Laufende Ermittlungen - Andreas Bernard - E-Book

Laufende Ermittlungen E-Book

Andreas Bernard

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Beschreibung

Mit großer Resonanz nahmen die Laufenden Ermittlungen als Serie im ZEITmagazin ihren Anfang, hier finden sie nun ihre eigentliche Form. Andreas Bernard nimmt uns mit in die tiefen Bedeutungsschichten unserer Welt. Er offenbart einen Blick fürs Detail, in dem immer auch das Ganze liegt. Ein Kleinod und ein großer Wurf. »Die beiden Passagiere, die einander im Zug gegenübersaßen, klappten ihre Notebooks auf, und die Ränder der Gehäuse berührten sich einen Moment lang wie zwei fremde Handrücken.« »Dem grippekranken Kind, das morgens an der Hand seines Vaters zum Arzt ging, kamen immer wieder Klassenkameraden entgegen, die auf dem Weg zur Schule waren. Jedesmal, wenn ein bekanntes Gesicht mit dem Schulranzen auf dem Rücken vorbeiging, blieb das Kind kurz stehen und drehte sich um: Der Tag hatte die falsche Richtung!« »In der Schreibwarenabteilung des Kaufhauses das lange Regal mit den Glückwunschkarten. Es ist chronologisch geordnet: ›Geburt‹, ›Taufe‹, ›Konfirmation‹, ›Hochzeit‹, dann die großen Geburtstage, am Ende das Fach ›Trauer‹. Der Gang des Lebens, komprimiert auf fünf oder sechs Meter: eine Abfolge festlicher Rituale, eine Farbenskala von babyblau bis schwarzgerahmt.«

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Seitenzahl: 142

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Andreas Bernard

Laufende Ermittlungen

Tropen

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Tropen

www.tropen.de

© 2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München

Datenkonvertierung: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Printausgabe: ISBN 978-3-608-50452-1

E-Book: ISBN 978-3-608-11593-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Er wölbte seine Hand, um das Wechselgeld entgegenzunehmen, doch die Verkäuferin legte es in die Schale daneben.

Kurz bevor der Pantomime, an dem schon seit Minuten kein Fußgänger mehr vorbeigekommen war, seine Pose aufgab und sich wieder bewegte, schien er sich mit einem vorsichtigen Blick aus den Augenwinkeln zu vergewissern, dass gerade niemand in der Nähe war. Dann schlüpfte er aus seiner Rolle wie ein Einbrecher aus seinem Versteck, wenn die Luft rein ist.

Die menschenleere Bäckerei am frühen Morgen: Die Brote lagen so akkurat beieinander, dass sie nicht wie käufliche Waren wirkten, sondern wie Pokale in einer Vitrine.

Hinter dem Schreibtisch des Vorgesetzten gingen plötzlich die Jalousien herunter, so wie in jedem Büro des modernen Hochhauses, wenn die Sonneneinstrahlung eine bestimmte Intensität erreicht. Doch hier, im Raum des Chefs, wirkte der Automatismus wie eine unzulässige Übertretung.

Die ältere Studentin saß in der Cafeteria der Universitätsbibliothek, an einem vollkommen verwilderten Tisch; sie lachte von Zeit zu Zeit laut auf, schickte ihre Blicke und Worte ins Leere und aß Erdnussflips aus einer riesigen Tüte, wobei sie den Inhalt größtenteils auf ihre vor sich liegenden Unterlagen verstreut hatte. Irgendwann begann sie zu husten, zog ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich mehrmals, und diese Erkältung, am nasskalten Ende eines langen Winters, nahm ihr plötzlich etwas von ihrem Wahnsinn. Die Irre war verschnupft – für die Jahreszeit normal.

Die Spendensammler mit den Blechdosen ließen den Rollstuhlfahrer unter den Passanten aus.

Wie die Buchhändlerin sofort den Blick abwandte, als er seine Geheimzahl in das kleine Kreditkarten-Gerät eingab (das Demonstrative dieser Geste, das ihr die gewünschte Diskretion wieder nahm).

Die Schwäne zogen geräuschlos über den nächtlichen See, wie ein Trupp heranschleichender Soldaten in der Dunkelheit.

Einverständnis gab es zwischen ihnen nur noch im Lästern über andere.

Das Wort »Wrack«, die eigentümliche Kombination der Anfangskonsonanten – als wäre es selbst das, was es bezeichnet, gestaucht und verstümmelt.

Den Fuß in eine sich schließende Aufzugtür stellen: eine Geste, die immer einen Rest von Bedrohung und Gewaltsamkeit in sich trägt, so behutsam sie auch ausgeführt sein mag.

Die Kinder im Zug redeten miteinander, als würden sie ein Hörspiel aufnehmen.

Das seit Monaten an der Bushaltestelle lehnende Fahrrad, angekettet an einen Laternenpfahl: Es wird nicht gestohlen, dafür ist das Schloss zu massiv, aber von Woche zu Woche scheint es zu schrumpfen. Irgendwann fehlte der Sattel, kurz darauf der Vorderreifen; seitdem wird seine Gestalt mit jedem Anblick brüchiger und dürrer. Zweifellos ist dieses schrittweise Verschwinden kein kontinuierlicher Vorgang, sondern geht auf einzelne Diebstähle und Beschädigungen zurück. Dennoch wirkt der immer erbärmlichere Zustand des herrenlosen Fahrrads wie ein natürlicher Prozess des Zerfalls. Als wäre es kein Artefakt, sondern ein verwesender Kadaver.

In einer alten Erzählung stand das Wort »gewittert«. Es war unmöglich, nicht das fehlende »t« mitzulesen.

Als die S-Bahn anfuhr, traten die Kontrolleure ruckartig aus der trägen Masse der Passagiere heraus und zückten ihre Dienstmarken. Sie erinnerten an eine Diebesbande im Augenblick der Tat – der Ausruf »Ihre Fahrausweise, bitte!« hatte etwas vom »Hände hoch!« der Bankräuber, die sich plötzlich zu erkennen geben.

Geldmünzen, die auf Zeitungspapier fallen (an der Theke des Schreibwarenladens oder vor dem Verkäufer abends im Bahnhofsgeschoss): Plötzlich kam ihm diese Kombination wie die perfekte Ergänzung zweier Materialien vor – sie schienen in fast zärtlichem Verhältnis zueinander zu stehen.

Auf dem Starbucks-Becher, den die alte Frau vor der Kirche zum Betteln verwendete, stand noch der Name der Kundin (»Whitney«).

Abends, beim Gang durch den Frühstücksraum des Provinzhotels, roch es nach alter Bundesrepublik.

Das Schweigen der Ehepaare an den Restauranttischen im Urlaubsort: ein Happening der Stille. Als würde jeden Moment ein Kurator ins Bild treten, die Aktion für beendet erklären und den Leuten ein Zeichen geben, dass sie wieder miteinander reden dürfen.

Der Bleistift war auf fast obszöne Weise gespitzt.

Sonntagnachmittag: Von Zeit zu Zeit sah er Menschen auf den Straßen des Viertels, die ein Päckchen mit Kuchenstücken auf der Handfläche trugen. (Die Bedächtigkeit des Sonntags, eingefasst in eine einzige Geste: was sonst würde man auf der Hand tragen außer Kuchen?)

In der fremden Wohnung fiel sein Blick auf die Fotos auf dem Kühlschrank, die üblichen Schnappschüsse aus einem Passbild-Automaten. Er hatte plötzlich das Gefühl, alles über diese Familie zu wissen.

Der junge Vater in der Therme, mit großflächigen Runen-Tattoos und kahlem Schädel, schleuderte seinen drei- oder vierjährigen Sohn immer wieder mit beträchtlicher Kraft in die Höhe und ließ ihn von dort ins Wasser fallen. Das Kind schien das Spiel zu genießen, sah seinen Vater vor jedem neuen Wurf erwartungsvoll an – und doch war in dieser liebevollen Geste die ganze Brutalität enthalten, zu der der Skinhead jederzeit in der Lage war.

Als der Einsatz des Polizeihubschraubers am Strand beendet war, flog eine Möwe über das Meer, und selbst von dieser schwebenden Eleganz schien Sekunden nach der allgemeinen Aufregung noch etwas Beunruhigendes auszugehen (Venice Beach, Los Angeles).

Und plötzlich störte sie alles an ihm, sogar der Winkel, in dem er das Notebook auf dem Couchtisch beim gemeinsamen Netflix-Schauen nach hinten bog.

Der Betreiber der Imbissbude schrieb seine Tagesangebote auf die Tafel und trat dann einen Schritt zurück, als würde er ein soeben vollendetes Werk begutachten.

Nach langer Zeit sah er wieder einmal ein parkendes Auto, älteren Baujahrs, dessen Scheinwerfer noch brannten (aussterbende, von Technik verhinderte Nachlässigkeiten).

In der Dunkelheit griff er nach seinem iPhone auf dem Nachttisch und ertastete die vertraute Mulde des Home-Buttons.

Der »Grillwalker« hatte sich vom Marktplatz entfernt, um auch den Passanten in den Nebenstraßen seine Bratwürste anzubieten, und nun stapfte er mit seinem klobigen Rost vor der Brust durch die engen Gassen wie ein entlaufenes Zootier.

Niemand wird mit größerer Selbstverständlichkeit ignoriert als die Flugbegleiterin, die vor dem Abflug die Sicherheitsbestimmungen in der Maschine präsentiert. Mit mechanischen Bewegungen deutet sie auf die Notausgänge und erklärt die Funktionsweise der Atemschutzmasken: ein leeres Ritual, denn die Passagiere sind wie immer in ihre Magazine und Tablets vertieft. Sie schenken diesen Demonstrationen keinerlei Aufmerksamkeit, wie einer Anleitung, mit der man seit langem vertraut ist. Die Stewardess weiß um das Desinteresse ihres Publikums, und sie verrichtet ihre Aufgabe mit ausdruckslosem, starr auf einen fernen Punkt gerichtetem Blick. Nach und nach greift sie zu den verschiedenen Hilfsmitteln, die sie auf dem Klapptisch eines Sitzplatzes ausgebreitet hat – die Plastikmaske, die Tafel mit den Notausgängen –, und ihre spürbare Teilnahmslosigkeit erinnert plötzlich an den Auftritt einer professionellen Striptease-Tänzerin, die sich mit maschineller Eleganz ihres Kostüms entledigt.

Beide Darbietungen verlangen nach einer ähnlichen Panzerung des Blicks – einmal vor einem Zuwenig, einmal vor einem Zuviel an Beachtung. Sowohl die Stewardess als auch die Striptease-Tänzerin sind einem schroffen Ungleichgewicht von Aufmerksamkeit und Intimität ausgesetzt, jedoch auf entgegengesetzte Weise. Im Nachtclub macht ein Übermaß an Interesse das Intime zur öffentlichen Veranstaltung, im Flugzeug ein Übermaß an Desinteresse das Öffentliche zum Privatvergnügen.

Und so, wie sich auf den Bühnen der Tabledance-Bars eine Anfängerin dadurch verrät, dass sie tatsächlich jemanden ansieht, trifft man auf Flügen abseits der großen Routen von Zeit zu Zeit auf eine unerfahrene Stewardess. Unsicher fahnden ihre Augen nach einem Adressaten, während sie das Sicherheitsprogramm durchgeht, und je öfter ihr Blick keine Erwiderung findet, desto brüchiger wird der Panzer ihrer Souveränität. Auch die Uniform kann dann nicht mehr verhindern, dass sie schutzlos im Gang des Flugzeugs steht, wie unbekleidet. Durchbohrt nicht von Blicken, sondern von deren Verweigerung.

Das Plüschtier lag erschöpft auf dem Boden des Kinderzimmers.

Nach dem Streit: Sie griff zu ihrem Handy und tippte die Ziffern ihres Geheimcodes ein, mit einer Vehemenz, mit der man sonst eine Tür hinter sich zuknallt.

Dass die Eingangsszenen von Horrorfilmen so oft in Vergnügungsparks spielen: Im jauchzenden Geschrei der Achterbahn-Insassen kündigt sich bereits das panische Geschrei der Todgeweihten an.

Aus Langeweile eine gute Tat begehen.

Hinter den beiden Schimmeln, die auf dem festlichen Umzug die Kutsche zogen, lagen, fast wie erwartet, ein paar Pferdeäpfel – als seien sie keine von Zeit zu Zeit produzierten Ausscheidungen der Tiere, sondern ein elementarer Teil des folkloristischen Ensembles, so notwendig wie Zügel und Räder.

Der umherliegende Abfall in der Großmarkthalle am späten Vormittag: an diesem Ort nicht wie sonst ein Zeichen der Verwahrlosung, sondern der Betriebsamkeit.

Der ältere Mann im Café sah immer wieder zu der jungen Frau mit den aufgekrempelten Jeans und den weißen Stan-Smith-Turnschuhen hinüber, konzentriert, ernst, fast schroff, obwohl sein Interesse an ihr überdeutlich war. In seinen Augen lag eine Mischung aus Verlangen und Missbilligung – eine Missbilligung, in der sich das Wissen um die völlige Aussichtslosigkeit seines Unterfangens bereits abzeichnete. Er schien ihr die Zurückweisung übel zu nehmen, auf die er es gar nicht ankommen ließ. Vielleicht ist es das, was man »Anstarren« nennt: ein Blick, der von der Einsicht des eigenen Scheiterns beschwert wird.

In der Straßenbahn zeigte ein Vater seinem kleinen Sohn im Kinderwagen einige Familienfotos auf dem Handy. Der vielleicht anderthalbjährige Junge, der noch kaum sprechen konnte, kommentierte die Bilder mit den immergleichen Lauten, »Mama«, »Dada«, und strich dann über den Bildschirm, um zum nächsten Foto zu gelangen. Der Kulturtechnik der Sprache war das Kleinkind noch nicht mächtig, aber die des Smartphones beherrschte es schon souverän.

Sie unterbrach ihn so schroff wie die einfahrende U-Bahn die Werbefilme hinter dem Gleis.

Die unerträgliche Vertrautheit der Heimatstadt: Er kannte fast alle Fahrpläne der öffentlichen Verkehrsmittel auswendig; er wusste genau, von welcher Stunde an die U-Bahn nur noch als Kurzzug verkehrte, und lief dann instinktiv ein Stück in die Mitte des Bahnsteigs. Von einem Blinden unterschied er sich in dieser Stadt nur noch dadurch, dass er den Dingen aus dem Weg gehen konnte.

Die einzige musikalische Darbietung, bei der Stimmengewirr im Hintergrund nicht störend, sondern wie eine notwendige Ergänzung wirkt: Klaviermusik in einer Hotelbar.

Auf dem Boden, hinter der Bürotür, lag ein Keil, und mit dem Anblick des zugespitzten Holzstücks schien gleichzeitig auch seine Bezeichnung aufzuleuchten, das Wort Keil (Dinge, die stärker an ihre Namen gebunden sind als andere).

Freitagnachmittag: Dem Handwerker in seinem verschmierten Overall sah man das Auf-dem-Heimweg-Sein viel deutlicher an als den anderen Passanten.

An einer Haltestelle des Busses kam es zum Schichtwechsel der Fahrer. Der neue stieg ein, setzte sich hinter das Lenkrad und fuhr sofort los. Keine Eingewöhnung, kein prüfender Handgriff. Ohne Zögern nahm der Busfahrer seine Arbeit auf, um den Fahrplan einzuhalten; der Mechanismus lief so reibungslos weiter, als hätte jemand zwei Kabel umgesteckt.

Die Mückenstiche, die bei der Rückkehr nach Hause anders zu jucken schienen als noch vor dem Abflug am Urlaubsort, genauso stark zwar, aber nicht mehr echt, wie die Simulation eines Schmerzes.

Er klingelte an der Tür der Nachbarn, die am Morgen ein Paket für ihn angenommen hatten. Sie waren nicht zu Hause, und als er wieder zurück in die eigene Wohnung ging, fiel ihm für einen Moment die Vorstellung schwer, dass diese Handlung tatsächlich nirgendwo gespeichert worden war. Inmitten aller klar identifizierbaren Hinweise, die jeder vergebliche Anruf, jeder Besuch auf einem Profil mittlerweile bei den Adressaten hinterließ, hatte der Vorgang beinahe etwas Unwirkliches – eine Kontaktaufnahme ohne Spur.

Nach dem langen Winterspaziergang warteten Vater und Sohn an der Bushaltestelle am Stadtrand, und die Kappen ihrer Stiefel waren beide mit Schnee bedeckt: ein Zeichen ihrer Verbundenheit.

Die Silhouette des Langläufers drüben sah aus wie ein Piktogramm.

Keine Spur, in die hineinzutreten man größere Scheu hätte, als in eine Loipe.

Als die Sonne hinter den Gipfeln verschwand, wurde sofort das ganze Gewicht der Berge spürbar.

In allen Kurven zwischen den Etagen des Parkhauses waren Lackspuren an den Wänden zu erkennen. Dass ein Auto tatsächlich von der breiten, großzügig bemessenen Fahrbahn abkommen und eine Kante streifen konnte, wirkte vollkommen unwahrscheinlich. Aber das Parkhaus wurde Tag für Tag von hunderten Wagen genutzt, und die bunten Flecken riefen die Missgeschicke Einzelner in Erinnerung wie eine unerbittliche Statistik.

Das alte Foto auf der Pinnwand im Flur, die Köpfe am oberen Bildrand dutzendfach durchstochen. Bedeutungsloser Voodoo.

Die Mannschaft hatte einen Treffer erzielt, durch ein Eigentor des Gegners, was sich in einer merkwürdigen Art des Jubels niederschlug. Normalerweise wird der Torschütze von den Mitspielern umringt; sie laufen auf ihn zu, umarmen ihn, reißen ihn zu Boden, wenn es sich um einen entscheidenden Treffer kurz vor Schluss handelt. Diese Jubeltraube jedoch hatte kein Zentrum. Man glaubte einen Moment lang sogar die Ratlosigkeit der Spieler zu erkennen, die nicht wussten, auf wen sie zulaufen sollten. In Ermangelung eines Torschützen feierten sie schließlich den Stürmer, dessen Flanke der gegnerische Verteidiger ins Tor abgefälscht hatte.

Er war allenfalls laminatsicher.

Aus dem Fenster des Vorortzuges fiel sein Blick auf einen Hund, der über die Winteräcker lief, und kurz darauf auf den Besitzer, der in einigem Abstand hinterherging – ein Ensemble, das genau aus dieser Entfernung, genau aus dieser Position des Reisenden betrachtet werden musste. Spaziergänger mit Hund: Emblem des vorbeiziehenden Lebens, Kulisse der ländlichen Zugfahrt schlechthin.

Die Friseure standen um die Kundin herum wie ein Konsortium beratender Ärzte.

Dass die Maskenbildnerinnen und Tontechniker im Fernsehstudio immer so nachlässig gekleidet sind: als würden sie einen bewussten Kontrapunkt setzen zu den ausgeschmückten Gestalten vor der Kamera.

Der Schaffner stolperte souveräner als die Fahrgäste, als der Zug ruckartig anhielt.

Er glaubte ihrem Ehering ansehen zu können, dass sie noch nicht lange verheiratet war.

Die Regenschirme der Senioren, die Bierflasche des Handwerkers, der Aktenkoffer des Geschäftsmanns: Alle Dinge auf der Straße kamen ihm plötzlich wie typische Accessoires vor, so eindeutig ihren Trägern zugeordnet wie die Bestandteile einer Playmobil-Figur.

Vergessene Bewegungen: der Mann vor dem Geldspielautomaten, der mit der Hand das mittlere Feld zuhält, bevor die letzte Walze zum Stillstand kommt.

Am Sonntagmorgen, der Marathon durch die abgesperrte Innenstadt sollte gerade beginnen, stand plötzlich ein Obdachloser mit seinem vollgepackten Einkaufswagen am Rand der Laufstrecke. Inmitten der gestählten, mit neonfarbenen Leibchen und Trinkflaschen ausgestatteten Athleten wirkte er sowohl verlorener als auch würdevoller als sonst.

Am Flughafen wurde eine Passagierin ausgerufen, und er sah zum ersten Mal, wie tatsächlich eine Frau in der Nähe aufstand und in die Richtung des Schalters ging.

Die pausierende Gebärdendolmetscherin auf dem Kongress gab ihrer Kollegin ein Zeichen, dass sie übernehmen könne, und für einen Moment wurden ihre Gesten wieder zum Selbstzweck.

In der ersten Reihe konnte er die Geräusche hören, die von der Gebärdendolmetscherin produziert wurden: das Reiben der sich rasch bewegenden Arme an der Jacke, das regelmäßige laute Atmen – Resttöne der tonlosen Kommunikation.

Das weinende Kleinkind lief auf seine Mutter zu, und die Tränen schienen ein Ziel zu haben wie ein geworfener Ball.

An der Starbucks-Theke wartete er auf sein Getränk, hinter einer Gruppe jüngerer Touristen, und es ertönte eine Folge von Wörtern – Namen, Vorlieben, Unverträglichkeiten –, die auf engstem Raum ein Kondensat der Gegenwart bildeten: »Franzi, Soja Flavored Latte« – »Lena, Decaf Caramel Macchiato« – »Jonas, Flat White mit Hafermilch«.

Das langbeinige Boxengirl neben dem Rennwagen hatte ein Band mit einem Ausweis um den Hals, auf dem auch ihr Passfoto zu erkennen war. Dieses Dokument nahm ihr etwas von dem glamourösen Auftritt; ihre Schönheit wurde von dem Format der Erfassung, dem sich jeder Anwesende auf dem Areal unterziehen musste, ein wenig zurechtgestutzt.

Das Kind in der Sitzreihe hinter ihm antwortete seiner Mutter so laut, dass er wusste, dass es einen Kopfhörer trug.

Auf den Online-Portalen der großen Tageszeitungen stehen keine Todesanzeigen; in den gedruckten Ausgaben hingegen nimmt diese Rubrik immer größeren Raum ein: Verweis auf die Vitalität des einen Mediums und den schleichenden Niedergang des anderen.

Der Mann mit dem vernarbten Gesicht, der an der Bushaltestelle wartete, ertrug die unablässigen Blicke der Passanten so ungerührt wie ein Prominenter.

Durch die Fenster des Tätowierstudios konnte er erkennen, dass Hochbetrieb herrschte. Kunden kamen und gingen, der kleine Wartebereich im Vorraum war überfüllt: eine fast hektische Betriebsamkeit, die gar nicht zu der auf Dauer ausgerichteten Arbeit passte, die drinnen entstand.

Die Kassiererin, die mittags im leeren Supermarkt in ihrer Kassenbox saß, sah aus, als würde sie in einem liegengebliebenen Auto auf den Pannendienst warten.

Im Moment der größten Desorientierung strich er über seine alte Narbe am Zeigefinger, um sich seiner selbst zu vergewissern.

Sie stürmte plötzlich aus dem Saal, als müsse sie sich übergeben, doch sie wollte nur in Ruhe ein Telefonat annehmen.

Ein Kleinkind im Flugzeug mit einer Schlafbrille (sein Gedanke: wie ein Kind unter Drogen).

Die aufgereihten Zigarettenpäckchen mit ihren großflächigen Warnbildern hinter der Ladentheke: eine Galerie von Körperöffnungen und Hautfetzen, so überfordernd wie früher der Blick auf die Regale der Porno-Videothek.

Im Speisewagen hinter ihm eine aufgekratzte Männerrunde, die ständig in das bekannte heisere Gelächter einstimmte, und dann beim Umdrehen die Verwunderung, dass auf dem Tisch nur Gläser mit Mineralwasser standen.

Die Kleiderbügel im Hotel, die sich nicht von der Garderobenstange im Schrank nehmen lassen: Design gewordenes Misstrauen.