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Zum allerersten Mal auf Deutsch - Christopher Isherwoods Debütroman. Philipp Lindsay steht sich selbst im Weg. Der junge Mann aus gutem Londoner Hause fühlt sich zu Höherem berufen und scheitert doch ständig an seinen eigenen Ansprüchen und den Erwartungen seiner Familie. Unabhängigkeit sucht er erst als Künstler und dann als Geschäftsmann. Nach Afrika will er reisen und kommt doch nicht weiter als bis in die Arbeiterviertel Londons, wo er schließlich einen Zusammenbruch erleidet. In seinem ersten, stark autobiographisch geprägten Roman zeichnet Christopher Isherwood das Porträt einer Jugend zwischen den Weltkriegen. Den Werten der Väter, die sich noch ganz dem alten Empire verpflichtet fühlen, weiß diese Generation nichts abzugewinnen, neue Werte aber sind noch nicht gefunden. Auf ergreifende Weise erzählt "Lauter gute Absichten" vom Niedergang der englischen Middle Class und den verzweifelten Versuchen eines jungen Mannes, den sozialen Konventionen einer untergehenden Welt zu entkommen.
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Seitenzahl: 220
Veröffentlichungsjahr: 2017
Christopher Isherwood
Lauter gute Absichten
Roman
Aus dem Englischen von Gregor Runge
Hoffmann und Campe
Für Edward Upward
»Bei Wind aus Südwest wolltest du doch unbedingt Robben sehen.«
»Ach ja?« Allen hörte auf, an seiner Jackentasche zu nesteln, und fragte neugierig:
»Wieder deinen Freund den Bootsführer getroffen?«
»Ja. Wieso?«
»Dieser meteorologische Sachverstand.«
»Du glaubst wohl, ich merke von allein gar nichts.«
»Ach was.«
Im Hafenbecken lagen blaue Fischerboote. Allen sah sie im Glas eines gerahmten Stichs beim Fenster als opake Flecke gespiegelt.
Sir Cloudesley Shovell und seine Männer ertrinken zwischen Gilstone Rock und Retarrier Ledges, 1707. Die Kleckse schienen sich nicht zu bewegen, dabei schaukelten die Fischerboote auf und ab und hin und her, verdunkelten Böen das Wasser. Ein Gespinst aus Licht lag auf dem Hafenbecken und den fernen Gewässern der Meerenge. Lichtreflexe fielen in das Halbdunkel des Speiseraums.
»Ich kann mich noch erinnern, wie du gesagt hast: ›Im Zoo haben sie diese obszönen Namen: Milly und Gertie.‹«
»Es geht nicht um die Robben«, antwortete Allen und fing an, seine Pfeife zu säubern.
Philip fragte: »Sondern?«, nur damit das Gespräch nicht versandete. Wie bei einem Drachen, wenn Flaute herrschte, war hin und wieder ein kräftiger Ruck vonnöten. Ihm fiel noch ein Argument ein.
»Wir wären zu acht an Bord.«
»Zu neunt«, korrigierte Allen, »mit dem Bootsführer.«
»Und?«
»Und was?«
Licht zuckte über Philips Gesicht, auf dem sich die Haut schon leicht pellte. Der Sonnenbrand verlieh ihm etwas Gefälliges, beinah Attraktives. Aber vor dem dunkelblauen Himmel und den buschigen Palmen im Hotelgarten sah er in seiner Städtergarderobe pummelig und einigermaßen lächerlich aus. Oder anders gesagt: Die prächtigen Farben des Nachmittags wirkten neben ihm ursprünglich, unwirklich. Er lächelte gereizt.
»Und was soll das bitte für einen Unterschied machen?«
»Keinen.«
»Das heißt, du kommst mit?«
»Nein.«
»Warum nicht, wenn’s doch keinen Unterschied macht?«
»Weil ich nicht möchte.« Allen gähnte gelangweilt.
»Blödsinn. Wenn du nicht mitkommen willst, dann doch wohl seinetwegen.«
»Wie du meinst. Dann eben seinetwegen.«
Philip seufzte und sagte mit einigem Aplomb:
»Ach, Allen, manchmal bist du einfach unmöglich, weißt du das?«
Außer ihnen war niemand im Speiseraum. Die anderen Gäste hatten entweder schon gegessen oder picknickten auf einer der kleineren Inseln. Im Haus war es ganz still. Die Flut war eingelaufen, mit trockenem Ton schlugen die Wellen gegen die Terrasse. Auf dem Schotter zankten sich die Möwen nach Hühnerart um die Essensreste, die der Kellner verstreute. Eine Bö ließ das Seil am grünen Fahnenmast knallen wie eine Peitsche. Der Wind frischte auf.
»In zwanzig Minuten legen sie ab.«
Allens Pfeife war jetzt sauber, er stopfte sie sorgsam, zündete sie an, paffte. Dann sagte er:
»Warum solltest du dich hiervon abhalten lassen?«
»Ach bitte, natürlich fahr ich mit. Bild dir bloß nichts ein.«
Allen sah aus dem Fenster und beobachtete, wie ein großer junger Mann in braunem Tweed um das Hotel gelaufen kam. Er war blond und rosig wie ein Kind. Auf der Terrasse war niemand außer ihm.
»Übrigens wird Oberst Page nicht dabei sein«, sagte Philip noch. »Er ist heute früh zu den Western Rocks aufgebrochen.«
»Ich frage mich«, sagte Allen, der noch immer zu dem jungen Mann sah, »ob das Verlangen, Papageitaucher beim Liebesakt zu fotografieren, als Sexualmanie klassifiziert werden kann.«
»Sollte es. Es hält seit zwanzig Jahren an.«
Der junge Mann runzelte die Stirn und verschwand.
»Ich gehe jetzt«, sagte Allen und stand unvermittelt auf.
»Wohin?«
»Ach, ganz egal. Erst mal raus hier.«
»Willst du’s ihm nicht erklären?«
»Ich kann ihm erklären, was du willst, du musst mir nur sagen, was.«
Wozu wir überhaupt hierhergekommen sind, dachte Philip und war für einen Moment wütend.
Eine Generalstabskarte, ausgebreitet im Lampenschein, auf einer Tischdecke, in Allens möbliertem Zimmer. Menavawr. Inisvowels. Nornor. Ganilly. Hanjague. Meilenweit draußen im Atlantik. Ausgeschlossen, da begegnet einem keiner. Da kommen die nie drauf. Ein Plakat, im Bahnhof Warren Street, hatte sensorische und motorische Vorstellungen von Möwen hervorgerufen, hin und her, her und hin. Vom schmierigen Unrat des Paddingtoner Rangiergleises die trügerischen, überwältigenden Ausdünstungen fauligen Tangs. Mein Gott, wie phantastisch aber auch. Dazu drei Takte der Franck-Sinfonie. À Saint-Blaise, à la Zuecca. Können wir nicht sofort?
»Ach, was soll’s. Wenn dich irgendwer versteht, dann Page.«
Als sie vom Speiseraum in die verschossene, sonnige Lobby traten, übermannte Allen ein Gefühl der Langeweile, wie Hunger oder Liebe, krampfte ihm den Magen zusammen mit allem, was darin war, sodass er sich ohnmächtig fühlte und krank.
Müßig schlenderten sie das Schmugglergässchen entlang, zwischen hohen Mauern, von denen Fuchsien ihre Köpfe herabhängen ließen, dann über den Pfad zum Kliff. Im Licht des Meeres umringten weißgetünchte und kümmerlich rosafarbene Häuschen die steinige, mit leeren Konservendosen, Grünzeug, zertrümmerten Körben und vermodernden Booten übersäte Schorre. Schwacher Rauch kräuselte über den Meereshorizont. Die Wiesen dahinter standen voller Goldlack und verdorrter Narzissen. Zwei Esel paarten sich, die Felsen warfen ihr lautes, monotones Iah zurück.
»Du verpasst das Boot«, sagte Allen.
»Du erwartest doch nicht allen Ernstes, dass ich allein fahre.«
»Warum nicht?«
»Erstens ist mir – jetzt – nicht mehr besonders daran gelegen. Außerdem wird man ja wohl noch« – Philip lächelte maliziös – »seine Meinung ändern dürfen.«
Dazu sagte Allen nichts. Ich hab doch beim Lunch ausdrücklich drum gebeten, dachte er. Was soll’s, schade nur, weil wir uns mit Sicherheit streiten, wenn wir den ganzen Nachmittag zusammenbleiben.
Aber gerade jetzt sah Philip durch Zufall ein Bild. Er kniff für einen Moment die Augen zusammen, worauf Morning Point, Penninis Head und das Stück Atlantik dazwischen plötzlich eine verblüffende Komposition aus drei ineinander verhakten Dreiecken ergaben. Der Effekt verlangte eine entsprechende Technik. Farbauftrag mit Malmesser und Daumen. Wenige Arbeitsstunden; kühn, reizvoll, schlicht. Er konnte es kaum erwarten und versuchte, wie dumm aber auch, Allen seinen Einfall auseinanderzusetzen.
»Kannst du mir folgen?«
»Denke schon. Nur Blau, Grün und Grau.«
»Willst du sagen, die Idee liegt auf der Hand?«
»Nein. Das nicht, woher denn.«
»Was stimmt also nicht damit?«
»Ich habe nichts dergleichen behauptet. Im Grunde kann ich nichts dazu sagen, bis ich sehe, was du daraus machst.«
»Versteht sich. Das ist überhaupt das Schlimmste. Dass du den praktischen Teil des Ganzen nicht begreifst. Von der rein sprachlichen Warte aus lässt es sich eben nicht beurteilen.«
Allen dachte: Darauf steig ich ganz sicher nicht ein. Wär ’ne Schande, wegen Philips Klecksereien die Nerven zu verlieren.
Er sagte:
»Was macht deine Hafenansicht?«
»Ach die, wird verworfen, was sonst.«
»Was ist auf einmal damit?«
»Ich muss schon sagen, das sieht doch wohl jeder.«
»Du meinst, die Zeichnung ist misslungen?« [Warum bin ich heute bloß so gemein?] »Ehrlich, Philip, ich fand sie schön.«
»Weißt du, Allen«, Philip klang jetzt etwas freundlicher, »dafür, dass du so gescheit bist, hast du den schlechtesten Geschmack, der mir je untergekommen ist.«
»Ach ja? Kann sein. Aber von der ›rein sprachlichen Warte‹ aus hat mich die Zeichnung angesprochen. Sie war außerordentlich, nun ja, interessant. Der weite, leere Vordergrund, und dann die Boote, wie zusammengefallene Zelte. Und der Steinpier sah aus, als wäre er an die Inseln dahinter angeklebt, ohne irgendeine räumliche Distanz zu suggerieren. Hat mich an dieses Bild von Matisse erinnert.«
Nur war dieser Vortrag, an einem Seitenblick auf Philip gemessen, durch und durch unangebracht. Allen setzte matt hinzu:
»Vielleicht war’s doch nicht Matisse.«
»Ich nehme an« – Philip klang jetzt wieder gereizt –, »für dich ist ausgemachte Sache, dass nichts ›Interessantes‹ dabei herauskommt.«
Jede weitere Nettigkeit hätte ihn gekränkt.
»Nichts sehr Interessantes«, sagte Allen bestimmt.
»Das dachte ich mir. Weißt du, genau dieses unglückliche Verlangen nach bizarren Dingen kommt dir ständig in die Quere. Was du interessant nennst, ist meist nur kurios oder Schlimmeres.«
»Und was du interessant nennst, wäre?« Allen hatte ein streitlustiges Lächeln aufgesetzt, unbewusst. Auch Philip, dem das nicht entgangen war, lächelte jetzt, aber der selbstironische Ton wirkte bemüht:
»Ich muss gestehen, ohne zu persönlich zu werden, ich kann mich begeistern für die – vielleicht könnte man sie die unverfälschten Dinge des Lebens nennen. Ich wende mich lieber Sujets zu, die in deinen Augen – allerdings bist du offenbar nicht aufrichtig genug, das zuzugeben – auf der Hand liegen, und gewinne diesen Dingen etwas ab. In deinem Sinne ›interessant‹ zu sein ist ein Kinderspiel.«
»Und zu den ›unverfälschten Dingen des Lebens‹, denen du etwas abgewinnst, gehören?«
»Ach, du willst eine Aufzählung? Sagen wir so, ich scheue nichts. Man muss nur die Stirn haben. Ich will Postkartensonnenuntergänge malen, Kühe, die einen Bach durchqueren, und, jawohl, auch Jagdszenen, Kinder, die Blumenkränze flechten, eine Katze mit ihren Jungen …«
»Und Bootsführer?«
Das hatte gesessen.
»Ja, Bootsführer. Das ist sogar ein besonders gutes Beispiel. Das Schlimmste an dir ist nämlich dein unfassbarer Dünkel. Wer von dir des scheußlichen Verbrechens verdächtigt wird, gewöhnlich zu sein, ist weit unter deiner Würde, versteht sich.«
»Versteht sich.«
Vom Kap aus überblickten sie einen vibrierenden Schleier strahlenden Lichts, darauf schwarze Kleckse, wie Wurmhaufen auf glattem Rasen, die Western Rocks. Auf einer der Felsinseln kniete, in seinem beengten steinernen Versteck, Oberst Page, linste durch den Spalt, atmete schwer, griff erregt nach der Pfeife zwischen seinen Lippen und nestelte mit behaarten Fingern an dem Gummiball herum, der den Verschluss auslöste.
Penninis Head steht inmitten seiner eigenen gewaltigen Ruinen; wuchtig geschliffene Formen von, je nach Standpunkt, je nach Auge, wandelbarer Erscheinung. Dort das geflügelte Pferd und die Gorgone, Mahlzähne und Fäuste der Giganten, ein Tempelarchitrav, Nubier- und Pythonhäupter, hervorgestoßen unter nicht zu ermessenden Lasten von Stein; Schenkel, Rumpf, Gesäß, Gliedmaßen, phallische Symbole, männlich und weiblich. Etwa fünfzig Meter vom Ufer entfernt schäumte zähe Gischt über eine riesige, von den Gezeiten tief eingefurchte Felsplatte. Philip hatte sie auf dem ersten Spaziergang am Tag ihrer Ankunft bemerkt. »Sieh mal, Allen, ist das nicht durch und durch Epstein? Kannst du die drei Leichen erkennen? Der in der Mitte fressen Ratten den Bauch leer.«
»Wenn du schöpferisch tätig wärst, dann wüsstest du, dass der eigene Standpunkt nicht genügt. Man muss die Welt durch die Augen der Menschen betrachten, die du uninteressant und gewöhnlich nennst.«
»Also schön.« Allen raffte sich auf. Die würzige Luft ließ ihn gähnen. »Wie würde sich ein gewöhnlicher Mensch diesen Felsen ansehen?«
»Zunächst einmal«, begann Philip wohlüberlegt, »kann ich diese Frage unmöglich beantworten, solange ich nicht sehr viel mehr darüber weiß, was für ein ›gewöhnlicher‹ Mensch dir vorschwebt. Deine Definitionen sind so herrlich vage und beliebig.«
Allen hielt ein Streichholz an seine Pfeife und dachte: Soll ich?
»Na schön. Nimm Victor Page.«
Philip runzelte die Stirn. Dann sagte er kühl:
»Wie du meinst.«
Allen sah ihn an, grinste.
»Raus damit. Wie würde er?«
»Du findest es offenbar außerordentlich komisch, bei jeder nur denkbaren Gelegenheit Page ins Spiel zu bringen. Andere Leute würden nicht so darauf rumreiten, immerhin …«
»Soll heißen, du hast keine Ahnung. Ich sag’s dir. Er würde ihn sich ansehen und sagen: Das ist ein Stein. Ein sehr großer Stein. So. Und wozu soll das jetzt gut sein?«
Philip setzte sich auf einen Felsblock und runzelte wieder die Stirn.
»Wo du darauf bestehst, über Page zu reden: Ich kann nur hoffen, dass er dein kindisches Benehmen so gut durchschaut wie ich. Du hast dich beim Frühstück abscheulich aufgeführt.«
»Was habe ich denn gemacht? Nun, wir haben zuvor immer an verschiedenen Tischen gesessen. Wenn du ihm und seinem Onkel gegenüber eine ganze Mahlzeit lang anständig bleiben kannst – ich kann es nicht.«
Philip seufzte.
»Du bist ein hoffnungsloser Fall. Man könnte meinen, es wäre ein tödliches Vergehen, mit dir zusammen auf die gleiche Schule gegangen zu sein.«
»Merk dir endlich, dass wir nicht im selben Haus untergebracht waren. Ich kannte ihn kaum.«
»Ach, so ist das also. Ich weiß nur, dass er dir fast die Hand abgerissen hätte, als wir ihnen am Pier in die Arme gelaufen sind.«
»Mein lieber Philip, sind denn die Ehemaligen deiner Schule …? Ach, natürlich, ich vergaß. Aber stell dir doch vor, wie das wäre! Du gehst an Land. An einem Ort wie diesem hier. Der Schock wäre beträchtlich. Alles andere war Stammesinstinkt, weiter nichts.«
»Wer nicht immer nur dagegen ist, der lässt sich eben gut verspotten.«
Das nun war, für Philips Verhältnisse, überraschend scharfsichtig. Allen fühlte sich einen Moment lang getroffen und brauste auf:
»Mal abgesehen von deinen neuesten Theorien – du wirst doch wohl nicht so scheinheilig sein und behaupten, Page würde mich nicht genauso sehr verabscheuen wie ich ihn.«
»Wenigstens kann er sich benehmen.«
»Ich etwa nicht?«
»Auf eine hässliche Art und Weise vielleicht. Was du zu ihm sagst, spricht Bände. Vermutlich ist er sehr viel verletzlicher, als du denkst.«
»Was er zu mir sagt, spricht auch Bände. Du solltest ihn ein bisschen genauer unter die Lupe nehmen, Philip. Und vergiss nicht, die Dinge gründlich mit seinen Augen zu betrachten.«
Philip holte tief Luft und biss sich ostentativ auf die Lippe.
»Immer wenn wir zusammen sind, liegt Spannung in der Luft. Heute zum Beispiel. Es ist nicht zum Aushalten.«
»Unbedingt. Also, was schlägst du vor? Was sollen wir tun?«
»Ich bin der Ansicht, dass es ist an dir ist, einen Vorschlag zu machen.«
Allen zündete seine Pfeife wieder an; diesmal, wie es Philip schien, absichtlich langsam.
»Zurück nach London fahren«, sagte er schließlich.
»Red keinen Unsinn.«
»Noch keine Nachricht?«
»Was hast du denn erwartet?«
Philip stand auf, streckte sich erschöpft – Pose: gekreuzigt, gelangweilt –, dahinter das Meer.
»Ich dachte, Joan hätte geschrieben.«
»Um mich mit Mutters Kommentaren zu beglücken? Nein. Die erspart sie mir schön.«
»Sie wird dich schon wissen lassen, wenn sich die Lage beruhigt hat.«
»Falls sie sich beruhigt.« Philip musste gähnen und seufzte. »Manchmal frage ich mich, ob ich je nach Hause zurückkehre.«
»Und wenn nicht?«
»Weiß der Himmel. Mich dünnmachen, ins Ausland gehen.« Unten im Hafen hatte Allen die Namen der ankernden Trampschiffe gelesen – Young Ernie. Justifier.Realize.UnitedFriends. Sie hatten beobachtet, wie der blonde Bursche von dem dänischen Schiff, das Holz geladen hatte, am Fuße der Festungsruine, deren Palisaden von der Gischt schon ganz rostig waren, mit drei Mädchen spazieren ging. Er zupfte scharfkantige Eisenflöckchen, die Mädchen lachten. Philip in Gummistiefeln auf dem Havre-Kai, weiter oben Häuser mit geschlossenen Läden, schlaffe Kissen auf Fenstersimsen.
»War mächtig verrückt von dir«, sagte Allen, nicht ohne Bewunderung.
Die Stimmung löste sich.
»Ich frag mich, wann meine Entscheidung gefallen ist.«
»Du hast ziemlich schnell Nägel mit Köpfen gemacht.«
»Ich glaube, es war nach einer der grässlichen Teerunden von Mutter. Currants hat mich vor diesen zwei alten Hexen gefragt, ob ich beim Wettbewerb der Akademie einreichen will.«
»Im Ernst? Das hast du mir nie erzählt.«
»Mein Gott, so eine Kleinigkeit, nicht der Rede wert. Mich wundert nur, wie lang ich das alles mitgespielt hab.«
Ihr zufriedenes Lächeln verlor sich allmählich wieder. Mit dem Absatz schoss Allen einen Kiesel weg. Philip klang wieder gereizt:
»Und jetzt?«
»Was – jetzt.«
»Wie machen wir weiter?«
Allen sagte versöhnlich:
»Na, ich werde wohl mein Bestes geben.«
Schließlich hat sich Philip, dachte er, in eine ganz schön miese Situation manövriert, und ich hab meinen Teil dazu beigetragen. Und dann muss er noch dafür büßen, dass Page und ich über Kreuz liegen. Im Grunde ist Philip ein Märtyrer – oder etwas in der Art.
»Aber erwarte dir bloß nicht zu viel«, schob er nach.
»Ich wusste, dass du das so siehst.« Wie immer war Philip fälschlicherweise gerührt von Allens plötzlicher Milde – oder Schwäche. Er wollte sich unbedingt vertragen:
»Allen, du sollst wissen, ich kann deine Haltung voll und ganz nachvollziehen.«
Nun, in gewisser Weise war die Angelegenheit ausgetragen, vielleicht herrschte jetzt Ruhe. Und immerhin hatten sie sich nicht richtig gestritten. Als sie den Weg hinabzusteigen begannen, hatte Philip schon wieder Fahrt aufgenommen und sprach zufrieden über das noch zu malende Bild. »Ich mache gleich fünf oder sechs, jetzt, wo es läuft. Es kommt mir vor, als hätte ich die Insel endlich intus. Wenn wir wieder in der Stadt sind, findet bestimmt einer dieser Zeitungswettbewerbe statt. Man schickt seine Sachen ein, und wenn’s den Leuten gefällt, nehmen sie’s in ihre Ausstellung auf. Wär für den Anfang gar nicht so schlecht. Könnte Eindruck machen zu Hause, oder? Jedenfalls würde Mutter begreifen, dass es mir ernst ist. Wenn sie das doch wenigstens begreifen würde.«
»Du könntest auch wieder Gedichte schreiben, meinst du nicht?«
Allen dachte: Seltsam, dieser Tonfall, als hätte ich mit einem Kind gesprochen.
Vor ihnen tauchte die sichelförmige Hafenanlage auf. »Stimmt, komisch, dass du das sagst. Ich hatte heute Morgen erst die glänzende Idee, zwei von den alten, die über die Möwen an der Vauxhall Bridge, mit einem neuen zu kombinieren. Als Gegenpol, du weißt schon.«
Allen nickte ernst. Dabei hab ich noch nicht mal die Hälfte von dem, was er gesagt hat, mitbekommen. Muss besser zuhören. Das bringt auf andere Gedanken. Hab viel zu viel nachgedacht, seit ich hier bin.
Die hübschen Häuschen entlang des Ufers. Rat Island. Die Boote. Das funkelnde Wasser. Plötzlich wieder ein kleiner Anfall stechender Übelkeit, gleich hinterm Plexus. Langeweile gehört zum Kreis der karzinomatösen Krankheiten. Halte ich das hier noch zwei Wochen aus?
Ein Kormoran erschreckte sie mit seinem wunderlichen Schrei, brach von einem Felsen in der Tiefe flatternd los und verschwand, wie ein törichtes Gefühl der Verzweiflung, westwärts in einen lichterfüllten Abgrund, gen Amerika.
Oberst Page war sehr groß, seine Haut gelblich von der Sonne, wie Schweinsleder, die Knie waren mit schwarzen Sommersprossen übersät. Er frisierte sich die dünnen schwarzen Haare mit Brillantine und trug tagsüber eine Soldatenuhr, ein Tweedjackett, Budapester, Strümpfe mit Abzeichen und kurze Khakihosen. Seit er in einer grob verputzten Behausung aus Zweigen und Gras am Rand eines Bambuswalds gewohnt hatte, war ihm daran gelegen, zum Dinner in ordentlicher Garderobe zu erscheinen.
»Du geh schon vor und lang zu, Victor. Bin stracks zurück.«
»Nein, Sir, ich warte lieber.«
Sie besprachen sich an einem kleinen Tisch in der Ecke, Auge in Auge, tiefe, ruhige Stimmen, beobachtet von den elf anderen Hotelgästen. Victor trug Querbinder, sein Onkel das alte lange Modell. Geputzt wie Schuljungen. Der Kragen des Obersts schien dem Hals, der ihn ausfüllte, zuzusetzen. Nach jedem Satz tupfte er sein Oberlippenbärtchen mit der Serviette ab.
Am Naivasha-See hat er Spieß- und Knäkenten gesehen. Und in den Norfolk Broads, von einem Stechkahn aus, im Morgengrauen. Ist mit dem Gefühl aufgerollter Gewichte auf seiner Decke wach geworden. Bloß nicht rühren, Decke wegtreten und um dein Leben rennen. Regimentskricket in Limerick, Vogelnester plündern in Shannon Woods; nach der Kirchparade spielt die Kapelle auf dem Kasernenplatz. Verdi auf Wunsch. In Hell Corner detoniert eine Dosenhandgranate verfrüht wegen zu kurzer Lunte, lähmt seine Schlagkraft; hässlich, linkshändig.
»Ja. Mein Onkel ist ganz schön rumgekommen.«
Später in der Lobby holten sie ihre Pfeifen hervor. Die von Oberst Page war kurz und schwer, die von Victor schmal, mit abgeflachtem Kolben. Die Tabaktasche von Oberst Page war aus billigem schwarzem Gummi.
»Darf ich anbieten, Sir?«
»Danke. Gern. Hab’s manchmal gewaltig satt, das Kraut.«
Dankbar gab Victor seinem Onkel Feuer, inhalierte und kräuselte die Stirn. Lachte zweimal. Haha. Hahaha. Sein Blick ging durch den Raum, traf auf die Augen eines Mädchens, das ihnen zuhörte. Linste wieder weg. Wurde rot, myop.
Und worüber haben sie gesprochen? Allen hatte Oberst Page einmal sagen hören:
»Der Fritz hat mir an der Somme einen Gefallen getan, als er die letzten beiden auch noch erledigt hat.«
Um neun, manchmal früher, ging er auf sein Zimmer.
Victor war dieser Moment zuwider. Die drei Mädchen beobachteten ihn unverhohlen. Wenn er einem von ihnen tagsüber begegnete, lächelte er, ließ eine aufgeräumte Bemerkung fallen, war ganz bei sich. Es lag am Smoking. Das Blut in seinen Adern pochte, schoss ihm in die Wangen, in die Schläfen, rauf bis zum Haaransatz. Er kam sich vor wie ein Albino. Auf dem Tisch lagen Illustrierte. Erschienen vor Wochen. Eine davon nahm er sich. Er hatte sie alle gelesen. Sie wussten, dass er wusste, dass sie wussten, dass er sie alle gelesen hatte. Grundgütiger. Plötzlich stand er auf und verschwand im Raucherzimmer.
Das Zimmer war klein und kalt. Enorme verrostete Federsessel. Fahrpläne. Ein Gästebuch. Eine Karte der Inseln. Schlimmstenfalls würde er den Australier dort antreffen, der jedem riet auszuwandern. Aber er traf nur auf Philip.
»Ach, hallo, Lindsay. Du hier? Hut ab.« Victor lächelte breit. »Bist wohl abgetaucht. Weil du weißt, dass ich ein Hühnchen mit dir zu rupfen habe.«
»Du meinst« (Allen bestand darauf, Philip hätte etwas »Mildes« an sich, wenn er Page anlächelte), »weil wir heute Nachmittag nicht aufgekreuzt sind?«
»Ich hab euch überall gesucht, bevor es losging.«
»Ist das wahr? Tut mir schrecklich leid. Ich hab dich auch gesucht. Wir müssen uns immerzu verfehlt haben.«
Victor lachte auf und ließ sich in einen Sessel fallen.
»Pfadfinder auf Fährtensuche. Zigarette gefällig? Rauchst bestimmt nur den guten Türkischen.«
»Warum sollte ich nur Türkischen rauchen?«, fragte Philip, insgeheim geschmeichelt.
»Was weiß ich.« Liebenswert tumb gab er auf. Dann: »Bist doch ein Teufel mit Sinn für Luxus, oder?«
»Ich? Du musst ja komische Vorstellungen von Luxus haben.«
Allen war ihm ein Rätsel. Wie konnte er allen Ernstes behaupten, er »verabscheue« Page – diesen harmlosen Lulatsch, wie er da saß, mit einem Bein über der Sessellehne? Allen sieht in ihm natürlich nur eine Zweitausführung seines Onkels. Typisch verengte Sichtweise, übler geht’s nicht. Zum Glück hab ich ihm das gesagt. Aus einem verdrehten Pflichtgefühl heraus fügte Philip hinzu:
»Ich hab ja noch gar nicht erklärt, warum wir nicht mitgekommen sind. Chalmers war im letzten Moment außerstande. Er hat höllische Kopfschmerzen.«
»So ein Pech.« Aus Sorge, zu gleichgültig geklungen zu haben, fragte Victor ohne jedes Interesse: »Dann ist er heute wohl früh zu Bett?«
»Ich denke schon. Eigentlich habe ich nicht die leiseste Ahnung.« Philip konnte nicht anders, er sah nervös zum Fenster. »Doch, er hat wohl so was gesagt.«
Draußen war es dunkel. Einige Meter weiter, vom Raucherzimmer aus nicht zu sehen, fiel ein Lichtpunkt durch eine Milchglasscheibe auf die Mauer gegenüber. Aus dem Haus drangen unaufhörlich die rauen Stimmen von Fischern, Matrosen. Das Pub des Hotels.
»Schade. Wer weiß, ob ihr noch mal die Gelegenheit bekommt. Der Wind hat wieder gedreht.«
»Nun. Ich gehe davon aus, dass wir noch eine Weile hier sind.«
Victor lächelte, wurde ein bisschen rot, wie immer, wenn er kurz davorstand, eine persönliche Frage zu stellen.
»Dann bist du so richtig begeistert von der Insel?«
»Ja. Gar nicht schlecht hier.« Philip war verwirrt, er wusste nicht, wie er das zu verstehen hatte.
»Will sagen – ich frag mich manchmal, was ihr hier so treibt. Ich seh euch nie auf dem Golfplatz. Und für Ausflüge seid ihr zuletzt auch nicht zu haben gewesen. Ich weiß natürlich, dass du malst …«
»Was ziemlich viel Zeit in Anspruch nimmt.«
»Oh, gewiss, das kann ich mir denken. Aber ich meine abends und so weiter.«
»Nun, ich schreibe.«
(»Deine professionelle Bescheidenheit gehört auf eine Grammophonplatte.« – Allen schon wieder.)
»Lindsay! Ist das wahr? Das auch noch? Hast du was geschrieben, als ich gerade reingekommen bin?«
»Ich überarbeite ein altes Gedicht.«
Victor lachte, ziemlich beeindruckt.
»Scheinst ja ein richtiger Mehrkämpfer zu sein.«
Wenn Allen behauptet, ich könnte Page bloß leiden, weil er mir schmeichelt, ist das einfach nur lächerlich, dachte Philip. Du und geschmeichelt, stell dir das vor, bei dem albernem Sportlergerede. Wenn man ihn so hört, könnte man meinen, ich wär als Spieler zu gebrauchen.
Drängten in die Umkleide, täppisch wie Welpen, die Haare nass, in dreckigen Shorts und Pullovern. Schlugen mit den Stollen ihrer Schuhe auf dem Steinboden Funken. Rangelten um den Wasserhahn, sich die Knie zu waschen. Wie war’s bei den Kleinen? Oh, denen haben wir’s richtig gezeigt, was, Floh? Hab alle Sechse erwischt. Lügner. Na ja, Lindsay hat einen ins falsche Tor gesemmelt. Wo ist Linseed? Wo ist Leinsamenwickel? Schweinchen sagt, du hättest ’n Eigentor geschossen. Tatsache? Ist wahr? Na ja, gut gemacht. Richtig pfiffig. Mächtig clever. Findest du nich? Guckt mal, der flennt. Leinsamen flennt. Wickel wird ganz nass. Will Pusselchen zu seiner Omi? Halb so wild. Pech eben, Lindsay. Kopf hoch, Wickelchen. Dafür hat Lindsay heute richtig gut reingegeben. Hat er, jawohl. Direkt über Flohs Kopf hat er reingegeben. Guter alter Wickel. Dreifaches Hoch auf unsern Wickel. Versammelten sich um ihn, pufften ihn eine Weile in den Rücken, trösteten ihn übertrieben. Achtung. Major Frith im Anmarsch. Alles in Ordnung mit dir, Wickel? Dürfte ich erfahren, wie lange die Herren noch in den Waschräumen herumlungern wollen? Ich zähle bis zehn. Kommen ja schon, Sir. Oh, Sir! Ab und weggetrappelt.
»Weißt du, ich hab mir oft gewünscht, ich könnte so was auch.«
Das müsste Allen hören!
»Hast du’s mal versucht?«
»Oh«, Victor lächelte breit und wurde rot, »meinst du, ich könnte das?«
Also hat er. Philip war wohlwollender denn je. Wahrscheinlich mit vierzehn. Wanderung in der Gegend um den Snowdon. Wenn ich dich schau, oh mächt’ger Gipfel. Wordsworth, mit Bindestrichen à la Tennyson. Oder später, im Unterricht. Brooke. Nein, Page würde nicht erotisieren.
Es war still geworden.
»Ich würde dir gern zeigen, wo mein Onkel wohnt, in Surrey. Gar nicht übel da. Ein bisschen Wald und einen See gibt’s auch. Du wohnst in London, oder? Solltest uns mal besuchen. Vielleicht kommst du auf Ideen. Für ein Bild, mein ich.«
»Schrecklich gern. Du musst uns auch besuchen, wenn du mal in der Stadt bist.«
»Tausend Dank. Manchmal fahren wir mit dem Wagen hoch. Ich bin oft für ein paar Tage in der Stadt, bevor das Trimester losgeht. Und dann kann’s vorkommen, dass mein Onkel das Haus verrammelt und England für eine Weile verlässt. Er sagt, ihm fällt hier die Decke auf den Kopf.«
»Wir wohnen in North Kensington. Bellingham Gardens. Ich schreib’s dir auf.«
Dass er ein Zuhause hatte, war ihm nie so unwirklich vorgekommen wie in dem Moment, als er die Anschrift auf einen kleinen Zettel kritzelte, den er anschließend Victor überreichte. Dabei bin ich wahrscheinlich noch vor Ende des Monats zurück, dachte er.
»Danke. Dann bekommst du jetzt auch meine.«
Nach dieser ziemlich unbeholfenen Formsache fuhr Victor fort:
»Mit der Stadt weiß ich leider nichts anzufangen. Ohne frische Luft und Sport werd ich trübsinnig.«
»Das kann ich mir kaum vorstellen.« Philip lächelte (»milde«?).
»Aber es ist so.« Victor nickte ernst und lächelte auch. »Ich werd regelrecht zum Pessimisten. Du müsstest mich sehen. Dir ist wohl auch nicht besonders an der Stadt gelegen? Da kommst du bestimmt nicht viel zum Malen und Schreiben.«
Fast schon exquisit war das. Die reinste Naivität. Glaubte der Kerl etwa, man konnte drinnen nicht malen? Oder dass man so was »nicht tat«? Eine Art Yankee-Trick? Aber Victor sagte noch:
»Weil du doch keine Zeit hast.«
Hatte Allen etwa …? Das war die Höhe. Page hatte sich eindeutig keiner versteckten Andeutung schuldig gemacht. Und doch, weil er sich ertappt fühlte, fragte Philip: