf. Mike wusste, dass er zwei Sekunden von einem Ich hab’s dir ja gesagt entfernt war, was es ihnen wirklich verdammt schwer machen würde, wieder Freunde zu sein. Nicht dass er mit dem Jungen befreundet sein wollte, der ihn ohne einen Blick zurück verlassen hatte.

Mike schüttelte den Kopf und hob eine Hand. »Nein, das wollte ich nie.« Jack hatte das noch nie richtig verstanden. Mike wollte nicht weg von hier, sondern nur das Familienunternehmen in eine andere Richtung lenken. Es ging ihm darum, es größer zu machen, besser. Und er war verdammt stolz auf das, was er bisher erreicht hatte. »Kommst du rein, oder soll ich hier den ganzen Tag stehen und die Tür für dich aufhalten, altes Arschloch?«

Als hätte jemand seine Schnüre durchgeschnitten, sackte Jack wie eine Marionette in sich zusammen. Er ließ die Schultern hängen und strich sich mit einer Hand über das Gesicht. »Ja, danke. Hast du eine Tasse Kaffee?«

»Du hast also Durst, deswegen erinnerst du dich daran, Hallo zu sagen.«

Bei der Bemerkung zuckte Jack zusammen. Er griff in seine Hosentasche. »Ich kann bezahlen …«

Mike unterbrach ihn mit einem Schnauben und bedeutete Jack, ihm nach hinten zu folgen. Er verdrehte die Augen, während er sich durch die schulterhohen Vitrinen Richtung Nebenraum schlängelte. »Oh, Mann. Du warst der erste Typ, dem ich auf dem Rücksitz eines Autos unten am See einen geblasen habe. Du brauchst für deinen gottverdammten Kaffee nicht zu bezahlen.«

»Der erste Typ?« Mike konnte an Jacks Tonfall hören, dass er gerade die Augenbrauen hochzog. Nicht nötig, ihm dafür ins Gesicht zu sehen.

»Du bist seit fast drei Jahren weg.« Es fühlte sich seltsam an, diese Worte laut auszusprechen, so ähnlich wie seekrank zu sein. Wie war es möglich, dass es bereits drei Jahre her war? Mike konzentrierte sich auf den Kaffeeautomaten, mit dem er sowohl mexikanischen Kaffee mit Zimt und braunem Zucker als auch normalen Kaffee und entkoffeinierten brauen konnte, sodass er für Stoßzeiten bestens gewappnet war. »Du willst mir doch nicht erzählen, dass du da im Osten wie ein Mönch gelebt hast.«

»Nein.«

Mike sah ihn nicht an, daher konnte er sich einbilden, dass Jack zumindest ein klein wenig schuldbewusst wirkte, dass er sich nicht mehr gemeldet hatte, seit sie vor vierunddreißig Monaten das letzte Mal Sex gehabt hatten.

»Dachte ich mir.« Mike schaute zu dem Regal mit bunten Bechern für das Personal, ein Sammelsurium von Hawkeye- und Herr-der-Ringe-Erinnerungsstücken. Er hob die Hand, verharrte aber mitten in der Bewegung und griff nach einem Pappbecher aus der offenen Rolle auf dem Bord hinter dem Tresen.

»Ich bekomme keinen Porzellanbecher?« Jack war immer schnell. Die einzige Überraschung, als sie von einem Biologielehrer in der siebten Klasse schließlich zu Banknachbarn gemacht worden waren, hatte darin bestanden, dass noch nie zuvor jemand eine Verbindung zwischen ihnen hergestellt hatte – waren doch beide schlauer, als es ihnen guttat oder den Lehrern gefallen konnte. Seit jenem September war kein Tag vergangen, an dem Mike keine Zeit mit Jack verbracht hätte.

Bis Jack fortgegangen war.

»Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, hast du dermaßen schnell die Stadt zu verlassen, dass es dir die Haare nach hinten geweht hat. Ich habe angenommen, dass du wahrscheinlich einen Kaffee to go haben willst.« Er ließ normalen Kaffee in den Becher laufen, drückte einen Deckel darauf und reichte ihn ihm.

Jack hatte zumindest den Anstand, bei der Erinnerung daran den Blick abzuwenden. Ihre lautstarken Streitigkeiten waren in jener Woche nach dem Schulabschluss außer Kontrolle geraten, als Mike herausgefunden hatte, dass Jack in wenigen Tagen, nicht erst in Wochen, fortgehen würde und nicht plante zurückzukommen.

»Miguel …«

Er hatte vergessen, wie sehr es ihn ärgerte, dass Jack ihn immer noch Miguel nannte, ein nerviges Überbleibsel aus einem Spanischkurs an der Junior High. »Du siehst übrigens beschissen aus.«

»Sie wissen nicht, dass ich komme.«

Mike krampfte die Hände um einen Karton mit Backwaren, die er sich jeden Morgen von einer örtlichen Bäckerei liefern ließ. Jacks Eltern waren nicht gerade herausragend, wenn es darum ging, mit etwas Unerwartetem fertigzuwerden. Ganz zu schweigen davon, dass bei ihnen der frühe Morgen definitiv in die Katerzone fiel. Mike schaute über seine Schulter hinweg zu Jack hinüber, der die Hände um seinen Becher gelegt hatte, als wolle er dessen Wärme direkt in sich aufnehmen. »Das Semester ist noch nicht zu Ende, oder? Warum bist du hier?«

Jack zuckte zusammen und sah ihm nicht in die Augen, sondern starrte zu Boden. Das war übel. Es gab jede Menge Dinge, mit denen Jack nicht gut umgehen konnte. Scheiße, schwul zu sein, aus einer Kleinstadt zu stammen und der Sohn von Alkoholikern zu sein – der Rucksack voller Probleme, den Jack mit sich herumtrug, war schwerer als seine Reisetasche. Dennoch tat er immer so, als ließe ihn das alles kalt.

Dass Jack verlegen war und ihm nicht in die Augen sehen konnte, bedeutete … Nun, Scheiß drauf. Mike wusste nicht, was wirklich los war, da er Jack noch nie zuvor so erlebt hatte, aber es war bestimmt nichts Gutes.

»Das Semester ist noch nicht zu Ende, und ich bin in dieser verfluchten Stadt, also lass uns annehmen, dass nichts Gutes dahintersteckt, okay?« Du könntest es nicht mit einem Stemmeisen und einer Stange Dynamit aus mir herausholen. Jack drückte die Isoliermuffe seines Bechers wie ein Alkoholiker seine Flasche. Aber seine Finger hatten nur die Schwielen eines Banjospielers, nicht die eines Junkies, der ständig mit einem Feuerzeug und heißen Löffeln hantierte.

»Okay.« Mike kleidete eine Auslage mit Wachspapier aus und begann, sie mit Muffins und Scones zu füllen. Er sagte sich, dass er es gut sein lassen sollte. Dass nichts, was Jack tat, für ihn jemals wieder mehr als flüchtiges Interesse rechtfertigten würde. Aber er wusste, dass das ein frommer Wunsch war, als er fragte: »Wie lange bleibst du denn?«

Und jetzt sah Jack ihn an, und zwar mit großen, verletzlich aussehenden Augen, die sich auftaten und die Welt mit ihrem Schmerz verschluckten. Mike trat einen Schritt zurück, als hätte er einen Schlag in den Magen bekommen. Ach du Sch…

»Oh, Mann, Miguel, ich habe furchtbare Scheiße gebaut.«

Einen Moment lang dachte Mike, dass Jack losheulen würde, und beinahe hätte er einen Schritt vorwärts gemacht. Jedenfalls seufzte er nicht einmal, als Jack ihn bei dem Namen nannte, den sonst niemand benutzte.

Jeder Muskel in Jacks Körper erstarrte, und die dünnen Sehnen auf seinem Handrücken traten hervor, als er seinen Becher so fest umklammerte, dass der weiße Plastikdeckel absprang. Heißer Kaffee schwappte über den Rand und verbrannte ihm garantiert die Hand, doch Jack zuckte nicht einmal zusammen. Er starrte Mike nur an, während Kaffee von seinem Handgelenk auf den sauberen, gefliesten Boden tropfte, und zitterte wie ein Kaninchen. »Ich … ich muss gehen.«

Bevor Mike überhaupt blinzeln konnte, war Jack schon zur Tür hinaus und lief die Straße hinunter. Der Banjokasten hüpfte auf seinem Rücken auf und ab. Das Geräusch der flüchtenden Schritte seines einstmals besten Freundes verhallte binnen Sekunden, und Stille trat ein, als wäre das Ganze eine Halluzination gewesen.

Die Ladentür schwang hin und her, bis Mike sich aufraffte, sie zu schließen. Erst als er in seinen jetzt verwaisten Nebenraum zurückkehrte, der von dem Schmerz widerhallte, der Jack in die stillen, dunklen Straßen ihrer Heimatstadt getrieben hatte, bemerkte Mike, dass Jacks Reisetasche immer noch wie eine Anklage dastand.

»Na toll.«

Die letzten drei Jahre schienen Jack nicht viel umgänglicher gemacht zu haben. Es war gut möglich, dass er lieber nackt im Stadtzentrum von Colchester Falls umherlaufen als zurückkommen würde, um seine Sachen abzuholen, nachdem er einem anderen menschlichen Wesen solche Verletzlichkeit gezeigt hatte.

»Soll er doch, dieser verlogene Mistkerl.«

Das Klimpern der Glocke an seiner Vordertür rief ihn zurück in den Laden. Scheiße, Kundschaft. Er schnappte sich die Auslage, die er halb gefüllt hatte, und den Becher mit Kaffee. Schon jetzt hinkte er seinem Zeitplan hinterher, aber er wollte verdammt sein, wenn er nicht Zeit fand, noch eine Lieferung für Jacks Elternhaus fertig zu machen.

Der gottverdammte Jack Tarkington. Gerade mal fünfzehn Minuten wieder in der Stadt, und schon machte er Mike Ärger.

Nichts veränderte sich jemals.

2

Ausgerechnet an diesem Tag, an dem er für eine halbe Stunde den Laden verlassen wollte, entdeckte natürlich die ganze Stadt, dass sie nicht ohne einen mexikanischen Kaffee leben konnte, um den Vormittag zu überstehen. Obwohl Andie die Getränke übernahm und Frühstückssandwiches aufwärmte, sodass ihre braunen Zöpfe wie Peitschenschnüre um ihren Kopf flatterten, hatten sie sich abgehetzt, und die Schlange war den ganzen Morgen über nicht kürzer als zwei Personen geworden. Als sie mit dem Frühstücksgeschäft fertig waren, wurde es Zeit, alles wieder aufzufüllen und das Mittagessen vorzubereiten. Das hieß, ein Dutzend von jedem der fünf Spezialitätensandwiches zuzubereiten und den riesigen Topf Minestrone aufzuwärmen, die Mike gestern zubereitet hatte.

Nach dem Mittagessen würde er die Suppe für den nächsten Tag machen, Mischgemüse mit Mais und Andouille, einer französischen Wurstspezialität, sein Inventar für die Woche überprüfen und versuchen herauszufinden, ob er es sich leisten konnte, eine weitere Annonce in der Stadtzeitung zu schalten. Vielleicht irgendein Frühlingssonderangebot. Nachmittags war es immer still, bis die Kids aus der Schule kamen. Er hatte klargestellt, dass nachmittägliche Hausaufgabensitzungen mit Gruppen von Teenagern, die an seinen Tischen campierten und ihr Geld in Münzhäufchen neben den Kaffeebecher legten, total okay waren. Er goss den Kaffee kostenlos nach, bis er um sechs schloss. Nachmittags brauchte er keine Hilfe beim Verkauf, und manchmal holte er sogar seine Gitarre hervor und spielte leise Musik, was den Kids zu gefallen schien.

Andie einzustellen war die beste Entscheidung gewesen, die er bisher getroffen hatte, selbst wenn es ihm merkwürdig vorkam, der Boss von jemandem zu sein, mit dem er die Highschool besucht hatte. Aber als es sich herumsprach, dass ihre Eltern sie rausgeworfen hatten, nachdem ihre Schwangerschaft im vergangenen Jahr unübersehbar geworden war – Neuigkeiten verbreiteten sich in einer Kleinstadt schneller als Windpocken –, und als sie eines Nachmittags vor seiner Theke aufgetaucht war und gefragt hatte, ob er Hilfe im Laden brauche, hatte Mike beschlossen, dass es an der Zeit war, ein wenig Optimismus zu zeigen, und sie auf der Stelle engagiert.

»Hey, besteht irgendeine Möglichkeit, dass du heute länger bleiben kannst?«, fragte er Andie, während er die Warmhaltekannen vor dem Mittagsansturm wieder auffüllte.

»Bis wann?«

»Was immer du einrichten kannst. Ich muss ans andere Ende der Stadt und etwas abgeben.«

»Lass mich Mrs Sullivan anrufen. Mal sehen, ob sie für mich auf Charlie aufpassen kann.« Andies Nachbarin, eine pensionierte Kindergärtnerin, die sie alle als Kinder schon gekannt hatte, war ein Gottesgeschenk. Mrs Sullivan war zornig auf Andies Eltern und ging jeden Sonntag mit Andie und Charlie in die Kirche, und sei es nur, um Andies Eltern die Tatsache unter die Nase zu reiben, dass es einige Menschen gab, denen die beiden nicht peinlich waren.

»Eigentlich bin ich seit der Präsidentschaft Kennedys nicht mehr in der Kirche gewesen «, hatte Mrs Sullivan Mike gestanden, als sie eines Morgens auf ihrem Spaziergang mit dem Baby hereingekommen war. »Pater Tom reibt sich dennoch die Hände. Er denkt, er hätte mich in die Herde zurückgeholt.« Sie hatte die Wangen aufgeblasen und den Kaffee angenommen, den Mike ihr gereicht hatte, immer darauf bedacht, den Becher außer Reichweite von Charlie in seinem Kinderwagen zu halten. »Ich gehe wegen des Babys hin. Und wegen Andie. Gewiss nicht wegen des schrecklichen Kaffees. Ich werde Pater Tom sagen, dass er ihn zukünftig von dir beziehen soll. Zu meiner Zeit wussten die Katholiken, wie man eine anständige Tasse braut.«

Mike hatte abgewunken, als sie hatte bezahlen wollen. Mrs Sullivan berechnete Andie nichts fürs Babysitten, und nur deshalb war es Andie erst möglich geworden, überhaupt zu arbeiten. Und Mike konnte ohne Andie nicht überleben, daher nahm er kein Geld von Mrs Sullivan. Die ältere Dame hätte niemals mehr angenommen als eine Tasse Kaffee und gelegentlich einen Keks, aber Mike sorgte dafür, dass er Andie regelmäßig mit jedweden übrig gebliebenen Sandwiches vom Mittagessen nach Hause schickte. Er wollte keine für den nächsten Tag aufbewahren, und seine große Familie konnte es allemal verkraften, wenn etwas von den Resten für Andie abfiel. Zu dritt ergaben sie ein perfekt ausbalanciertes Team, und er unterstützte das, so gut er konnte.

»Sagen Sie Pater Tom, wenn er zum Kaffee Backwaren bestellt, berechne ich ihm nichts für die Lieferung.« Die Schulen am Ort hatte er bereits als Kunden gewonnen, wenn es um größere Veranstaltungen ging. Die Verbindungen seiner alten Kindergärtnerin waren weitläufig, und er würde sie mit Freuden sämtliche Kirchen der Stadt »missionieren« lassen.

»Zuerst schnappen wir uns die Katholiken.« Mrs Sullivan zwinkerte ihm zu. »Die Lutheraner und die Episkopalen werden nicht lange zaudern, wenn ihre Ehegatten Gottesdienste schwänzen, um die Messe in St. Pete zu besuchen, weil das Buffet dort besser ist.«

»Darauf einen High five. Und auf die Doppelzüngigkeit allüberall.«

Es überraschte ihn also nicht, als Mrs Sullivan sagte, sie freue sich darauf, auf Charlie aufzupassen. Andie schob Mike um ein Uhr mittags aus der Hintertür und sagte ihm, dass er sich Zeit lassen solle.

»Nimm dir doch den Nachmittag frei.« Sie strich sich eine lose Haarsträhne aus der Stirn. Bevor er protestieren konnte, winkte sie ihn weg. »Ich kann den Maiseintopf machen. Die Highschool-Kids werden einen Nachmittag ohne ihre Livemusik überleben. Geh, mach ein Nickerchen. Schau dir einen Film an. Krieg deine Panik in den Griff, dass du ausnahmsweise einmal nicht vierzehn Stunden am Stück arbeitest.«

»Ruf mich an, wenn du willst, dass ich rüberkomme und mit dir den Laden schließe.« Colchester Falls war eine schläfrige Stadt, und Mike hatte kein Problem damit, in den dunklen Abendstunden durch die Straßen zu gehen oder seine Haustür unverschlossen zu lassen. Aber er wollte Andie nicht zumuten, am Ende des Tages den Laden allein abzuschließen, und für gewöhnlich vermied er es. Es war nicht so, als würden sie zigtausend Dollar Bargeld einnehmen, aber trotzdem, eine Art altmodischer Ritterlichkeit – oder vielleicht auch Chauvinismus – führte dazu, dass er sich Sorgen machte, wenn er sie damit allein ließ. »Lass die Abrechnung sein und das Geld einfach im Safe liegen. Ich erledige das morgen.«

Andie verdrehte die Augen, fasste ihn an den Schultern und schob ihn in den Nebenraum. »Ja, Dad. Jetzt verschwinde. Ich komme schon zurecht.«

»Danke!«

Sie winkte ihm zu. Die Glocke läutete, und sie ging hinaus zur Ladentheke. Mike zog seine Schürze aus und warf sie in den Nylonkorb an der Tür. Zeit zu waschen. Aber nicht heute. Er würde Jacks Reisetasche abgeben und dann etwas für sich tun.

Er schnappte sich Rucksack und Fleecejacke von den Haken an der hinteren Wand. Selbst an sonnigen Frühlingstagen wie heute war der Wind noch kalt und erinnerte ihn daran, dass Iowa im April immer noch gut für Schneestürme war. Sein Rucksack zerrte an seiner Schulter. Er war voll mit Büchern für seine beiden Volkshochschulkurse in diesem Quartal, aber seine Hausaufgaben für den Geschichtskurs, den er ausschließlich zum Vergnügen besuchte, war erst morgen fällig. Er könnte sich die Fünf-Uhr-Vorstellung im Kino ansehen, was immer dort gerade gezeigt wurde. Oder er könnte sich nach der Schule einige seiner Neffen und Nichten schnappen und mit ihnen im Park Fußball spielen. Und es gab immer ein Dutzend Dinge auf der Farm, die erledigt werden mussten, obwohl er von den meisten Dingen freigestellt war, da er im Laden ungefähr achtzig Stunden die Woche arbeitete. Trotzdem, die ersten Tomatensetzlinge würden wahrscheinlich aus der Wärme der unteren Gewächshausregale gebracht werden müssen, und ein zusätzliches Paar Hände war immer willkommen.

Er ignorierte die ausgebeulte Tasche in der Ecke, die er im Augenwinkel hatte. Dieses blöde Ding. Stand einfach da wie eine mahnende Erinnerung an ein bescheuertes Highschool-Drama. Das sich damals allerdings nicht bescheuert angefühlt hatte. Es hatte sich angefühlt, als hätte sich das Zentrum seines Universums in eine fremde Galaxie verwandelt, während er zu Hause saß und sich fragte, weshalb er so einfach verlassen worden war.

Es fühlte sich kindisch und doch befriedigend an, mit dem Fuß aufzustampfen.

»Blödes Arschloch«, murmelte er, schnappte sich den Griff dieses Maximodells einer Reisetasche für Collegestudenten, versetzte ihr einen Tritt mit dem Stiefel und hatte sofort ein schlechtes Gewissen.

Er rief Andie einen Gruß zu und zerrte die Reisetasche dorthin, wo er in der Seitengasse seinen Lieferwagen geparkt hatte. Dann legte er die Tasche vorsichtig hinein, um den Tritt wieder wettzumachen, stapfte aber neben seinem Lieferwagen noch ein paar Mal hin und her.

Als er sich durch den Verkehr im Stadtzentrum gequält hatte, der für eine Stadt mit zweiundzwanzigtausend Einwohnern überraschend dicht war, und in das Wohngebiet auf der Südseite der Stadt kam, wusste er gar nicht mehr, wie er sich gleich verhalten sollte. Angepisst zu sein gab ihm das größte Gefühl der Sicherheit gegenüber Jack. Die heiße Wut war nicht gerade behaglich, aber sie fühlte sich auf jeden Fall besser an als das taube Gefühl, wie in einem Wattebausch zu stecken, das ihn wochenlang niedergedrückt hatte, nachdem Jack das erste Mal fortgegangen war.

Die Häuser am südlichen Ende der Stadt waren recht klein, ihre Gärten handtuchgroße verwilderte Flächen mit unbeschnittenen Büschen, die die Küchenfenster verdeckten, hinter denen sich vermutlich Toaster und Thunfischdosen ein Stelldichein gaben. Die schäbigen Gebäude schossen jedoch zu schnell an seinem Fenster vorbei. Er nahm den Fuß vom Gaspedal und schüttelte seine um das Lenkrad gekrampften Hände aus, bevor er sie sanfter wieder darumlegte.

Tausendmal war er durch diese Straßen gefahren, nachdem er mit fünfzehn seinen Lernführerschein bekommen hatte. In einer Landgemeinde reichte das für eine Erlaubnis der örtlichen Polizei aus, mit einer alten Familienkarre in der ganzen Stadt herumzukurven. Jedes Kind auf einer Farm lernte fahren, bevor es die Mittelschule verließ, und sei es auch nur, damit ein weiteres Paar Hände auf dem Traktor verfügbar war. Mit zwölf groß genug, um an die Pedale heranzukommen, war Mike jahrelang auf dem Land seiner Familie herumgefahren, bevor er den Führerschein bekam.

Es gab immer irgendwelche zerbeulten Autos auf der Farm, die jedem und niemandem gehörten, und Mike hatte nicht gezögert, Anspruch auf einen alten Pick-up zu erheben, den er in dem Sommer, als er fünfzehn wurde, auf Vordermann brachte und neu lackierte. Jack, der von seinen Eltern niemals etwas mechanisch Fortgeschritteneres als ein Zehngangrad bekommen hatte, war wochenlang schon im Morgengrauen zur Farm geradelt. Mike fand ihn auf dem Hof hinter der Garage, Stahlwolle in der Hand. Er arbeitete bereits an dem Pick-up, wenn Mike in seinen Schlafsachen aus dem Haus stolperte, hinausgeschickt von seiner Mutter, um »diesen mageren Jungen draußen hereinzuholen und ihm etwas zu essen zu geben, bevor er die Hühner erschreckt«. Das blasse Rosa, das sanfte Blau und die zarten Grüntöne des frühen Morgenlichts auf der Farm, während zäher Nebel über der dunklen Erde der Felder lag, erinnerten ihn immer an Jack, der zweifellos sauer gewesen wäre, dass man etwas so Weiches mit ihm in Verbindung brachte.

Ein Schlagloch, in das er mit einem Vorderrad geriet, brachte Mike wieder ins Hier und Jetzt. Er parkte auf der anderen Seite der Straße vor Jacks Haus, vor den Nachbarn, die seinen Lieferwagen gewiss erkennen würden, selbst nach der langen Pause. Am liebsten hätte er dort geklingelt und erklärt: »Keine Sorge. Ich werde nicht wieder die Zierde Ihres Vorgartens werden. Ich bringe nur eine Lieferung. Ich werde nicht wie letztes Mal jede verdammte Nacht wiederkommen. Niemand ist zweimal so blöd, oder?«

Oh Gott, du bist derjenige, der eine große Sache daraus macht. Gib die Tasche ab und zieh Leine, ja? Wie du es getan hast, nachdem er sich aus dem Staub gemacht hat.

Du hast dich ja wohl weiterentwickelt, oder?

Oder?

Das Trommeln seiner Finger auf dem Lenkrad war nicht annähernd laut genug, um diese lästige Stimme in seinem Hinterkopf zu übertönen, die ihn zielsicher quälte.

Innenschau. Klang nach einer tollen Idee, wenn man ein rotznasiger Punk war und jeden eigenen Gedanken für weltbewegend wichtig hielt. Stank jedoch wie der Arsch einer Toggenburger Ziege, wenn man ein Erwachsener war und wusste, dass man die Finger von allem lassen sollte, was mit seinem ehemaligen besten Highschool-Freund zu tun hatte. Denn das schaffte Verbindlichkeiten, die garantiert alles den Bach runtergehen ließen, was er sich in den letzten drei Jahren hier aufgebaut hatte.

»Steig aus dem beschissenen Auto, Vargas.« Selbstgespräche waren leider ein Zeichen dafür, dass es bis zur Irrenanstalt nicht mehr weit war.

Er schaltete den Motor aus und schob sich die Schlüssel in die Tasche. Der Knall, mit dem er die Fahrertür zuschlug, hallte wie ein Gewehrschuss auf der verlassenen Straße wider. Er zerrte Jacks Tasche von der Ladefläche und zog sie hinter sich her. Die Plastikräder schrammten so laut durch den Schotter, dass Mike sich nicht gewundert hätte, plötzlich neugierige Gesichter in den Fenstern der Nachbarn auftauchen zu sehen.

Die Plastikverkleidung um die Klingel der Tarkingtons war rissig und von der Sonne ausgebleicht, und als er draufdrückte, hörte er den altbekannten elektronischen Dreiklang durch die Tür. Er fühlte sich unwohl, und Schweiß sammelte sich zwischen seinen Schulterblättern.

Das war nicht richtig.

Er hatte noch nie vor Jacks Tür gestanden, brüchigen, unebenen Zement unter den Füßen, und sich gewünscht, dass jemand anderer als sein Freund die Tür öffnete. Aber er fühlte sich verdammt noch mal wie in der Kirche, so heftig betete er, dass es diesmal Jacks Mutter oder sein Vater sein würde.

Als er Schritte hinter der Tür hörte, fuhr sein Magen Achterbahn. Er sah Jacks Mutter hinter der Schwingtür und schnappte nach Luft, als hätte er den Atem angehalten. Mrs Tarkington trug eine hellblaue Hose und einen passenden Pullover, der aussah, als sei er aus etwas Weichem und Pelzigem gemacht. Sie war winzig, und ihr dunkelbraunes Haar fiel ihr in die Stirn, genau wie bei Jack. Er überlegte, ob er jemals gewusst hatte, wie sie mit Vornamen hieß, aber wie dem auch sei, für Mike würde sie immer Mrs Tarkington sein.

»Oh, hallo, Mike. Wie geht es dir, mein Junge? Ich hoffe, deine Eltern sind wohlauf.«

Als hätte sie ihn erst gestern gesehen. Allerdings würde Jacks Mutter, wie er sie kannte, sich an die meisten Tage zwischen ihrem letzten Treffen und heute nicht erinnern.

»Mir geht es bestens, Mrs Tarkington, danke. Meinen Eltern auch. Sie lassen grüßen.« Sie hatten keine Ahnung, dass er hier war und beinahe vor Jacks Haus auf seine eigenen Schuhe gekotzt hätte. »Jack, ähm …« Verdammte Scheiße. Er wusste nicht, ob Jack bereits in seinem Elternhaus aufgetaucht war. Nach der kopflosen Flucht an diesem Morgen war es gut möglich, dass er durch die Stadt irrte und allen aus dem Weg ging, nicht nur Mike. Verdammt. Zu spät. »… hat das in meinem Laden gelassen, als er heute Morgen Hallo gesagt hat.«

Er rollte die Reisetasche ein Stück nach vorn, näher an die Tür heran. Jacks Mutter betrachtete sie mit leerem Blick, als fragte sie sich, was er im Hinblick auf die Tasche von ihr erwartete.

Mike wartete einen Moment. Ooookay. »Soll ich die Tasche für Sie hineintragen?«

»Natürlich, mein Lieber. Das wäre wunderbar.« Sie drückte die Fliegengittertür auf, die in den Angeln quietschte, und deutete vage auf die Treppe. »Ich würde sagen, du lässt sie am besten neben der Treppe stehen.«

»Ist Jack zu Hause?«

»Das weiß ich wirklich nicht. Aber ich werde ihm sagen, dass du vorbeigekommen bist.« Das größte Geheimnis, das Jack Tarkington hütete, war, dass sein lauter, aufdringlicher Vater nicht der problematische Elternteil im Haushalt der Tarkingtons war. Mike war sich ziemlich sicher, dass niemand sonst in der ganzen Stadt wusste, dass John Tarkingtons aufmerksamkeitsheischende Proteste beim Stadtrat oder das Aufschneiderische seines Sohnes ihre Art war, damit zurechtzukommen, dass zu Hause Land unter war. Oder vielmehr, dass Mrs Tarkington den größten Teil ihrer Tage damit verbrachte, ihre »Kopfschmerzen« auszuschlafen und Wodkaflaschen in Zeitungspapier zu wickeln, bevor sie sie im Müll versteckte, damit sie nicht peinlich klapperten, wenn die Müllabfuhr ihre Tonne leerte. »Dann mal tschüss. Grüß deine Eltern von uns.«

Eine sanfte Hand legte sich auf seinen Ellbogen, und bevor er blinzeln konnte, stand Mike wieder draußen und lauschte darauf, wie die Vordertür mit einem dumpfen Aufprall hinter ihm ins Schloss fiel.

Er rieb sich das Gesicht und stöhnte laut. »Was für eine scheißfreundliche Hölle.«

»Nicht wahr?«

Der trockene Einwurf sorgte dafür, dass er sich erschrocken umdrehte.

»Ich versuche zu entscheiden, ob die Tatsache, dass sie offenbar immer noch eine hohe Meinung von mir hat, bedeutet, dass sie nicht wegen mir trinkt, oder dass mein Weggang so schrecklich war, dass sie noch immer trinkt.«

Mike brauchte einen Moment, um ihn zu entdecken, an den Baumstamm der Trauerweide gelehnt, die sich gleichermaßen über den Rasen der Tarkingtons und den ihrer Nachbarn ausbreitete. In einem Monat wäre Jack vollkommen verborgen gewesen, aber die winzigen, blassgrünen Blätter der Weide waren noch Wochen von ihrer vollen Entfaltung entfernt und verbargen ihn nur teilweise. Jack hatte sich so hingesetzt, dass er sowohl vom Haus als auch von der Straße aus nicht gesehen werden konnte, und er hatte sich nicht zu Mike umgedreht. Aber seine hautenge, dunkle Jeans und seine spitzen Schuhe waren von der Vortreppe sichtbar und auf den weißen, abgeblätterten Zaun gerichtet.

Warmer Tag hin, warmer Tag her, der Boden unter Jacks Hintern musste nass und kalt sein, vor allem im Vergleich zu jedem Möbelstück im Haus seiner Eltern.

Mike lief zur Trauerweide, blieb aber außerhalb der hängenden Zweige. Er duckte sich nicht darunter und trat nicht zu Jack. Es kamen zu viele Erinnerungen an ihre Kindheit hoch, als sie sich hinter dem Vorhang der Weidenzweige versteckt hatten. Jack und er waren kein geheimer Club mehr.

Vielleicht waren sie es nie gewesen. Rückblickend fühlte es sich so an, als hätte Jack nur Zeit totgeschlagen.

Er fragte sich, was sein Ex – exbester Freund, exbester Lover – diesmal in Colchester Falls tat. Fragte sich, was Jack an der Ostküste so übel vermasselt hatte, dass er es Mike beinahe gebeichtet hätte, als seien sie immer noch Freunde.

»Du weißt, dass es niemals um dich gegangen ist«, sagte Mike und ignorierte seine eigene Neugier, um Jack zum millionsten Mal ins Gedächtnis zu rufen, dass eine Alkoholikerin eine Alkoholikerin war, ob ihr Sohn hetero war oder schwuler als Adam Lambert in einer Federboa. Er fuhr mit den Fingern durch die wippenden Weidenzweige und streifte die grünen Blätter ab, bis er ein schlechtes Gewissen bekam und losließ.

Jack antwortete nicht. Trat nur mit dem Absatz eines Schuhs in den Rasen, bis er das Gras verschandelt hatte.

Er hatte es nie gern gehabt, wenn man ihn daran erinnerte, dass sich nicht alles um ihn drehte, der gute Jack.

Mike hatte sich niemals irgendwelchen Illusionen hingegeben, was seinen besten Freund betraf, seinen ersten festen Freund, den Jungen, den er geliebt hatte. Jack war ein Komplettversager und ein Wrack, ein selbstsüchtiger kleiner Mistkerl, der sauer auf die Welt war und dafür lebte, alle anderen genauso unglücklich zu machen, wie er selbst es war.

Er war außerdem absolut loyal, blitzgescheit in so ziemlich allem bis auf das, was ihn selbst betraf, und bis zur Schmerzgrenze selbstzerstörerisch wegen der Unfähigkeit seiner Mutter, irgendjemanden mehr zu lieben als ihre Sucht.

Die Suche nach einer Möglichkeit aufzuhören, Jack zu lieben – obwohl selbst ein Idiot sehen konnte, dass es verdammt närrisch war, jemanden zu lieben, der einen ohne sich umzublicken zurückließ –, kam einer Amputation des eigenen Arms gleich. Wie James Franco in dem Film, in dem er einen Wanderer spielte, der in einer Felsspalte festsaß und seine eigene Haut, seine Muskeln, seine Sehnen und Knochen durchsägte, um zu verhindern, dass er in der Wildnis dahinsiechte und starb, allein und verzweifelt.

Mike stieß ein lautes Schnauben aus. Oh Gott, ging es noch melodramatischer?

Der Hinweis auf das Offensichtliche brachte ihn bei Jack so weit wie eh und je. Nirgendwohin. Er sollte weiterziehen. »Ich habe deine Reisetasche ins Haus gestellt.«

»Danke.«

Jack drehte sich nicht zu ihm um, was bedeutete, dass Mike mit dem Baum redete, wie immer außerstande, sich von dem Gravitationssog von Jacks Zorn und Frustration zu entfernen.

»Okay«, murmelte er, was jetzt einem Selbstgespräch gleichkam. »Ich geh dann mal.« Er drehte sich auf dem Absatz um und ging davon, weigerte sich, sich in Jacks Drama hineinziehen zu lassen, fühlte sich, als säße er bei einer Feier in den Schulferien am Erwachsenentisch, nachdem er sich jahrelang die Knie am Kindertisch angestoßen hatte. Erwachsen. Stark. Vernünftig.

Also erhob Jack sich natürlich und kam hinter ihm her.

Die Finger, die sich um seinen Ellbogen legten, waren knorrig und stark, und Mike wusste genau, wie jede schwielige Fingerspitze sich auf seiner nackten Haut anfühlte. Die Hornhaut an Jacks Fingerkuppen, weil er nie gelernt hatte, mit einem leichten Touch zu spielen, sondern die Seiten mit der gleichen übertriebenen Energie und Leidenschaft und dem Zorn attackierte, die er allem entgegenbrachte, was er berührte.

Leidenschaft. Und Berührung.

Der bloße Gedanke daran und die Vorstellung des Gefühls von Jacks Händen auf seiner Haut bewirkten, dass Mike der Atem stockte und es ihn heiß überlief, als ob ihn das grelle Licht eines Bühnenscheinwerfers träfe.

Bevor irgendwelche anderen Körperteile anfangen konnten zu ruckeln und ins Trudeln zu geraten, entriss er Jack den Arm und drehte sich zu ihm um.

Zu nah.

Jack war zu nah. So nah, dass sein heftig gehender Atem Mikes Gesicht wärmte. Nah genug, um ihn zu riechen. Kiefernharz und unbearbeitetes Holz. Als sei Jack aus frisch geschlagenem Holz gemacht. Oder aus aufgeworfener, versengter Erde, nach dem Umgraben.

Umgraben roch für Mike wie Sex und Hitze.

Jacks Mund bewegte sich, und Mikes Gehirn brauchte einen Moment, um sich in den Monolog einzuklinken, der aus dem Mund seines einstigen Freundes kam.

»Du sagst immer, es drehe sich nicht alles um mich, und vielleicht hast du recht.« Jacks Pupillen waren schwarze Punkte in dem hellen Nachmittagslicht, und die Stoppeln auf seinem Kinn hatten in der Sonne einen rötlichen Schimmer. Seine Oberlippe erschien schmal unter diesem lächerlich prätentiösen Bärtchen, seine Unterlippe rot und dick, als hätte er in seinem Schmollwinkel unter der Weide darauf herumgekaut.

Die Verletzlichkeit stand ihm in den Augen, als sei Mike die eine Person auf der Welt, der er sein weiches Inneres zeigen konnte. Und die starre Haltung von Mikes Schultern löste sich angesichts Jacks Bedürftigkeit. »Es dreht sich nicht immer alles um mich, aber manchmal doch, Miguel, auch wenn du dastehst mit deiner perfekten Familie und deinem perfekten Job und mir zu sagen versuchst, dass ich wie im Märchen daran glauben solle, all dieser Scheiß würde weggehen.«

Es stimmte so vieles nicht an Jacks kleinem Monolog, dass Mike unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. Er ballte die Hände an den Seiten zu Fäusten und bohrte die Nägel in seine Handflächen, und er versteifte die Arme, um sich von seinen Händen abzulenken.

»Ich habe seit Monaten nicht mit meinem Dad gesprochen.« Die Worte waren heraus, bevor er sie herunterschlucken konnte. Es war ein Kampf, seine Stimme ruhig zu halten. »Ich könnte eine ganze Menge übles Zeug von mir geben. Ermutigt dich das, wieder gen Osten abzuhauen?«

»Moment mal. Oh, Gott.« Jacks Schultern fielen herab, die aggressive Pose war verschwunden, und er hob eine Hand, als wolle er Mike packen. »Was ist los?«

Und schon war er da, binnen einer Sekunde. Der beinahe überwältigende Drang, den Mund zu öffnen und die Worte herausquellen zu lassen, in dem Wissen, dass Jack immer, immer auf seiner Seite stehen würde. Dass er ihn auffangen und aufrichten würde und gegen alles Unbill verteidigen. Dass er kämpfen und seine Frustration teilen und dann zu weit gehen würde, bis es ihn aus der Stadt hinaustreiben würde.

Das Sonnenlicht war zu grell und so fremdartig, während Jack Zorn und Frustration und Dunkelheit bedeutete – und einen heißen Mund, der seinem begegnete. Mike fragte sich, ob er eine außerkörperliche Erfahrung hatte, denn er hätte schwören können, dass etwas Weiches seine Lippen streifte.

Keine bloße Erinnerung konnte so mächtig sein.

Oder?

Er gab sich einen Ruck und zwang sich, in die Gegenwart zurückzukehren, einen Schritt weg von Jacks pulsierender Energie und seinen glänzenden Augen.

»Ach, nichts.« Er konnte das nicht machen. Konnte Jack nicht erzählen, dass sein Dad, sein toleranter, liebevoller Vater, zu dem Schluss gekommen war, dass Mike doch nicht ganz die richtige Art von Sohn war, speziell in einer Hinsicht.

Gott, dies war erst das zweite Mal in fast drei Jahren, dass er Jack sah, und ein eiserner Kern in seiner Brust fühlte sich immer noch zu ihm hingezogen. Als hätte Jack einen verdammten Magneten in der Brusttasche seines blöden Cowboyhemds mit den Haken und Paspeln. Solche Hemden trugen echt nur Hipster.

»Nichts weiter«, wiederholte Mike und machte noch einen Schritt rückwärts. Das hier war nicht das Richtige für ihn. Er konnte keinen Trost mehr bei Jack finden. Er konnte nichts mehr bei Jack finden.

Der energiegeladene Ausdruck fiel binnen einer Sekunde vom Gesicht seines alten Freundes.

»Na schön.« Jack hatte noch nie Probleme damit gehabt, Leute im Regen stehen zu lassen. Mike im Regen stehen zu lassen. »Danke, dass du mir meine Sachen gebracht hast.«

Die Kante des Gehwegs unter Mikes Absätzen stützte seine Entschlossenheit. Er nickte Jack zu.

Zeit zu gehen.

Das hier war nichts für ihn. Überhaupt nichts.

Was immer mit Jack passiert war, es ging Mike nichts mehr an. Und seine eigenen Probleme waren nichts für eine Mitleidsparty. Zweifellos würde Jack genauso wie in der Vergangenheit einfach wieder weiterziehen.

Und bei Gott, schließlich hatte er bei seinem letzten Besuch hier nichts von Wert gesehen, was ihn in der Stadt gehalten hätte.

Während der nächsten fünf Tage verbot Mike sich, an Jack zu denken.

Wenn er durch die Innenstadt fuhr, ertappte er sich dabei, dass er ab und zu den Kopf drehte, davon überzeugt, ein paar Schultern, die nach Jacks aussahen, oder ein kurz angehobenes Kinn flüchtig im Augenwinkel wahrgenommen zu haben.